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Bücher | Sezession 48 · Juni 2012<br />
Schöne Literatur<br />
Jens Wonneberger: Sture<br />
Hunde, Göttingen: Steidl<br />
2012. Roman, 233 S., 19.90 €<br />
Es ist ein paar Jahre her, daß<br />
ich an dieser Stelle deutsche<br />
Autoren aufzählte, die wir »im<br />
Auge behalten sollten«. Einen<br />
Roman von Jens Wonneberger<br />
kannte ich dam<strong>als</strong> noch nicht,<br />
nun kenne ich einen und habe<br />
meine Autoren-Liste ergänzt.<br />
Sture Hunde <strong>als</strong>o: Der in<br />
Ohorn/Sachsen 1960 geborene<br />
Wonneberger erzählt aus<br />
den Monaten nach der Rückkehr<br />
der Hauptfigur, Martin<br />
Rohrbachs, in sein<br />
Heimatdorf Ahornstein<br />
(dialektal etwa:<br />
Ohornstein). Dort ist<br />
sein Vater verstorben,<br />
die Mutter ist<br />
schon lange tot, und<br />
nach der Beerdigung<br />
bleibt Rohrbach einfach<br />
im elterlichen<br />
Haus auf dem Hügel.<br />
Seine Wohnung<br />
in der Stadt besucht<br />
er noch zweimal, seine Stelle<br />
in einem Institut für Kommunikationsforschung<br />
läßt er ruhen,<br />
irgendwann kündigt er.<br />
In Ahornstein trifft er manches<br />
so an, <strong>als</strong> seien nicht zwei Jahrzehnte<br />
vergangen, seit er zum<br />
Studium aufbrach und nicht<br />
wiederkehrte, sondern bloß ein<br />
Tag: In der Trinkhalle sammeln<br />
sich die Kumpels von früher,<br />
die Gespräche haben sich<br />
in Form, Niveau und inhaltlich<br />
nicht weiterentwickelt, ein<br />
paar alte Mißverständnisse und<br />
Rivalitäten sind nicht vergessen<br />
und müssen ausgeräumt<br />
werden, und die Jugendliebe<br />
kommt – frisch geschieden –<br />
nicht nur tags zu Besuch. Deren<br />
Vater vermutet auf einem zu<br />
Unrecht den Rohrbachs zugeteilten<br />
Stück Landes einen vergrabenen<br />
Schatz aus dem enteigneten<br />
Rittergut, aber man<br />
findet nichts. Man findet auch<br />
im Roman nichts, keinen vergrabenen<br />
Sinn, kein Urteil über<br />
dieses Dorf – nur eine latente,<br />
durch Wonnebergers Sprache<br />
glänzend eingefangene Atmosphäre<br />
des Gehen-Wollens,<br />
Aufbrechen-Müssens in eine<br />
weite Welt. Wer Phantasie hat<br />
und jung ist, will solch ein<br />
Dorf verlassen, Rohrbach tat<br />
es. »Die Vorstellung, ein Leben<br />
lang mit denselben Leuten<br />
am Sonnabendnachmittag<br />
auf dem Dorfplatz zu stehen,<br />
bei den gleichen Gesprächen,<br />
den gleichen Witzen und einer<br />
wachsenden Menge Bier, diese<br />
Vorstellung ist es gewesen, die<br />
ihn einst hatte in die Großstadt<br />
gehen lassen.« Indes: Die – von<br />
einem Aufbruchsstandpunkt<br />
aus betrachtet – geradezu jämmerliche<br />
Geborgenheit eines<br />
typischen Ost-Dorfes<br />
ist immerhin eine:<br />
berechenbar, heimatlich,<br />
entlastend, für<br />
manchen eine Rückkehr<br />
wert. Alles ist,<br />
wie es ist, oder ganz<br />
einfach: alles ist,<br />
Punkt – und damit ist<br />
es mehr <strong>als</strong> etwa jene<br />
Erfassung einer Realität<br />
durch die Zahlen,<br />
die Rohrbach<br />
im Institut für Kommunikationsforschung<br />
erheben mußte.<br />
Manchmal machte er sich einen<br />
Spaß daraus, »die Passanten<br />
abzuzählen, jeder fünfte<br />
wünschte sich die Mauer zurück,<br />
bis sechzehn mußte er<br />
zählen, um noch jemanden zu<br />
finden, der noch Achtung vor<br />
Politikern hatte.« Aber wo sind<br />
dieser fünfte und dieser sechzehnte<br />
im Dorf, und was sind<br />
sie darüber hinaus? Rohrbach<br />
»kennt die Statistiken über die<br />
rechte Gesinnung der Jugendlichen<br />
auf dem Land, sie haben<br />
ihm oft genug einen Schrecken<br />
eingejagt, trotzdem gelingt<br />
es ihm jetzt nicht, den jungen<br />
Mann <strong>als</strong> Bedrohung zu empfinden<br />
oder wenigstens mit<br />
Verachtung zu strafen«, denn<br />
der hat freundlich gegrüßt<br />
und befüllt auf dem Dorffest<br />
für die Kinder Luftballons<br />
aus einer Heliumflasche.<br />
In einem Interview, das auf<br />
dem Literaturportal poetenladen.de<br />
veröffentlicht ist,<br />
gibt Wonneberger sein Des-<br />
interesse an freier Fiktion zu<br />
Protokoll. Er müsse »über<br />
das schreiben, was ich erlebt<br />
habe, über mein Umfeld, das<br />
ich zu kennen glaube« – wobei<br />
das ein bißchen zu bescheiden<br />
klingt: Natürlich kennt<br />
Wonneberger die Ahornsteiner<br />
Typen, und man kann den<br />
Ton, den er anschlägt, um ihre<br />
Dialoge zu notieren, mit dem<br />
Ton Knut Hamsuns vergleichen:<br />
den zugeneigten Blick<br />
auf die einfachen Leute; die<br />
alles Kapriziöse ablehnende<br />
Sprache ohne Spott, Überheblichkeit<br />
oder artistische Zuspitzung<br />
der Wirklichkeit.<br />
Alles geschieht und hat kein<br />
Ziel. Jens Wonneberger hat<br />
die Sprache gefunden, mit<br />
der diese in jeder Hinsicht lebensnahe<br />
Ziellosigkeit zu einem<br />
Roman werden konnte.<br />
William H. Gass: Der Tunnel,<br />
Reinbek: Rowohlt 2011.<br />
Roman, 1093 S., 36.95 €<br />
Vermutlich hat auch der USamerikanische<br />
Autor William<br />
H. Gass irgendeine Sprache gefunden.<br />
Seine bereits 1995 erschienene<br />
Schwarte Der Tunnel<br />
ist nun übersetzt und liegt<br />
angelesen auf meinem Schreibtisch.<br />
Ich habe nicht grundsätzlich<br />
etwas gegen 1093 Seiten,<br />
und die Kurzbeschreibung des<br />
Romans lockte: Ein Professor<br />
Kohler, deutschstämmiger Ich-<br />
Amerikaner, hat ein Werk über<br />
»Schuld und Unschuld im Dritten<br />
Reich« verfaßt und schafft<br />
es nicht, die noch fehlende Einleitung<br />
zu schreiben. Statt dessen<br />
entstehen gleichzeitig eine<br />
immer tiefer schürfende Seelenerforschung<br />
nach dem »Faschisten<br />
in uns« und ein Tunnel,<br />
den Kohler mit vielen Blindgängen<br />
in seinen Garten vortreibt.<br />
Gass’ assoziatives, ausfälliges<br />
Großexperiment wird <strong>als</strong> »Meisterwerk<br />
der Post-Moderne«<br />
gepriesen. Dabei ist es bloß unlesbar:<br />
ein Angeberbuch, über<br />
das man alles und nichts sagen<br />
kann, weil niemand das Urteil<br />
nachzuprüfen vermag. Daher<br />
endet hier meine Rezension.<br />
Götz Kubitschek<br />
46 Bücher