Schauspielhaus Zürich Zeitung #9
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10 Gespräch<br />
Nichts, was nicht<br />
möglich ist<br />
11<br />
„Ich bin ein Papier und werd’<br />
niemals beschrieben.“<br />
aus „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen<br />
Es ist sind kaum vier Jahre vergangen,<br />
da feierte das Feuilleton den Regisseur<br />
Antú Romero Nunes als das Wunderkind<br />
der deutschsprachigen Theaterlandschaft.<br />
Seither ist der Regisseur dem Label –<br />
Gott sei Dank! –entwachsen. Magischen<br />
Stoffen und seinen Wegbegleitern ist<br />
er aber erfreulicherweise treu geblieben.<br />
Ein Gespräch mit den neuen<br />
Ensemblemitgliedern Nils Kahnwald<br />
und Henrike Johanna Jörissen über<br />
ihre Arbeit mit dem Regisseur.<br />
VonJulia Reichert<br />
„Alles was hier passiert, ist Lüge“ –<br />
mit diesen Worten betritt ein Zauberer<br />
eine Bühne und beginnt dann,<br />
wahrhaftig zu zaubern. Dieser Moment,<br />
der Beginn von Antú Romero Nunes’<br />
Diplominszenierung, Schillers Fragment<br />
„Der Geisterseher“, hat bereits in vielerlei<br />
Hinsicht Marken gesetzt. Er verrät etwas<br />
von einer theatralen Arbeitsweise, die<br />
augenzwinkernd die Illusion zerstört,<br />
um ihre Splitter erst recht zum Funkeln zu<br />
bringen. Und er markiert den Beginn einer<br />
aussergewöhnlichen Theaterlaufbahn (der<br />
Zauberer war übrigens Ensemblemitglied<br />
Jirka Zett, mit dem Nunes jetzt<br />
regelmässig in <strong>Zürich</strong> zusammenarbeitet).<br />
Mit spielerischer Unbeschwertheit nahm<br />
sich der damals Mitte 20-jährige<br />
Regisseur noch des grössten Klassikers,<br />
der universellsten Fragestellung an. 2010<br />
folgte die Wahl zum Nachwuchsregisseur<br />
des Jahres, er war jüngster Hausregisseur<br />
am Maxim Gorki Theater Berlin,<br />
inszenierte in Hamburg, Frankfurt, <strong>Zürich</strong><br />
(„Solaris“), Wien –ein „romantischer<br />
Skeptiker (…), der an die Wahrheit von<br />
Gefühlen mit der gleichen Trotzigkeit<br />
glaubt wie an die Notwendigkeit, Wahrheit<br />
immer wieder zu befragen“ (so Till<br />
Briegleb in der Süddeutschen <strong>Zeitung</strong>).<br />
Eine Traumkarriere, klar. Im Gegensatz zu<br />
vielen anderen selbst- oder fremderklärten<br />
Wunderkindern ist Nunes keineswegs<br />
an den Erwartungen gescheitert, im<br />
Gegenteil. Seine Inszenierungen –knapp<br />
20 in nur vier Jahren –sind nach wie<br />
vor trotzig-ehrlich im Zugriff, jovial in der<br />
Handschrift und dabei zu melancholisch,<br />
zu existentiell, zu universell, um bloss<br />
jugendlich zu sein. In dieser Spielzeit gibt<br />
es von ihm in <strong>Zürich</strong> gleich zwei Arbeiten<br />
zu sehen: „Peer Gynt“, die<br />
Peer Gynt in den Armen seiner Mutter: Henrike Johanna Jörissen und Nils Kahnwald<br />
Neueinstudierung einer Produktion<br />
des Schauspiels Frankfurt, und<br />
eine Bearbeitung von Lewis Carolls<br />
„Alice“-Romanen –bevor er an<br />
die Bayerische Staatsoper in München<br />
weiterzieht, um dort zuinszenieren –<br />
mit kaum 30 Jahren. Ungelogen.<br />
Julia Reichert –Mit Antú Romero Nunes<br />
verbindet euch eine längere gemeinsame<br />
Geschichte, ihr kennt euch seit dem<br />
Studium. Was ist das Besondere ander<br />
Zusammenarbeit?<br />
Henrike Johanna Jörissen –Dass auch<br />
Schnapsideen ernsthaft auf die Bühne<br />
kommen können und dass die Grundidee<br />
für eine Szene erst einmal Spass machen<br />
kann. Da ist Antú wirklich ein Macher –<br />
der macht das dann wirklich (lacht).<br />
Nils Kahnwald –Tatsächlich verbringe ich<br />
mit ihm als Mensch einfach gerne<br />
Zeit. Sein Humor –den ich nicht immer<br />
komplett teile (lacht) –ist ein wesentlicher<br />
Verbindungsfaktor. Ich finde, dass er<br />
sehr humorvolles Theater macht, Theater,<br />
das etwas mit mir zu tun hat.<br />
JR –Ich habe den Eindruck, in seinen<br />
Arbeiten gibt es den Mut, auch naiv an<br />
eine Geschichte heranzugehen, ohne<br />
Zynismus und ohne klüger sein zu wollen<br />
als die Geschichte ...<br />
NK –Esgibt auch immer eine sehr gute<br />
Portion Grössenwahn, die ich sehr schön<br />
finde. Es gibt bei Antú erst einmal nichts,<br />
was nicht möglich ist ...<br />
HJJ –…weil er auch gerne zaubert!<br />
NK –Ja, er macht gerne Zaubertricks.<br />
HJJ –Erstellt eine Windmaschine mitten<br />
auf die Bühne, um dann so zu tun, als<br />
wäre sie nicht da ... (lacht) Das ist schon<br />
grossartig. Dabei ist sie ja offensichtlich da.<br />
JR –Aus solchen Mechanismen ziehen<br />
die Abende ihre Poesie, oder? Dass sie<br />
zaubern, mit einem Augenzwinkern ...<br />
HJJ –…und die Theatermittel<br />
Theatermittel sein lassen –eben weil<br />
sie so schön sind. Man spielt die<br />
schönste Liebesszene mit Windmaschine<br />
und Konfettikanone, um dann zu sagen:<br />
„Moment mal, das war jajetzt ganz<br />
schön. Aber kommen wir auf den Boden<br />
der Tatsachen zurück: es ist nur eine<br />
Windmaschine und nur eine<br />
Konfettimaschine …“<br />
NK –Esgibt immer wieder diese Brüche,<br />
die darauf verweisen, dass man auch<br />
selbst, als Schauspieler dort oben auf der<br />
Bühne, weiss, wo man ist. Dass man nicht<br />
gezwungen ist, so zu tun, als wäre man<br />
anderswo als im Theater.<br />
HJJ –... und dass klar ist, dass unten<br />
Leute sitzen und zuschauen. Die sind ja<br />
auch beteiligt und tragen ihren Teil dazu<br />
bei.<br />
JR –Jemand sagt: „Alles was hier passiert,<br />
ist Lüge“. Und trotzdem oder deswegen<br />
kann ich erst recht darauf hereinfallen.<br />
NK –Allein die Situation, wie „Peer Gynt“<br />
beginnt: Da kommen Schauspieler auf<br />
die Bühne, sammeln beim Publikum drei<br />
Begriffe ein und dann erzählt einer daraus<br />
eine Lügengeschichte. Und sofort ist<br />
das Thema greifbar, weil es mit allen im<br />
Raum zu tun hat.<br />
JR –Und am Schluss wird die<br />
Lügengeschichte doch wahr. Aber das<br />
dürfen wir hier noch nicht verraten ...<br />
NK –Nein, das dürfen wir nicht.<br />
JR –Diese Arbeitsweise hat ja auch eine<br />
gewisse Romantik ...<br />
NK –Eshat Kitsch. Da gehört auch Mut<br />
dazu. Wenn ich Inszenierungen von ihm<br />
sehe, in denen ich nicht selbst mitspiele,<br />
denke ich oft: „Oh nee, Antú, das kann<br />
man doch nicht machen.“ Und dann geht<br />
es doch, berührt eseinen doch.<br />
JR –Fehlt euch das manchmal sonst im<br />
Theater? Mut zum Gefühl?<br />
NK –Ich finde, im Theater gibt es auch<br />
oft einen falschen Mut zum Gefühl.<br />
Das kann auch sehr unangenehm sein<br />
beim Zuschauen.<br />
HJJ –Ich finde das schon ganz besonders<br />
an Antú, auch an ihm privat. Das ist<br />
wirklich seine Persönlichkeit.<br />
JR –Ist „Alice“ nicht auch so ein Stoff,<br />
in dem sich Magie und Theater treffen?<br />
Das Wunderland ist eine Welt, wo die<br />
Regeln nicht mehr gelten, wo man alles<br />
neu verhandeln kann und muss. Das<br />
kann verstörend sein, aber auch ganz<br />
befreiend. Ist das eine Metapher fürs<br />
Theaterspielen?<br />
HJJ –Häufig wird dieser Stoff jakomplett<br />
verniedlicht. Es gibt diesen Film mit<br />
Johnny Depp. Ich weiss es gar nicht,<br />
ist der für Kinder?<br />
JR –Der möchte wohl einfach beide<br />
Segmente bedienen.<br />
HJJ –Eigentlich verniedlicht er aber die<br />
Situation. Ich finde auch, es ist eher<br />
verstörend, was dapassiert.<br />
NK –Antú hat den schönen Satz gesagt,<br />
dass „Alice im Wunderland“ beginnt wie<br />
eine Geburt. Wenn du auf die Welt kommst,<br />
hast dunoch keine Realität –dann fällst<br />
du durch ein Loch und es geht los. Ich<br />
glaube jedenfalls, dass es ein idealer Stoff<br />
ist für Antú, weil er auch die Möglichkeit<br />
zum Zaubern eröffnet. Es ist jaein Märchen<br />
und ermöglicht einem, andere Realitäten<br />
zu öffnen, als die, die man lebt.<br />
JR –Auch ein wiederkehrendes Motiv,<br />
oder? Peer Gynt lügt sich eine andere Welt<br />
zusammen, weil die Welt, in der er lebt,<br />
nicht besonders wünschenswert ist. Auch<br />
Alice träumt sich weg aus einer strengen,<br />
viktorianischen, regelorienterten Welt.<br />
NK –Esgeht immer um die Sehnsucht<br />
nach etwas anderem.<br />
JR –Peer Gynt sagt ja bei euch: Die<br />
Realität ist keine Schuhsohle wert.<br />
NK –Das ist tatsächlich mein Lieblingssatz<br />
im Stück. Weil er so zutreffend ist. Ich<br />
würde das komplett unterschreiben.<br />
JR –Was ist für euch als Schauspieler<br />
wichtiger: Die Realität abzubilden oder<br />
eine Gegenwelt zu zaubern?<br />
HJJ –Letzteres. Auf jeden Fall.<br />
NK –Das geht mir auch so. Ich finde<br />
es immer schöner, Utopien zu entwickeln.<br />
Ich glaube auch nicht daran, dass die<br />
Menschen eine einzige Realität haben.<br />
Die Grundannahme bei „Peer Gynt“ war<br />
ursprünglich: Da kommt jemand und<br />
sagt, „Ich bin Peer Gynt“. Dann kommt<br />
ein anderer und sagt: „Nein, bist<br />
du nicht.“ Und dann gibt es die Suche<br />
danach, wer man eigentlich ist ... Mit<br />
diesem Faust-Motiv: Wer bin ich? wird<br />
auch die Realität in Frage gestellt.<br />
Viele interessante Stücke drehen sich<br />
darum. Die tiefste menschliche Frage,<br />
die die Menschen seit Jahrhunderten,<br />
Jahrtausenden beschäftigt. Und die sie<br />
dennoch nicht in den Griff kriegen.<br />
JR –Die Frage nach Identität ist jaauch<br />
eine Parallele zu Alice: Sie wächst<br />
und schrumpft und vergisst ihren Namen.<br />
NK –Andieser Frage kann man sich<br />
immer abarbeiten, weil sie auch ein<br />
Schmerzpunkt ist. Man kann sich damit<br />
arrangieren, aber es hat mit einer<br />
Trauer zu tun –darüber, was man ist und<br />
was man gerne wäre. Und sowohl mit<br />
Alice als auch mit Peer Gynt hat man die<br />
Möglichkeit, dass phantastische Dinge<br />
geschehen –darin gleichen sie sich ja auch.<br />
JR –Darin, dass doch alles möglich ist?<br />
NK –Ja. Aber es ist eben auch ein<br />
Kraftaufwand, alles möglich zu machen.<br />
Das kommt auch mit dem gesunden<br />
Grössenwahn, von dem ich vorhin<br />
gesprochen habe. Sich nicht zu<br />
beschneiden, sich nicht einzuschränken,<br />
sondern erst einmal zu sagen: Los<br />
geht die Reise und mal sehen, wo wir<br />
ankommen! Ich würde Probenarbeiten<br />
mit Antú auch immer als eine gute<br />
Art von Reise beschreiben. Die einen<br />
guten Startpunkt hat, dann geht es auch<br />
mal hoch und auch mal runter. Da ist<br />
Platz zum Atmen.<br />
Peer Gynt<br />
von Henrik Ibsen<br />
Regie Antú Romero Nunes, Bühne<br />
Florian Lösche, Kostüme Judith Hepting,<br />
Musik Johannes Hofmann,<br />
Video Sebastian Pircher,<br />
Dramaturgie Sibylle Baschung<br />
Mit Michael Goldberg,<br />
Henrike Johanna Jörissen, Nils Kahnwald<br />
Seit 20.September im Schiffbau/Box<br />
Neueinstudierung einer Produktion des<br />
Schauspiel Frankfurt<br />
Alice im Wunderland<br />
nach Lewis Carroll<br />
Regie Antú Romero Nunes, Bühne<br />
Florian Lösche, Kostüme Judith Hepting,<br />
Musik Johannes Hofmann,<br />
Dramaturgie Julia Reichert<br />
Mit Hilke Altefrohne, Henrike Johanna<br />
Jörissen, Nils Kahnwald, Claudius Körber,<br />
Jirka Zett sowie Anna Katharina Bauer,<br />
Lisa Marie Neumann<br />
Ab 8. November im Pfauen