Schauspielhaus Zürich Zeitung #9
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4<br />
5 Essay<br />
Die Umkehrung<br />
Woyzeck und Marie: Jirka Zett und Henrike Johanna Jörissen<br />
Zum Saisonauftakt sind am<br />
<strong>Schauspielhaus</strong> mit Franz Kafkas<br />
„Der Prozess“ und Georg Büchners<br />
„Woyzeck“ zwei grosse Stoffe der<br />
Weltliteratur zu sehen, die auf sehr<br />
unterschiedliche Weise die Frage<br />
nach dem Verhältnis von Gesellschaft<br />
und individueller Freiheit stellen.<br />
VonKaspar Surber<br />
Franz Woyzeck und Josef K. sind beide<br />
dreissig Jahre alt, K. wird exakt an<br />
seinem 30. Geburtstag in seiner Wohnung<br />
verhaftet. Das gleiche Alter kann ein<br />
Hinweis sein, dass die beiden Figuren<br />
etwas miteinander zu tun haben.<br />
Wer selbst schon den 30. Geburtstag<br />
erlebt hat, weiss, dass an diesem<br />
Tagdie Erinnerung an die Vergangenheit,<br />
an Kindheit, Jugend, Liebe, Beruf<br />
zusammenfällt mit dem Ausblick in die<br />
Zukunft, in die Möglichkeiten, die folgen<br />
werden. Jetzt kann, könnte nochmals<br />
alles geändert werden! Der 30. Geburtstag<br />
handelt vom Verhältnis des Einzelnen zur<br />
Gesellschaft. Ich rief drei meiner Freunde<br />
an, wir trafen uns und sprachen lange.<br />
Ein friedlicher, nur leicht bedrohlicher Tag.<br />
Woyzeck ist zudiesem Zeitpunkt bereits<br />
verfolgt, Josef K. wird gleich verhaftet.<br />
Sie werden vom Gesetz zugerichtet<br />
oder verlieren sich selbst darin. Georg<br />
Büchner hat, selbst noch jünger,<br />
das Drama seines 30-Jährigen zu Beginn<br />
des 19.Jahrhunderts niedergeschrieben.<br />
Damals wurden die Freiheitsrechte<br />
erkämpft und doch war schon absehbar,<br />
dass sie in eine neue, industrialisierte<br />
Ordnung führen, wo einer wie Woyzeck<br />
zur Disziplinierung, die nun in der Gestalt<br />
wissenschaftlicher Forschung aufscheint,<br />
seine Erbsen zu essen hat. Franz Kafka<br />
beginnt mit der Arbeit am „Prozess“ im<br />
Sommer 1914,als der mittlerweile kolonial<br />
expandierte, nationalistisch hochgeputschte<br />
Kapitalismus in den Ersten Weltkrieg<br />
übergeht.<br />
Dass beide Texte Fragmente bleiben,<br />
macht sie nur stärker, weil das Verhältnis<br />
des einen zu den anderen zwangsläufig<br />
offen bleibt. Sie zählen deshalb zu<br />
den wichtigsten Texten der modernen<br />
Literatur, weil sie klar machen, dass es<br />
eine Gesellschaft gibt, was auch immer<br />
uns die gegenwärtig vorherrschende<br />
Ideologie an individueller Freiheit gerade<br />
verspricht. Eine Gesellschaft, deren<br />
Recht die Menschen herrichtet, sie im<br />
glücklicheren Fall aber auch berechtigt,<br />
ermächtigt. Woyzeck und Josef K.<br />
sind keine glücklichen Fälle.<br />
Woyzeck: Ja, wahrhaftig, ich möcht mich<br />
nicht blutig mache.<br />
Käthe: Aber was hast duandie Hand?<br />
Woyzeck: Ich? Ich?<br />
Käthe: Rot! Blut.<br />
(Es stellen sich Leute um sie.)<br />
Woyzeck: Blut? Blut?<br />
Wirt: Uu Blut.<br />
Woyzeck: Ich glaub ich hab mich<br />
geschnitte, da an die rechte Hand.<br />
Wirt: Wie kommts aber an de Ellenbog?<br />
Woyzeck: Ich habs abgewischt.<br />
Wirt: Was, mit de rechten Hand an de<br />
rechte Ellboge? Ihr seid geschickt.<br />
Karl: Und da hat der Ries gesagt: ich<br />
riech, ich riech, ich riech Menschefleisch!<br />
Puh! Der stinkt schon.<br />
Woyzeck: Teufel, was wollt ihr? Was<br />
gehts euch an? Platz! Oder der erste –<br />
Teufel! Meint ihr, ich hätt jemand<br />
umgebracht? Bin ich Mörder? Was gafft<br />
ihr? Guckt euch selbst an! Platz da.<br />
(Er läuft hinaus.)<br />
Woyzeck, von der Wissenschaft und<br />
dem Militär diszipliniert, von der Freundin<br />
Marie betrogen, ist ein Gehetzter. Was<br />
Innenwelt ist und was aussen, verwischt<br />
sich in Büchners flirrender, fiebriger<br />
Montage. Es pocht hinter Woyzeck, unter<br />
ihm, er hält das Ohr an den Erdboden:<br />
„Hör ichs da auch, sagt es der Wind<br />
auch? Hör ichs, immer, immer zu, stich<br />
tot, tot?“ Woyzeck wird zur Tatgetrieben:<br />
Er bringt Marie um. Der Gerichtsdiener<br />
wird imSchlusssatz festhalten: „Ein guter<br />
Mord, ein ächter Mord, ein schöner<br />
Mord, so schön als man ihn nur verlangen<br />
tun kann, wir haben schon lange so<br />
kein gehabt.“<br />
Bin ich Mörder? Guckt euch selbst an!<br />
Kafkas Prozess braucht keine Tatmehr,<br />
der Text beginnt mit ihrer Abwesenheit:<br />
„Jemand musste Josef K. verleumdet<br />
haben, denn ohne dass er etwas Böses<br />
getan hätte, wurde er eines Morgens<br />
verhaftet“, heisst der berühmte erste Satz.<br />
Einer der Wächter erklärt die Verhaftung:<br />
„Unsere Behörde, soweit ich sie kenne,<br />
und ich kenne nur die niedrigsten Grade,<br />
sucht doch nicht etwa die Schuld in<br />
der Bevölkerung, sondern wird, wie es im<br />
Gesetz heisst, von der Schuld angezogen<br />
und muss uns Wächter ausschicken, das<br />
ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?“<br />
„Dieses Gesetz kenne ich nicht“, sagte K.<br />
„Desto schlimmer für Sie“, sagte der<br />
Wächter.<br />
„Es besteht wohl auch nur in Ihren<br />
Köpfen“, sagte K., er wollte sich<br />
irgendwie in die Gedanken der Wächter<br />
einschleichen, sie zu seinen Gunsten<br />
wenden oder sich dort einbürgern.<br />
Aber der Wächter sagt nur abweisend:<br />
„Sie werden es zu fühlen bekommen.“<br />
Ein Jahr lang bemüht sich Josef K.,<br />
mehr über das Gericht zu erfahren, irrt<br />
vergeblich durch Gerichtssäle, die sich<br />
in den Dachkammern heruntergekommener<br />
Stadtviertel befinden. Am Vorabend<br />
seines 31.Geburtstages kommen<br />
zwei Herren und bringen ihn in einen<br />
Steinbruch ausserhalb der Stadt. Einer<br />
legt ihm die Hand an die Gurgel,<br />
der andere stösst ihm das Messer ins<br />
Herz. „Wie ein Hund!“, lauten die<br />
letzten Worte von Josef K.<br />
Woyzeck ist ein Opfer der<br />
gesellschaftlichen Umstände, die<br />
Büchner, der Mediziner und Dramatiker,<br />
in all ihren Widersprüchen seziert.<br />
Die Menschen in seinen Stücken spielen<br />
nicht, sondern werden gespielt: Eine<br />
politisch aktuelle Erfahrung, die bei<br />
Büchner, dem Revolutionär, gerade nicht<br />
zu einer Ohnmacht führt. Er schlägt<br />
sich nicht parteiisch auf Woyzecks Seite,<br />
sondern schildert, ein weit stärkeres<br />
Plädoyer für den Schwachen, die<br />
existenzielle Dimension seines Schicksals.<br />
Josef K., und hier ist Kafkas Zeit einen<br />
Schritt weiter, macht sich im Prozess<br />
das Gesetz zueigen, indem er sich<br />
dagegen verteidigen will. Je mehr er sich<br />
wehrt, umso dominanter wird esin<br />
seinem Kopf. Kafka ist stark von der<br />
jüdischen Mystik geprägt: In der Parabel<br />
des Gefängniskaplans kommt ein Mann<br />
vor die Türdes Gesetzes, wo er ein<br />
Leben lang auf Eintritt wartet. Am Ende