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Menschenfleischsuche<br />

Bernhard Pörksen/Hanne<br />

Detel: Der entfesselte Skandal,<br />

Köln: Herbert von Halem<br />

2012. 248 S., 19.80 €<br />

Hans Mathias Kepplinger: Die<br />

Mechanismen der Skandalisierung.<br />

Zu Guttenberg, Kachelmann,<br />

Sarrazin & Co.:<br />

Warum einige öffentlich untergehen<br />

und andere nicht,<br />

München: Olzog 2012.<br />

224 S., 26.90 €<br />

Nach einigen Fällen von digitaler<br />

Selbstjustiz vor den Olympischen<br />

Spielen in Peking 2008<br />

hat sich dort der Begriff »Menschenfleischsuche«<br />

(Renrou<br />

Sousuo) etabliert. Beschrieben<br />

wird mit diesem martialischen<br />

Begriff, wie sich im Internet<br />

über soziale Netzwerke Lynchmobs<br />

zusammenschließen, die<br />

den Ruf einer Person zerstören<br />

wollen. Der Anlaß dafür ist zumeist<br />

vollkommen banal: ein<br />

peinliches Foto, das irgendwo<br />

auftaucht; ein etwas zu flotter<br />

Spruch oder ein Video auf<br />

Youtube, das Mißverständnisse<br />

auslöst.<br />

Zum Ausgangspunkt ihrer<br />

Skandaltheorie machen dieses<br />

Phänomen Bernhard Pörksen<br />

und Hanne Detel, die an<br />

etlichen Beispielen illustrieren,<br />

wie völlig normale Menschen<br />

durch eine kleine Unachtsamkeit<br />

oder die Handykamera<br />

eines Freundes unrühmliche<br />

Prominenz erlangen. Während<br />

bisher die Medien hauptsächlich<br />

das Verhalten von Mächtigen<br />

skandalisierten, wandelt<br />

sich dies gerade. Die »Überall-Medien«<br />

Handy, Kamera<br />

und Internet sorgen dafür, daß<br />

es jeden zu jeder Zeit treffen<br />

kann. Verbunden damit ist der<br />

Verlust jeglicher Privatsphäre.<br />

Alles ist potentiell öffentlich<br />

und gefährlich, wenn schon die<br />

fünfjährige Tochter ihren Vater<br />

mit einem Schnappschuß landesweit<br />

blamieren kann oder<br />

eine längst vergessene Jugendsünde,<br />

die sich ins Internet verirrt,<br />

zum Verlust des Arbeitsplatzes<br />

führt.<br />

In ihrem Buch Der entfesselte<br />

Skandal fragen Pörksen<br />

und Detel folgerichtig: »Was<br />

passiert, wenn man in dem<br />

Bewußtsein lebt, daß überall<br />

Spiegel herumstehen und<br />

sich die Spiegelung des eigenen<br />

Selbst zu strategischen Zwecken<br />

nutzen läßt?« Die Antwort:<br />

Es führt in eine totale Überwachungsgesellschaft,<br />

in der die<br />

Sucht nach Transparenz und<br />

Selbstdarstellung das gegenseitige<br />

Vertrauen der Menschen<br />

erschüttert. Die Wichtigtuer<br />

und Denunzianten haben in<br />

dieser Gesellschaft das Sagen,<br />

aber nur solange, bis sie durch<br />

einen eigenen Fauxpas gestürzt<br />

werden. Der Skandal ist somit<br />

kein Kampf »David gegen Goliath«<br />

mehr. Vielmehr kämpft<br />

jeder permanent gegen jeden.<br />

Obwohl Hans Mathias Kepplinger<br />

in den letzten Jahrzehnten<br />

immer ein feines Gespür<br />

für Medienopfer hatte, geht er<br />

diesmal auf diesen entscheidenden,<br />

neuen Aspekt überhaupt<br />

nicht ein. Er<br />

füttert lediglich seine<br />

– durchaus profunde –<br />

Kernthese mit neuen<br />

Belegen. Der Mainzer<br />

Kommunikationswissenschaftler<br />

geht davon aus, daß<br />

Skandale in erster<br />

Linie die kollektive<br />

Sichtweise festlegen,<br />

wer zur Öffentlichkeit<br />

dazugehören<br />

darf. Erhellend sind dabei<br />

seine Äußerungen zum Abgang<br />

von Horst Köhler: Dieser<br />

habe seinen drohenden Skandal<br />

frühzeitig durchschaut und<br />

sei deshalb überstürzt abgetreten,<br />

weil er wußte, daß er<br />

machtlos gegen die »Verschwörung«<br />

der Medien ist. Ausgelöst<br />

hatte diesen Skandal übrigens<br />

ein einfacher Student, der<br />

sich in seinem Weblog über<br />

Köhler echauffierte.<br />

Felix Menzel<br />

Geschichtsphilosophie<br />

Alexander Demandt: Philosophie<br />

der Geschichte. Von der<br />

Antike zur Gegenwart, Köln<br />

u.a.: Böhlau 2011. 438 S.,<br />

34.90 €<br />

Alexander Demandt zählt seit<br />

Jahrzehnten zur Crème de<br />

la Crème der deutschen Geschichtswissenschaft.<br />

Diverse<br />

seiner Publikationen bewegen<br />

sich im Horizont der Universalhistorie,<br />

so auch seine neueste<br />

Darstellung über die Philosophie<br />

der Geschichte. Diese<br />

Untersuchung trägt dem Umstand<br />

Rechnung, daß gerade in<br />

den letzten beiden Jahrzehnten<br />

über Deutungen der Geschichte<br />

wieder häufiger (bis in<br />

die Feuilletons hinein) diskutiert<br />

wird.<br />

Gerade die kolossalen Umbrüche<br />

nach 1989/90, etwa<br />

der Aufstieg Ostasiens, lassen<br />

das Bedürfnis nach historischer<br />

Orientierung und Einordnung<br />

wachsen. Insbesondere<br />

die Bestseller von Francis<br />

Fukuyama (Das Ende der Geschichte)<br />

und mehr noch von<br />

Samuel Huntington (Kampf<br />

der Kulturen) sind Ausdruck<br />

dieses Wunsches.<br />

Demandt beleuchtet in 16 Kapiteln<br />

gewohnt gründlich und<br />

gut lesbar die seit<br />

dem antiken Mythos<br />

stets wiederkehrenden<br />

Versuche,<br />

das Auf und Ab<br />

des menschlichen<br />

Daseins im Wandel<br />

der Zeit zu interpretieren.<br />

Die frühen<br />

Kreislauftheorien,<br />

etwa von Polybios,<br />

werden von der linearen<br />

jüdisch-christlichen<br />

Heilsgeschichte abgelöst –<br />

ein Paradigmenwechsel großen<br />

Ausmaßes, der selbst Nietzsche<br />

noch erzürnt. Renaissance,<br />

Aufklärung und Idealismus<br />

sind bezüglich des Verlaufes<br />

der Weltgeschichte zumeist<br />

optimistisch gestimmt. Der<br />

Historismus und vereinzelte<br />

Skeptiker des 19. Jahrhunderts<br />

wie Jacob Burckhardt mahnen<br />

hingegen leise zur Vorsicht vor<br />

Überschwang und Vollkommenheitswahn.<br />

Im 20. Jahrhundert<br />

erhalten sie dafür spätes<br />

Lob. Das ist nicht zuletzt<br />

deshalb verständlich, weil die<br />

totalitären Strömungen auch<br />

<strong>als</strong> »Historizismen« (Karl Popper),<br />

die Einsicht in wesentliche<br />

Geschichtsgesetze vorgeben,<br />

verstanden werden können<br />

und sich <strong>als</strong> notwendige<br />

Exekutoren dieser Prozesse<br />

sehen.<br />

Ein Verdienst der Schrift des<br />

Berliner Althistorikers ist es,<br />

Bücher<br />

49

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