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Schauspielhaus Zürich Zeitung #9

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14 Essay<br />

15<br />

Zauber der Bohème<br />

„Mir gefallen diese Dinge, die einen sosüssen<br />

Zauber haben, die von Liebe sprechen,<br />

vom Frühling, von Träumen und Hirngespinsten,<br />

diese Dinge, die Poesie heissen.“<br />

aus „Das Leben der Bohème“ von Aki Kaurismäki<br />

Aki Kaurismäki<br />

Was versteht man eigentlich unter<br />

der „Bohème“ und worauf beruft<br />

sich Aki Kaurismäki in seinem Film<br />

„Das Leben der Bohème“? Der<br />

Filmwissenschaftler Günter Krenn<br />

geht der Frage auf den Grund.<br />

Die Regisseurin Corinna von Rad,<br />

die sowohl im Schauspiel als<br />

auch im Musiktheater tätig ist, und<br />

zuletzt „Zwerg Nase“ im Pfauen<br />

inszenierte, wird sich ausgehend von<br />

Kaurismäkis „Leben der Bohème“<br />

diesem poetischen Stoff zusammen mit<br />

einem Ensemble von Schauspielern<br />

und Musikern widmen.<br />

VonGünter Krenn<br />

Bordellhalter, Lastträger, Literaten,<br />

Orgeldreher, Lumpensammler,<br />

Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler –<br />

solcherart bunt personifizierte Karl<br />

Marx einen Mitte des 19.Jahrhunderts<br />

in Mode gekommenen Begriff, „kurz<br />

die unbestimmte, aufgelöste, hin und her<br />

geworfene Masse, die die Franzosen<br />

la Bohème nennen.“ Honoré deBalzac,<br />

der den Begriff 1840 im Titel eines<br />

Bandes seiner „La Comédie humaine“<br />

verwendete („Ein Fürst der Bohème“)<br />

sah in ihnen Leute aus gutem Hause,<br />

Aristokraten und Bürgersöhne, aber auch<br />

Journalisten, Schriftsteller und Künstler,<br />

also eine Halbwelt aus Begüterten und<br />

Lebenskünstlern. Der Name selbst<br />

spielt auf Böhmen an, dem Land,<br />

aus dem nach der zeitgenössischen<br />

französischen Meinung die Roma<br />

herstammten (spätestens seit Monsieur<br />

Sarkozy wird inFrankreich anders<br />

zugeordnet).<br />

In der, quod erat demonstrandum,<br />

immer schon recht willkürlich auslegbaren<br />

Metapher Bohème vereint sich heute<br />

die idealisierte Vorstellung von nicht<br />

bürgerlichem Leben und künstlerischem<br />

Talent. Ihre Anhänger formierten sich<br />

nach der Juli-Revolution 1830 und<br />

rekrutierten sich vor allem aus dem<br />

Kleinbürgertum. Unter ihnen waren der<br />

Maler Gustave Courbet sowie die<br />

Schriftsteller Henri Murger und Jules<br />

Champfleury, die in Konkurrenz zu<br />

begüterten Künstlern wie Flaubert oder<br />

den Brüdern Edmond und Jules de<br />

Goncourt standen. Murger hat allerdings<br />

immer betont, dass sein Werk nicht<br />

1830 in Paris sondern „zu allen Zeiten<br />

und allerorts“ spiele. Er bezeichnet<br />

in seiner Vorrede zu seinem Buch<br />

„Scènes de la vie de Bohème“ mit dem<br />

Terminus Maler, Musiker, Schriftsteller,<br />

Bildhauer und Philosophen, die um<br />

ihre Existenz ringen, bestand aber<br />

darauf, dass für echte Bohémiens ihr<br />

unbürgerliches Leben nur ein<br />

Übergangsstadium darstellt, bis sie<br />

vom Ertrag ihrer Werke mehr als gut<br />

leben können.<br />

Die bühnentaugliche Bearbeitung der<br />

Buchvorlage erfolgte zunächst durch<br />

Murger selbst, der seinen Roman<br />

gemeinsam mit Théodore Barrière 1849<br />

in das Theaterstück „La vie de Bohème“<br />

umwandelte. Nicht zuletzt durch die<br />

Adaptierung des Stoffes durch zwei<br />

italienische Opernkomponisten, Ruggero<br />

Leoncavallo und vor allem Giacomo<br />

Puccini (1896), blieb der Bohème-Begriff<br />

denn auch in Murgers phantasievoller<br />

Ausprägung der geläufigste. Durch<br />

die ungebrochene Popularität von Puccinis<br />

Version liest sich Bohème heute als<br />

flexible Metapher zwischen überlebter<br />

Historie und verklärter Idylle, mit<br />

Akzentuierung auf letzterer. Bereits<br />

in der ersten literarischen Manifestation<br />

zeichnet sich ab: Die Ungebundenheit<br />

ihrer Lebenssituation erlaubt den witzigüberhobenen<br />

Tonder Bohémiens.<br />

Der Galgenhumor der Lebenskünstler<br />

schuf eine eigene Sprach- und Begriffswelt,<br />

um deren Akkordanz Murger sich sehr<br />

bemühte: „Alle Stilmischungen finden<br />

sich in diesem unerhörten Idiom,<br />

wo apokalyptische Wendungen neben<br />

Unsinn stehen, wo die Derbheit der<br />

Volkssprache sich mit phantastischen<br />

Perioden verbindet (...) ein Jargon,<br />

dessen Kühnheit die freiesten Sprachen<br />

übertrifft. Dieses Wörterbuch der<br />

Bohème ist die Hölle der Rhetorik und<br />

das Paradies des Neologismus.“<br />

In diesem Umfeld ist vermutlich der<br />

eigentliche Kern des Begriffes zu<br />

suchen, dort finden alle dramaturgischen<br />

Varianten Unterschlupf, von Murger<br />

über Puccini bis zu filmischen Variationen<br />

von Géza von Bolvary („Zauber der<br />

Bohème“, 1937) über Aki Kaurismäki<br />

(„Das Leben der Bohème“, 1992) bis hin<br />

zu Baz Luhrman („Moulin Rouge!“, 2001).<br />

Der Film hatte das populäre Thema<br />

früh für sich entdeckt. „Men die<br />

and governments change but the songs<br />

of ‚La Bohème‘ will live forever“ –<br />

lauten die Worte eines Briefes, mit dem<br />

Thomas Alva Edison im September<br />

1920 seinem Respekt für Puccinis Oper<br />

Ausdruck verleiht. Zehn Jahre zuvor<br />

hatte seine Gesellschaft „La Bohème“<br />

erstmals verfilmt, zahlreiche Stummund<br />

Tonfilmadaptierungen sollten folgen,<br />

die meist auf Puccini und weniger<br />

auf Murger basierten. Zu den Ausnahmen<br />

zählt Aki Kaurismäki, der bei seinem<br />

Film Wert auf die Feststellung legte,<br />

dass er sich nicht auf die Oper, sondern<br />

ausschliesslich auf Murger bezog.<br />

„Die Oper ist eine aussterbende Gattung“,<br />

heisst esbezeichnenderweise in<br />

seinem Film. Puccini hatte „La Bohème“<br />

allerdings nicht als Oper sondern<br />

wie das literarische Vorbild als „Szenen“<br />

bezeichnet. Die lyrische Komponente<br />

überwiegt gegenüber der dramatischen,<br />

wenngleich letztere sich speziell<br />

gegen Ende als unverzichtbar erweist.<br />

Die illustrative Kolorierung einzelner<br />

Situationen tritt an vielen Stellen vor die<br />

eigentliche Handlung, ohne dass diese<br />

jedoch dadurch vernachlässigt wird.<br />

Murger schrieb seine „Bohème“ in betont<br />

heiterem Stil, für „ein Lachen, das<br />

nahe den Tränen“ liegt. Die Handlung<br />

des Romans zentriert ziemlich<br />

gleichmässig jeden der vier männlichen<br />

Charaktere, einige Kapitel sind Mimi,<br />

ihrer Vorgängerin Francine und Musette<br />

gewidmet. Puccinis Oper balanciert<br />

in der Introduktion das männliche<br />

Quartett, um sich im weiteren Verlauf auf<br />

die beiden Paare und schliesslich das<br />

tragische der beiden zu konzentrieren. In<br />

der Vorlage Murgers verdingt sich Mimi<br />

ihren Unterhalt als Maitresse wechselnder<br />

Herrenbekanntschaften und nimmt auch<br />

ihre Liebe zu Rudolf als Teil eines grossen<br />

Spiels, dessen Einsatz sie stets selbst zu<br />

bestimmen trachtet. Die Oper wählte das<br />

unhappy end, also die, gemessen am<br />

literarischen Vorbild, nicht zu Ende erzählte<br />

Geschichte, denn Murgers Roman<br />

schliesst nicht mit Mimis Tod, sondern<br />

beschreibt danach noch die gutbürgerliche<br />

Karriere von Rodolphe und Marcel.<br />

Kaurismäkis „Das Leben der Bohème“<br />

zeigt moderne Bohémiens, über seine<br />

Version wurde geschrieben, dass, während<br />

bei Puccini die Pariser Atmosphäre die<br />

eigentliche Heldin sei, sich der Finne mehr<br />

für den Lebensstil seiner Protagonisten<br />

interessiere. Diese wären zwar nach<br />

wie vor von den Sehnsüchten des<br />

19.Jahrhunderts gesteuert, aber dennoch<br />

unverkennbar Menschen von heute:<br />

„So wie sie sich ihre Kleider beim Trödler<br />

zusammenstellen, kommen auch all<br />

ihre Eigenschaften heute vor. Sie sind<br />

postmoderne Individualisten.“<br />

Was wir heute als klassische Kunst<br />

definieren, meint Baz Luhrman, war<br />

bei ihrer Entstehung Pop: „Man glaubte,<br />

dass Shakespeare nicht von Dauer<br />

sein werde. Oder die griechischen<br />

Skulpturen. Die Akropolis war inbunten<br />

Disco-Farben bemalt –das ist die<br />

Wahrheit! ‚La Bohème‘ war die TV-Show<br />

ihrer Zeit.“ An einer Weiterdichtung<br />

des Bohème-Begriffs ist demnach wohl<br />

nicht zu zweifeln, zu gut kann sich<br />

jede neue Generation darin wiederfinden,<br />

sich ihre eigene Interpretation davon<br />

erstellen. Der offenbar unverzichtbare<br />

Mythos wird weiter gedeihen, wie es in<br />

„Bohemian Rhapsody“ von Queen heisst<br />

(um dem eingangs zitierten Personal<br />

noch die Rockmusiker zu addieren):<br />

„Any way the wind blows ...“<br />

Das Leben der Bohème<br />

nach dem Film von Aki Kaurismäki<br />

Regie Corinna von Rad, Bühne<br />

Piero Vinciguerra, Kostüme<br />

Sabine Blickenstorfer, Musik<br />

Jürg Kienberger, Dramaturgie<br />

Gwendolyne Melchinger<br />

Mit Klaus Brömmelmeier, Daniel Sailer,<br />

Jürg Kienberger, Dagna Litzenberger Vinet,<br />

Peter Conradin Zumthor, Nicolas Rosat,<br />

Vreni Urech<br />

Ab 2. November im Schiffbau/Box<br />

Unterstützt von der Gesellschaft der<br />

Freunde des <strong>Schauspielhaus</strong>es

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