Teil 1 - Smart Region
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Teil 1 - Smart Region
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Band 62 – September 2005<br />
DRV<br />
Schriften<br />
HERAUSGEGEBEN VOM VERBAND DEUTSCHER RENTENVERSICHERUNGSTRÄGER<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong><br />
Eine innovative Maßnahme zur<br />
Bewältigung des demografischen<br />
Wandels<br />
in europäischen <strong>Region</strong>en<br />
September 2005<br />
Download für die folgenden Seiten<br />
Grußworte Seite I bis Seite XX<br />
<strong>Teil</strong> I Seite 5 bis Seite 98
Europas Belegschaften altern – ein Veränderungsprozess, der Unternehmen, den Arbeitsmarkt und<br />
die Politik vor neue Herausforderungen stellt. Im Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> werden innovative Maßnahmen<br />
zum erfolgreichen Umgang mit den künftigen Anforderungen entwickelt.<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> ist ein Projekt im Rahmen des Europäischen Sozialfonds ESF (Art. 6, Innovative<br />
Maßnahmen). Unter dem Titel „Innovative Ansätze zur Bewältigung des Wandels“ beschäftigen sich<br />
dabei europaweit eine Reihe von Projekten mit Fragen des demografischen Wandels und des<br />
Management of Change. Koordiniert vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger arbeiten im<br />
Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> ForscherInnen der Institute INIFES (Augsburg), SÖSTRA (Berlin), der ÖSB<br />
Consulting GmbH (Wien) und des CEDEP der Autonomen Universität Lissabon (UAL) zusammen.<br />
Verantwortlich für diese Ausgabe:<br />
Redaktionsteam:<br />
Dr. Christina Stecker (030) 865 89536 Dr. Christina Stecker (VDR)<br />
Birgit Steppich (030) 865 89545 Dr. Monika Putzing (SÖSTRA)<br />
Petra Hinz (030) 865 89548 Birgit Kriener (ÖSB)<br />
Dr. Andreas Huber (INIFES)<br />
Aktuelle Informationen zum Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> im Internet:<br />
www.smartregion.net<br />
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> – Eine innovative Maßnahme zur Bewältigung des demografischen Wandels in<br />
europäischen <strong>Region</strong>en<br />
Hrsg.: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger.<br />
(DRV-Schriften; Bd. 62, Sonderausgabe der DRV)<br />
ISBN 3-926181-98-2<br />
Herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger.<br />
Verantwortlich für den Gesamtinhalt: Hauptschriftleiter Prof. Dr. Franz Ruland, Stellvertreter Dr. Axel<br />
Reimann, Schriftleiter Dr. Dirk von der Heide, Verband Deutscher Rentenversicherungsträger,<br />
Hallesche Str. 1, 10963 Berlin, Zentrale: Fernruf (030) 865 – 1, Telefax (030) 865 894 00,<br />
Pressestelle: Fernruf (030) 865 – 891 74, Telefax: (030) 865 – 894 25.<br />
Verlag und Anzeigenverwaltung: wdv Gesellschaft für Medien & Kommunikation mbH & Co.OHG,<br />
Postfach 2551, 61295 Bad Homburg, Fernruf (061 72) 670-0, Verlagsort Bad Homburg.<br />
Gesamtherstellung: Central-Druck Trost GmbH & Co. KG, Industriestraße 2, 63131 Heusenstamm,<br />
Fernruf (06104) 606-0.<br />
Verantwortlich für den Anzeigenteil: Walter Piezonka, für Marketing und Vertrieb: Bernd Kremer.<br />
Die Zeitschrift DEUTSCHE RENTENVERSICHERUNG mit den Fachmitteilungen der Deutschen<br />
Rentenversicherung erscheint 12mal jährlich. Preis der Einzelfolge 8,20 Euro incl. MwSt. Bestellungen<br />
nehmen entgegen: der Verlag und der Buchhandel. Abbestellungen nur mit halbjähriger Frist zum<br />
30.06. und 31.12. jedes Jahres. Zahlung jeweils jährlich im Voraus an: wdv, Postbank Frankfurt am<br />
Main, Konto-Nr. 773 08 603, BLZ 500 100 60, Bankkonten: Deutsche Bank AG, Hanau, Konto-Nr. 040<br />
96 49, BLZ: 506 700 09, Frankfurter Sparkasse, Konto-Nr. 705 665, BLZ 500 502 01.<br />
Die mit Namen gekennzeichneten Beiträge geben die Auffassung der Verfasser, aber nicht des<br />
Herausgebers wieder. Die Zeitschrift nimmt nur Originalbeiträge an. Der Nachdruck von Beiträgen ist<br />
nur mit Einwilligung der Schriftleitung unter Quellenangabe gestattet. Beiträge sind an die<br />
Schriftleitung, Hallesche Str. 1, 10963 Berlin, zu richten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />
Besprechungsexemplare übernimmt die Schriftleitung keine Gewähr.<br />
Verlag: wdv Gesellschaft für Medien und Kommunikation mbH & Co. OHG, Siemensstraße 6, 61352<br />
Bad Homburg v.d.H., HRA 3087, Bad Homburg v.d.H., Pers.haft. Gesellschafter:Zeitschriften<br />
VVGVerlags- und Verwaltungs-Gesellschaft mbH & Co. KG, HRA 3096, Bad Homburg v.d.H. sowie<br />
VVG Gesellschaft zur Verlagsbeteiligung und Verwaltung mbH, HRB 5544, vertreten durch die<br />
Geschäftsführer Adolf Hilger, Thomas Kuhn, Rolf M. Laufer, Klaus Tonello, jeweils Siemensstraße 6,<br />
61352 Bad Homburg v.d.H.<br />
2
Inhaltsverzeichnis<br />
Grußwort des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger<br />
Grußwort der Europäischen Kommission<br />
Grußwort des BMWA Österreich<br />
Grußwort des Ressorts für Wirtschaft und Europa des Landes Steiermark<br />
Grußwort der Hans-Böckler-Stiftung<br />
Grußwort der Universität Lissabon (UAL) Portugal<br />
Grußwort der Staatskanzlei Brandenburg<br />
Geleitworte des BMWA Deutschland<br />
I<br />
III<br />
V<br />
VII<br />
IX<br />
XI<br />
XIII<br />
XV<br />
TEIL I<br />
Demografischer Wandel, Arbeitsmarkt und die Chancen für ältere<br />
Erwerbstätige in Europa<br />
1. Christina Stecker, Jürgen Faik<br />
Zum transnationalen EU-Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> im Kontext europäischer<br />
Strukturförderung 7<br />
2. Ralph Conrads, Andreas Huber<br />
Wandlungsphänomene in Europa, regionale Arbeitsmarktpolitik und<br />
Management am Arbeitsmarkt 17<br />
3. Jürgen Faik, Susanne Heidel, Christina Stecker<br />
Demografischer Wandel, Erwerbstätigkeit Älterer und<br />
Frühverrentung in Europa 41<br />
4. Monika Putzing, Jürgen Wahse<br />
Betriebliche Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber Älteren<br />
– Eine Bestandsaufnahme für Ostdeutschland – 73<br />
TEIL II<br />
Die beteiligten <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>-Staaten<br />
5. Ernst Kistler, Andreas Ebert<br />
Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt – Deutschland 101<br />
6. Birgit Kriener, Miša Strobl, Friederike Weber<br />
Österreich: Höchste Zeit für präventive Maßnahmen zur Bewältigung 125<br />
des demografischen Wandels<br />
3
7. Custódio Cónim<br />
Portugal und seine <strong>Region</strong>en – Eine demografische Betrachtung 141<br />
TEIL III<br />
Länderbezogene <strong>Region</strong>alanalysen<br />
8. Andreas Huber, Thomas Staudinger, Ralph Conrads<br />
Die demografische Situation in Bayern (Deutschland) 159<br />
9. Alexander Kühl, Monika Putzing<br />
Land Brandenburg – Aktuelle Situation und Trends der demografischen<br />
Entwicklung (Deutschland) 181<br />
10. Alexander Kühl<br />
Wirkungen der Bevölkerungsentwicklung Thüringens auf den<br />
regionalen Arbeitsmarkt (Deutschland) 207<br />
11. Birgit Kriener, Miša Strobl, Friederike Weber<br />
Das österreichische Bundesland Steiermark als Ausgangspunkt innovativer<br />
regionaler Modelle für alternsgerechtes Arbeiten 229<br />
12. Eduardo de Sousa Ferreira, Rita Ana Domingos<br />
Setúbal – eine krisenempfindliche Halbinsel in Portugal 245<br />
13. Fernando Ribeiro Mendes<br />
Die Wirtschaft der ausgewählten <strong>Region</strong>en in Portugal 253<br />
TEIL IV<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> im Kontext der europäischen Beschäftigungspolitik:<br />
Resümee und Ausblick<br />
14. Birgit Steppich, Volker Schmitt<br />
Das Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> vor dem Hintergrund der beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien und des neuen Lissabon-Prozesses 265<br />
15. Christina Stecker, Birgit Steppich, Monika Putzing<br />
Erste Erkenntnisse und perspektivischer Ausblick über die nächsten<br />
Projektschritte von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> 283<br />
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren<br />
XXI<br />
4
VDRv<br />
Grußwort des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger<br />
Der Arbeitsmarkt hat für die Rentenversicherung eine außerordentlich hohe<br />
Bedeutung, denn die Beschäftigten finanzieren über ihre Beiträge den größten Anteil<br />
des Rentenvolumens. Die gegenwärtig schwache Konjunktur wirkt in vielfältiger<br />
Weise auf verschiedene Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Auch die<br />
Rentenversicherung bleibt davon nicht verschont. Zu den aktuellen Problemen<br />
kommen die zukünftigen Herausforderungen des demografischen Wandels.<br />
Insbesondere der Alterungsprozess der Erwerbsbevölkerung stellt die sozialen<br />
Sicherungssysteme in Deutschland – wie auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten –<br />
vor historisch einmalige Herausforderungen. Die Anpassung und Fortentwicklung der<br />
gesetzlichen Rentenversicherung an die sich ändernden Verhältnisse ist für den VDR<br />
eine zentrale Aufgabe. Die Beteiligung des Spitzenverbandes der gesetzlichen<br />
Rentenversicherung an dem EU-Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> überrascht daher nur auf den<br />
ersten Blick. Denn das Forschungsprojekt behandelt einen für die Rentenversicherung<br />
aktuellen und sehr bedeutsamen Themenkomplex: die Alterung der<br />
Erwerbspersonen und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.<br />
Das Thema Altern ist bisher auf nationaler und europäischer Ebene vielfältig, aber<br />
vorrangig deskriptiv behandelt worden. Die Projektidee von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> folgt der<br />
EU-Strategie, dass nationale Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik in der Praxis<br />
auch regional umgesetzt werden muss. Das wichtigste Ziel des durch den<br />
Europäischen Sozialfonds geförderten Projektes ist, zu einer Umkehr der Frühverrentungspraxis<br />
beizutragen und zu einer Erhöhung der Beschäftigungsquoten<br />
Älterer zu gelangen. Dabei geht es darum, praktische „smarte“ Handlungsstrategien<br />
in ausgewählten kleineren <strong>Region</strong>en und bei Betrieben zu entwickeln und zu<br />
erproben, wobei „smart“ als innovativ, zukunftsweisend und nachhaltig verstanden<br />
wird.<br />
I
Dass die EU-Kommission dem VDR und seinen Projektpartnern den Zuschlag für<br />
dieses Projekt erteilt hat, bedeutet uns Anerkennung und Ansporn. Seit jeher ist die<br />
Kooperation sowohl mit den Ministerien und den sonstigen Verwaltungen als auch<br />
mit der Wissenschaft und der Praxis ein besonderes Anliegen des Verbandes. Hierzu<br />
hat der VDR das Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) eingerichtet, in dessen<br />
Rahmen das Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> eingebunden ist.<br />
Die Rentenversicherung setzt große Hoffnungen auf verwertbare Projektergebnisse,<br />
die auch für die Praxis bei der Beratung der Versicherten und im Rahmen der<br />
Rehabilitation von anwendungsbezogener Relevanz sein werden.<br />
Mit den auf die regionale Ebene fokussierten und durch die Projektpartner in<br />
ausgewählten Betrieben geplanten Vorhaben befinden wir uns auf einem innovativen<br />
Weg, den anstehenden Herausforderungen der demografischen Entwicklung durch<br />
„Best Practice“-Beispiele zu begegnen. Die konkreten Maßnahmen werden einen<br />
Beitrag leisten, die Beschäftigten und die Unternehmen für den vielschichtigen<br />
Themenkomplex „alternde Belegschaften“, zu dem auch das Rentenzugangsalter<br />
zählt, zu sensibilisieren.<br />
Berlin, im Juli 2005<br />
Prof. Dr. Franz Ruland<br />
II
EUROPÄISCHE UNION<br />
Europäischer Sozialfonds<br />
Innovative Maßnahmen nach Artikel 6<br />
Grußwort der Europäischen Kommission<br />
Der demografische Wandel birgt nicht nur eine neue Herausforderung für die Politik.<br />
Vielmehr wird die Alterung europäischer Belegschaften in absehbarer Zeit den<br />
Arbeitsmarkt in allen Mitgliedsstaaten vor tief greifende Veränderungsprozesse<br />
stellen, deren Auswirkungen in den einzelnen Unternehmen für den einzelnen Arbeitnehmer<br />
direkt wahrnehmbar sein werden.<br />
Um einen erfolgreichen Umgang mit diesen zukünftigen Anforderungen sicherstellen<br />
zu können, fördert die Europäische Kommission innerhalb des Artikel 6 Programms<br />
des Europäischen Sozialfonds (ESF) im Förderzeittraum 2004-2006 „Innovative<br />
Ansätze zur Bewältigung des Wandels“, welche sich in zwei spezifischere Unterthemen<br />
gliedern:<br />
1. Die Bewältigung des demografischen Wandels mit dem Ziel, innovative Initiativen<br />
zur Förderung des aktiven Alterns und zur Steigerung der Beschäftigungsquote<br />
älterer Arbeitnehmer zu unterstützen sowie<br />
2. das Management der Umstrukturierung mit dem Ziel, innovative Lösungen bei der<br />
Umstrukturierung durch Verbesserung der Anpassungs- und Antizipationsfähigkeit<br />
von Arbeitnehmern, Unternehmen und Behörden zu fördern.<br />
Die im Programmplanungszeitraum 2000-2006 geförderten Projekte sollen die<br />
allgemeinen ESF-Interventionen unterstützen, neue Ansätze fördern und Beispiele<br />
vorbildlicher Praktiken aufzeigen, die in die allgemeinen ESF-Aktivitäten übertragen<br />
werden können.<br />
III
Das Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> wurde als eines von 33 geförderten Europäischen<br />
Projekten zur Thematik „Innovative Ansätze zur Bewältigung des Wandels“ im<br />
Dezember 2004 mit einer Laufzeit von 24 Monaten gestartet. Das Kernanliegen des<br />
Projektes <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> ist dabei nicht nur die Untersuchung der Auswirkungen der<br />
demografischen Entwicklungen auf regionale Arbeitsmärkte bzw. der Rolle der<br />
Frühverrentung und letztlich damit die Förderung der Arbeitsfähigkeit für ältere<br />
Beschäftigtengruppen. Ziel ist vielmehr die Ermöglichung alternsgerechten Arbeitens<br />
für alle Beschäftigten und Altersgruppen – nicht zuletzt für die Babyboomer der<br />
starken Geburtsjahrgänge der sechziger Jahre, die in den nächsten Jahren der<br />
Gruppe der älteren ArbeitnehmerInnen angehören werden und dann möglichst lange<br />
im Arbeitsprozess integriert werden sollen, um schließlich gesund in den Ruhestand<br />
überzutreten.<br />
Wie die vorliegende Publikation zeigt, befindet sich das Projekt nach den ersten<br />
sechs Monaten auf einem guten Weg. Es wurden die ersten konkreten Arbeiten,<br />
sowie die Durchführung der ersten Maßnahmen auf Basis der bereits gewonnenen<br />
wissenschaftlichen Befunde in den <strong>Region</strong>en begonnen. Besonders hervorzuheben<br />
ist die positive Resonanz der Akteure in den <strong>Region</strong>en. Dies unterstreicht einmal<br />
mehr die Notwendigkeit innovativer Ansätze, wie sie das Artikel-6-Programm fördert.<br />
Brüssel, im Juli 2005<br />
Brendan Sinnott<br />
Referatsleiter<br />
Europäische Kommission<br />
GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit<br />
Weitere Informationen zur Artikel-6-Förderung im Programmplanungszeitraum 2000-2006:<br />
http://europa.eu.int/comm/employment_social/esf2000/article_6-de.htm<br />
IV
Grußwort des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit –<br />
Österreich<br />
Österreich steht unverändert zur gemeinschaftlichen Verpflichtung der EU, die Beschäftigungsquote<br />
älterer Arbeitnehmer zu erhöhen und damit das europäische Wirtschafts-<br />
und Sozialmodell weiter zu entwickeln. Dazu wurden gezielte Maß-nahmen<br />
in Angriff genommen: Pensionsreform, selektive Lohnnebenkostensenkung, Forcierung<br />
der aktiven Arbeitsmarktpolitik für diese Zielgruppe und dergleichen. Als österreichischer<br />
Wirtschafts- und Arbeitsminister finde ich mich in voller Übereinstimmung<br />
mit verschiedenen Experten, der OECD und der Europäischen Kommission, dass<br />
ältere Arbeitnehmer vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ein unverzichtbares<br />
Potenzial an Humanressourcen darstellen, das substanziell zu<br />
Wirtschaftswachstum und Produktivitätsentwicklung beiträgt.<br />
Damit ist die österreichische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik auf dem<br />
richtigen Weg. Schon jetzt werden die Maßnahmen Österreichs, Anreize für bessere<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Menschen zu schaffen und den Arbeitsmarkt<br />
zu flexibilisieren, auf europäischer und internationaler Ebene anerkannt.<br />
Um diesen Weg weiter zu beschreiten, werden im Projekt „<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>“ neue<br />
Lösungsansätze für die Auswirkungen der demografischen Entwicklung erforscht,<br />
innovative Formen der Beschäftigungsverlängerung für ältere Arbeitnehmer entwickelt<br />
und insgesamt ein Beitrag zur Sensibilisierung im Bereich alters- und<br />
alternsgerechten Arbeitens geleistet.<br />
Aus diesen Gründen unterstützt mein Ressort dieses zukunftsweisende internationale<br />
Projekt in Erwartung der weiter führenden Anstöße.<br />
Wien, im Juli 2005<br />
Dr. Martin Bartenstein<br />
V
Grußwort des Ressorts für Wirtschaft und Europa des Landes<br />
Steiermark<br />
Eine große Herausforderung der kommenden Jahre ist die Veränderung der Altersstruktur<br />
der Erwerbstätigen aufgrund der demografischen Entwicklung. Dies erfordert<br />
unterschiedlichste Aktivitäten seitens der Unternehmen, der ArbeitnehmerInnen, aber<br />
natürlich auch der Politik. Um dieser Herausforderung zu begegnen, sind – möglichst<br />
präventive – Strategien und Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, die von der<br />
Qualifizierung über die innerbetriebliche Arbeitsgestaltung, die bessere Nutzung und<br />
Weiterentwicklung des intergenerativen Wissenstransfers zwischen jungen und<br />
älteren Arbeitskräften bis zum Thema der betrieblichen Gesundheitsvorsorge<br />
reichen. Das Wirtschaftsressort des Landes Steiermark fördert daher bereits seit<br />
einigen Jahren Maßnahmen, die das Thema „Ältere“ zum Inhalt haben. Weiters<br />
wurde eine Koordinationsstelle „Altersgerechte Arbeitswelt Steiermark“ mit dem<br />
Auftrag eingerichtet, im Dialog mit Expertinnen und Experten die einzelnen Initiativen<br />
in diesem Bereich – wie das Projekt „<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>“ – abzustimmen, damit die<br />
unterschiedlichen Aktivitäten effizient und den Zusammenhang beachtend zur<br />
Lösung dieser vielschichtigen Gesamtproblematik beitragen.<br />
Graz, im Juli 2005<br />
Landesrat Univ.Prof. DDr. Gerald Schöpfer<br />
VII
VIII
Grußwort der Hans-Böckler-Stiftung<br />
„Alternsgerechtes Arbeiten in innovativen <strong>Region</strong>en“ – mit diesem Projektthema und<br />
den geplanten Analyse- und beispielhaften Umsetzungsarbeiten trifft das Projekt<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> inhaltlich sogar mehrere Forschungs- und Förderungslinien in der<br />
Hans-Böckler-Stiftung. Die Stiftung unterstützt daher das gesamte Vorhaben und<br />
spezifisch das <strong>Teil</strong>projekt von INIFES und verbindet diese Förderung mit großen<br />
Erwartungen an die Ergebnisse und deren praktische Relevanz.<br />
Dass die regionalen Spezifika der demografischen Veränderungen und der weiteren<br />
Rahmenbedingungen für ein alternsgerechtes Arbeiten sehr stark ausgeprägt sind,<br />
das beweisen bereits die ersten Ergebnisse des Vorhabens in diesem Band. Bisher<br />
wurde in einschlägigen Arbeiten der regionale Aspekt leider weitgehend ausgeklammert,<br />
was die Übertragbarkeit mancher Befunde erheblich einschränkt. Mit <strong>Smart</strong><br />
<strong>Region</strong> wird die Suche nach angepassten und integrierten Maßnahmen alternsgerechten<br />
Arbeitens daher ein Stück weit vorangebracht werden. Aus Sicht der Stiftung<br />
kommt dabei – neben dem spannenden internationalen Vergleich – der regionalen<br />
Komparatistik und der Aufbereitung der regionalisierten Daten ein besonderer<br />
Stellenwert zu. Die bisherigen vielfältigen Sensibilisierungs- und Transferaktivitäten<br />
des Projektes und die darauf fußende große Nachfrage nach Zwischenergebnissen<br />
zeigt ja auch, dass die „hautnahen“ <strong>Region</strong>alinformationen ein guter Weg sind, die<br />
eher abstrakten demografischen Fakten zu vermitteln und für das Thema „Alternsgerechtes<br />
Arbeiten“ zu sensibilisieren.<br />
IX
Dazu trägt auch bei, dass das Projekt nicht nur auf einen wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisgewinn orientiert ist, sondern sehr praxisverbunden die Gestaltungsaufgaben<br />
betont. Die dabei praktizierte Verbindung von betrieblicher und außerbetrieblicher<br />
Dimension gewinnt durch eine innovative Idee des Vorhabens eine besondere<br />
Attraktivität:<br />
Da sich der VDR dankenswerterweise als Koordinator und als Projektpartner in das<br />
Vorhaben einbringt, wird es erstmals gelingen, demografische und arbeitsmarktbezogene<br />
Informationen gleichzeitig mit Rentenversicherungsdaten mit in den Blick<br />
zu nehmen. Genau an diesem Punkt haben die isolierten Sichtweisen in bisherigen<br />
Debatten (auch in vielen Berichten von Kommissionen etc.) oft zu kurz gegriffen.<br />
Düsseldorf, im Juli 2005<br />
Dr. Gudrun Linne<br />
X
Grußwort der Universidade Autónoma de Lisboa (UAL)<br />
Ebenso wie im restlichen Europa, findet auch in Portugal eine starke Überalterung der<br />
Bevölkerung statt, deren Konsequenzen sich sowohl im sozialen Gefüge der Gesellschaft,<br />
wie auch im System des Sozialschutzes selbst widerspiegeln.<br />
Um diesem Phänomen begegnen zu können, ist es dringend erforderlich, sozialpolitische<br />
Maßnahmen zu enwickeln, welche die älteren Arbeitnehmer dazu anregen, in ihren Arbeitsverhältnissen<br />
zu verbleiben. Damit diese Politik der Anreize jedoch positive Resultate<br />
zeitigen kann, ist es von grundlegender Wichtigkeit, die Fort- und Weiterbildung des einzelnen<br />
Beschäftigten im Laufe seines Lebens, ebenso wie seine mögliche Umschulung auf<br />
neue Aufgaben und neue Tätigkeiten in Betracht zu ziehen, was, in Verbindung mit seiner<br />
Erfahrung, eine produktive berufliche Leistung bis in ein sehr viel höheres Alter gestattet.<br />
Solche Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge können nur anhand eingehender Untersuchungen<br />
der gegenwärtigen Realität durchgeführt werden, auf deren Grundlage ein klares,<br />
kohärentes und wirksames Handeln in der Zukunft aufbauen kann.<br />
Aufgrund dieser Überlegung hat die Universidade Autónoma de Lisboa die Herausforderung<br />
des Projektes „<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>“ angenommen, sich an dessen Finanzierung beteiligt und<br />
leistet damit einen Beitrag zur langfristigen Fortentwicklung des Sozialschutzes.<br />
Lissabon, im Juli 2005<br />
Reginaldo Rodrigues de Almeida<br />
Secretário-Geral<br />
XI
XII
Staatskanzlei<br />
Grußwort der Staatskanzlei Brandenburg<br />
Der demografische Wandel hat eine Vielzahl von Facetten. Die in Ostdeutschland<br />
bereits seit Mitte der 1980er Jahre rückläufige und nach 1990 drastisch gesunkene<br />
Geburtenrate führt dazu, dass heute und in Zukunft deutlich weniger junge Menschen<br />
erwerbstätig werden. Im Rahmen des Transformationsprozesses wurden<br />
durch die Frühverrentungspraxis in den 1990er Jahren über die bestehenden gesetzlichen<br />
Instrumente massiv ältere Arbeitnehmer aus der Erwerbstätigkeit ausgegliedert.<br />
Dies führt zu einem drastischen altersstrukturellen Wandel in den Unternehmen<br />
– die Belegschaften altern kollektiv. In Brandenburg werden die Folgen dieses Prozesses<br />
bereits heute deutlich: Während 1998 nur 46% aller Beschäftigten älter als 40<br />
Jahre waren, stieg dieser Anteil bis 2004 bereits auf 56% an!<br />
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die ständige Weiterqualifizierung der<br />
Belegschaften, eine neue Kultur der Nutzung von Erfahrungen und eine aktive <strong>Teil</strong>habe<br />
der Älteren am Arbeitsleben wichtige Grundlagen für die Innovationsfähigkeit<br />
und die langfristige Sicherung unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind.<br />
Gleichzeitig sind diese Maßnahmen zwingend notwendige Bedingungen, um die Erwerbsquote<br />
älterer Menschen zu steigern, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und<br />
so das tatsächliche an das gesetzliche Renteneintrittsalter heranzuführen.<br />
Der bei <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> verfolgte Ansatz, nicht nur theoretische Lösungen zu beschreiben,<br />
sondern in den beteiligten <strong>Region</strong>en konkrete betriebliche Handlungsstrategien<br />
zu entwickeln und zu erproben, wird ausdrücklich begrüßt. Brandenburg ist gespannt<br />
auf die praktischen Ergebnisse des Projekts und die internationalen „Best Practice“-<br />
Beispiele als Antworten auf die Herausforderungen des demografischen Wandels<br />
und wird den Projektverlauf weiter aktiv begleiten.<br />
Potsdam, im Juli 2005<br />
Dr. Hans-Ulrich Oel<br />
Referat 12: Demografischer Wandel<br />
Staatskanzlei Brandenburg<br />
XIII
XIV
Geleitworte des BMWA Deutschland<br />
Die Auswirkungen demografischer Entwicklungen auf die Arbeitsmärkte sind zentral<br />
für die gesellschafts- und sozialpolitische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte. Dies<br />
gilt sowohl für die Europäische Union insgesamt als auch für die Bundesrepublik<br />
Deutschland.<br />
So lag beispielsweise in Deutschland im Jahr 2000 der Anteil der 50- bis 65Jährigen<br />
an der erwerbsfähigen Bevölkerung bei rund 30%. Nach nationalen Schätzungen<br />
wird der Anteil dieser Altersgruppe im Jahr 2020 rund 39% betragen. Allein schon<br />
dieser Vergleich zeigt die Herausforderung und Dynamik, vor der wir alle stehen.<br />
Europäische Beschäftigungsstrategie<br />
Die europäische und die deutsche Beschäftigungspolitik sind sich dieser Herausforderung<br />
bewusst. So wird in den Beschäftigungspolitischen Leitlinien der Europäischen<br />
Union u.a. die Notwendigkeit der Förderung des aktiven Alterns hervorgehoben.<br />
Dies schließt entsprechende Arbeitsbedingungen, einen besseren Gesundheitsschutz<br />
am Arbeitsplatz ebenso ein wie geeignete Arbeitsanreize und die Beseitigung<br />
von Einflussgrößen, die Frühverrentung fördern.<br />
Aus gutem Grund zielt die Strategie der Europäischen Beschäftigungspolitik auf eine<br />
Erhöhung der Beschäftigungsquoten in der Europäischen Union, verbunden mit einer<br />
Verbesserung der Arbeitsplatzqualität. Die Deutschen Beschäftigungspolitischen<br />
Aktionspläne der letzten Jahre zeigen auf, welche Maßnahmen Bund, Länder,<br />
Sozialpartner und Bundesagentur für Arbeit ergreifen, um die<br />
Beschäftigungspolitischen Leitlinien bzw. die dahinter stehenden strategischen<br />
Zielsetzungen in Deutschland umzusetzen.<br />
Besonderes Augenmerk gilt hierbei der Gruppe der 55- bis 64Jährigen, denn die<br />
Beschäftigungsquote dieser Gruppe ist in Deutschland, ebenso wie in der EU insge-<br />
XV
samt, zu gering. Daher hat sich Deutschland – im Rahmen der Europäischen<br />
Beschäftigungsstrategie – das Ziel gesetzt, die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer<br />
(Altersgruppe 55-64 Jahre) bis zum Jahr 2010 auf 50% zu steigern. Vor dem<br />
Hintergrund der derzeitigen wirtschaftlichen Situation in Deutschland ist dies ein sehr<br />
ehrgeiziges Ziel, dessen Umsetzung der breiten Unterstützung der gesamten Gesellschaft<br />
bedarf.<br />
Auch wenn Deutschland gegenwärtig noch deutlich unter dem 50%-Ziel liegt, so<br />
kann man doch positive Entwicklungen hin zu steigenden Erwerbstätigenquoten der<br />
55- bis 64Jährigen beobachten. Von 1994 bis 2004 stieg sie von 36,4% auf 41,2%, in<br />
der Altersgruppe der 55- bis 60Jährigen sogar von 50,6 auf 61,1% und in der Altersgruppe<br />
der 60- bis 65Jährigen von 17,6 auf 25,1% (bei Frauen dieser Altersgruppe<br />
von 9,4 auf 17,6%). Die besondere Herausforderung liegt also bei der Erhöhung der<br />
Erwerbstätigenquoten der 60- bis 65Jährigen.<br />
Beschäftigungspolitische Gesamtstrategie und Aktionsfelder<br />
Um angemessen auf die demografischen Herausforderungen reagieren zu können,<br />
ist ein vielfältiger Ansatz erforderlich. Erst durch die kumulativen Wirkungen von<br />
Maßnahmen- und Initiativen in verschiedenen Handlungsfeldern wird es möglich<br />
sein, die Auswirkungen der demografischen Entwicklung sozial- und<br />
gesellschaftspolitisch aufzufangen.<br />
Aus Sicht der Bundesebene sind insbesondere die Förderung und der Erhalt der Beschäftigungs-<br />
und Anpassungsfähigkeit von zentraler Bedeutung für die Ausschöpfung<br />
des gesamten Arbeitskräfteangebots, insbesondere mit Blick auf das<br />
Wirtschaftswachstum und die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung.<br />
Besondere Bedeutung kommen hierbei präventiven Ansätzen zu. Nur beispielhaft zu<br />
nennen ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die darauf zielt, Langzeitarbeitslosigkeit<br />
möglichst zu vermeiden. Etliche der von der Bundesregierung in den letzten Jahren<br />
umgesetzten arbeitsmarktpolitischen Reformen tragen diesem Ansatz Rechnung.<br />
Genereller Ausgangspunkt ist eine zielgerichtete Beschäftigungspolitik, die<br />
quantitativ und qualitativ Breitenwirkung erzielt und hierbei zugleich bestimmten<br />
Zielgruppen, wie insbesondere der Gruppe der Älteren, besondere Aufmerksamkeit<br />
widmet.<br />
XVI
Beschäftigung und Re-Integration Älterer in den Arbeitsmarkt<br />
Um die Beschäftigung und Re-Integration Älterer in den Arbeitsmarkt weiter zu<br />
verstärken, hat Deutschland eine breite Palette von Maßnahmen eingeleitet. Die<br />
Deutschen Beschäftigungspolitischen Aktionspläne 2003 und 2004 gehen hierauf<br />
ausführlich ein und zeigen die diesbezüglichen strategischen Ansätze auf.<br />
Hervorheben möchte ich drei Aktionsfelder:<br />
1. Beschäftigungsstabilisierung durch Abbau von Fehlanreizen,<br />
2. Verbesserung der Eingliederungschancen durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik,<br />
3. Initiativen zur Förderung eines Bewusstseinswandels im Hinblick auf ältere<br />
Menschen in Gesellschaft und Betrieb.<br />
Erhöhung des tatsächlichen Rentenzugangsalters<br />
Ein wichtiger Ansatz betrifft zunächst die Verhinderung von Frühverrentungen bzw.<br />
die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Hierzu wurden in den vergangenen Jahren<br />
die Ausnahmen für den vorzeitigen Bezug der Altersrente Schritt für Schritt<br />
eingeschränkt. Der schrittweise Anhebungsprozess wird sich zunehmend auf dem<br />
Arbeitsmarkt bemerkbar machen. Zugleich sollen durch eine Verkürzung bei der<br />
Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose auf zukünftig maximal 18<br />
Monate Anreize gesetzt werden, länger im Arbeitsmarkt zu verbleiben. Über die<br />
Verlängerung der Übergangsfrist, die Anfang 2006 enden sollte, wird zurzeit politisch<br />
gerungen.<br />
Förderung der Beschäftigungsfähigkeit durch Arbeitsmarktpolitik<br />
Im Gesamtkontext ist nicht nur das Fordern wichtig, sondern auch das Fördern; d.h.<br />
Unterstützung bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Hier gilt es, Qualifizierungsmaßnahmen<br />
für Arbeitslose und Beschäftigte anzubieten und Unternehmen und Betriebe<br />
zu veranlassen, ältere Menschen im Arbeitsleben zu halten und ihnen eine<br />
Chance bei der Besetzung freier Stellen zu geben.<br />
Zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit gibt es eine Reihe von Fördermöglichkeiten<br />
im Arbeitsförderungsrecht, wie z.B. die Förderung der beruflichen Weiterbildung,<br />
aber auch spezifische Fördermöglichkeiten, die unmittelbar auf Qualifizierung und<br />
Re-Integration älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zielen.<br />
XVII
In kleinen und mittleren Unternehmen (bis zu 100 Beschäftigte) wird die Qualifizierung<br />
älterer Arbeitnehmer durch Übernahme der Weiterbildungskosten von der Bundesagentur<br />
für Arbeit gefördert. Dadurch soll die nach wie vor sehr geringe Beteiligung<br />
älterer Arbeitnehmer an der betrieblichen Weiterbildung gesteigert werden.<br />
In dieselbe Richtung, wenn auch nicht altersspezifisch, zielt die Förderung der beruflichen<br />
Weiterbildung durch Vertretung („Job-Rotation“). Danach erhalten Arbeitgeber,<br />
die einem Arbeitnehmer die <strong>Teil</strong>nahme an einer beruflichen Weiterbildung ermöglichen<br />
und dafür einen Arbeitslosen einstellen, einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt des<br />
Vertreters. Hierdurch soll die Bereitschaft von Arbeitgebern erhöht werden, Arbeitnehmer<br />
für die berufliche Weiterbildung von der Beschäftigung im Betrieb freizustellen.<br />
Zudem werden gleichzeitig zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose<br />
geschaffen.<br />
Bereits seit einigen Jahren können Arbeitgeber, die Arbeitnehmer ab dem 50. Lebensjahr<br />
einstellen, einen Zuschuss zu den Lohnkosten in Höhe von bis zu 50% des<br />
Arbeitsentgeltes erhalten. Die Befristung von Arbeitsverhältnissen für Arbeitnehmer<br />
ab Vollendung des 52. Lebensjahres ist ohne Einschränkung möglich.<br />
Zudem brauchen Arbeitgeber, die arbeitslose Arbeitnehmer einstellen, die das 55.<br />
Lebensjahr vollendet haben, ihren Arbeitgeberanteil zur Arbeitslosenversicherung<br />
nicht mehr zu zahlen. Außerdem wurde eine Entgeltsicherung für ältere arbeitslose<br />
Arbeitnehmer eingeführt, die das 50. Lebensjahr vollendet haben. Sie erhalten die<br />
Differenz zwischen neuem und altem Lohn zu 50% ausgeglichen, wenn sie eine<br />
gegenüber ihrer früheren Beschäftigung niedriger entlohnte Tätigkeit aufnehmen.<br />
Initiative Neue Qualität der Arbeit<br />
Mit Blick auf die Förderung eines Bewusstseinswandels möchte ich hier kurz die<br />
Initiative Neue Qualität der Arbeit (kurz INQA genannt) hervorheben, die u.a. zum<br />
Ziel hat, Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen für den demografischen Wandel<br />
zu sensibilisieren. Diese Initiative ist ein Zusammenschluss von Wirtschaft,<br />
Gewerkschaften, Sozialversicherungsträgern, Stiftungen sowie Bund und Länder, die<br />
sich alle auf ein gemeinsames Agieren zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Arbeitswelt<br />
verständigt haben.<br />
Die Bandbreite der INQA-Aktivitäten reicht heute von Lösungsvorschlägen zur innovativen<br />
Arbeitsgestaltung über Konzepte und Maßnahmen zur Stärkung des lebens-<br />
XVIII
langen Lernens, über Maßnahmen einer nachhaltigen betrieblichen Gesundheitspolitik<br />
bis hin zu ganzheitlichen branchen-spezifischen Angeboten zur Verbesserung<br />
der Arbeitsplatzqualität und der Betriebskultur.<br />
Mittlerweile unterstützt INQA über 40 Projekte im gesamten Bundesgebiet und bietet<br />
mit einer Datenbank voller guter Beispiele aus der Praxis und einer Informations- und<br />
Beratungshotline umfassende Hilfen für Betriebe an. Unterstützt wird INQA von einer<br />
Vielzahl von Unternehmen, Verbänden und anderen Einrichtungen und Instituten.<br />
Mit Blick auf den demografischen Wandel ist die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit<br />
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Schwerpunkt von INQA.<br />
Deshalb hat INQA im Herbst 2004 gemeinsam mit den Sozialpartnern und Unternehmen<br />
die Kampagne „30, 40, 50 plus – gesund arbeiten bis ins Alter“ gestartet. Denn<br />
wenn die Potenziale Älterer im Berufsleben genutzt werden sollen, dann muss die<br />
Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die Förderung ihrer Gesundheit und ihre lebenslange<br />
Qualifizierung frühzeitig beginnen. Deshalb setzt diese Initiative auch bereits<br />
bei den 30Jährigen an und nicht erst bei der 50Jährigen.<br />
Mittlerweile haben sich im Rahmen von INQA auch Initiativkreise und Netzwerke zum<br />
Thema „Demografischer Wandel“ gebildet, denen eine Vielzahl von Akteuren aus<br />
Wirtschaft, Wissenschaft, von Verbänden und Institutionen angehören. So z.B. der<br />
Autohersteller BMW, das Chemieunternehmen BASF, die Freie Universität Berlin,<br />
einzelne Krankenkassen, der Deutsche Gewerkschaftsbund, Handwerkskammern,<br />
Landes- und Bundesbehörden und viele andere mehr.<br />
Ideenwettbewerb „Beschäftigungspakte in den <strong>Region</strong>en“<br />
Nicht unerwähnt bleiben kann in einer Publikation, die sich regionalen Projekten verpflichtet<br />
fühlt, der am 15. Juni 2005 von der Bundesregierung gestartete Ideenwettbewerb<br />
„Beschäftigungspakte in den <strong>Region</strong>en". Ziel des Ideenwettbewerbs ist,<br />
die regional vorhandenen Kompetenzen, Ideen und Strukturen für die Bekämpfung<br />
der Arbeitslosigkeit bei regelmäßig nur erschwert vermittelbaren älteren Langzeitarbeitslosen<br />
zu mobilisieren und zu bündeln. Für die Umsetzung der 50 besten regionalen<br />
Konzepte zur (Wieder-) Eingliederung älterer Langzeitarbeitsloser in den allgemeinen<br />
Arbeitsmarkt stellt die Bundesregierung den Trägern der Grundsicherung<br />
nach dem SGB II in der ausgewählten <strong>Region</strong> (Arbeitsgemeinschaf ten, zugelassene<br />
XIX
kommunale Träger und allein verantwortliche Agenturen für Arbeit) Mittel bis zu einer<br />
Höhe von 5 Mio. Euro zur Verfügung.<br />
Zielgruppe des Ideenwettbewerbs sind arbeitslos gemeldete Bezieher von Arbeitslosengeld<br />
II ab Vollendung des 50. Lebensjahrs sowie Personen, die ohne eine Förderung<br />
voraussichtlich in absehbarer Zeit ebenfalls zu dieser Personengruppe gehören<br />
werden. Antragsberechtigt sind die Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaften, des<br />
zugelassenen kommunalen Trägers oder der Agentur für Arbeit, die in der jeweiligen<br />
<strong>Region</strong> Aufgaben der Grundsicherung nach dem SGB II wahrnimmt. Die lokalen und<br />
regionalen Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften sowie alle anderen maßgeblichen<br />
regionalen Akteure sollen eng einbezogen werden. Die Ideen sollen bis Mitte<br />
Juli eingereicht und die Prämierung am 1. September 2005 erfolgen.<br />
Fazit<br />
Zieht man ein kurzes Fazit, so ist festzustellen, dass die beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien auch mit Blick auf die demografischen Herausforderungen die richtigen<br />
Politikfelder benennen. Was wir aber noch gesellschaftlich benötigen, ist ein grundlegender<br />
Bewusstseinswandel, damit in der Gesellschaft Alter nicht länger mit<br />
„Defiziten“ assoziiert wird. Um diesen Bewusstseinswandel zu befördern, gibt es<br />
vielfältige Initiativen und Maßnahmen unter Einbindung und Mitwirkung der Sozialpartner,<br />
wie auch in den Deutschen Beschäftigungspolitischen Aktionsplänen<br />
dargelegt.<br />
Darüber hinausgehend benötigen wir in der Gesellschaft einen präventiveren Ansatz<br />
im Sinne eines altersgerechten Arbeitens, nicht zuletzt auch für die Gruppe, die in<br />
den nächsten Jahren ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden. Diesem<br />
wichtigen Bereich, der die Initiative INQA auch Rechnung trägt, müssen wir uns in<br />
Zukunft gesamtgesellschaftlich noch intensiver zuwenden.<br />
Vor diesem Hintergrund wünsche ich Ihnen bzw. den Projektträgern des EU-Projektes<br />
„<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> – Alternsgerechtes Arbeiten in innovativen <strong>Region</strong>en“ im Namen<br />
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit einen erfolgreichen Verlauf des<br />
Projektes.<br />
Berlin, im Juli 2005<br />
Christiane Voß-Gundlach<br />
XX
TEIL I<br />
Demografischer Wandel,<br />
Arbeitsmarkt<br />
und die Chancen für<br />
ältere Erwerbstätige in Europa
1. Zum transnationalen EU-Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> im Kontext<br />
europäischer Strukturförderung<br />
Christina Stecker, Jürgen Faik, VDR<br />
1. Europäische Strukturförderung und innovative Maßnahmen<br />
nach Artikel 6 des europäischen Sozialfonds<br />
Die Europäische Union (EU) hat sich die Förderung der regionalen Angleichung des<br />
Lebensstandards und des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in ihrem<br />
Gemeinschaftsgebiet zur Aufgabe gemacht. Das wichtigste Finanzierungsinstrument<br />
der EU bilden dabei die Strukturfonds, die sich in einen Sozialfonds (ESF), einen<br />
europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), ein Finanzinstrument zur<br />
Förderung der Fischerei (FIAF) und einen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die<br />
Landwirtschaft (EAGFL) aufgliedern. In der Regel sind die einzelnen Strukturfonds<br />
auf eines oder mehrere spezifische Ziele konzentriert. Es bestehen jedoch auch eine<br />
Reihe gemeinsamer Ziele, wie etwa „Nachhaltige Entwicklung“, „Entwicklung von Beschäftigung<br />
und Humanressourcen“, „Umweltschutz“ oder „Förderung der Chancengleichheit<br />
von Männern und Frauen“. 1<br />
1999 wurden die Strukturfonds durch Vereinfachung und Reduktion der Ziele auf<br />
zwei gebietsabhängige und ein thematisches Ziel reformiert. Die herausragende<br />
Bedeutung dieser drei Ziele zeigt sich am Anteil von knapp 94% der Fördermittel der<br />
Strukturfonds. 2 Insgesamt stehen den Strukturfonds Mittel in Höhe von rund 195<br />
Milliarden Euro im Siebenjahreszeitraum 2000 bis 2006 für Projekte zur Verfügung. 3<br />
Mit Ziel 1, das von allen vier Fonds gefördert wird, wird der Anschluss von <strong>Region</strong>en<br />
mit Entwicklungsrückstand an den EU-Durchschnitt angestrebt. Darunter fallen<br />
<strong>Region</strong>en, deren Pro-Kopf-Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) unter 75% des EU-<br />
Durchschnitts liegt, abgelegene Gebiete und <strong>Region</strong>en mit geringer Bevölkerungsdichte.<br />
Auf die rund 50 Ziel-1-<strong>Region</strong>en mit einem EU-Bevölkerungsanteil von 22%<br />
(bzw. 83 Millionen Menschen) entfallen 69,7% der Gesamtausgaben der Strukturfonds.<br />
Dies entspricht im Programmplanungszeitraum 2000 bis 2006 135,9 Milliarden<br />
Euro. Im Rahmen der Ziel-2-Förderung soll in Gebieten mit Strukturproblemen der<br />
wirtschaftliche und soziale Wandel im Industrie- und Dienstleistungssektor unterstützt<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Vgl. Europäische Kommission 2004: 7.<br />
Vgl. http://europa.eu.int/comm/regional_policy/intro/regions5_de.htm (12.03.05).<br />
Vgl. http://europa.eu.int/comm/employment_social/esf2000/faqs-de.htm (12.03.05).<br />
7
werden. Auf das zweite Ziel, das hauptsächlich über Mittel des Sozialfonds (ESF)<br />
und des <strong>Region</strong>alfonds (EFRE) finanziert wird, werden zwischen 2000 und 2006 22,5<br />
Milliarden Euro oder 11,5% der Gesamtausgaben der Strukturfonds entfallen. In den<br />
betroffenen Gebieten leben rund 18% der EU-Bevölkerung bzw. 68 Millionen EU-<br />
Bürger.<br />
Im ausschließlich über den Sozialfonds (ESF) finanzierten thematischen Ziel 3<br />
stehen die Modernisierung der allgemeinen und beruflichen Bildungs- und Ausbildungssysteme<br />
sowie die Anpassung der politischen Konzepte für Bildung und Beschäftigung<br />
im Mittelpunkt. Das dritte Ziel umfasst die gesamte EU-Bevölkerung,<br />
sofern diese nicht bereits unter Ziel 1 gefasst ist, und entspricht einem Anteil von<br />
12,3% bzw. 24,1 Milliarden Euro der Gesamtausgaben der Strukturfonds im Programmplanungszeitraum<br />
2000-2006. 4<br />
Wie an Hand der drei Ziele deutlich wird, bildet der ESF das wichtigste Instrument<br />
der Europäischen Union für die Entwicklung der Humanressourcen und die Verbesserung<br />
der Funktion des Arbeitsmarktes, worunter auch Maßnahmen zur Vermeidung<br />
und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung gefasst<br />
werden. Als ältester der vier Strukturfonds der Europäischen Union wurde der Europäische<br />
Sozialfonds (European Social Fund, ESF) bereits 1957 gegründet. Er stützt<br />
sich auf Artikel 123 der Römischen Verträge, der die Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten<br />
in der EU über die Förderung der Beschäftigung sowie der geografischen<br />
und qualitativen Mobilität der Arbeitnehmer vorsieht. 5 Im Rahmen der europäischen<br />
Beschäftigungsstrategien und Leitlinien unterstützt der ESF die von jedem<br />
Mitgliedstaat im jährlichen Nationalen Aktionsplan für Beschäftigung (NAP) dargelegten<br />
Aktionen und Umsetzungsstrategien. Mit Mitteln des ESF werden über konkrete<br />
Aktionen hinaus jedoch auch innovative Maßnahmen gefördert, die der Erforschung<br />
von neuen inhaltlichen oder organisatorischen Ansätzen im Beschäftigungsbereich<br />
dienen und Vorschläge für mögliche künftige Politiken und Programme beinhalten.<br />
Mittels dieser so genannten Artikel-6-Maßnahmen und -Zuschüsse werden<br />
besonders Pilotprojekte und Studien sowie der Erfahrungs- und Informationsaus-<br />
4<br />
5<br />
Vgl. Europäische Kommission, Der ESF 2000 bis 2006 in Deutschland, http://europa.eu.int/esf<br />
(12.03.2005).<br />
Vgl. http://europa.eu.int/comm/employment_social/esf2000/glossary-de.htm (12.03.05). Weitere<br />
ausführliche Informationen (teilweise in englischer Sprache) zur Entstehung und zu Reformen des<br />
ESF sowie zu den einzelnen Programmphasen und Inhalten – auf die sich auch die folgenden<br />
Ausführungen stützen – finden sich auf der Homepage der Europäischen Kommission; siehe<br />
http://europa.eu.int/comm/employment_social/esf.<br />
8
tausch gefördert. Der ESF kann maximal 0,4% seiner jährlichen Mittelausstattung für<br />
die Förderung innovativer Maßnahmen bereitstellen. 6 Insgesamt stehen dem ESF<br />
damit für den siebenjährigen Programmplanungszeitraum 2000 bis 2006 rund 63<br />
Milliarden Euro zur Verfügung. 7<br />
Warum diese zusätzlichen Artikel-6-Maßnahmen lanciert werden, erklärt sich aus<br />
dem möglichen Nutzen dieser innovativen Ansätze: Die EU erhofft sich positive<br />
Erfahrungen mit der Erprobung neuer Konzepte, die argumentative Stützung neuer<br />
Hypothesen wie auch bewährter Verfahren und damit letztlich einen Wissens- und<br />
Erfahrungsaustausch, der eine Nutzung dieser Ergebnisse auch in allen anderen<br />
Förderbereichen des Europäischen Sozialfonds erlaubt. Als direkte Schnittstelle<br />
zwischen Politik und Praxis sollen die innovativen Maßnahmen nach Artikel 6 daher<br />
nicht nur politische Inhalte an Vertreter der Praxis vermitteln, sondern gleichzeitig die<br />
Praktiker an der Politikgestaltung auf europäischer Ebene beteiligen. Dadurch erhofft<br />
man sich ein Klima, in dem neue politische Initiativen und Anregungen operativ<br />
umgesetzt und berücksichtigt werden können.<br />
Allerdings sind innovative Maßnahmen, die gemäß Artikel 6 ESF als förderwürdig<br />
anerkannt werden, stets an einen thematisch von der Europäischen Kommission abgesteckten<br />
Rahmen, an so genannte Programmplanungszeiträume, gebunden. In<br />
den drei möglichen Antragsrunden im Programmplanungszeitraum 2000 bis 2006<br />
werden jeweils maximal 40 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, wobei sich der<br />
Kofinanzierungsbeitrag der Europäischen Kommission für ein Projekt auf mindestens<br />
300.000 Euro, aber höchstens 3 Millionen Euro im Zweijahreszeitraum beläuft. Da<br />
die Maßnahmen durch den ESF nicht hundertprozentig gefördert werden, kommen<br />
weitere öffentliche und private Finanzquellen in den Mitgliedstaaten hinzu. Für die<br />
Verbreitung und Übertragung von Innovationen aus den Projekten nach Artikel 6 auf<br />
die allgemeinen ESF-Aktivitäten werden etwa 5% der in 2005 und 2006<br />
bereitgestellten Haushaltsmittel eingesetzt.<br />
Die im Zweijahresrhythmus festgelegten primären Themenbereiche bezogen sich<br />
beispielsweise in 2001 und 2002 auf die „Anpassung an die neue Wirtschaft im<br />
Rahmen des sozialen Dialogs“. Aktuell stehen umfassende Strategien zur Verlängerung<br />
des Erwerbslebens im Zentrum der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS)<br />
6<br />
7<br />
Zu den rechtlichen Rahmenbestimmungen und Empfehlungen für die Durchführung nach Artikel 6<br />
vgl. Europäische Kommission 2001, hier S. 11.<br />
Vgl. http://europa.eu.int/comm/employment_social/esf2000/glossary-de.htm (12.03.05).<br />
9
und der beschäftigungspolitischen Leitlinien wie auch im Mittelpunkt der Offenen Methode<br />
der Koordinierung (OMK), hier insbesondere auf dem Feld der Rentenpolitik<br />
(siehe dazu auch den Beitrag von Steppich/Schmitt in diesem Band). Auch im Programmplanungszeitraum<br />
2000-2006 trägt nach der Verordnung des ESF daher besonders<br />
der Sozialfonds zur Verwirklichung der Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
und Durchführung der jährlich festgelegten beschäftigungspolitischen Leitlinien<br />
bei.<br />
Vor diesem Hintergrund erfährt neuerdings der Zusammenhang zwischen Beschäftigung<br />
und Bevölkerungsalterung eine wachsende Aufmerksamkeit seitens der Europäischen<br />
Union, so dass vermehrt Maßnahmen zur Förderung des „aktiven Alterns“<br />
ergriffen werden sollen. 8 Für die Jahre 2004 bis 2006 wurde daher von der Kommission<br />
das Thema „Innovative Ansätze zur Bewältigung des Wandels“ zur ESF-Artikel-<br />
6-Förderung aufgelegt, 9 wobei sich die förderfähigen innovativen Maßnahmen in<br />
zwei spezifische Unterthemen aufgliedern:<br />
1. Die Bewältigung des demografischen Wandels mit dem Ziel, innovative Initiativen<br />
zur Förderung des aktiven Alterns und zur Steigerung der Beschäftigungsquote<br />
älterer Arbeitnehmer zu unterstützen sowie<br />
2. das Management der Umstrukturierung mit dem Ziel, innovative Lösungen bei<br />
der Umstrukturierung durch Verbesserung der Anpassungs- und Antizipationsfähigkeit<br />
von Arbeitnehmern, Unternehmen und Behörden zu fördern.<br />
Antragsberechtigt im Sinne des ESF sind auf europäischer, nationaler, regionaler<br />
oder lokaler Ebene tätige Organisationen der Sozialpartner, öffentliche und private<br />
Unternehmen, Organisationen ohne Erwerbszweck, Einrichtungen für die allgemeine<br />
und berufliche Bildung sowie Behörden und Verwaltungen, die auf der regionalen<br />
NUTS-3-Ebene 10 tätig und in einem EU-15-Mitgliedsland ansässig sind. Als förder-<br />
8<br />
9<br />
10<br />
Vgl. zur empirischen Lage der europäischen Mitgliedstaaten und den beschäftigungspolitischen<br />
Strategien der EU Stecker 2004a.<br />
Vgl. Europäische Kommission 2001 zur Durchführung von innovativen Maßnahmen nach Artikel 6<br />
der ESF-Verordnung.<br />
Zur Vereinheitlichung und kohärenten Untergliederung des Gemeinschaftsgebietes für statistische<br />
Zwecke entwickelte Eurostat bereits vor mehr als 25 Jahren gemeinsam mit Dienststellen der<br />
Europäischen Kommission eine Systematik der regionalen Gebietseinheiten, die so genannte<br />
Nomenclature of territorial units for statistics (NUTS). Die Klassifizierung von regionalen Verwaltungseinheiten<br />
erfolgt hierarchisch auf drei Ebenen anhand von festgelegten Bevölkerungsgrenzen:<br />
Ebene 1 (NUTS 1) fasst <strong>Region</strong>en mit einer Bevölkerung zwischen 3 und 7 Millionen Personen zusammen,<br />
Ebene 2 (NUTS 2) <strong>Region</strong>en mit 800.000 bis zu 3 Millionen Personen, und Ebene 3<br />
(NUTS 3) schließlich <strong>Region</strong>en mit 150.000 bis 800.000 Personen; vgl. Amtsblatt der<br />
Europäischen Union vom 26. Mai 2003. Auf der Ebene von NUTS 1 gliedert sich das Gemeinschaftsgebiet<br />
der EU-25 in der Fassung von 2003 in 89, auf der Ebene NUTS 2 in 254 und auf der<br />
Ebene NUTS 3 in 1.214 <strong>Region</strong>en; siehe für <strong>Region</strong>altabellen und weitere Erläuterungen Eurostat,<br />
http://europa.eu.int/comm/eurostat/ramon/nuts/home_regions_de.html.<br />
10
fähige Anträge gelten nur Maßnahmen mit transnationalem Charakter bzw. die <strong>Teil</strong>nahme<br />
von Organisationen aus mindestens zwei Mitgliedstaaten der ursprünglichen<br />
EU-15-Mitgliedsländer, wobei entsprechende Organisationen aus den neuen Beitrittsländern<br />
(EU-25) an Seminaren, Konferenzen und Austauschmaßnahmen teilnehmen<br />
sollen.<br />
2. Hintergründe, Ziele und Prioritäten des ESF-Projektes <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong><br />
Am 31. Oktober 2003 forderte die Europäische Kommission in ihrem Amtsblatt<br />
C262/22 zur Einreichung von Vorschlägen zum Thema „Innovative Ansätze zur<br />
Bewältigung des Wandels“ (VP/2003/021) auf. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger<br />
(VDR) reichte gemeinsam mit seinen Projektpartnern das in der hier<br />
vorliegenden DRV-Schrift vorgestellte Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> zur ersten Antragsfrist<br />
am 18. Februar 2004 in Brüssel ein. Aus insgesamt 219 Vorschlägen, darunter<br />
lediglich 100 als förderfähig anerkannten, wurde <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> von Mitarbeitern des<br />
federführenden Referats EMPL/C/4 sowie einem mit 13 externen Experten eingesetzten<br />
Bewertungsausschuss zur Förderung ausgewählt. Die Prüfung der Anträge<br />
erfolgte nach den Kriterien Förderfähigkeit des Antragstellers und des Antrags, Beurteilung<br />
der Qualität des Antrags und Fähigkeit des Antragstellers, die vorgeschlagenen<br />
Maßnahmen durchzuführen. Insgesamt werden europaweit neben <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong><br />
zum Unterschwerpunkt „Bewältigung des demografischen Wandels“ weitere 13<br />
Projekte im Planungszeitraum 2004 bis 2006 gefördert.<br />
Mit dem ESF-Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> (VP/2004/0331) sollen die Gründe für die<br />
gängige Frühverrentungspraxis systematisch benannt und in der Folge innovative<br />
Gestaltungselemente für eine Verlängerung der Beschäftigung von heute 35–<br />
45Jährigen untersucht werden. Die wissenschaftliche Analyse konzentriert sich dabei<br />
auf vier Ebenen: 1. Nationale Rahmenbedingungen, 2. regionale Besonderheiten<br />
sowie 3. und 4. die jeweilige betriebliche und individuelle Realität. Für den Schwerpunkt<br />
„<strong>Region</strong>ale Besonderheiten“ wurden acht Pilotregionen ausgewählt, darunter<br />
zwei in Österreich, vier in Deutschland und zwei in Portugal, wobei entsprechend der<br />
Antragsvorgaben zwei Beitrittsländer der EU – Slowenien und Polen – im Projekt mit<br />
Beobachterstatus beteiligt sind. Insgesamt hat das Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> zum Ziel,<br />
auf den genannten vier Ebenen ansetzende integrierte Maßnahmebündel zu identifizieren<br />
und einem transnationalen Vergleich zu unterziehen. Die Ergebnisse werden<br />
evaluiert und auf breiter regionaler und nationaler Ebene diskutiert und veröffentlicht.<br />
11
Die nachfolgende Übersicht 1 fasst die wichtigsten Eckdaten zu <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> noch<br />
einmal im Überblick zusammen:<br />
Übersicht 1: Projektziele, innovativer Forschungsansatz und Projektlaufzeit<br />
Ziel des<br />
Projektes<br />
Innovativer<br />
Forschungsansatz<br />
Systematische Analyse der Ursachen für Frühverrentung bzw. niedrige Beschäftigungsquoten<br />
Älterer; Definition, Erprobung, Evaluation und Standardisierung<br />
innovativer Gestaltungselemente für eine Verlängerung der Beschäftigung von 35–<br />
45Jährigen und Älteren zur Flankierung des demografischen Wandels (anwendungsorientiertes<br />
Projekt, „Good-Practice“-Beispiele)<br />
Wissenschaftliche Analyse auf vier Ebenen: Nationale Rahmenbedingungen, regionale<br />
Besonderheiten, betriebliche und individuelle Ebene (integrierter Ansatz)<br />
Transnationaler Vergleich von integrierten Maßnahmenbündeln in 8 Pilotregionen (2<br />
in Österreich, 4 in Deutschland, 2 in Portugal; mit Beobachterstatus: Slowenien und<br />
Polen)<br />
Sensibilisierung und Aktivierung regionaler Akteure, Verbreitung und Mainstreaming<br />
der Projektergebnisse durch Netzwerkgründung (Datenbank, Newsletter, Publikationen)<br />
und zwei internationale Konferenzen mit Beteiligung von Ministerien, regionalen<br />
Arbeitsämtern und osteuropäischen Ländern<br />
Projektlaufzeit 24 Monate (01.12.2004 bis 30.11.2006)<br />
Quelle: Eigene Darstellung<br />
Vor diesem Hintergrund liegen die Prioritäten von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> zusammengefasst in<br />
- der wissenschaftlichen Analyse von Frühverrentungsursachen, Beschäftigungsbedingungen<br />
und -problemen im regionalen und internationalen Vergleich,<br />
- der Auswahl bzw. Entwicklung von Maßnahmen auf betrieblicher und überbetrieblicher<br />
Ebene und der Umsetzung entsprechender Maßnahmen in den<br />
Projektregionen,<br />
- der Sensibilisierung von Akteuren und der Öffentlichkeit zum Thema Altern und<br />
Arbeitsmarkt sowie<br />
- der umfassenden begleitenden Evaluierung.<br />
Das Kernanliegen des Projektes ist dabei nicht nur die Untersuchung der Auswirkungen<br />
der demografischen Entwicklungen auf regionale Arbeitsmärkte bzw. der Rolle<br />
der Frühverrentung und letztlich damit die Förderung der Arbeitsfähigkeit für ältere<br />
Beschäftigtengruppen. Denn unter präventiven Gesichtspunkten kann es nicht alleine<br />
um altersgerechtes Arbeiten für heute bereits Ältere gehen. Ziel ist vielmehr die Ermöglichung<br />
alternsgerechten Arbeitens für alle Beschäftigten und Altersgruppen –<br />
nicht zuletzt für die Babyboomer (d.h. die starken Geburtsjahrgänge der 1960er<br />
Jahre), die in den nächsten Jahren ältere ArbeitnehmerInnen sein werden und dann<br />
gesund in den Ruhestand übertreten sollen.<br />
12
3. <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>: Zuschussgeber, Verbund- und Kooperationspartner<br />
Als Antragsteller und finanzverantwortlicher Koordinator des zweijährigen Projektes<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> übernimmt der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger die<br />
Projektleitung wie auch teilweise Aufgaben der begleitenden wissenschaftlichen<br />
Forschung und Datenaufbereitung. Die im Vorfeld der Antragstellung geknüpften<br />
internationalen Kontakte betrafen sowohl potenzielle Projektpartner und<br />
Drittmittelgeber wie auch Kooperationspartner aus den alten und neuen EU-Mitgliedstaaten.<br />
Als Partner im Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> arbeiten auf inhaltlicher Ebene die<br />
folgenden Organisationen intensiv mit:<br />
1. Neben dem VDR,<br />
2. die ÖSB Consulting GmbH (Österreich),<br />
3. das Forschungszentrum für internationale Wirtschaftsfragen CEDEP, angesiedelt<br />
an der Universidade Autónoma de Lisboa (Portugal),<br />
4. das Internationale Institut für Empirische Sozialökonomie gGmbH INIFES<br />
(Deutschland) und<br />
5. das Institut für Sozialökonomische Strukturanalysen SÖSTRA GmbH<br />
(Deutschland).<br />
Im Rahmen der Förderung seitens des Europäischen Sozialfonds sind nicht unerhebliche<br />
Finanzierungsbeiträge zu leisten. Neben dem VDR und den Partnerorganisationen<br />
konnten als weitere Zuschussgeber für Geldmittel gewonnen werden:<br />
1. Das Österreichische Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (Österreich),<br />
2. das Wirtschaftsressort des Landes Steiermark (Österreich) sowie<br />
3. die Hans-Böckler-Stiftung (Deutschland).<br />
Schließlich bestanden zum Zeitpunkt der Antragsgenehmigung für die geforderte Beteiligung<br />
der neuen EU-Beitrittsländer mit Beobachterstatus sowie das Mainstreaming<br />
des Projektes und der Projektergebnisse neben den Zuschussgebern zunächst<br />
Kooperationsvereinbarungen mit<br />
1. dem Ministry of Labour, Family and Social Affairs Slovenia (Slowenien),<br />
2. der Sachsen Consult Poznan GmbH (Polen),<br />
3. dem <strong>Region</strong>almanagement Graz & Graz-Umgebung (Österreich),<br />
4. dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, Landesorganisation Steiermark<br />
(Österreich),<br />
5. der Kammer für Arbeiter und Angestellte für die Steiermark (Österreich),<br />
13
6. der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) Steiermark<br />
(Österreich),<br />
7. der Grazer Woche (Österreich),<br />
8. der IHK Projektgesellschaft Frankfurt/Oder (Deutschland) und<br />
9. der <strong>Region</strong>aldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland).<br />
Die Zahl der Kooperationspartner hat sich mittlerweile in allen Projektregionen um<br />
weitere Akteure und Institutionen erweitert.<br />
4. Zum Inhalt des Buches<br />
Die vorliegende Publikation stellt die Ergebnisse der ersten Internationalen<br />
Arbeitstagung und Workshop „<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> – Ein Blick auf Forschungsansätze und<br />
regionale Arbeitsmärkte“ vor, die am 20. und 21. Juni 2005 in Berlin stattfand.<br />
Insofern dient der hier vorliegende Tagungsband neben der Darstellung des<br />
Projektes selbst der Präsentation erster Projektergebnisse. Nach dem hier gegebenen<br />
Überblick über die Inhalte, Ziele und Partner des transnationalen EU-Projektes<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> im Kontext der europäischen Strukturförderung stellen Ralph Conrads<br />
und Andreas Huber (beide INIFES) im ersten Buchteil die Thematik Wandlungsphänomene<br />
und Management am Arbeitsmarkt in europäischer und regionaler<br />
Sichtweise vor. Dies ist für die Analyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen<br />
Veränderungsprozesse ebenso von Bedeutung wie der in allen europäischen<br />
Ländern zu beobachtende demografische Wandel, der sowohl im Kontext der<br />
Erwerbstätigkeit der Älteren wie auch der Frühverrentung zu sehen ist (Beitrag von<br />
Jürgen Faik, Susanne Heidel, Christina Stecker; VDR). Die Bedingungen, unter<br />
denen eine Steigerung der Erwerbsquoten von Älteren und eine Umkehr der<br />
Frühverrentungspraxis erfolgen kann, sind dabei in hohem Maße von betrieblichen<br />
Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber älteren Beschäftigten abhängig, wie die<br />
Ergebnisse der empirischen Untersuchung in den einzelnen deutschen Bundesländern<br />
von Monika Putzing und Jürgen Wahse (beide SÖSTRA) verdeutlichen.<br />
Im zweiten <strong>Teil</strong> des vorliegenden Bandes werden die nationalen Rahmenbedingungen<br />
der beteiligten „<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>-Länder“<br />
- Deutschland (Ernst Kistler und Andreas Ebert, beide INIFES),<br />
- Österreich (Birgit Kriener, Miša Strobl, beide ÖSB, und Friederike Weber,<br />
prospect) und<br />
14
- Portugal (Custódio Cónim, CEDEP)<br />
skizziert. Entsprechend dem Forschungsdesign des Projektes folgen die zugehörigen<br />
<strong>Region</strong>alanalysen, die damit die Grundlage für einen transnationalen Vergleich und<br />
„Good-Practice“-Modelle bieten sollen. Die regionenspezifischen Bedingungen<br />
werden daher im dritten <strong>Teil</strong> anhand der „<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>s“<br />
- Bayern (Andreas Huber, Thomas Staudinger und Ralph Conrads; INIFES),<br />
- Brandenburg (Alexander Kühl und Monika Putzing; SÖSTRA),<br />
- Thüringen (Alexander Kühl, SÖSTRA),<br />
- Steiermark (Birgit Kriener, Miša Strobl, beide ÖSB, und Friederike Weber,<br />
prospect) sowie<br />
- in den zwei portugiesischen <strong>Region</strong>en der Peninsula von Setúbal (Eduardo de<br />
Sousa Ferreira und Rita Ana Domingos; CEDEP) und Alto Alentejo (Fernando<br />
Ribeiro Mendes; CEDEP)<br />
vorgestellt.<br />
Im vierten <strong>Teil</strong> analysieren Birgit Steppich und Volker Schmitt (beide VDR) die Bedeutung<br />
des Projektes vor dem Hintergrund der europäischen beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien und der Offenen Methode der Koordinierung in den Sozialsystemen<br />
im Zuge des neuen Lissabon-Prozesses. Abgerundet wird der Band von Christina<br />
Stecker, Birgit Steppich (beide VDR) und Monika Putzing (SÖSTRA) mit einer<br />
Zusammenfassung der ersten Erkenntnisse und einem perspektivischen Ausblick<br />
über die weiteren Projektschritte von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>.<br />
15
Literaturverzeichnis<br />
Amtsblatt der Europäischen Union: Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 des Europäischen<br />
Parlamentes und des Rates vom 26. Mai 2003, Luxemburg 2003.<br />
Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission über die Durchführung von<br />
innovativen Maßnahmen nach Artikel 6 der Verordnung des Europäischen<br />
Sozialfonds im Programmplanungszeitraum 2000-2006, KOM (2000) 894 endg.<br />
(12.01.2001), Brüssel 2001.<br />
Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung und Soziales, Referat C4:<br />
Innovation durch den Europäischen Sozialfonds, Luxemburg 2004.<br />
Stecker, Christina: Die neue deutsche Aktivierungspolitik im europäischen Ländervergleich<br />
und Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. In: Deutsche<br />
Rentenversicherung, Heft 3/2004a, S. 164-184.<br />
Stecker, Christina: Förderung des „aktiven Alterns“ in Europa – Empirische Bestandsaufnahme<br />
und beschäftigungspolitische Strategien in der Europäischen<br />
Union. In: Deutsche Rentenversicherung, Heft 11-12/2004b, S. 750-777.<br />
16
2. Wandlungsphänomene in Europa, regionale<br />
Arbeitsmarktpolitik und Management am Arbeitsmarkt<br />
Andreas Huber, Ralph Conrads, INIFES<br />
1. Wirkungen des Wandels auf den Arbeitsmarkt in Europa<br />
Die Europäische Union steht am Anbeginn einer Periode, die weitreichende Veränderungen<br />
für Europa und seine Bürger nach sich ziehen. In Zeiten vermehrter Globalisierung,<br />
Dezentralisierung und Deregulierung sowie fortschreitendem technischen<br />
und demografischen Wandel, veränderten Arbeits(markt)bedingungen und neuen<br />
Anforderungen für das Zusammenspiel von Familie, Arbeit und Bildung sucht die EU<br />
nach wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsstrategien und nimmt sich mit<br />
wachsender Intensität dem Thema „Bewältigung des Wandels“ an (Europäische<br />
Kommission 2004: 3). Um im Rahmen der Lissabonner Strategie für Wachstum und<br />
Beschäftigung und der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) den Herausforderungen<br />
gewachsen zu sein, werden „Innovative Ansätze zur Bewältigung des<br />
Wandels“ 1 gefördert, damit Strukturschwächen auf den europäischen Arbeitsmärkten<br />
abgebaut werden. Im Rahmen der Programmumsetzung setzt die Europäische Kommission<br />
in ihrem Verständnis des Wandels auf zwei Schwerpunktthemen für Forschungs-<br />
und Umsetzungsansätze: Demografischer Wandel und Umstrukturierung.<br />
Die heutige Zeit ist vor allem davon geprägt, dass die Intensität und die Geschwindigkeit,<br />
mit der sich der Wandel vollzieht, besonders auffällig sind (Huber 2004, Deuringer<br />
2000). Bei gleichzeitiger Verknappung der Ressourcen Zeit und Geld ist eine zunehmende<br />
Komplexität und Dynamik von Wirkungsmechanismen zu erkennen<br />
(Doppler/Lauterberg 2000). Während sich gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />
und politische Systeme drastisch ändern (Ende des „Kalten Krieges“, Zusammenbruch<br />
der „Aktienmarktblase“, EU-Erweiterung und Vertrauenskrise durch zunehmenden<br />
weltweiten Terrorismus), steht die EU in einer veränderten Welt vor der<br />
Aufgabe, Reformen im zunehmend komplexen System von Arbeitsmarkt und Wirtschaft<br />
zu lancieren (Hochrangige Sachverständigengruppe 2004: 11). Eine konstruktive<br />
und explizite Auseinandersetzung mit Wandlungsphänomenen und die Bereitschaft<br />
zu Veränderungen werden unabdingbar. Personen, <strong>Region</strong>en oder Organisationen,<br />
die nicht imstande oder nicht bereit dazu sind, drohen ins soziale oder wirt-<br />
1<br />
Zur Historie der EBS und der (neuen) Lissabon-Strategie siehe auch den Artikel von Steppich/-<br />
Schmitt sowie zum Hintergrund von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> im Rahmen des Förderprogramms Stecker/Faik<br />
in diesem Band.<br />
17
schaftliche Abseits zu geraten. Denn das ehrgeizige Ziel der Lissabon-Strategie von<br />
2000 als „Instrument des Wandels“, Europa zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten<br />
wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Hochrangige<br />
Sachverständigengruppe 2004: 9), gerät im Angesicht der Intensität der Wandlungsprozesse<br />
ins Straucheln: Die Zunahme der Beschäftigungsquote auf über 70% ist<br />
nicht so stark wie gewünscht (von 62,5% auf 64,3% zwischen 1999 und 2003), und<br />
es handelt sich dabei zudem um viele <strong>Teil</strong>zeit- bzw. geringfügige Arbeitsverhältnisse<br />
(Hochrangige Sachverständigengruppe 2004: 12), was dem Ziel von „mehr und besseren<br />
Arbeitsplätzen zum <strong>Teil</strong> widerspricht. Darüber hinaus gelang es nicht, die Beschäftigungsquote<br />
von älteren Arbeitskräften auf über 50% anzuheben und die öffentlichen<br />
bzw. wirtschaftlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) auf<br />
über 3 bzw. 2% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu steigern – dies, um nur einige<br />
der Indikatoren zu nennen.<br />
Erschwert wird der erhoffte erfolgreiche Wandel zu einer europäischen Wissens- und<br />
Dienstleistungsgesellschaft noch von zwei anderen bedeutenden Entwicklungen:<br />
Drastische Veränderungen in der demografischen Struktur Europas und die Verschärfung<br />
der Ungleichheiten in der EU durch die Erweiterung zwingen zu politischen<br />
Reformen in den Sicherungs- und Finanzsystemen. „Increased life expectancy and<br />
reduced fertility rates in Europe create a tension between social welfare systems and<br />
labour market. According to the Commission’s Employment Observatory (spring<br />
2003), the 16-29 years age group will decline by 13 million people between 1995 und<br />
2015 […]. At the same time, the number of 50-64 year olds will in-crease by 16 million”<br />
(European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions<br />
2004: 2).<br />
Des Weiteren ist über die in diesem Band ausführlich besprochenen demografischen<br />
Aspekte hinaus für den erfolgreichen Wandel in eine Wissensgesellschaft für Europa<br />
von Bedeutung, inwiefern seine Bevölkerung die nötigen Voraussetzungen mit sich<br />
bringt und unter dementsprechenden Umständen arbeiten und leben kann, um die<br />
Herausforderung des Wandels annehmen zu können. Die Arbeitsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmern wird im Wesentlichen durch ihre Kenntnisse und<br />
Fähigkeiten bestimmt. Qualifikation wird für den Einzelnen zunehmend zu der zentralen<br />
Voraussetzung, um am Arbeitsmarkt teilhaben zu können. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
arbeitslos zu werden ist für gering Qualifizierte in Europa bedeutend höher als<br />
für hoch Qualifizierte. Für die EU sind qualifizierte ArbeitnehmerInnen ein wichtiges,<br />
18
wenn nicht das zentrale Potenzial, um im Wettbewerb mit den USA und Asien konkurrenzfähig<br />
zu sein. Die Sachverständigengruppe unter dem Vorsitz von Wim Kok<br />
geht davon aus, dass zukünftig in der EU 30% der Arbeitskräfte unmittelbar bei der<br />
Erzeugung und Verbreitung von Wissen in verschiedenen Wirtschaftszweigen tätig<br />
sein müssen (Hochrangige Sachverständigengruppe 2004: 22). Die Bevölkerung im<br />
erwerbsfähigen Alter in der EU-15 setzte sich im Jahr 2003 aus etwa 37% Niedrigqualifizierten,<br />
43% mit mittlerer Qualifikation sowie 20% mit höherer Qualifikation zusammen.<br />
Den höchsten Anteil an niedrigqualifizierten Erwerbspersonen weisen vor<br />
allem die südeuropäischen Länder Portugal, Spanien, Italien und Griechenland auf.<br />
Der höchste Anteil an Hochqualifizierten findet sich dagegen in Finnland, Dänemark<br />
und Großbritannien (jeweils 27%). In Österreich und Deutschland liegen die Anteile<br />
der niedrigqualifizierten Erwerbspersonen bei 26 bzw. 23% und damit unter dem EU-<br />
Schnitt. Bei hochqualifizierten Personen liegt der Anteil in Österreich mit 14% jedoch<br />
deutlich unter dem europäischen Durchschnitt, während er in Deutschland fast 21%<br />
aufweist (Europäische Kommission 2004). Auffällig ist dabei, dass die geschlechtsspezifischen<br />
Unterschiede in Deutschland im europäischen Vergleich am größten<br />
sind. Während von den Männern 24,3% eine hohe Qualifikation aufweisen, sind dies<br />
bei den Frauen nur 16,8%. Diese landes- bzw. geschlechtsspezifischen Unterschiede<br />
haben jedoch deutliche Konsequenzen für den Arbeitsmarkt: „In 2003, the average<br />
employment rate in the EU25 for the high-skilled was 82,5% […]. […] the average<br />
employment rate for the low-skilled being 46,6%“ (European Commission 2004: 32).<br />
Im Umkehrschluss ist die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden für niedrigqualifizierte<br />
Personen im erwerbsfähigen Alter mit 11,2% deutlich höher als für hochqualifizierte<br />
Personen (4,9%). Während in Österreich die Gefahr der Arbeitslosigkeit für<br />
niedrigqualifizierte Erwerbspersonen deutlich unter dem EU-Durchschnitt liegt<br />
(8,8%), zeigt sich die Gefahr der Arbeitslosigkeit in Deutschland durch ein zu geringes<br />
Qualifikationsprofil mit 15,7% sehr deutlich. Ursachen für die deutlichen Unterschiede<br />
innerhalb der EU im Qualifikationsprofil liegen zum einen in den Beschäftigungs-<br />
und Bildungssystemen, der Ausrichtung der Innovations- und Technologiepolitik,<br />
dem Fortschreiten des Strukturwandels in eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft<br />
und dem Erfolg der Bewältigungsstrategien zur Begleitung dieses<br />
Strukturwandels. Ein Indiz für das Auftreten von Problemen im Strukturwandel ist das<br />
verstärkte Auftreten von Arbeitsmarktungleichgewichten (mismatches), die von einer<br />
Suche nach Arbeitskräften mit bestimmten Anforderungsprofilen geprägt ist, während<br />
19
gleichzeitig viele Personen in derselben Branche, <strong>Region</strong>, Land etc. eine Stelle suchen.<br />
Oft ist die Ursache hierfür ein „qualifikatorisches Mismatch“, das besonders<br />
Personen mit niedrigem Qualifikationsniveau in <strong>Region</strong>en mit ausgeprägter Technologie-<br />
und Innovationspolitik betrifft (Conrads et al. 2004). Dies ist dann auch meist<br />
der Engpass, an dem die Steigerung der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft ins<br />
Stocken gerät bzw. eine große Gruppe der Beschäftigten an positiven Entwicklungen<br />
in High-Tech-<strong>Region</strong>en nicht beteiligt wird (Conrads/Huber 2000).<br />
Diese kurzen empirischen Exkurse in die zwei Hauptfacetten des Wandels, wie sie<br />
im Rahmen der ESF-Artikel 6-Programmumsetzung gesehen werden, sollen die<br />
Herausforderungen aufzeigen, denen sich die gestaltenden wie die betroffenen<br />
Akteure am Arbeitsmarkt bei einem „Management of Change“ zu stellen haben, um<br />
den Anforderungen durch die beschriebenen Umbrüche gewachsen zu sein. Im Folgenden<br />
soll es nun vor allem darum gehen, wie sich die Wandlungsphänomene für<br />
die Arbeitsmarktgestaltung auswirken und welche Anforderungen für einen erfolgreichen<br />
Verlauf zu erfüllen sind.<br />
2. Arbeitsmarktpolitik im Wandel: Reformen und die Renaissance der<br />
<strong>Region</strong> in der Arbeitsmarktpolitik<br />
Vor allem in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften besteht ein Missverhältnis<br />
zwischen Theorie und Praxis, zwischen empfundenem Änderungsbedarf in der Politik<br />
und den zu realisierenden Reformen. Diese offensichtliche Diskrepanz ist auch in der<br />
Arbeitsmarktforschung festzustellen. Auf dem Feld der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik<br />
werden daher die Rufe nach einem „Management of Change“ lauter.<br />
Das „Management of Change“ ist ein aus der Betriebswirtschaft entliehener Be-griff<br />
und findet momentan seine praktische Anwendung vor allem in großen Unternehmen.<br />
Ein solches „Management of Change“ hat die politischen Entscheidungsprozesse<br />
und die Wirkungszusammenhänge bei politischen Umsetzungsvorhaben<br />
optimal zu koordinieren. Eine besondere Rolle spielt dabei die wissenschaftliche Beratung<br />
und Begleitung in diesem Umfeld (Ramge/Schmid 2003). Besonders bedenklich<br />
für die Arbeitsmarktforschung ist der mangelnde Erfolg bestehender Arbeitsmarkt-<br />
und Beschäftigungspolitik in Deutschland. Seit dem Ende der Kohl-Ära<br />
herrscht in Deutschland eine hohe Erwartungshaltung, den Reformstau vor allem am<br />
Arbeitsmarkt aufzulösen und den Eindruck eines Stillstandes in Deutschland zu<br />
beenden. Obwohl die Schwachstellen in Deutschland seit Jahren bekannt sind,<br />
20
gelingt es kaum, die von vielen Seiten als notwendig eingeschätzte Veränderung tatsächlich<br />
in die Realität umzusetzen. Färber (2003) geht in Bezug auf die Umsetzung<br />
von Reformvorhaben am Arbeitsmarkt davon aus, dass relativ geringe Diskrepanzen<br />
in vielen Feldern der Beschäftigungsforschung darin bestehen, was gemacht werden<br />
müsste. Daher stellt sich die einfache Frage, warum sich diese Umsetzungslücke,<br />
durch die Politik nicht schließen lässt (Färber 2003). In der Analyse politikwissenschaftlicher<br />
Befunde zum „Management of Change“ ist festzustellen, dass beispielsweise<br />
der Entscheidungsprozess bei Arbeitsmarktreformen in der Bundesrepublik<br />
Deutschland durch eine international vergleichsweise beträchtliche Zahl von „Vetospielern“<br />
einen extrem hohen Konsensbedarf voraussetzt (Schmidt 2000).<br />
Politische Entscheidungsprozesse sind vielfältiger und daher meist auch komplizierter<br />
als Entscheidungsverfahren in Unternehmen und Betrieben. Die Beziehung<br />
zwischen Entscheidungsfindung und Ergebnis bleibt in der Politik meist diffus und undurchschaubar<br />
(Pierson 2000). Gerade politische Systeme, die auf konsensdemokratische<br />
Elemente aufbauen und somit einem gewissen Verhandlungszwang unterliegen,<br />
durchlaufen intransparente Entscheidungsprozesse und sind für den Wähler<br />
schwer zu erkennen und zu verstehen. Um so mehr ist die Politik darauf angewiesen,<br />
bei Kompromissen Abstriche vom Idealkonzept zu machen, Zugeständnisse an<br />
Interessengruppen einzugehen, einleuchtende, klare Ergebnisse zu präsentieren und<br />
komplexe Zusammenhänge polarisierend und vereinfachend darzustellen: „Die Logik<br />
des politischen Prozesses bringt die Politik dazu, Komplexität zu reduzieren, einzelne<br />
Elemente aus kohärenten Maßnahmenbündeln herauszulösen, Interdependenzen zu<br />
vernachlässigen, Vorschläge umzuformen und zu verwässern oder gar sachlich<br />
falsch aufzunehmen“ (Rabe 2003: 114).<br />
Dies trifft in jedem Fall auch auf die Beziehungen im Feld der Arbeitsmarktpolitik zu,<br />
denn hier ist die Zahl der „Vetospieler“ immens hoch, man bedenke die langen Verhandlungen<br />
zur Umsetzung der „Hartz“-Reformen“, die zahlreichen Auseinandersetzungen<br />
der Regierung mit verschiedenen Interessengruppen, mit der Opposition<br />
und natürlich vor allem mit den davon Betroffenen, mit den Arbeitslosen. Hierin ist<br />
auch eine Ursache zu sehen, warum Beschäftigungspolitik in den letzten Jahren<br />
dahin tendiert, sich dezentraler zu organisieren, d.h. warum die Richtung auf eine<br />
stärker lokale und regionale Arbeitsmarktpolitik hinweist.<br />
21
Laut Breunig (2003) entstanden erste Ansätze einer kommunal organisierten Arbeitsvermittlung<br />
durch regionale Zünfte im Mittelalter. Mit der Entstehung der Bundesanstalt<br />
für Arbeit 1969 durch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) wurde ein lokaler territorialer<br />
Gestaltungsspielraum zur Förderung beruflicher Bildung realisiert. Doch erst<br />
mit dem Sozialgesetzbuch III von 1998 wurden die Aufgaben der deutschen Bundesanstalt<br />
für Arbeit derart neu geordnet, dass der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen<br />
Instrumente stark dezentralisiert wurde. Damit erlangen die Arbeitsämter die Kompetenz,<br />
in relativer eigener Zuständigkeit über Umfang und Instrumenten-Einsatz in der<br />
Beschäftigungspolitik zu entscheiden. Dies steht im Einklang mit den Forschungen<br />
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit<br />
(IAB), das seit Jahren an Evaluations- und Arbeitsmarktindikatoren arbeitet, die<br />
regionale Arbeitsmarktbedingungen und deren Entwicklungspotenziale berücksichtigen<br />
(Monitoring und Projektionen). Darüber hinaus fordert Breunig (2003) die bestmögliche<br />
Kenntnis folgender <strong>Teil</strong>bereiche:<br />
1. Aktuelle Wirtschaftsstruktur und ihre Entwicklungspotenziale.<br />
2. Quantitative und qualitative Dimension des Arbeitskräfteangebots.<br />
3. Pendler- und Wanderungsverflechtung.<br />
In der in den letzten Jahren zunehmenden Fokussierung auf die <strong>Region</strong> als Handlungsfeld<br />
der Beschäftigungspolitik wird eine Gegenbewegung zur Globalisierung gesehen<br />
(Hilpert/Kistler 2003: 56). Dieser Fokus-Wechsel hat verschiedene Ursachen.<br />
Insbesondere der starke Bedeutungsverlust des Nationalstaates durch weltweite<br />
Handelsbeziehungen und das Entstehen internationaler Konzerne sowie die Flexibilisierung<br />
der Produktion, die je nach Ausrichtung, Lage und Verflechtungsgrad spezifische<br />
Rahmenbedingungen benötigt, führt sowohl zu einer Internationalisierung der<br />
Wirtschaftspolitik als auch zu einer Verschiebung politischer Zuständigkeiten nach<br />
unten: zu einer „<strong>Region</strong>alisierung der <strong>Region</strong>alpolitik“ (Huebner 1996). Demgemäß<br />
richtet sich heute die Perspektive von Beschäftigungspolitik nicht auf lediglich exogen<br />
bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten, sondern genauso auf die innere Struktur einer<br />
<strong>Region</strong>. „Wie sich eine <strong>Region</strong> entwickelt, hängt demnach sowohl von exogenen als<br />
auch von endogenen Faktoren ab. Weltmarkt und nationale (konjunkturelle und<br />
strukturelle) Entwicklung geben zwar den Rahmen für eine regionale Wirtschaft ab,<br />
aber wie diese auf die exogenen Bedingungen reagiert, wird sehr stark von ihrer inneren<br />
Struktur und ihren sozialen und kulturellen Qualitäten bestimmt“ (Häußermann/Siebel<br />
1995: 218).<br />
22
Ein Hemmnis in der fehlenden Ausrichtung auf eine regionale Arbeitsmarktpolitik wird<br />
vor allem darin gesehen, dass sich zu zahlreichen Forschungsfeldern ein völlig heterogener<br />
bzw. disperser Forschungsstand zeigt. Zudem gelingt es Ansätzen lokaler<br />
Ökonomie nicht, die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Doch ein wesentlicher<br />
Nutzen gerade in der Betrachtung der widersprüchlichen empirischen Erkenntnisse<br />
liegt in der lokalen oder regionalen Dimension. Die Komplexität moderner Arbeitsmarktphänomene<br />
erfordert einen Gestaltungsprozess auch auf räumlich überschaubarer<br />
Ebene (Hild 1997: 13). Durch die Problemnähe einer lokalen oder regionalen<br />
Beschäftigungspolitik, lassen sich Konzeptumsetzungen durch ein Maß an Betroffenheit<br />
und Problemnähe leichter gestalten. „<strong>Region</strong>ale Selbstorganisation – etwa im<br />
Bereich von regionalen Bündnissen für Arbeit oder der Arbeitslosenhilfe – erfordert<br />
bei den Betroffenen immer ein gewisses Eigeninteresse und einen erkennbaren Nutzen.<br />
Wird aber dieser von den Betroffenen erkannt, folgen häufig entsprechende<br />
Reaktionen. Diesen basisgesteuerten (bottom-up) Impulsen und lokalen Steuerungsmöglichkeiten<br />
wird eine größere Dauerhaftigkeit (Nachhaltigkeit) als hoheitlichen<br />
Formen (top-down) der Steuerung zugesprochen […]“ (Hilpert/Kistler 2003: 59).<br />
Lokale und regionale Beschäftigungsstrategien verfolgen vielfältige Zielsetzungen,<br />
wie unter anderem die Motivation und Integration bislang benachteiligter Gruppen auf<br />
dem Arbeitsmarkt, den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit, die stärkere Berufseingliederung<br />
von Frauen oder die Förderung von lebenslangem Lernen und permanente<br />
Kompetenzentwicklung. Für die Organisation moderner, den zukünftigen Aufgaben<br />
angepasster Arbeitsmarktkulturen ist vor allem die regionale Ebene geeignet, da sie<br />
die komplexen Sachzusammenhänge überschaubarer werden lässt. Die räumliche<br />
Nähe der Akteure und Institutionen ermöglicht umfassende Lernprozesse, bereichsund<br />
trägerübergreifende Maßnahmen, die Steuerung von Arbeitsmarktprozessen<br />
sowie den schnellen und effektiven Austausch zwischen den Akteuren. In der Konsequenz<br />
richtet sich auch die Europäische Beschäftigungsstrategie zunehmend auf die<br />
regionale Ebene aus. 2<br />
Die erstrebte Umsetzung von Zielsetzungen in der Lösung der Arbeitsmarktprobleme<br />
führte in den letzten Jahren zu einer wahren Flut von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen,<br />
die auf die regionale und lokale Ebene zugeschnitten sind. Dies steht ferner<br />
2<br />
1997 wurde in Luxemburg im Rahmen der Einführung der Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
die beschäftigungspolitische Leitlinie zur Erstellung lokaler Aktionspläne von der EU eingeführt.<br />
Seitdem erfährt die lokale und regionale Dimension eine kontinuierliche Verstärkung in der<br />
Europäischen Beschäftigungspolitik.<br />
23
im Einklang mit einer Dezentralisierung von Arbeitsverwaltungsaufgaben nach dem<br />
neuen Sozialgesetzbuch (SGB III) (Hilpert/Huber 2001: 252 f.), dem „Job-AQTIV“-<br />
Gesetz und der Stärkung der Arbeitsverwaltung vor Ort durch die „Hartz“-Gesetze<br />
(Job-Center/PersonalServiceAgenturen etc.). Insbesondere mit dem 2002<br />
vorgelegten Reformkonzept „Moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt“ („Hartz“-<br />
Kommission) wurde der Bundesagentur ein neues Leitbild - die Berücksichtigung von<br />
Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt - gegeben. Um die Steuerung der so<br />
gestiegenen Aufgabenstellung der Bundesagentur für Arbeit zu ermöglichen, ist eine<br />
stärkere Berücksichtigung regionaler Gesichtspunkte von Nöten.<br />
Die wesentlichen Vorteile der regionalen Dimension für die Beschäftigungspolitik<br />
lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />
1. Nähe zum Arbeitsmarktgeschehen: Entgegen aller mit Globalisierung und Mobilitätssteigerung<br />
verbundenen neoklassischen Hoffnungen auf eine Konvergenz regionaler<br />
Arbeitsmarktperformanzen ist eine zunehmende Heterogenisierung lokaler Arbeitsmärkte<br />
zu beobachten. Unterschiedliche lokale Problemlagen werden zum einen<br />
durch traditionelle wirtschaftsräumliche Strukturen begründet, zum anderen durch<br />
unterschiedliche Betroffenheit durch neue Phänomene (Grenzöffnung, Marktentwicklung<br />
etc.). Arbeitsplätze und Beschäftigung werden hauptsächlich von Unternehmen<br />
geschaffen. Aus diesem Grunde ist die Unterstützung der unternehmerischen<br />
Aktivität und der Entwicklung von Unternehmen eine zentrale Funktion erfolgreicher<br />
Beschäftigungspolitik. Die Kommunen sind bedeutende und direkte Ansprechpartner<br />
für Unternehmen, da sie durch eine aktive, abgestimmte Wirtschaftsförderung<br />
sehr wichtige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung geben können.<br />
Dies ermöglicht auch eine effektivere Nutzung vorhandener Potenziale. Nicht nur im<br />
neuen SGB III wird deshalb eine verstärkte <strong>Region</strong>alisierung der Arbeitsmarktpolitik<br />
gefordert. Auch in den <strong>Region</strong>en selbst, wo der Problemdruck am spürbarsten wirkt,<br />
wird immer mehr eine regional gezielte, ja gar eine endogen generierte<br />
Arbeitsmarktpolitik, verbunden mit zielgenauem Mitteleinsatz etc., gefordert. Die<br />
Praxis zeigt, dass auf der Ebene von Arbeitsamtsbezirken die hierzu notwendigen<br />
Konsensleistungen, die Mobilisierung der relevanten Akteure oder die Umsetzungsvoraussetzungen<br />
wesentlich leichter herzustellen sind als auf Landes- oder gar<br />
Bundesebene. Die bislang vorstelligen Projekte gehen aber über den Status singulärer<br />
lokaler Beschäftigungsinitiativen nur selten hinaus.<br />
24
2. Höhere Anpassungsfähigkeit an regionale Problemvielfalt gewährleistet regional<br />
„sensible“ Beschäftigungspolitik. So wird beispielsweise ein komplexer und flexibler<br />
Instrumenteneinsatz im Sinne einer hochwertigen Dienstleistungsorientierung auf der<br />
lokalen Ebene erleichtert. Auf allen Maßstabsebenen kann immer weniger von einem<br />
Arbeitsmarkt gesprochen werden. Abhängig von der Qualifikation der Erwerbspersonen,<br />
den Pendlerverflechtungen, der lokalen Nachfrage o.ä. gestalten sich Arbeitsmärkte<br />
als geschichtete Kontinuen. Instrumente auf nationalstaatlicher oder Landesebene<br />
verlieren angesichts der Diversifizierung disparitärer Beschäftigungsprobleme<br />
bis zu ihrer lokalen Zielebene vielfach an Wirkung. Eine effektive Arbeitsmarktpolitik<br />
muss zudem über die klassischen Instrumente hinaus weitere Bezugspunkte, wie etwa<br />
Nachfrage- und Angebotsentwicklung, Weiterbildungsinstrumente, Bedarfsanalysen,<br />
Qualifikationsprognosen etc. umfassen. Die Vielzahl der relevanten Aufgaben<br />
kann von den amtlichen Institutionen heute kaum (noch) bewerkstelligt werden. Die<br />
zunehmende Komplexität der Beschäftigungsstruktur und –defizite erfordern zum einen<br />
eine exaktere Zielansprache, was nur in einem detaillierteren Maßstab (auf lokaler<br />
und regionaler Ebene) möglich ist. Zum anderen ist neben der konzeptionellen Arbeit<br />
und angesichts der freien Fördermittel, wie sie auch das neue Sozialgesetzbuch<br />
(SGB III) vorsieht, ein gesteigertes Maß an Umsetzungsarbeit nötig. Derartige Projekte<br />
sind bislang rudimentär. Beispielsweise in der Beratung wird ein besonderer<br />
Schwerpunkt künftig wohl im Wesentlichen bei der an modernen Dienstleistungsansprüchen<br />
ausgerichteten Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen liegen.<br />
3. Beseitigung von Diskriminierungen am Arbeitsmarkt ist auf der lokalen Ebene<br />
besonders wirksam (vgl. Gemeinschaftsinitiative EQUAL in: Bundesministerium für<br />
Arbeit und Sozialordnung 2001: 235 ff.). Lokale Beschäftigungsinitiativen spielen<br />
hierbei eine große Rolle zur Stabilisierung und zur Neuschaffung von Beschäftigung,<br />
insbesondere aber bei der Hilfe für benachteiligte Personengruppen und andere<br />
Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik. Benachteiligte Jugendliche, Frauen, Migranten,<br />
Langzeitarbeitslose und andere Gruppen brauchen Brücken in Beruf und Arbeit, die<br />
am besten von auf ihre konkreten Bedürfnisse abgestimmten lokalen Angeboten -<br />
lokalen „Übergangsarbeitsmärkten“ - geschaffen werden können.<br />
25
4. Initiierung regionaler Lernprozesse: Das „lebenslange Lernen“ kann und soll von<br />
Städten und <strong>Region</strong>en wirksam gefördert werden. 3 Wirkliche Verhaltensänderungen<br />
werden nicht durch einen höheren Problemdruck, sondern in erster Linie durch einen<br />
höheren Identifikationsgrad der betroffenen Akteure mit den entwickelten Konzepten<br />
hergestellt. Erst durch die Ausschöpfung der regionalen Eigenkräfte, die vielfach ihrer<br />
eigenen lokalen Logik folgen und nur unter Kenntnis der regionalen Lebenswelten<br />
(Mentalitäten, Vorerfahrungen, Akteurskonstellationen etc.) verständlich sind, können<br />
nachhaltige Stabilisierungseffekte im Sinne einer „Lernenden <strong>Region</strong>“ erzielt werden.<br />
Durch die Unterstützung von Weiterbildung in Betrieben, durch die Schaffung von betriebs-<br />
und wohnortnahen Weiterbildungsangeboten und durch die Sensibilisierung<br />
und Mobilisierung von Arbeitnehmern und Betrieben für Weiterbildung und Qualifizierung,<br />
kann die traditionelle Wirtschaftsförderung wirksam und nachhaltig ergänzt<br />
werden.<br />
5. „Social mobilization“ und lokal organisiertes Sozialkapital: Kommunen können in<br />
besonderer Weise Partnerschaften und Kooperationsnetzwerke zwischen Unternehmen,<br />
Staat, gesellschaftlichen Gruppen und zwischen verschiedenen öffentlichen<br />
Einrichtungen/Institutionen herstellen. Durch breite Bündnisse kann das „soziale Kapital“<br />
in der <strong>Region</strong> erhalten und vergrößert werden, was Grundlage auch für eine<br />
wirtschaftliche Entwicklung ist, an der alle Gruppen der Gesellschaft teilhaben können<br />
und das die Spaltung in „Gewinner“ und „Verlierer“ des ökonomischen Fortschritts<br />
überwindet. Beispiele: Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ in<br />
Deutschland und das Programm URBAN auf europäischer Ebene zeigen, wie durch<br />
die interdisziplinäre Verknüpfung von Handlungsfeldern der Stadtentwicklung, auch<br />
der Beschäftigungspolitik, im Quartier und auf lokaler Ebene neue Impulse verliehen<br />
werden können.<br />
6. Kontrolle und Evaluierung sowie „therapeutische Steuerung“ sind besser durchführbar:<br />
Aufgrund der bestehenden methodischen Unsicherheiten auf der übergeordneten<br />
Ebene (Makroebene) wird für eine verstärkte Betrachtung der regionalen<br />
Ebene unter besonderer Bezugnahme auf die bisher oftmals vernachlässigten<br />
Implementationsbedingungen von Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik plädiert.<br />
Gegenwärtig gewinnt die Evaluierung von arbeitsmarkt- wie regionalpolitischen<br />
Maßnahmen immer stärker an Bedeutung. Speziell von Seiten der EU wird die Wei-<br />
3<br />
Vgl. Modellprojekte wie ADAPT oder das BMBF-Förderprogramm „Lernende <strong>Region</strong> – Förderung<br />
von Netzwerken“.<br />
26
terentwicklung der Evaluationsmethoden im Hinblick auf die Steuerung der<br />
Strukturfonds und des ESF gefordert. In der wissenschaftlichen Debatte existiert<br />
zurzeit eine Vielzahl von Methoden, die zur Evaluation arbeitsmarkt- wie<br />
regionalpolitischer Maßnahmen eingesetzt wird, deren jeweilige Unzulänglichkeit<br />
aber nicht ausreichend diskutiert wird. Zurzeit werden auch Forschungsvorhaben<br />
durchgeführt, die die bestehenden Methoden kritisch überprüfen sollen und die<br />
Weiterentwicklung ausgewählter Methoden beschreiben.<br />
3. Stärkung der lokalen und regionalen Ebene durch die Europäische<br />
Beschäftigungspolitik<br />
Die Beschäftigungspolitik in Europa ist nach dem Grundsatz einer Mehrebenendialektik<br />
aufgebaut (Roth/Schmid 2002). Sie ist im Vergleich zu nationalstaatlichen Beschäftigungspolitiken<br />
noch ein relativ junges Politikfeld und weist eine erhebliche<br />
„Binnenkomplexität“ und „Entgrenzung“ (Loslösung der Politik von territorialer Übereinstimmung)<br />
auf, die bereits die Aufgabe einer Politikformulierung (gemäß Policy-<br />
Ansatz) sowie die entsprechende Implementation durch Steuerungsprobleme<br />
ungemein erschweren (siehe Abbildung 1).<br />
Abbildung 1: Das Steuerungsmodell in der Arbeitsmarkt- und<br />
Beschäftigungspolitik – Die EU als „kooperativer“ Staat<br />
Lokale Ebene (Steuerungsfähigkeit: abnehmend)<br />
Moderierender Staat<br />
Steuerungsstaat<br />
Interventionsstaat<br />
Staat<br />
Steuerungsintensität: hoch<br />
Kooperativer<br />
Staat<br />
Steuerungsfähigkeit:<br />
integrativ<br />
Min. Staat/ Marktsteuerung<br />
Markt<br />
Steuerungsintensität: gering<br />
Europäische Union<br />
Supranationale Steuerung<br />
Intergouvernementalismus<br />
Supranationale Ebene (Steuerungsfähigkeit: abnehmend)<br />
Quelle: Roth/Schmid 2002: 15<br />
27
„Entgrenzung geht mit der Verringerung politischer Steuerungsfähigkeit des Staates<br />
einher, weil die Reichweite seines Handelns territorial begrenzt, die Adressaten<br />
seiner Politik aber transnational beweglich oder gar exterritorial verankert sind. Die<br />
gemeinsame Ausübung von Souveränität in der EU erweitert den Handlungsrahmen,<br />
bindet die Mitgliedstaaten der EU jedoch in komplexe Entscheidungsprozesse ein,<br />
die mit den Problemen der horizontalen Koordination in Verhandlungssystemen<br />
belastet sind“ (Jachtenfuch/Kohler-Koch 1996: 22).<br />
Die Europäische Union wird hierbei aus politikwissenschaftlicher Sicht als politisches<br />
System angesehen, das sich bislang herkömmlichen Klassifikationen entzieht und<br />
sich durch das „dynamische Mehrebenensystem“ mit Einzigartigkeit und Komplexität<br />
und entgegen vieler landläufiger Vorurteile gemäß vergleichender Systemforschung<br />
mit einer zunehmenden Systemqualität auszeichnet (Roth/Schmid 2002).<br />
Mit dem „Amsterdamer Vertrag“ (1997) erhielt das Thema Beschäftigung erstmals<br />
seinen festen Platz auf der politischen Agenda der Union. Die Verbindlichkeit, die<br />
Beschäftigungspolitik untereinander anzugleichen und die Schaffung von mehr und<br />
besseren Arbeitsplätzen zu begünstigen, wurde auf dem Luxemburger „Beschäftigungsgipfel“<br />
(1997) mit der Formulierung einer Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
konkret umgesetzt. Seitdem fördert die Europäische Beschäftigungsstrategie<br />
auch die Entwicklung einer territorialen Dimension der Beschäftigungspolitik – eine<br />
Entwicklung, die in den letzten Jahren durch die Ausarbeitung regionaler und lokaler<br />
Aktionspläne in ganz Europa untermauert wurde. Die Unterstützung der lokalen Beschäftigungsentwicklung<br />
in der Europäischen Beschäftigtenstrategie (EBS) dient im<br />
Wesentlichen der Implementierung der Ziele des Europäischen Rates von Lissabon<br />
Anfang 2000 und der Agenda 2000 (z.B. Vollbeschäftigung, Erhöhung der Beschäftigungsquote<br />
etc.). Die Zielsysteme sind als Aufgabe für Gebietskörperschaften durch<br />
lokale Aktivitäten mit Leben zu füllen. Wichtige Arbeitsgebiete liegen hierbei in der<br />
Dezentralisierung der Verwaltung, der Stärkung des Freiwilligensektors und der Verwaltung<br />
des Sozialkapitals. „Die lokale und regionale Dimension ist in mehrerer Hinsicht<br />
bedeutend für die Europäische Beschäftigungsstrategie: Zum einen gilt es,<br />
lebenslanges Lernen mit der Hinwirkung auf Lerneffekte vor Ort zu etablieren. […]<br />
Zum anderen werden Arbeitsplätze im Endeffekt lokal geschaffen. Daher sind lokale<br />
Aktionspläne für Beschäftigung zu schaffen.“ 4<br />
4 Auszug der transkriptierten Rede von Frau Diamantopolou (EU-Kommissarin für Beschäftigung<br />
28
Lokale und regionale Beschäftigungspolitik kann die übergeordneten Strategien in<br />
vielerlei Hinsicht vervollständigen und durch ihren Anteil essentiell zum Fortschritt<br />
nationaler und europäischer Beschäftigungspolitik beitragen (Schulze-Böing 2000).<br />
Bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Verarmung kommt es<br />
ausschlaggebend auf die Mobilisierung der lokalen Kollektive an. Daher werden<br />
lokale und regionale Verwaltungen, Gebietskörperschaften und andere lokale<br />
Akteure zu bedeutenden Partnern in der Förderung der wirtschaftlichen und sozialen<br />
Entwicklung in ganz Europa. In der Dezentralisierung wird ein möglicher Weg<br />
gesehen, um die Qualität des Dienstleistungsangebots zu verbessern und adäquat<br />
auf die Nachfrageseite anzupassen. Ebenso ist den Bedürfnissen und Möglichkeiten<br />
der örtlichen Wirtschaft auf diese Weise leichter Rechnung zu tragen. Die sich aus<br />
der Europäischen Beschäftigungsstrategie ergebenden Aufgaben lassen sich in vier<br />
„Säulen“ zusammenfassen:<br />
1. Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit<br />
2. Entwicklung des Unternehmergeistes<br />
3. Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und ihrer<br />
Beschäftigten<br />
4. Förderung der Chancengleichheit.<br />
Die sich daraus ableitenden und für die Entwicklung der so genannten Nationalen<br />
Aktionspläne (NAPs) maßgeblichen „Beschäftigungspolitischen Leitlinien“ beschreiben<br />
konkrete Handlungsschwerpunkte. Diese nationalen Pläne sollen nach dem<br />
Willen der Union durch „Lokale Aktionspläne“ (LAPs) und „Territoriale Beschäftigungspakte“<br />
ergänzt werden. Diese bilden den Rahmen für die Implementation der<br />
europäischen Förderinstrumente, insbesondere des Europäischen Sozialfonds<br />
(ESF). Ziel ist es, die Arbeitsmarkteffekte der strukturpolitischen Interventionen zu<br />
forcieren. Die Erstellung von LAPs ist eine große Herausforderung und erst ganz<br />
wenige Kommunen in Europa, etwa die Stadt Malmö in Schweden, haben sich dieser<br />
Aufgabe auf der Basis eines breiten politischen Konsenses gestellt. „All actors at the<br />
regional and local levels, including the social partners, must be mobilised to implement<br />
the European Employment Strategy by identifying the potential of job creation<br />
at local level and strengthening partnerships to this end” (Ecotec Consulting 2003: 3).<br />
Territoriale Beschäftigungspakte sind Allianzen auf regionaler beziehungsweise loka-<br />
und Soziales) beim „European Forum on local development and employment“ am 16. Mai 2003 in<br />
Rhodos.<br />
29
ler Ebene, um in der jeweiligen <strong>Region</strong> Beschäftigung zu schaffen und zu sichern.<br />
Die Pakte basieren auf breiten Partnerschaften mit Vor-Ort-Akteuren der Privatwirtschaft,<br />
Sozialpartnern, Bürgerinitiativen, Handels- und Handwerkskammern, Bildungsträgern,<br />
Forschungsinstituten, Universitäten/Fachhochschulen, Vereinen,<br />
Technologiezentren sowie mit Vertretern von Gebietskörperschaften. Überregionale<br />
Partner eines „Territorialen Beschäftigungspaktes“ können Politiker und Vertreter von<br />
Landesregierungen, Begleitausschüsse für Strukturfondsinterventionen der EU und<br />
regionale Entwicklungsgesellschaften sein. <strong>Region</strong>sspezifisch werden die Zuschnitte<br />
der Partnerschaften unterschiedlich gestaltet (Besse/Guth 2000: 53 ff.). Die ersten<br />
Bewertungsergebnisse zur Arbeit der Pakte sind so ermutigend, dass der Ansatz der<br />
Beschäftigungsförderung auf lokaler Ebene durch die Bildung von Bündnissen in die<br />
Strukturfondsverordnungen 2000–2006 aufgenommen wurde (Europäische Kommission<br />
1999).<br />
Ebenso bedeutende Steuerungsmöglichkeiten für die regionale Ebene im Rahmen<br />
der EBS fallen in den Bereich der Strukturfonds (z.B. Europäischer Sozialfonds).<br />
Insbesondere die Gemeinschaftsinitiativen EQUAL (beispielsweise durch den Zwang<br />
zur Selbstorganisation in lokalen/regionalen Entwicklungspartnerschaften), Urban<br />
und Leader und die innovativen Maßnahmen (Artikel 6) im Rahmen des Europäischen<br />
Sozialfonds und des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, bieten ein<br />
hohes Umsetzungspotenzial für die Steuerung lokaler und regionaler Beschäftigungspolitik,<br />
das es auszuschöpfen gilt.<br />
4. Deutsche Erfahrungen bei der Realisierung kooperativ ausgerichteter<br />
Beschäftigungspolitik<br />
Allein der Ansatz, Instrumente wie die „Territorialen Beschäftigungspakte“ bei der<br />
Umsetzung der lokalen Dimension der Europäischen Beschäftigtenstrategie,<br />
„Entwicklungspartnerschaften“ zur Realisierung der Gemeinschaftsinitiative EQUAL<br />
oder der „Lernenden <strong>Region</strong>en“ (BMBF) zur Verwirklichung des Prinzips des lebenslangen<br />
Lernens einzusetzen, zeigt die Problematik, Konzepte und Strategien europäischer<br />
und nationaler Beschäftigungspolitik in die Realität umzusetzen. „Nach<br />
mehr als 50 Europaveranstaltungen haben wir zwar viele Menschen erreicht, aber<br />
zum Engagement hat das nur sehr selten geführt“ (Flore 2003: 1).<br />
30
Auch Hilpert und Huber (2002) erkennen zahlreiche Schnittstellenprobleme in der<br />
Verwirklichung von beschäftigungspolitischen Prinzipien und schließen: „Gefordert ist<br />
additiv eine regionale Arbeitsmarktpolitik, die sich in erster Linie durch ihre dezentrale<br />
Steuerbarkeit, durch ihr breiteres Arbeitsmarktverständnis und durch ihre Umsetzungsorientierung<br />
auszeichnet. Von den bestehenden lokalen Institutionen werden<br />
diese Anforderungen bislang nur ungenügend erfüllt“ (Hilpert/Huber 2001: 39).<br />
Um den beschriebenen Durchführungsproblemen am Arbeitsmarkt zu begegnen,<br />
kommt es immer wieder zu „symbiotischen“, dreiseitigen Kooperationsbündnissen<br />
zwischen Staat, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Bereits 1967 wurde mit<br />
der „Konzertierten Aktion“ versucht, in der Dreiersymbiose einen bestehenden Durchführungs-<br />
bzw. Reformstau in der Arbeitsmarktpolitik aufzubrechen. Das 1996 von<br />
Bundeskanzler Kohl gestartete und von Schröder weitergeführte „Bündnis für Arbeit“<br />
führt diesen Ansatz fort. 5<br />
4.1 Die Konzertierte Aktion<br />
Die Idee der „Konzertierten Aktion“ liegt in der Einbindung der Verbände in die Wirtschaftspolitik.<br />
Das lang gehegte Vorhaben konnte mit dem Eintritt der SPD in die<br />
große Koalition in Angriff genommen werden. 1966 konnte mit der Ausarbeitung und<br />
der Ausgestaltung der „Konzertierten Aktion“ gestartet werden. Kernidee der „Konzertierten<br />
Aktion“ war der Versuch, durch einen permanenten Informationsfluss wirtschaftliche<br />
Prozesse abzustimmen. Infolgedessen sollte ein rationales und gezielteres<br />
Verhalten erreicht werden. Das Resultat des Vorhabens war dann aber eher ein<br />
regelmäßiges Zusammentreffen der Akteure als ein tatsächlich ausdrücklich abgestimmtes<br />
Verhalten. Dies lag auch daran, dass das Gremium im Laufe der Zeit ständig<br />
anwuchs. 1977 umfasste das Gremium über 100 Personen; in diesem Jahr fand<br />
die „Konzertierte Aktion“ dann auch ihr Ende. Der Hauptnutzen der „Konzertierten<br />
Aktion“ wird weniger in ihren abgestimmten Tariflohnentwicklungen gesehen, die mit<br />
dem Ausbruch einer Streikwelle im Sommer 1969 als Fehlschlag endeten (Deutsches<br />
Industrie-Institut 1970), sondern vielmehr darin, einen Beitrag dazu geleistet<br />
5<br />
Es sei an dieser Stelle nochmals deutlich darauf hingewiesen, dass es hier nun nicht um eine<br />
politische oder wissenschaftlich-sachliche Einordnung und Bewertung der Kooperationsbündnisse<br />
geht, sondern darum, zu überlegen, inwiefern es den Kooperationsbündnissen gelang, Ideen und<br />
Beschlüsse zu „implementieren“, sprich in Gesetzesvorhaben und tatsächlich durchgeführte<br />
Maßnahmenbündel umzumünzen. Wenn also hierbei von „Erfolgen“ gesprochen wird, geht es im<br />
Sinne der Implementationsforschung darum, inwiefern es das jeweilige „Management of Change“<br />
leisten konnte, Grundsätze, Visionen etc. in die Realität umzusetzen.<br />
31
zu haben, dass die Gewerkschaften in die soziale Marktwirtschaft erfolgreich integriert<br />
werden konnten (Ramge 2003). Daher sind der „Konzertierten Aktion“ eher<br />
nicht beabsichtigte Effekte zuzuschreiben, und sie ist nicht als ein erfolgreiches,<br />
kontrolliertes, zielgerichtetes „Management of Change“ anzusehen.<br />
4.2 Bündnis für Arbeit<br />
Das „Bündnis für Arbeit und Standortsicherung“ war nach dem Scheitern der Kohl-<br />
Regierung von Gerhard Schröder nach seinem Wahlsieg wieder belebt worden. Es<br />
hieß „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“. Im Bündnis waren<br />
im Gegensatz zur „Konzertierten Aktion“ nur die vier Spitzenverbände der Wirtschaft<br />
und der Deutsche Gewerkschaftsbund mit den drei größten Einzelgewerkschaften<br />
vertreten. Die begrenzte <strong>Teil</strong>nehmerzahl war ein großer Vorteil gegenüber der<br />
„Konzertierten Aktion“. Kritisiert wird am „Bündnis für Arbeit“, dass ihm ein adäquater<br />
theoretischer Überbau fehlte. Nur auf die positiven Erfahrungen europäischer<br />
Nachbarländer zu verweisen und den Bedarf eines konsensualen Ansatzes zu<br />
artikulieren, um der wachsenden Komplexität in den Wirtschafts-, Sozial- und Finanzsystemen<br />
gerecht zu werden (Schröder 1999: 49 ff.), ermöglicht kein angemessenes<br />
zielgerichtetes Handeln. Bis auf die „Thesen zur Aktivierung der Arbeitsmarktpolitik“,<br />
die stark in das „Job-AQTIV-Gesetz“ einflossen (Fels 2001), gelang es der wissenschaftlichen<br />
Beratung kaum, ihre Positionen im „Bündnis“ gegen den Widerstand mal<br />
der Gewerkschaften (Niedriglohnsektor) oder mal der Arbeitgeber (Chancengleichheit<br />
der Geschlechter) zu realisieren (Schmid 2003, Pfarr/Vogelheim 2002).<br />
4.3 „Hartz“-Kommission<br />
Die rot-grüne Bundesregierung hat im Frühjahr 2002 eine Kommission unter Leitung<br />
des VW-Vorstandsmitglieds Dr. Peter Hartz eingesetzt, um Lösungsvorschläge für<br />
die Verringerung der Arbeitslosigkeit zu erarbeiten. Die gesetzliche Regelung der<br />
Vorschläge der „Hartz“-Kommission ist z.T. bereits realisiert oder steckt noch im Gesetzgebungsverfahren.<br />
Die mit diesen Gesetzesänderungen angestrebte strategische<br />
Neuausrichtung wirkt sich insbesondere in folgenden Bereichen aus:<br />
• einer effektiveren Vermittlung und einem frühzeitigeren Beginn der Vermittlungsbemühungen,<br />
• einer neuen Balance zwischen betrieblicher Flexibilität und Arbeitnehmerrechten<br />
– wie der Gleichbehandlung von Leiharbeitskräften,<br />
32
• neuen Brücken zwischen unterschiedlichen Erwerbsphasen wie zwischen abhängiger<br />
und selbstständiger Beschäftigung oder<br />
• des Übergangs in den Ruhestand, einer besseren Zusammenarbeit und Vernetzung<br />
unterschiedlicher Institutionen – wie zwischen Arbeits- und Sozialamt.<br />
Ein besonders bedeutender Vorschlag sieht vor, PersonalServiceAgenturen (PSA) zu<br />
errichten, in die Arbeitslose vermittelt und Unternehmen und Betrieben vorübergehend<br />
überlassen werden. In der verleihfreien Zeit soll ihnen Qualifizierung und Fortbildung<br />
angeboten werden. Die Einrichtung von Job-Centern durch die Arbeitsagenturen,<br />
die arbeitslose Personen „aus einer Hand” in ihren vielfältigen Fragen<br />
beraten, sie vermitteln und ggf. zur Qualifizierung veranlassen, sollen ganzheitlich<br />
bedarfsorientierte und verbindliche Integrationsangebote entwickeln.<br />
Aus Sicht der wissenschaftlichen Beratung, die sowohl beim „Bündnis für Arbeit“ als<br />
auch bei der „Hartz“-Kommission beteiligt war, werden bereits jetzt die noch nicht abgeschlossenen<br />
Umsetzungen der Beschlüsse der „Hartz“-Kommission als erfolgreichstes<br />
der vorgestellten Kooperationsinstrumente angesehen (Schmid 2003 sowie<br />
Eichhorst/Hassel 2002). Die Gründe sind nachfolgend kurz zusammengefasst:<br />
• Beteiligung von kooperationswilligen Persönlichkeiten und Vermeidung einer<br />
„Patt-Situation“ von Interessengruppen,<br />
• im Gegensatz zum „Bündnis für Arbeit“ lag der „Hartz“-Kommission eine Vision<br />
zugrunde – nämlich der Versuch einer Implementation des VW-Modells in die<br />
nationale Beschäftigungspolitik,<br />
• strategisches Vorgehen im Entscheidungsprozess: Beziehen von klaren Positionen<br />
und Akzeptanz von möglichen Belastungen bestimmter Klientels, Ausübung<br />
von Druck auf Interessengruppen durch den Zwang zu einer einvernehmlichen<br />
Lösung,<br />
• Ideenreichtum und Steuerungsvermögen durch die Person Peter Hartz,<br />
• hohe Glaubwürdigkeit von Reformvorschlägen durch den Beweis ihrer Anwendbarkeit.<br />
5. „Management of Change“ am Arbeitsmarkt und Umsetzungskonsequenzen<br />
für <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong><br />
Betrachtet man gerade Gestaltungsprojekte wie <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>, die in komplexen<br />
Systemen wie dem Arbeitsmarkt agieren, so bedarf es einer strategischen Vorbereitung<br />
mit Analyse, Folgenabschätzung, Zielentwicklung und Umsetzungskonzept.<br />
Dem trägt auch der Projektaufbau von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> Rechnung. Fern- und Nebenwirkungen<br />
sind am Arbeitsmarkt schwer prognostizierbar oder kontrollierbar und kön-<br />
33
nen zu Fehlentwicklungen führen. In der Folge können ursprünglich intendierte Wirkungen<br />
gemindert werden oder sich sogar ins Gegenteil verkehren. Beispiele für<br />
solche Irrtümer oder Fehlleistungen lassen sich immer wieder finden und sind neben<br />
Nachlässigkeiten auch oft Logikfehlern zuzuschreiben. Eine weitere Fehlerquelle sind<br />
ungenügende Informationen. Dies zeigen Ergebnisse der wirtschaftspsychologischen<br />
Implementationsforschung oder „Change Management“-Programme (Gattermeyer/Al-<br />
Ani 2001). Insbesondere die Vielzahl und Komplexität der denkbaren relevanten<br />
Einflussgrößen für die Gestaltungsziele von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> erfordern ein dementsprechendes<br />
Problemverständnis. In Abbildung 2 sind einige dieser Einflussfaktoren<br />
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Angabe einer Priorität) aufgelistet. Dabei ist<br />
zu beachten, dass die Zuordnung zu den einzelnen Ursachen/Einflusskategorien<br />
nicht durchgehend trennscharf möglich ist bzw. das Zusammenwirken der multifaktorellen<br />
Ursachenbündel (gerade für bestimmte Gruppen von Personen, Branchen,<br />
<strong>Region</strong>en etc.) entscheidend ist. Denn das beste Systemverständnis in <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong><br />
kann nicht weiterhelfen, wenn nicht ausreichend Erkenntnisse vorhanden sind, die<br />
Situation richtig zu beurteilen. In der Konsequenz kommt man zu der ernüchternden<br />
wie simplen Erkenntnis, dass ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Durchführung von<br />
Veränderungsprozessen die Beseitigung der beschriebenen oder anderer<br />
Fehlerarten ist. Durchführungsprobleme zeigen dabei immer wieder, welch hohen<br />
Stellenwert die Art der Entscheidungsfindung für den späteren Erfolg hat.<br />
34
Abbildung 2:<br />
Multifaktorelle Einflussbündel auf die Entscheidung über die<br />
Beschäftigung älterer ArbeitnehmerInnen<br />
Individuum<br />
- Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund<br />
- Qualifikation, Lernfähigkeit<br />
- Beruf, Tätigkeit<br />
- Beschäftigungsfähigkeit<br />
- Gesundheitszustand (objektiv/subjektiv),<br />
- Erwerbsbiografie (Erwerbsstatus,<br />
Belastungserfahrungen, etc.)<br />
- Ehrenamtliches Engagement<br />
- Behinderung/Erwerbsminderungen<br />
- Räumliche/ Soziale Mobilitätsbereitschaft<br />
- Einkommen (individuell, HH-Einkommen, Art)<br />
- Haushaltszusammensetzung (Kinder, Partner etc)<br />
- Lebensplanung (auch von anderen HH-<br />
Mitgliedern)<br />
- Finanzielle Verpflichtungen<br />
- Betreuungsaufgaben für andere Personen<br />
- Rentenvoraussetzungen<br />
- Erwartete/erworbene Rentenansprüche<br />
- Ansprüche auf andere Alterseinkünfte<br />
- Arbeitsorientierung (Motivation, Zufriedenheit)<br />
- Abfindungen/Erwartungen)<br />
- Unsicherheiten (bspw. über Alterseinkünfte)<br />
- Gesellschaftliche Einflüsse:<br />
o Gesellschaftliche Akzeptanz von<br />
Frühverrentung bzw. Alterserwerbstätigkeit<br />
o (schichtspezifische?) Bewertung der<br />
Lebensstile und Lebenslagen durch Familie,<br />
Freunde, Kollegen etc.<br />
Betrieb<br />
- Branche<br />
- Arbeitsbelastung, -beeinträchtigung,<br />
Arbeitsbedingungen<br />
- Altersstruktur<br />
- FuE-Intensität<br />
- Wettbewerbsfähigkeit<br />
- Beschäftigungsentwicklung (generell,<br />
abteilungsbezogen)<br />
- Arbeitsorganisation<br />
- Wissensmanagement, betriebliche<br />
Qualifizierungspraxis<br />
- Angebot alternsgerechter Arbeitsplätze/ Altersteilzeit<br />
- altersgemischte Teams<br />
- Akzeptanz bei Kollegen/Vorgesetzten<br />
- Verdienstentwicklung<br />
- Geschäftsentwicklung<br />
- Kern-/Randbelegschaften, Einbindung in<br />
Betriebsablauf<br />
- Nachfolgerregelungen<br />
- Exportquote<br />
- Hierarchien<br />
- Regelung bei <strong>Teil</strong>zeit-Erwerbsminderung<br />
Beschäftigung bzw.<br />
Nichterwerbstätigkeit<br />
Rechtlicher Rahmen<br />
- Rentenregelungen (gegenwärtig,<br />
programmiert)<br />
- Abschlagsregelungen<br />
- Zugangsmöglichkeiten (Frühinvalidität)<br />
- Tarifverträge zur ATZ<br />
- Entwicklungen in der Pflegeversicherung<br />
- Regelungen über weitere<br />
Alterseinkommensquellen<br />
(Betriebsrenten, Lebensversicherungen<br />
etc.)<br />
- Kündigungsschutz<br />
- Steuerrecht<br />
<strong>Region</strong>aler Arbeitsmarkt<br />
- regionale Wirtschaftsstruktur<br />
- Cluster-Effekte<br />
- Branchenspezifische Konjunkturverläufe<br />
- Beschäftigten- und Arbeitslosenentwicklung<br />
- Altersstruktur der Beschäftigten und Arbeitslosen<br />
- <strong>Region</strong>ale, branchen-, geschlechts-, lohn-,<br />
qualifikations- und altersspezifische (Un-)<br />
Ausgewogenheit von Angebot und Nachfrage<br />
(mismatch)<br />
- Zugang zu (Verkehrs-)Infrastruktur<br />
- Kommunikationswege, Datenlage und Transparenz<br />
- Angebot an /Praxis bei zweitem Arbeitsmarkt, (Weiter)<br />
Bildungsangebot, Umschulung, Mobilitätsförderung<br />
- Praxis bei <strong>Teil</strong>-Erwerbsminderungen<br />
- (<strong>Region</strong>ale) Entwicklung der Frühverrentung<br />
- relative altersspezifische Lohnkurven<br />
- Verbleibquoten<br />
Quelle: Eigene Darstellung INIFES: 2005<br />
Aus diesen Überlegungen ergeben sich Kriterien für <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>, anhand derer die<br />
Herausforderung durch den Wandel bewältigt werden soll:<br />
Reflexion: In <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> werden Maßnahmen mit zahlreichen Reflexionsschritten<br />
ständig präzise und langfristig vorbereitet. Regelmäßige und intensive Beratungen<br />
mit den Partnern werden durchgeführt. Frühzeitige Pilotmaßnahmen sollten daher<br />
35
immer in Bereichen stattfinden, in welchen geringe Unsicherheitsfaktoren zu verzeichnen<br />
sind.<br />
Analyse: Im Umgang mit Informationen ist eine möglichst hohe Transparenz der<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>s zu erzielen, Fern- und Nebenwirkungen von möglichen Maßnahmen<br />
sind zu bedenken. Die Bewertung und Reflexion der Daten wird fachkundig, im<br />
Bedarfsfall von externen Experten, vollzogen und wird im längerfristigen Verlauf von<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> wiederholt.<br />
Konkretes Zielsystem: Bei der Formulierung des Zielsystems wird eine möglichst genaue<br />
Konkretisierung stattfinden, um eine genaue Zielansprache zu ermöglichen. Inhaltlich<br />
erzielen die Partner einen breiten Konsens einer strategischen Vision für alle<br />
<strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>s: Die Situation von älteren und alternden Personen am Arbeitsmarkt<br />
ist heute aber vor allem auch für zukünftige Entwicklungen nachhaltig zu verbessern.<br />
Dosierung: Die Umsetzung der Ziele sollte durch verschiedene fein dosierte<br />
Maßnahmen erfolgen und nicht durch eine isolierte aber starke Maßnahme. In<br />
<strong>Region</strong>alkonferenzen bestimmen die <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>-Akteure Handlungsbedarf, Arbeitsprogramm<br />
und Maßnahmenabstimmung.<br />
Schwerpunkt: Eine thematische Schwerpunktbildung je nach regionalem Handlungsdruck<br />
ist für eine Umsetzung immer wichtig. Erfolgreiche Projekte zeichnen sich<br />
durch eine angemessene Prioritätensetzung aus, ohne sich allzu sehr in Nebenschauplätze<br />
zu verwickeln. In den <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong>s werden die Maßnahmen dem Projektverlauf<br />
angepasst, denn Schwerpunktverlagerungen sind für einen erfolgreichen<br />
Projektabschluss fast immer notwendig.<br />
Anpassungen: Steuernde Eingriffe werden behutsam und mit nicht allzu hoher<br />
Häufigkeit erfolgen. Systembedingte zeitliche Verzögerungen sind durch Kontinuität<br />
und Stabilität geduldig abzuwarten. Daher wird durch eine möglichst frühzeitige –<br />
aber nicht überstürzte – Umsetzung den innovativen Maßnahmen genügend<br />
zeitlicher Rahmen gegeben, um zu wirken.<br />
Selbstverständlich stellt sich nun die Frage nach weiteren relevanten Kriterien für den<br />
Erfolg von <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> sowie deren Verallgemeinerbarkeit. Wie kann man Fehlentwicklungen<br />
in Zukunft besser einschränken? Dies kann ein regionales Arbeitsmarktmanagement<br />
durch die Schaffung einer professionellen Kooperationskultur<br />
erreichen, einschließlich die gezielte Nutzung und Implementation von Erfahrungen<br />
aus erfolgreichen Beispielen (Mainstreaming).<br />
36
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Gattermeyer, W./Al-Ani, A.: Change Management und Unternehmenserfolg. Grundlagen,<br />
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Hilpert, M./Huber, A.: <strong>Region</strong>ales Arbeitsmarktmanagement. Interaktivität als<br />
Lösungsansatz lokaler Beschäftigungsprobleme. In: Raumordnung und Raumforschung.<br />
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Hochrangige Sachverständigengruppe: Die Herausforderung annehmen. Die<br />
Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung. Luxemburg: 2004.<br />
Huber, A.: Management of Change als Steuerung sozialräumlicher Gestaltungsprozesse.<br />
Ein Beitrag zur angewandten sozialgeographischen Implementationsforschung.<br />
Terra Facta Nr. 3. Augsburg: 2004.<br />
Huebner, M.: <strong>Region</strong>alisierung und kommunale Zusammenarbeit. Dezentrale Kooperation<br />
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Rabe, B.: Chancen und Grenzen wissenschaftlicher Beratung in der Arbeitsmarktund<br />
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Ramge, S./Schmid, G. (Hrsg.): Management of Change in der Politik?<br />
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38
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der öffentlichen Verwaltung e.V., Werkstattbericht 5. Münster 2003: S. 68-94.<br />
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Schulze-Böing, M.: <strong>Teil</strong>habe, Qualifizierung und Aktivierung – lokale Beschäftigungspolitik<br />
in europäischer Perspektive. Herten: 2000.<br />
39
3. Demografischer Wandel, Erwerbstätigkeit Älterer und<br />
Frühverrentung in Europa<br />
Jürgen Faik, Susanne Heidel, Christina Stecker, VDR<br />
1. Vorbemerkung<br />
Seit den späten 1960er Jahren – in denen man für das Phänomen starker Geburtsjahrgänge<br />
in dieser Dekade den Begriff „Babyboom“ fand – sinkt in Europa die Nachkommenschaft<br />
der Elterngenerationen auf nicht bestandserhaltendes Niveau ab. Mit<br />
anderen Worten: Die Bevölkerung schrumpft. Zugleich wurden die Menschen, nicht<br />
zuletzt dank des medizinischen Fortschritts, europaweit immer älter. Die mit einer<br />
schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung einhergehenden wirtschaftlichen<br />
und sozialstaatlichen Probleme treffen die Staaten der Europäischen Union etwa in<br />
gleichem Ausmaß. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch die länderspezifische Performance<br />
gemäß ausgewählter Kriterien – etwa hinsichtlich der Beschäftigungsquoten<br />
der 55- bis 64Jährigen, der geschlechtsspezifischen Differenz in der Erwerbstätigkeit<br />
Älterer oder des Verhältnisses von Beschäftigungsquoten Jüngerer zu<br />
denen Älterer – im europäischen Vergleich recht unterschiedlich. Nicht in allen<br />
Mitgliedstaaten findet sich eine geringe Erwerbsbeteiligung 55- bis 64jähriger<br />
Arbeitnehmer oder eine niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen. Nicht zuletzt aus<br />
diesem Grund sind transnationale Vergleiche – wie sie etwa das Projekt <strong>Smart</strong><br />
<strong>Region</strong> verfolgt – für die Identifikation von Maßnahmebündeln und Innovationen<br />
unabdingbar. Neben Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbsquote – vor allem der<br />
Frauen und der älteren Beschäftigten – erfährt insbesondere die Umkehr der<br />
Frühverrentungspraxis große Aufmerksamkeit seitens der Europäischen Union. So<br />
wird im Bericht der Taskforce Beschäftigung „eine radikale Änderung der politischen<br />
Maßnahmen, weg von einer Kultur des Vorruhestands hin zu umfassenden<br />
Strategien für aktives Altern” 1 betont. Die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit der<br />
derzeit 35-50Jährigen gilt in diesem Zusammenhang als wichtigste Herausforderung.<br />
Der nachfolgende Beitrag setzt sich entsprechend vor dem Hintergrund des europaweit<br />
zu beobachtenden Alterungsprozesses, auf den in Kapitel 2 eingegangen wird,<br />
mit den Themen Erwerbstätigkeit Älterer (Kapitel 3) und Frühverrentung in Europa<br />
1<br />
Taskforce Beschäftigung 2003: 9.<br />
41
(Kapitel 4) auseinander. Auf diese Weise werden Hintergrundinformationen für die<br />
<strong>Region</strong>albetrachtungen in den weiteren Buchbeiträgen gegeben.<br />
Konkret wird im <strong>Teil</strong> Erwerbstätigkeit Älterer neben einer kurzen Erörterung der<br />
Arbeitslosigkeit Älterer auf die Beschäftigungsquoten Älterer Bezug genommen.<br />
Hierbei erfolgt auch eine Kontrastierung der empirischen Quoten mit den politischen<br />
Zielvorgaben. In struktureller Perspektive wird zwischen geschlechter-, kohorten- und<br />
qualifikationsbezogenen Beschäftigungsquoten differenziert.<br />
Der Frühverrentungsthematik wird durch Bezugnahme auf ausgewählte wichtige<br />
Einflussfaktoren der Frühverrentung nachgegangen. Im Einzelnen handelt es sich<br />
um die Faktoren Altersgrenzen, Rentenformel, Arbeitslosen- und Invaliditätsversicherung.<br />
Eine Schlussbetrachtung (Kapitel 5) rundet den Beitrag ab. Sie gibt einen summarischen<br />
Überblick über die hier relevante Fragestellung, betont aber auch – über die<br />
hier vorgestellten Ergebnisse hinaus – die Notwendigkeit der Ausdehnung der Zielgruppe<br />
auf die derzeit jüngeren Kohorten (ab 35 Jahren).<br />
2. Demografischer Wandel in Europa<br />
2.1 Bisherige demografische Entwicklung<br />
Die demografische Entwicklung ist zu einem der beherrschenden Themen vieler<br />
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse in Deutschland und Europa<br />
geworden, weil eine älter werdende Bevölkerung vielfältige Konsequenzen für die<br />
verschiedensten Lebensbereiche hat. Dabei ist das Thema nicht neu bzw. sind die<br />
heute zu beob-achtenden und in der Zukunft zu erwartenden Tendenzen bereits seit<br />
langem vom Grundsatz her bekannt.<br />
Die Alterung der Bevölkerung hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Einen Anstieg der<br />
Lebenserwartung und einen Rückgang der Geburtenraten. Wie die nachfolgende<br />
Abbildung 1 zeigt, ist die Lebenserwartung der Männer und der Frauen in der bisherigen<br />
EU zwischen 1960 und 2002 um mehr als acht Jahre angestiegen. Gleichzeitig<br />
nahm die Anzahl der Kinder pro Frau ab (siehe Abbildung 2). Sie sank von etwa 2,6<br />
Kinder pro Frau in 1960 auf etwa 1,5 Kinder pro Frau im Jahr 2002. Damit wird die<br />
Geburtenrate, die zur Erhaltung der Bevölkerungszahl notwendig wäre (2,1 Kinder<br />
pro Frau), unterschritten. Interessant ist die Tatsache, dass die Geburtenraten in den<br />
42
neuen EU-Mitgliedstaaten heute im Durchschnitt niedriger sind als in den bisherigen,<br />
obwohl sie z.B. in den 1980er Jahren noch darüber lagen.<br />
Diese Trends führen sowohl in den alten als auch in den neuen Mitgliedstaaten der<br />
EU dazu, dass der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung zunimmt (siehe<br />
Abbildung 3). Kamen im Jahr 1960 in den bisherigen Mitgliedstaaten noch etwa 29<br />
ältere Menschen (über 60Jährige) auf 100 Menschen im Erwerbsalter (das hier von<br />
20 bis unter 60 Jahren festgelegt ist), so ist deren Zahl bis zum Jahre 2002 auf knapp<br />
40 Personen angestiegen. Das Verhältnis der Anzahl der Personen im Erwerbsalter<br />
zur Anzahl der Personen im Rentenalter verschob sich in diesem Zeitraum<br />
entsprechend von 3,4:1 zu 2,5:1. Auch in den neuen Mitgliedstaaten der EU ist<br />
dieser Trend festzustellen.<br />
Abbildung 1:<br />
85<br />
80<br />
75<br />
Lebenserwartung bei Geburt 1960-2002<br />
in Jahren<br />
75,8<br />
74,8<br />
72,9<br />
72,6<br />
81,6<br />
81,1<br />
70<br />
65<br />
67,4<br />
67,1<br />
60<br />
1960 1970 1980 1990 2000 2002 1960 1970 1980 1990 2000 2002<br />
Männer<br />
EU-15<br />
EU-25<br />
Frauen<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Europäische Kommission: Bevölkerungsstatistik, 2004, Tab.<br />
E-4, E-5<br />
43
Abbildung 2:<br />
Totale Fertilitätsrate 1960 - 2002<br />
Kinder pro Frau<br />
3<br />
2,5<br />
2,6<br />
2,6<br />
2,4<br />
2,3<br />
2<br />
1,5<br />
1,8<br />
1,9<br />
1,6<br />
1,6<br />
1,5 1,5 1,5 1,5<br />
1<br />
0,5<br />
0<br />
1960 1970 1980 1990 2000 2002<br />
EU-15<br />
EU-25<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Europäische Kommission: Bevölkerungsstatistik, 2004, Tab.<br />
D-4<br />
Abbildung 3:<br />
Altenquotient 1960 - 2000<br />
- Anzahl der 60Jährigen und Älteren in % der Personen von 20 bis unter 60 Jahren -<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
39,2<br />
37,9<br />
36,2<br />
34,8 33,8 34,1<br />
35,2<br />
32,9<br />
29,3 28,2<br />
1960 1970 1980 1990 2000<br />
EU-15<br />
EU-25<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Europäische Kommission, Bevölkerungsstatistik, 2004, Tab.<br />
C-8<br />
44
2.2 Erwartete demografische Entwicklung<br />
Schätzungen sowohl auf nationaler deutscher Ebene (z.B. 10. koordinierte<br />
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes) als auch auf<br />
internationaler Basis gehen davon aus, dass die Alterung der Bevölkerung auch in<br />
Zukunft voranschreiten wird. So prognostizieren die Vereinten Nationen, dass die<br />
mittlere fernere Lebenserwartung der Männer bei Geburt in den bisherigen<br />
Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2050 um etwa 5 Jahre ansteigen wird, die der Frauen<br />
um etwa 4,6 Jahre. 2 In den neuen Mitgliedstaaten liegt die Lebenserwartung im<br />
Moment im Durchschnitt etwas niedriger; die Schätzungen gehen jedoch davon aus,<br />
dass die Steigerungen in Zukunft stärker sein werden. So wird für die Männer in der<br />
gesamten EU-25 bis zum Jahr 2050 eine Zunahme der Lebenserwartung bei Geburt<br />
um 5,4 Jahre, bei den Frauen um 4,8 Jahre vermutet (vgl. Abbildung 4).<br />
Entgegen dem bisherigen Trend zu einer Abnahme der Geburtenraten unterstellen<br />
diese Schätzungen für die Zukunft einen Anstieg der Geburtenraten (siehe<br />
Abbildung 5). Trotzdem ändert dies nichts daran, dass das Verhältnis von älteren zu<br />
jüngeren Menschen in Zukunft voraussichtlich weiter ansteigen wird (siehe<br />
Abbildung 6). Der Altersquotient wird in einigen Ländern – den Schätzungen der<br />
Vereinten Nationen zufolge – auf über 60% ansteigen. Das heißt, auf 100 Menschen<br />
im Erwerbsalter werden dann mehr als 60 Menschen im Rentenalter kommen, wobei<br />
das Erwerbsalter hier mit 15 Jahren beginnt und das Rentenalter bei 65 Jahren liegt.<br />
Wie Abbildung 6 zeigt 3 , sind alle Länder in der EU von dieser Entwicklung betroffen,<br />
jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Von den bisherigen Mitgliedstaaten werden<br />
voraussichtlich Spanien, Griechenland und Italien die stärkste Alterung erleben,<br />
während bei den neuen Mitgliedstaaten vermutlich Slowenien die stärkste<br />
demografische Veränderung bewältigen muss.<br />
2<br />
3<br />
Projektionen von Eurostat oder der OECD weichen von den hier dargestellten Schätzungen der<br />
UN zwar ab, prognostizieren aber einen gleichen Trend. Nach Berechnungen von Eurostat lauten<br />
die prognostizierten Vergleichszahlen zu Abbildung 4 für die EU-15-Länder: Steigerung der<br />
Lebenserwartung der Männer von 2000/2005 bis 2045/2050 von 75,0 auf 80,0 Jahre und der<br />
Frauen von 81,3 auf 85,5 Jahre. Entsprechend lauten die Vergleichszahlen von Eurostat in<br />
Abbildung 5 für 2000/2005 1,5 Kinder pro Frau (UN: 1,48) und für 2045/2050 1,7 Kinder pro Frau<br />
(UN: 1,85).<br />
Die in Abbildung 6 ebenso wie in den weiteren Abbildungen genutzten Abkürzungen bedeuten:<br />
EU-25 = Aggregat der EU-25, EU-15 = Aggregat der EU-15, B = Belgien, CZ = Tschechische<br />
Republik, DK = Dänemark, D = Deutschland, EE = Estland, EL = Griechenland, E = Spanien, F =<br />
Frankreich, IRL = Irland, I = Italien, CY = Zypern, LV = Lettland, LT = Litauen, L = Luxemburg, HU<br />
= Ungarn, MT = Malta, NL = Niederlande, A = Österreich, PL = Polen, PT = Portugal, SI =<br />
Slowenien, SK = Slowakische Republik, FIN = Finnland, S = Schweden, UK = Vereinigtes<br />
Königreich; vgl. VDR 2004: 6.<br />
45
Abbildung 4:<br />
Lebenserwartung bei Geburt 2000 - 2050<br />
in Jahren, prospektive Schätzungen der UN<br />
88<br />
84<br />
80<br />
76<br />
75,4<br />
74,5<br />
80,4<br />
79,9<br />
81,6<br />
81,0<br />
86,2<br />
85,8<br />
72<br />
68<br />
2000-<br />
2005<br />
2005-<br />
2010<br />
2015-<br />
2020<br />
2025-<br />
2030<br />
2035-<br />
2040<br />
2045-<br />
2050<br />
2000-<br />
2005<br />
2005-<br />
2010<br />
2015-<br />
2020<br />
2025-<br />
2030<br />
2035-<br />
2040<br />
2045-<br />
2050<br />
Männer<br />
Frauen<br />
EU-15<br />
EU-25<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 107f.; Datenbasis: United<br />
Nations Population Division 2003: World Population Prospects: The 2002 Revision,<br />
Population Database<br />
Abbildung 5:<br />
Totale Fertilitätsrate 2000 - 2050<br />
Kinder pro Frau, prospektive Schätzungen der UN<br />
2<br />
1,6<br />
1,2<br />
0,8<br />
0,4<br />
0<br />
2000-2005 2005-2010 2015-2020 2025-2030 2035-2040 2045-2050<br />
EU-15<br />
EU-25<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 101; Datenbasis: United Nations<br />
Population Division 2003: World Population Prospects: The 2002 Revision,<br />
Population Database<br />
46
Abbildung 6:<br />
Altersquotient 2010 - 2050<br />
Anzahl der 65Jährigen und Älteren in % der Personen von 15 bis unter 65 Jahren, prospektive Schätzungen der UN<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
EU-<br />
25<br />
EU-<br />
15<br />
B CZ DK D EE EL E F IRL I CY LV LT L HU MT NL A PL PT SI SK FIN S UK<br />
2010 2030 2050<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 109; Datenbasis: United Nations<br />
Population Division 2003: World Population Prospects: The 2002 Revision,<br />
Population Database<br />
3. Zur Erwerbstätigkeit Älterer in Europa<br />
3.1 Beschäftigungspolitische EU-Leitlinien (“Active Ageing“)<br />
Die Finanzierung sozialer Sicherung und das Arbeitsmarktgeschehen sind<br />
grundsätzlich stark miteinander korreliert. Dies gilt sowohl für beitrags- als auch für<br />
steuerfinanzierte Sicherungssysteme. Eine hohe Beschäftigung sichert<br />
Verteilungsspielräume im Bereich der sozialen Sicherung et vice versa.<br />
Problematisch sind in diesem Kontext nicht zuletzt die dauerhaft hohen<br />
Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosenquote Älterer (55-64 Jahre) liegt EU-15-weit bei<br />
gut 6% (siehe Abbildung 7). Nur Deutschland (11,3%), Finnland (7,3%) und Spanien<br />
(7,1%) haben eine höhere Arbeitslosenquote im Vergleich zu diesem<br />
Durchschnittswert. Am niedrigsten sind die Arbeitslosenquoten Älterer in Irland<br />
(2,4%) und in Luxemburg (1,6%).<br />
47
Abbildung 7:<br />
Arbeitslosenquoten Älterer (55-64 Jahre) in der EU-15 2004<br />
12<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
EU-15 B DK D EL E F IRL I L NL A P FIN S UK<br />
Arbeitslosenquote (in %)<br />
Land<br />
Quelle: OECD 2005: 241-243<br />
Auch die geringen Beschäftigungsquoten älterer Erwerbspersonen sind – gerade vor<br />
dem Hintergrund des in Kapitel 2 skizzierten Alterungsprozesses – sehr<br />
problematisch. Dies ergibt sich u.a. dadurch, dass die mit den geringen<br />
Beschäftigungsquoten einhergehenden Frühverrentungen Humankapitalverluste und<br />
Minderungen des Wachstumspotenzials mit sich bringen, die bei Besserung der<br />
wirtschaftlichen Lage nur schwer bzw. gar nicht mehr umkehrbar sind. Nebenbei<br />
bemerkt, gibt es keine signifikanten Belege für die Behauptung, dass ältere<br />
Arbeitskräfte in unzureichendem Maße zu einem Beschäftigungswachstum in den<br />
Boom-Branchen einer Volkswirtschaft beitragen würden. 4 Definiert sind die hier<br />
verwendeten Beschäftigungsquoten im Übrigen überwiegend als Verhältnis der<br />
Erwerbstätigen im Alter von 55-64 Jahren zur Gesamtpopulation der 55-64Jährigen. 5<br />
Die Relevanz der doch recht niedrigen Beschäftigungsquoten der älteren Bevölkerung<br />
in der EU dokumentiert sich auch in den verschiedenen beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien der EU (Lissabon 2000, Stockholm 2001, Barcelona 2002). Auf den<br />
Europa-Gipfeln von Lissabon und Stockholm wurde die Steigerung der durchschnitt-<br />
4<br />
5<br />
Vgl. Strategiepapier der EU-Kommission zum „aktiven Altern“ vom 03.03.2004.<br />
Allgemein wird die Beschäftigungsquote definiert als Verhältnis der Erwerbstätigen einer<br />
bestimmten sozioökonomischen Gruppe zur Gesamtpopulation dieser Gruppe; vgl. VDR 2004:<br />
119.<br />
48
lichen EU-Beschäftigungsquote von 63 auf 67% bis 2005 sowie auf 70% bis zum<br />
Jahre 2010 als Ziel ausgegeben. Des Weiteren wurde speziell für die Gruppe der 55-<br />
64Jährigen ein Zielwert von 50% für die Beschäftigungsquote bis zum Jahr 2010 genannt<br />
(siehe dazu unten, Abbildung 16). 6 Seit Stockholm und Barcelona sind zudem<br />
die Bevölkerungsalterung und die langfristige Tragfähigkeit der Altersversorgung<br />
einschließlich der Sicherung angemessener und nachhaltiger Renten als zukünftige<br />
Herausforderungen anerkannt. Um diese Zielvorgaben zu erreichen, bedarf es aus<br />
Sicht der Europäischen Kommission einer Vielzahl von Maßnahmen im Rahmen der<br />
Wirtschaftspolitik und der europäischen Beschäftigungsstrategie „Making work pay“<br />
(„Arbeit lohnend machen“). 7 Diese Strategie umfasst auch die Förderung des „aktiven<br />
Alterns“. 8<br />
3.2 EU-Beschäftigungsquoten Älterer<br />
3.2.1 EU-Beschäftigungsquoten Älterer allgemein<br />
Die Problematik geringer Beschäftigungsquoten Älterer zeigt sich auf Basis von Abbildung<br />
8 darin, dass sich die EU-durchschnittliche Beschäftigungsquote älterer<br />
Arbeitskräfte (55-64 Jahre) sowohl in den EU-25- als auch in den EU-15-Ländern nur<br />
leicht oberhalb der 40-Prozent-Grenze bewegt (40,2% bzw. 41,7%). Oberhalb der<br />
50-Prozent-Grenze befinden sich aktuell lediglich Schweden, Dänemark,<br />
Großbritannien, Portugal, Estland, Irland und Zypern. Deutschland, Tschechien,<br />
Finnland, Litauen, Spanien, die Niederlande, Griechenland, Frankreich, Luxemburg<br />
und Lettland sind nahe dem EU-Durchschnitt angesiedelt. Einen Anteil von weniger<br />
als 35% weisen die neuen Beitrittsländer Slowakei, Slowenien, Polen und Ungarn<br />
ebenso wie die alten EU-Länder Belgien, Italien und Österreich auf. 9<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Vgl. hierzu die Ausführungen in Stecker 2004b: 761 und 771-774.<br />
Zur Europäischen Beschäftigungsstrategie und Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit<br />
siehe Stecker 2004a.<br />
Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002: 3, sowie die Kommissionsmitteilung<br />
KOM 2004 146 endg.<br />
Siehe ausführlich Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen<br />
2003, und ebenfalls KOM 2004: 146 endg.<br />
49
Abbildung 8:<br />
Beschäftigungsquoten Älterer (55-64 Jahre) in der EU 2003<br />
70<br />
60<br />
50<br />
Beschäftigungsquote (in %)<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
EU-25 EU-15 B CZ DK D EE EL E F IRL I CY LV LT L HU MT NL A PL PT SI SK FIN S UK<br />
Land<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 52-53, Datenbasis: Eurostat,<br />
Datenbank New Cronos 2004<br />
Betrachtet man die Veränderungsraten der Beschäftigungsquoten älterer Arbeitskräfte<br />
(55-64 Jahre) in Abbildung 9, so fällt für den Zeitraum 1994-2003 auf, dass in<br />
Deutschland, Italien und Portugal die Quoten für die älteren Männer rückläufig<br />
waren. In den drei genannten Ländern wurde diese Entwicklung jedoch durch<br />
Zugewinne in der Beschäftigung älterer Frauen überkompensiert, so dass sich per<br />
Saldo dort – wie auch bei allen anderen EU-15-Staaten – positive Wachstumsraten<br />
für die Beschäftigungsquoten Älterer ergaben. Spitzenreiter bei den Beschäftigungszuwächsen<br />
älterer Arbeitnehmer ist Luxemburg mit einem Zuwachs in der gesamten<br />
Beschäftigungsquote von 5,6%, gefolgt von den Niederlanden (4,9%) und Finnland<br />
(4,6%). Über dem EU-15-Durchschnittswachstum bezüglich der Beschäftigungsquoten<br />
Älterer in Höhe von +1,7% liegen zudem Irland, Spanien, Belgien, Dänemark<br />
und – ganz schwach – Großbritannien; alle anderen Länder haben unterdurchschnittliche<br />
Veränderungsraten. Der für den Beobachtungszeitraum in allen EU-15-Ländern<br />
festzustellende (leichte) Anstieg der Beschäftigungsquoten älterer Arbeitskräfte kam<br />
vornehmlich durch die Ausweitung der Beschäftigung älterer Frauen zustande. Die<br />
Beschäftigungszuwächse bei den älteren Frauen waren in allen EU-15-Staaten (mit<br />
gewisser Ausnahme Schwedens) markant höher als diejenigen der älteren Männer.<br />
50
Abbildung 9:<br />
Veränderung der Beschäftigungsquoten älterer Arbeitskräfte (55-64 Jahre) in der EU-15 1994-2003<br />
9<br />
8<br />
7<br />
6<br />
Veränderung (in %)<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
-1<br />
EU-15 B DK D EL E F IRL I L NL A PT FIN S UK<br />
Land<br />
Insgesamt Männer Frauen<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 52-57, Datenbasis: Eurostat,<br />
Datenbank New Cronos 2004<br />
3.2.2 EU-Beschäftigungsquoten Älterer nach Geschlecht<br />
Geschlechterdifferenziert ergibt sich EU-durchschnittlich ein aktueller Unterschied<br />
von fast 20 Prozentpunkten zwischen der Beschäftigungsquote älterer Männer und<br />
der älterer Frauen sowohl für die alte EU-15 (51,6% versus 32,2%) als auch für die<br />
neue EU-25 (50,3% versus 30,8%). 10 In sämtlichen EU-Mitgliedstaaten sind – wie<br />
Abbildung 10 ausweist – die Quoten der Männer überwiegend deutlich höher als die<br />
der Frauen. Lediglich in den nordischen Ländern Finnland und Schweden sind die<br />
Differenzen recht gering.<br />
Von den alten EU-Ländern sind die geschlechterbezogenen Differenzen in<br />
Griechenland, Spanien und Irland besonders markant und betragen dort mehr als 30<br />
Prozentpunkte. Von den neuen EU-Ländern sind die entsprechenden Differenzen in<br />
Tschechien, Zypern, Malta und der Slowakei 30 Prozentpunkte oder größer. Dies<br />
scheint die Orientierung an klassischen Erwerbsmustern in diesen Ländern widerzu-<br />
10<br />
Vgl. dazu auch Stecker 2004b: 762, 764: Übersicht 6, mit Zahlenangaben auch zu Norwegen und<br />
den Beitrittskandidaten Bulgarien, Rumänien, Türkei.<br />
51
spiegeln. Unterhalb der Fünf-Prozentpunkte-Marke bewegen sich die Differenzen<br />
lediglich in Finnland und Schweden. Auch Frankreich hat eine vergleichsweise geringe<br />
Differenz von weniger als zehn Prozentpunkten.<br />
Abbildung 10:<br />
Beschäftigungsquoten älterer Frauen und älterer Männer (jeweils 55-64 Jahre) in der EU 2003<br />
80<br />
70<br />
60<br />
Beschäftigungsquote (in %)<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
EU-<br />
25<br />
EU-<br />
15<br />
B CZ DK D EE EL E F IRL I CY LV LT L HU MT NL A PL PT SI SK FIN S UK<br />
Land<br />
Frauen<br />
Männer<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 54-57, Datenbasis: Eurostat,<br />
Datenbank New Cronos 2004<br />
Über die Zeit hinweg zeigen sich die nachfolgend in Abbildung 11 dargelegten<br />
geschlechterbezogenen Veränderungen in den Beschäftigungsquoten (in der EU-15<br />
von 1994 bis 2003). Hinsichtlich der Differenz in den Beschäftigungsquoten älterer<br />
Männer versus älterer Frauen zeigt sich eine abnehmende Wachstumsrate im EU-<br />
15-Maßstab; d.h. dass sich die Beschäftigungsquoten der älteren Frauen zwar langsam,<br />
aber stetig denen der älteren Männer annähern. Ausnahmen stellen in diesem<br />
Zusammenhang allerdings Spanien, die Niederlande und Großbritannien dar: Dort<br />
hat sich seit 1994 ein durchschnittlicher Anstieg der betreffenden Differenz ergeben.<br />
52
Abbildung 11:<br />
Veränderung der Beschäftigungsquoten-Differenzen älterer Männer versus älterer Frauen<br />
in der EU-15 1994-2003<br />
2<br />
1<br />
0<br />
EU-15 B DK D EL E F IRL I L NL A PT FIN S UK<br />
Veränderung (in Prozent)<br />
-1<br />
-2<br />
-3<br />
-4<br />
-5<br />
-6<br />
Land<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 54-57, Datenbasis: Eurostat,<br />
Datenbank New Cronos 2004<br />
3.2.3 EU-Beschäftigungsquoten Älterer im Vergleich mit 15-64Jährigen<br />
Vergleicht man die Beschäftigungsquote Älterer (55-64 Jahre) mit der allgemeinen<br />
Beschäftigungsquote (15-64 Jahre), so ergibt sich in Abbildung 12 EU-weit eine Differenz<br />
von 23 Prozentpunkten (EU-25) bzw. 22 Prozentpunkten (EU-15). In Belgien,<br />
Österreich, Slowenien und der Slowakei ist die Beschäftigungsquote Älterer gar um<br />
mehr als 30 Prozentpunkte geringer als die allgemeine Beschäftigungsquote. Auch in<br />
Deutschland ist die entsprechende Differenz in Höhe von 26 Prozentpunkten<br />
markant, in Portugal – mit etwas mehr als 15 Prozentpunkten – hingegen EUunterdurchschnittlich.<br />
Lediglich in Schweden ist die korrespondierende Differenz geringer<br />
als 5 Prozentpunkte, was auch ein Beleg für eine recht homogene Beschäftigungsstruktur<br />
in Schweden (zumindest nach den Kriterien Alter und Geschlecht) ist.<br />
In sämtlichen anderen EU-Mitgliedstaaten beträgt diese Differenz mehr als zehn<br />
Prozentpunkte, wobei Griechenland noch am nächsten an der Zehn-Prozentpunkte-<br />
Grenze liegt.<br />
53
Abbildung 12:<br />
Differenz zwischen der allgemeinen Beschäftigungsquote (15-64 Jahre) und der<br />
Beschäftigungsquote Älterer (55-64 Jahre) in der EU 2003<br />
40<br />
35<br />
30<br />
Differenz (in Prozentpunkten)<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
EU-<br />
25<br />
EU-<br />
15<br />
B CZ DK D EE EL E F IRL I CY LV LT L HU MT NL A PL PT SI SK FIN S UK<br />
Land<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 46-47 und 52-53, Datenbasis:<br />
Eurostat, Datenbank New Cronos 2004<br />
Abbildung 13 zeigt, dass sich die Differenz zwischen der allgemeinen<br />
Beschäftigungsquote (15-64 Jahre) und der Beschäftigungsquote Älterer (55-64<br />
Jahre) von 1994-2003 EU-15-weit nicht wesentlich verändert hat. Demgegenüber hat<br />
sie sich im ohnehin schon „egalitären“ Schweden nochmals um über sechs<br />
Prozentpunkte verringert.<br />
54
Abbildung 13:<br />
Veränderung der Differenz zwischen der allgemeinen Beschäftigungsquote (15-64 Jahre) und der<br />
Beschäftigungsquote Älterer (55-64 Jahre) in der EU-15 1994-2003<br />
6<br />
4<br />
2<br />
Veränderung (in Prozent)<br />
0<br />
-2<br />
-4<br />
EU-15 B DK D EL E F IRL I L NL A PT FIN S UK<br />
-6<br />
-8<br />
Land<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004. 46-47 und 52-53, Datenbasis:<br />
Eurostat, Datenbank NewCronos 2004<br />
3.2.4 EU-Beschäftigungsquoten Älterer nach Qualifikationsniveau<br />
Differenziert man die Beschäftigungsquoten Älterer (55-59 Jahre bzw. 60-64 Jahre)<br />
nach Qualifikationsstufen (Hohe Qualifikation versus Geringe Qualifikation), so bestätigt<br />
sich der allgemein bekannte Befund (vgl. u.a. Reinberg/Hummel 2005) durchgängig,<br />
dass die Beschäftigungsquoten der gering Qualifizierten (zum <strong>Teil</strong> markant) unterhalb<br />
den Beschäftigungsquoten hoch Qualifizierter liegen. In Griechenland, Irland,<br />
Italien, Luxemburg, Polen und Großbritannien führt dies dazu, dass dort die gering<br />
qualifizierten „jüngeren Alten“ (55-59 Jahre) niedrigere Beschäftigungsquoten als die<br />
hoch qualifizierten „älteren Alten“ (60-64 Jahre) aufweisen – also den Alterstrend in<br />
der Beschäftigung 11 überlagern (siehe Abbildung 14).<br />
11<br />
Hiermit ist gemeint, dass mit zunehmendem Alter die Beschäftigungsquoten zurückgehen.<br />
55
Abbildung 14:<br />
Beschäftigungsquoten nach Qualifikation und Altersgruppen (55-64 Jahre)<br />
in der EU-15 2001<br />
100<br />
90<br />
80<br />
Beschäftigungsquote (in %)<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
EU-15 B DK D EL E F IRL I L NL A PT FIN S UK<br />
Land<br />
55-59 Jahre, hohe Qualifikation 55-59 Jahre, geringe Qualifikation 60-64 Jahre, hohe Qualifikation 60-64 Jahre, geringe Qualifikation<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach EU-Kommission 2003b: 15<br />
In den Altersklassen ab 40 Jahren liegen die EU-15-Durchschnitte für die Beschäftigungsquoten-Differenzen<br />
von hoch und gering qualifizierten Arbeitskräften bei 23,5<br />
Prozentpunkten (40-44 Jahre), 25,3 Prozentpunkten (45-49 Jahre), 28,6 Prozentpunkten<br />
(50-54 Jahre), 32,9 Prozentpunkten (55-59 Jahre) und 22,6 Prozentpunkten<br />
(60-64 Jahre), wie aus Abbildung 15 ersichtlich ist.<br />
56
Abbildung 15:<br />
Beschäftigungsquoten-Differenzen zwischen hoch und gering qualifizierten Arbeitskräften nach<br />
Altersklassen in der EU-15 2001<br />
60<br />
50<br />
Differenz (in Prozentpunkten)<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
EU-15 B DK D EL E F IRL I L NL A P FIN S UK<br />
Land<br />
40-44 Jahre 45-49 Jahre 50-54 Jahre 55-59 Jahre 60-64 Jahre<br />
Quelle: Eigene Berechnungen nach EU-Kommission 2003b: 15<br />
3.2.6 Korrelation zwischen Erwerbsaustrittsalter und Beschäftigungsquote<br />
Älterer<br />
Erwartungsgemäß korreliert die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer mit dem<br />
Erwerbsaustrittsalter stark positiv. Dementsprechend weisen Mitgliedstaaten mit den<br />
niedrigsten (höchsten) Beschäftigungsquoten auch meist ein niedrigeres (höheres)<br />
durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter auf. 12 Die Korrelation zwischen Erwerbsaustrittsalter<br />
und Beschäftigungsquote der 55-64Jährigen für das Jahr 2002 ist in Abbildung<br />
16 ausgewiesen, wobei der zugehörige Korrelationskoeffizient +0,8502<br />
beträgt. 13<br />
12<br />
13<br />
Siehe zur Methodik zur Bestimmung des Strukturindikators „Durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter“<br />
das Arbeitsdokument der EU-Kommission 2003b: Anhang 2: 19. Allerdings sind den verschiedenen<br />
Berechnungsmethoden enge methodische Grenzen gesetzt; vgl. kritisch Behrendt 2003.<br />
Eigene Berechnung an Hand der Abbildung 16 zugrunde liegenden Daten; vgl. in diesem Kontext<br />
VDR 2004: 53, 64.<br />
57
Abbildung 16:<br />
65<br />
Die Zielvorgaben von Barcelona und Stockholm im Jahr 2002<br />
64<br />
Durchschnittliches<br />
Erwerbsaustrittsalter<br />
63<br />
62<br />
61<br />
60<br />
59<br />
SI<br />
I<br />
L<br />
HU<br />
A<br />
F<br />
EU25<br />
D<br />
LV<br />
NL<br />
E<br />
EU15<br />
CZ<br />
EL<br />
LT<br />
FIN<br />
IRL<br />
CY<br />
P<br />
EE<br />
UK<br />
DK<br />
S<br />
58<br />
B<br />
57<br />
SK<br />
PL<br />
Zielvorgabe Stockholm 50%<br />
56<br />
20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70<br />
Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte (% der 55-64-Jährigen)<br />
Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2004: 8, Datenbasis: Eurostat, Arbeitskräfteerhebung,<br />
Jahresmittelwerte<br />
Am linken Rand von Abbildung 16 liegen Polen und die Slowakei: Dort geht ein niedriges<br />
Erwerbsaustrittsalter (56,9 Jahre bzw. 57,5 Jahre) mit geringen Beschäftigungsquoten<br />
Älterer (26,1% bzw. 22,8%) einher. Demgegenüber befindet sich Schweden<br />
am äußersten rechten Rand: Hier ist ein hohes Erwerbsaustrittsalter (63,2 Jahre) mit<br />
einer hohen Beschäftigungsquote Älterer (68,0%) gekoppelt.<br />
Betrachtet man das Erwerbsaustrittsalter differenziert nach dem durchschnittlichen<br />
Austrittsalter von Männern und Frauen, so zeigt sich ein doch recht überraschendes<br />
Bild (Abbildung 17): Das Erwerbsaustrittsalter unterscheidet sich zwischen Männern<br />
und Frauen lediglich um 0,5 Jahre im Durchschnitt der EU-15-Mitgliedstaaten im Jahr<br />
2002. Größere Abweichungen zwischen den Geschlechtern ergeben sich in der EU-<br />
15 nur in Dänemark und den Niederlanden. Mit Ausnahme von Irland und Spanien<br />
liegt in der EU-15 das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter der Männer über demjenigen<br />
der Frauen.<br />
58
Abbildung 17:<br />
Durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter nach Geschlecht, 2002<br />
64<br />
63<br />
62<br />
61<br />
Alter (in Jahren)<br />
60<br />
59<br />
58<br />
57<br />
56<br />
55<br />
EU-15 B DK D E F IRL I NL A PT FIN S UK<br />
Land<br />
Männer<br />
Frauen<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR):<br />
Europa in Zeitreihen 2004, Frankfurt am Main 2004: 64ff., Datenbasis: Eurostat,<br />
Datenbank New-Cronos 2004<br />
Das tatsächliche Austrittsalter liegt in allen Ländern (weit) unterhalb der gesetzlich<br />
vorgesehen Altersgrenzen für den Renteneintritt. Aus diesem Grund wurde auf dem<br />
Gipfel von Barcelona (2002) die Erhöhung des tatsächlichen (effektiven) Erwerbsaustrittsalters<br />
um etwa fünf Jahre bis 2010 anvisiert. 14 Insofern ergänzt sich die Zielvorgabe<br />
von Stockholm mit der Zielvorgabe von Barcelona: In beiden Fällen ist eine<br />
stärkere Arbeitsmarktbeteiligung älterer Arbeitskräfte die Voraussetzung zur Zielerreichung.<br />
Die Ziele sind weitgehend komplementär: Während im Stockholm-Ziel die Erhöhung<br />
des Beschäftigungsniveaus der 55- bis 64Jährigen im Zentrum steht, betont<br />
das Barcelona-Ziel die Erhöhung des Erwerbsaustrittsalters.<br />
14<br />
Vgl. Arbeitsdokument der EU-Kommission 2003b: 2.<br />
59
Nach den in Abbildung 17 dargelegten Daten zeigt sich, dass erwerbstätige ältere<br />
Männer und erwerbstätige ältere Frauen zu einem nahezu gleichen, von Land zu<br />
Land allerdings unterschiedlichen, Erwerbsaustrittsalter tendieren. Diese Feststellung<br />
– ein relativ ähnliches Erwerbsverhalten von Männern und Frauen – könnte<br />
hinsichtlich der allgemeinen wie auch der geschlechtsspezifischen Beschäftigungsquote<br />
Älterer zu einem wichtigen Ansatzpunkt für zukünftige Maßnahmen werden.<br />
Das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter ist in der hier verwendeten Operationalisierung<br />
die auf Personen derselben Alterskohorte bezogene Wahrscheinlichkeit der<br />
Fortsetzung der Erwerbstätigkeit im Jahr t (Änderungen der Erwerbstätigkeit gegenüber<br />
dem vorhergehenden Jahr t-1). Die Wahrscheinlichkeitsverteilung erfasst die<br />
Altersgruppe der 50- bis 70Jährigen und Älteren, wobei die Wahrscheinlichkeit der<br />
Fortsetzung der Erwerbstätigkeit von 100% bis auf 0% stetig abnimmt. 15<br />
Zu beachten an dieser Berechnungsweise ist unter anderem, dass nicht der Beginn<br />
des Rentenbezugs, sondern das Alter des Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt<br />
erfasst wird. Gerade dieser Zusammenhang ist für das Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> – bzw.<br />
für alle über Artikel-6-ESF geförderten Projekte im Programmplanungszeitraum<br />
2004-2006 – die wichtigere Dimension, um Ansatzpunkte für ein Umsteuern des<br />
frühen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben zu finden. Bis zum tatsächlichen<br />
Rentenbeginn können unter Umständen noch Zeiten von Arbeitslosigkeit, Krankheit<br />
oder Invalidität liegen bzw. können andere Sozialleistungen anstelle der Rente<br />
bezogen werden. Methodisch bedenklich ist ferner der Vergleich der<br />
Erwerbsbeteiligung pro Alterskohorte bzw. die Schätzung der Erwerbsbeteiligung<br />
einer Kohorte anhand der Vorgängerkohorten. Systematisch überschätzt<br />
(unterschätzt) wird dann beispielsweise das Ausmaß des Erwerbsaustritts einer<br />
Kohorte in einem bestimmten Lebensalter, wenn die allgemeine Erwerbsneigung<br />
zunimmt (sinkt). 16<br />
4. Frühverrentung in Europa – die institutionellen Regelungen<br />
Die den Abbildungen 16 und 17 zugrunde liegenden Daten deuten an, dass in allen<br />
Ländern der Austritt aus dem Erwerbsleben im Durchschnitt vor Erreichen des gesetzlichen<br />
Rentenalters erfolgt. Untersuchungen auf der Ebene der EU haben ergeben,<br />
dass fast 57% der Personen zwischen 55 und 64 Jahren in den bisherigen Mit-<br />
15<br />
16<br />
Vgl. zur Methodik Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003a.<br />
Vgl. Behrendt 2003: 56ff.<br />
60
gliedstaaten „inaktiv“, das heißt weder erwerbstätig noch arbeitslos, sind. 17 In den<br />
1970er Jahren sank die Erwerbsquote der Männer, insbesondere bei geringer Qualifikation<br />
und manueller Tätigkeit, erst ab einem Alter von über 60 Jahren. Inzwischen<br />
beginnt die Erwerbsquote bereits ab einem Alter von 50 Jahren rapide zu sinken.<br />
Demgegenüber liegt die Erwerbsquote der Frauen im Alter von 50 bis 60 Jahren heute<br />
über dem Wert von 1970 und geht langsamer zurück. Allerdings beginnen die Erwerbsquoten<br />
der Frauen bereits ab einem Alter von 45 Jahren zu sinken. 18<br />
Die Entscheidung zum Ausstieg aus dem Erwerbsleben wird hierbei von vielen<br />
verschiedenen Faktoren beeinflusst. Diese liegen nicht nur im Rentensystem selbst,<br />
sondern auch in anderen Systemen der sozialen Sicherung, wie z.B. der Arbeitslosenversicherung.<br />
Auch das Steuersystem, tarifrechtliche Regelungen, betriebliche<br />
Gegebenheiten und die persönliche Situation jedes Einzelnen spielen eine Rolle. Die<br />
folgende Übersicht 1 gibt eine Zusammenstellung möglicher entscheidungsrelevanter<br />
Gründe.<br />
Übersicht 1: Mögliche Gründe für den Erwerbsaustritt (Auswahl)<br />
Rentenversicherung<br />
Tarifliche Regelungen<br />
Andere Bereiche der<br />
Sozialversicherung<br />
Persönliche Situation<br />
Gesetzliches Rentenalter<br />
Sonderregelungen für vorgezogenen Rentenbeginn<br />
Rentenformel<br />
Fixierung von Altersgrenzen<br />
Senioritätsregelungen beim Lohn<br />
Vorruhestandsregelungen<br />
Arbeitslosenversicherung<br />
Regelungen bei Krankheit und Invalidität<br />
Krankheit, Behinderungen<br />
Familiäre Aufgaben (Betreuung, Pflege Angehöriger)<br />
Persönliche Erfahrungen (z.B. Unzufriedenheit am Arbeitsplatz,<br />
Haltung gegenüber älteren Arbeitnehmern, Altersdiskriminierung)<br />
Arbeitsmarktlage National und regional unterschiedliche Bedingungen<br />
Quelle: Eigene Darstellung<br />
Insgesamt wurden in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene ökonomische Anreize<br />
zum frühzeitigen Austritt aus dem Erwerbsleben gesetzt. Sowohl auf Betriebsebene<br />
als auch flankiert durch die sozialen Sicherungssysteme führten Vorruhestandsregelungen<br />
und Frühverrentungen zu einem niedrigen Beschäftigungsstand<br />
17<br />
18<br />
Vgl. Social Protection Committee 2004: 4.<br />
Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002: 6.<br />
61
älterer Arbeitnehmer. Die Europäische Kommission regte daher im Rahmen der<br />
Strategie „Arbeit lohnend machen“ eine Wirkungsanalyse von Lohnniveau,<br />
Mindestlöhnen, Sozialleistungen (Arbeitslosengeld und andere Transferleistungen,<br />
Erwerbsminderungsrenten, reguläre Renten) und der Besteuerung der Beschäftigten<br />
an, um die (Wechsel-)Wirkungen auf die Arbeitsangebotsentscheidung zu eruieren. 19<br />
Neben dem Abbau finanzieller Anreize zum frühzeitigen Ausstieg aus dem<br />
Erwerbsleben sind gleichzeitig Maßnahmen zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit<br />
älterer Arbeitnehmer notwendig. Zu Maßnahmen zur Verlängerung<br />
der Lebensarbeitszeit gehören etwa alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen,<br />
wie Maßnahmen der Arbeitsgestaltung und Personalentwicklung oder neue Produktions-<br />
und Organisationsmethoden, aber auch Maßnahmen im Zuge des<br />
„lebenslangen Lernens“.<br />
Ziel der nachfolgenden Abschnitte ist es herauszuarbeiten, welche institutionellen<br />
Gegebenheiten in den Ländern der EU bestehen, die einen Austritt aus dem<br />
Erwerbsleben vor Erreichen des gesetzlichen Rentenalters ermöglichen. Dabei<br />
werden die Rentenversicherung und die anderen Zweige der Sozialversicherung im<br />
Mittelpunkt stehen. Andere entscheidungswirksame Tatbestände – gerade auch auf<br />
der betrieblichen Ebene vor Ort – werden hier vorerst nicht betrachtet. In späteren<br />
Publikationen im Rahmen des Projektes <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> werden aber genau diese<br />
konkreten Bedingungen genauer analysiert und dokumentiert.<br />
4.1 Altersgrenzen<br />
Ein wichtiger Bestimmungsfaktor für den Ausstieg aus dem Erwerbsleben ist das<br />
gesetzliche Rentenalter. Dieses liegt, wie bereits aus den Abbildungen 16 und 17<br />
ersichtlich, in allen Ländern der EU in der Regel über dem tatsächlichen Erwerbsaustrittsalter.<br />
Im Zuge der Reformen der Rentensysteme sind auf nationaler Ebene die<br />
gesetzlichen Altersgrenzen in vielen Ländern angehoben worden. Von diesem<br />
Prozess sind bisher meist die Frauen betroffen gewesen, weil die Regelaltersgrenze<br />
für Frauen in zahlreichen Ländern bislang unter der der Männer lag. Die Reformen<br />
führten in der Regel dazu, dass die Altersgrenze der Frauen auf die der Männer<br />
angehoben wurde. Das gesetzliche Rentenalter beträgt danach in den meisten<br />
Ländern der EU 65 Jahre (vgl. Tabelle 1). Dieser Prozess ist jedoch sehr unterschiedlich<br />
weit fortgeschritten. So wurde in Portugal die Altersgrenze der Frauen auf<br />
19<br />
Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002: 12.<br />
62
die der Männer bereits zwischen 1994 und 2000 angehoben, in Belgien läuft die<br />
Anhebung derzeit bis zum Jahr 2009, während sie im Vereinigten Königreich erst<br />
zwischen 2010 und 2020 und in Österreich gar erst zwischen 2024 und 2033<br />
erfolgen wird. Die betreffenden Reformen sind also mit zum <strong>Teil</strong> sehr langen Übergangsfristen<br />
verbunden. 20<br />
Darüber hinaus lassen neuere Rentenreformen einen weiteren Trend erkennen: Die<br />
Flexibilisierung des gesetzlichen Rentenalters. So wurde bei Rentenreformen in<br />
Schweden 21 , Finnland und Italien eine Spanne eingeführt, innerhalb derer der<br />
Renteneintritt erfolgen kann. Der Zeitraum reicht dabei von 57–65 Jahren in Italien<br />
über 61–67 Jahre in Schweden bis hin zu 62–68 Jahren in Finnland im privaten<br />
Sektor. 22 Bei diesen Modellen variiert die Rentenhöhe automatisch mit dem<br />
gewählten Zeitpunkt des Renteneintritts und im Falle von Italien und Schweden<br />
zusätzlich mit der zukünftigen Lebenserwartung der Kohorte. Insofern verbinden<br />
diese Rentensysteme einen doppelten Anreiz zum längeren Verbleib im Erwerbsleben,<br />
weil nicht nur jedes Jahr des früheren Renteneintritts zu Abschlägen führt,<br />
sondern die steigende Lebenserwartung automatisch (negativ) in der Rentenhöhe<br />
berücksichtigt wird.<br />
20<br />
21<br />
22<br />
Vgl. Europäische Kommission: MISSOC, verschiedene Ausgaben.<br />
Länder, die ihre Alterssicherung nach dem schwedischen Vorbild des Notional Defined Contribution<br />
Systems (NDC) reformieren, sind im Übrigen neben Italien auch Lettland und Polen.<br />
Vgl. Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit: Datenbanken, 2004.<br />
63
Tabelle 1: Altersgrenzen im europäischen Vergleich<br />
lAND<br />
NEUE GESETZLICHE<br />
BISHERIGE GESETZLICHE<br />
ALTERSGRENZE<br />
ALTERSGRENZE (IN JAHREN)<br />
(IN JAHREN)<br />
Frauen Männer Frauen Männer<br />
B 63 65 65 -<br />
CZ 55-59 61 63 63<br />
DK 67 67 65 65<br />
D 65 65 - -<br />
EE 59 63 63 -<br />
EL 60 65 65 -<br />
E 65 65 - -<br />
F 60 60 - -<br />
IRL 65 / 66 65 / 66 - -<br />
I 60 65 57-65 57-65<br />
CY 65 65 - -<br />
LV 60 62 62 -<br />
LT 59 62,5 60 -<br />
L 65 65 - -<br />
HU 62 62 - -<br />
MT 60 61 - -<br />
NL 65 65 - -<br />
A 60 65 65 -<br />
PL 60 65 - -<br />
PT 65 65 - -<br />
SI 56-63 58-65 - -<br />
SK 62 62 - -<br />
FIN 65 65 62-68 62-68<br />
S 65 65 61-67 61-67<br />
UK 60 65 65 -<br />
Quelle:Eigene Darstellung nach Europäische Kommission: MISSOC 2004, S. 175 ff., 457 ff.,<br />
739 ff.<br />
Neben den gesetzlichen Regelaltersgrenzen gibt es in vielen Rentensystemen in den<br />
Ländern der EU Möglichkeiten eines vorzeitigen Renteneintritts (vgl. Abbildung 18).<br />
Entsprechende Renten werden beispielsweise gewährt für Beschäftigte in schweren<br />
und gesundheitsschädlichen Berufen (z.B. Spanien, Griechenland, Portugal), bei Arbeitslosigkeit<br />
(z.B. Finnland, Österreich, Portugal), bei langer Versicherungsdauer<br />
(z.B. Belgien, Griechenland, Frankreich, Italien) oder für Mütter minderjähriger oder<br />
behinderter Kinder (z.B. Griechenland).<br />
64
Abbildung 18:<br />
Altersgrenzen für vorgezogene Altersrenten<br />
A<br />
I<br />
Auslaufen der vorgez. Rente bei langer Versicherungsdauer<br />
Abschaffung der vorgez. Rente bei Arbeitslosigkeit<br />
55 56 1 / 2 Frauen<br />
bei Arbeitslosigkeit und langer Versicherungsdauer<br />
60 61 1 / 2 Männer<br />
55 57 Dienstaltersrente<br />
EL<br />
E<br />
60<br />
55 60<br />
Altersrente bei schweren und ungesunden Berufen<br />
61 vorgezogener Ruhestand<br />
FIN<br />
60<br />
60<br />
60<br />
62<br />
62<br />
Altersrente<br />
indiv. vorgezogene Rente<br />
62 Rente bei Arbeitslosigkeit<br />
D<br />
60 65<br />
60 63<br />
63 65<br />
Langj. Versicherte<br />
für Schwerbehinderte<br />
bei Arbeitslosigkeit<br />
1995<br />
1997<br />
1999<br />
2001<br />
2003<br />
2005<br />
2007<br />
2009<br />
2011<br />
2013<br />
2015<br />
2017<br />
2019<br />
2021<br />
2023<br />
2025<br />
2027<br />
2029<br />
2031<br />
2033<br />
2035<br />
Quelle: Eigene Darstellung nach Europäische Kommission: MISSOC, verschiedene<br />
Ausgaben ab 2001<br />
Im Bereich der vorzeitigen Altersrenten haben sich in den vergangenen Jahren die<br />
meisten Reformen vollzogen: Es ist ein allgemeiner Trend zur Einschränkung dieser<br />
vorzeitigen Renteneintrittsmöglichkeiten festzustellen. So wurden beispielsweise mit<br />
der Rentenreform in Österreich im Jahre 2003 die vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit<br />
und die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer abgeschafft.<br />
In der Rentenreform 2003 in Frankreich wurde die Mindestversicherungsdauer<br />
für den Rentenzugang mit 60 Jahren im öffentlichen Dienst von 37,5 Jahren<br />
auf 40 Jahre ausgedehnt; für alle Versicherten in der Privatwirtschaft und im öffentlichen<br />
Dienst wird die Versicherungsdauer ab 2012 von 40 auf 41 Jahre angehoben.<br />
Auch in Finnland wurden in vergangenen Reformen die Voraussetzungen für den<br />
Bezug der Rente bei Arbeitslosigkeit und der individuell vorgezogenen Rente (eingeschränkte<br />
Erwerbsfähigkeit) verschärft; beide sind seit 2005 im privaten Sektor abgeschafft.<br />
Eine Verschärfung der Voraussetzungen findet auch in Belgien statt. Die<br />
Mindestversicherungsdauer für den vorzeitigen Bezug der Altersrente mit 60 Jahren<br />
wird von 28 auf 35 Jahre angehoben. Dieser Prozess ist bereits im Gange und wird<br />
2005 abgeschlossen sein. Insgesamt ist also eine Verringerung der Möglichkeiten,<br />
65
vorzeitig in den Ruhestand zu treten, erfolgt: Spezielle Altersrenten wurden<br />
abgeschafft, und Anspruchsvoraussetzungen für einen vorzeitigen Renteneintritt<br />
wurden verschärft. 23<br />
Diesen „Negativanreizen“ zur Vermeidung eines vorzeitigen Austritts aus dem Erwerbsleben<br />
stehen aber auch „Positivanreize“ zum längeren Verbleib im Erwerbsleben<br />
gegenüber. Im Rentensystem ist dabei speziell die Möglichkeit einer <strong>Teil</strong>rente zu<br />
nennen. Diese Möglichkeit einer Kombination von reduzierter Erwerbstätigkeit und<br />
dem Bezug einer <strong>Teil</strong>rente ist im deutschen Rentensystem schon länger bekannt.<br />
Obgleich Schweden über die höchste Erwerbsquote der älteren Arbeitnehmer innerhalb<br />
der Europäischen Union verfügt, wurde auch hier mit der jüngsten Rentenreform<br />
die Kombination von Erwerbseinkommen mit einer 25-, 50- und 75-prozentigen <strong>Teil</strong>rente<br />
oder einer Vollrente ermöglicht. In Österreich gab es bis Ende des Jahres 2003<br />
die Möglichkeit, eine vorzeitige Alterspension neben einer eingeschränkten unselbstständigen<br />
Erwerbstätigkeit zu beziehen. In der Mehrzahl der Länder der EU besteht<br />
diese Möglichkeit heute allerdings nicht.<br />
4.2 Rentenformel<br />
Ein weiterer Anreiz für den Rentenzugang ist in der Rentenformel zu sehen. Dabei<br />
gibt es in den Ländern der EU verschiedene Einflussfaktoren auf die Höhe der<br />
späteren Rente. Zu nennen sind in diesem Kontext z.B. das Erwerbseinkommen und<br />
die Versicherungsdauer. Bislang bestanden in einigen Ländern Systeme, in denen<br />
das Einkommen der besten fünf oder zehn Jahre maßgeblich für die Höhe der Rente<br />
war. Darüber hinaus existieren Systeme, in denen die Rente nach Erreichen einer<br />
bestimmten maximalen Versicherungsdauer nicht mehr steigt. Von beiden<br />
Gestaltungsprinzipien gehen negative Anreize für eine Fortsetzung der<br />
Erwerbstätigkeit nach Erreichen der jeweiligen Voraussetzungen aus.<br />
In den vergangenen Jahren fanden hier Reformen statt, die den der Rentenberechnung<br />
zugrunde liegenden Einkommenszeitraum ausdehnten. Dieser wurde in<br />
Österreich mit der Reform 2003 von den besten 15 auf die besten 40 Jahre 24 , in<br />
Frankreich von den besten 10 auf die besten 25 Jahre 25 , in Finnland von den letzten<br />
23<br />
24<br />
25<br />
Vgl. Europäische Kommission: MISSOC, verschiedene Ausgaben; Internationale Vereinigung für<br />
soziale Sicherheit: Datenbanken, verschiedene Jahrgänge.<br />
Zur Rentenreform in Österreich 2003 vgl. www.sozialversicherung.at.<br />
Eine Übersicht über Rentenreformen in Frankreich findet sich z.B. bei Kaufmann 2002.<br />
66
10 Jahren auf das durchschnittliche Lebenseinkommen 26 und in Portugal von den<br />
besten 10 Jahren auf das durchschnittliche Lebenseinkommen 27 erhöht. Auch die<br />
neuen Rentensysteme in Schweden und Italien unterstreichen diesen Trend mit der<br />
Einbeziehung des gesamten Erwerbslebens in die Berechnung der Rente. 28<br />
Anstelle der früheren steuerfinanzierten, preisindexierten garantierten Grundrente für<br />
alle Wohnbürger wurde etwa in Schweden eine beitragsfinanzierte, lohnindexierte,<br />
einkommensproportionale Alterssicherung für Erwerbstätige eingeführt, der nunmehr<br />
ein (durchgängiges) Einkommen über 40 Erwerbsjahre zugrunde liegen soll. 29 Die<br />
neue flexible Rentenberechnung erfordert jedoch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit,<br />
um das gleiche Rentenniveau zu erreichen wie noch die Vorgängerkohorten.<br />
Dies ist also ebenfalls eine Entwicklung, die die Bestrebungen zur Verlängerung<br />
des Erwerbslebens unterstützt, weil sich so eine längere Erwerbstätigkeit<br />
auch in einer höheren Rente niederschlägt.<br />
4.3 Arbeitslosenversicherung<br />
Anreizwirksame Regelungen im Hinblick auf die Erwerbstätigkeit Älterer bzw. auf das<br />
Ausscheiden Älterer aus dem Erwerbsleben ergeben sich aber nicht nur aus dem<br />
Rentensystem. In der Arbeitslosenversicherung setzen z.B. großzügigere Regelungen<br />
für ältere Arbeitslose Anreize zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. In den<br />
meisten Mitgliedstaaten der EU gibt es für ältere Arbeitslose höhere Leistungen, oder<br />
sie können die Leistungen über einen längeren Zeitraum beziehen. In manchen<br />
Ländern erhalten sie spezielle Leistungen, wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld<br />
erloschen ist. Schließlich sind die Anforderungen an die Verfügbarkeit der Älteren für<br />
den Arbeitsmarkt mitunter weniger streng als bei jüngeren Arbeitslosen. 30<br />
Auch hier ist aber bereits ein Trend zur Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen<br />
und gleichzeitigen „Aktivierung“ der älteren Arbeitnehmer durch Unterstützung bei<br />
der Suche nach Beschäftigung zu beobachten. 31 So soll in Deutschland die maximale<br />
Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose von 32 auf 18 Monate<br />
gekürzt werden. In Belgien wurde das Alter, ab dem ältere Arbeitslose dem Arbeits-<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
Vgl. Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit: Datenbanken, 2004.<br />
Vgl. Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit: Datenbanken, 2004.<br />
Vgl. Europäische Kommission: MISSOC, verschiedene Jahrgänge; Internationale Vereinigung für<br />
soziale Sicherheit: Datenbanken, verschiedene Jahrgänge.<br />
Information zur schwedischen Rentenreform finden sich z.B. unter www.fk.se.<br />
Vgl. Social Protection Committee 2004.<br />
Vgl. Stecker 2004b: 768.<br />
67
markt nicht mehr zur Verfügung stehen müssen, von 50 auf 58 Jahre angehoben.<br />
Auch in den Niederlanden wurden die Anforderungen an ältere Arbeitslose verschärft:<br />
Brauchten sie bislang ab einem Alter von 57 ½ Jahren dem Arbeitsmarkt nur<br />
noch passiv zur Verfügung zu stehen, müssen sie sich in Zukunft aktiv um eine neue<br />
Arbeit bemühen, wobei prinzipiell der Bezug der Arbeitslosenunterstützung für ältere<br />
Arbeitslose bis zum 65. Lebensjahr möglich ist.<br />
In den Niederlanden wird dem Problem der ausgedehnten Frühverrentungspolitik<br />
nicht zuletzt mit dem Abbau steuerlicher Vergünstigungen für den Vorruhestand<br />
begegnet. Ähnlich wie in Deutschland werden finanzielle Anreize für Arbeitgeber<br />
über steuerliche Einstellungsanreize und Subventionen gesetzt. Diese umfassen<br />
direkte Zuschüsse und niedrigere Sozialbeiträge, beispielsweise in den Niederlanden<br />
über eine rückläufige Altersentlohnung und in Deutschland über die Befreiung von<br />
der Arbeitslosenversicherung bei Einstellung älterer Arbeitnehmer. Dem Ziel der<br />
Bekämpfung des „Scheinruhestands“ dient auch die Kostenbeteiligung der<br />
niederländischen Arbeitgeber an der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer über 57 ½<br />
Jahren. 32 In Finnland und Österreich laufen Renten, die wegen Arbeitslosigkeit<br />
bezogen werden konnten, aus. Im Vereinigten Königreich und in Dänemark ist eine<br />
intensivere Unterstützung der älteren Arbeitslosen für eine Rückkehr in den<br />
Arbeitsmarkt vorgesehen. 33<br />
4.4 Invaliditätsversicherung<br />
In vielen Fällen sind auch Krankheit bzw. Invalidität der Grund für ein vorzeitiges<br />
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Laut Erhebungen der Europäischen<br />
Kommission beziehen mehr als ein Fünftel der 60-64jährigen Männer in Irland,<br />
Luxemburg, den Niederlanden, Finnland und Schweden Leistungen der Invaliditätsversicherung.<br />
34 In diesem Zusammenhang spielen die Bedingungen am Arbeitsplatz<br />
selbst eine große Rolle. Häufig sind gesundheitliche Probleme älterer Arbeitnehmer<br />
(aber nicht nur dieser) auf schlechte Arbeitsbedingungen zurückzuführen, weshalb<br />
eine ihren Bedürfnissen entsprechende Arbeitsgestaltung bzw. Rehabilitation nötig<br />
ist. 35<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003c: 19.<br />
Vgl. Social Protection Committee 2004: 16 f.<br />
Vgl. Social Protection Committee 2004: 18.<br />
Vgl. Behrendt 2003: 63.<br />
68
Ohne Frage ist in diesem Zusammenhang aber auch die Ausgestaltung der Systeme<br />
für Leistungen bei Krankheit und Invalidität von Bedeutung für den Ausstieg aus dem<br />
Erwerbsleben. Hier unterscheiden sich die Systeme in den einzelnen Ländern sehr<br />
stark hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen. So wird in den Niederlanden bereits<br />
ab einer 15%igen Erwerbsminderung eine geringe Invaliditätsrente gewährt, während<br />
in Großbritannien und Irland beispielsweise eine 100%ige Erwerbsminderung<br />
vorausgesetzt wird. Darüber hinaus berücksichtigen verschiedene Länder, wie z.B.<br />
Belgien, Dänemark, Deutschland, Luxemburg und Portugal neben den medizinischen<br />
Faktoren auch Arbeitsmarktgesichtspunkte. 36 Auf beiden Wegen kann eine<br />
Frühverrentung älterer Arbeitnehmer erreicht werden.<br />
Auch hier zeigt sich aber eine Tendenz zur Verschärfung der Voraussetzungen für<br />
den Bezug von Leistungen und eine Verstärkung der Bemühungen zur<br />
(Re-)Integration Älterer in den Arbeitsmarkt. 37 So soll es in den Niederlanden künftig<br />
einen Zugang zu staatlichen Erwerbsminderungsrenten nur noch für vollständig Erwerbsgeminderte<br />
geben. 38 In Österreich wurden die vorzeitigen Alterspensionen<br />
wegen geminderter Arbeitsfähigkeit abgeschafft, und in Deutschland wurde die<br />
Altersgrenze für Erwerbsminderungsrenten heraufgesetzt.<br />
5. Schlussbemerkungen<br />
Europas Gesellschaften altern. Dies ist zum einen auf einen Anstieg der Lebenserwartung<br />
und zum anderen auf einen Rückgang der Geburtenraten zurückzuführen.<br />
Vor diesem Hintergrund stellen sich die relativ hohen Arbeitslosenquoten und die<br />
relativ niedrigen Beschäftigungsquoten Älterer (im Verhältnis zu Arbeitslosen- und<br />
Beschäftigungsquoten der unter 55Jährigen) als großes Problem dar. In Bezug auf<br />
die Beschäftigungsquoten zeigen sich überdies in der Regel in der EU große Differenzen<br />
zwischen den Geschlechtern, zwischen den Alterskohorten und zwischen den<br />
Qualifikationsstufen. Immerhin ergibt sich über die Zeit hinweg ein Trend zur Erhöhung<br />
der Beschäftigungsquoten Älterer, insbesondere älterer Frauen. Innerhalb der<br />
EU sind die dargelegten sozioökonomischen Differenzen – im Übrigen auf einem<br />
hohen Beschäftigungsquoten-Niveau – in Schweden am wenigsten ausgeprägt, das<br />
insofern als „Best-Practice-Beispiel“ dienen kann.<br />
36<br />
37<br />
38<br />
Vgl. Fenge/Gebauer/Holzner et. al. 2003: 67 ff.<br />
Vgl. Stecker 2004b: 769.<br />
Vgl. Sociaal Economische Raad: Advisory Report on the Cabinets disability Insurance Policy,<br />
2004/02 E.<br />
69
Mit diesen Befunden steht die Frühverrentungsthematik im engen kausalen Zusammenhang.<br />
In der Vergangenheit wurde die Frühverrentung mitunter als Weg zur Lösung<br />
der Arbeitsmarktprobleme Älterer gesehen. Die hiermit verbundenen Probleme<br />
haben erst teilweise zu einer Umkehr in der Frühverrentungspolitik geführt. So zeigen<br />
sich zwar realiter Reformbestrebungen in Richtung längerer Lebensarbeitszeiten, die<br />
allerdings durch die nach wie vor gängige Praxis des Vorruhestands – hier häufig<br />
über die Sozialsysteme (Arbeitslosigkeit vor Rentenbezug, Inanspruchnahme der<br />
vollen oder teilweisen Erwerbsminderungsrenten u.a.) – zumindest teilweise konterkariert<br />
werden. Um jedoch auch in Zukunft die Beschäftigungsfähigkeit vor dem Hintergrund<br />
der Bevölkerungsalterung und längeren Lebenserwartung zu fördern und<br />
möglichst lange zu erhalten, ist die Ausdehnung der Zielgruppe auf die derzeit jüngeren<br />
Geburtskohorten bereits ab 35/40 Jahren notwendig. Dabei kann es nicht nur<br />
einseitig um Maßnahmen zur Rehabilitation älterer Arbeitnehmer gehen, sondern<br />
entsprechende Maßnahmen müssen gleichzeitig zur Prävention und beruflichen<br />
Qualifikation und Weiterbildung („Lebenslanges Lernen“) bereits bei jüngeren Arbeitnehmern<br />
ab 35 Jahren ansetzen, damit ein möglichst langes und gesundes Berufsleben<br />
möglich wird.<br />
Die Betriebe sind auf ihre in den nächsten Jahrzehnten kollektiv alternden Belegschaften<br />
nur unzureichend vorbereitet, wenn sie sich überhaupt der damit verbundenen<br />
Problematik schon bewusst sind (vgl. dazu den Beitrag von Putzing/Wahse in<br />
diesem Band). Doch auch die Politikverantwortlichen, die Sozialpartner und die einzelnen<br />
Arbeitnehmer müssen umdenken, besonders wenn die demografischen und<br />
arbeitsmarktpolitischen Bedingungen auf der Bundes-, Länder- und Gemeindeebene<br />
sehr unterschiedlich sind (vgl. insbesondere die <strong>Region</strong>alanalysen in <strong>Teil</strong> III dieses<br />
Bandes). Die lokalen Akteure sind im Zweifelsfall besser informiert darüber, was in<br />
ihren Landkreisen und Gemeinden funktioniert, notwendig und auch umsetzbar ist.<br />
Pauschallösungen und Ansätze auf nationalstaatlicher Ebene erscheinen also nicht<br />
hilfreich bzw. nur wenig geeignet, den Herausforderungen einer alternden Bevölkerung<br />
und der derzeitigen Beschäftigungsproblematik zu begegnen (vgl. Kistler/Ebert<br />
in diesem Band). Hier ist ein Ansatzpunkt des Projektes <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> die Sensibilisierung<br />
der politischen, betrieblichen und sozialpartnerschaftlichen Akteure für das<br />
Thema Alters- und alternsgerechtes Arbeiten in den Unternehmen wie auch in der<br />
Öffentlichkeit (Mainstreaming). Darüber hinaus werden regional nachhaltige und<br />
70
innovative Konzepte erprobt, die wiederum unter Berücksichtigung der gesammelten<br />
Erfahrungen und regionalen Besonderheiten EU-weit übertragbar sein könnten<br />
(siehe zu den nächsten Schritten im Projekt <strong>Smart</strong> <strong>Region</strong> den Beitrag von<br />
Stecker/Steppich/Putzing in diesem Band).<br />
Literaturverzeichnis<br />
Behrendt, Christina: Internationale Erfahrungen bezüglich des Renteneintritts.<br />
Jahrestagung 2002 des Forschungsnetzwerkes Alterssicherung (FNA) am 5. und<br />
6. Dezember 2002 in Dresden. DRV-Schriften Band 42. Bad Homburg 2003: S.<br />
55-64.<br />
Fenge, Robert; Gebauer, Andrea; Holzner, Christian et.al.: Alterssicherungssysteme<br />
im internationalen Vergleich: Finanzierung, Leistungen, Besteuerung, München<br />
2003.<br />
Kaufmann, Otto: Die Reform der Alterssicherung in Frankreich: eine unendlichen<br />
Geschichte. In: Die Angestelltenversicherung 9/2002.<br />
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Vom Europäischen Rat in<br />
Stockholm angeforderter Bericht: 'Erhöhung der Erwerbsbeteiligung und<br />
Förderung des aktiven Alterns'. KOM 2002 9 endg., Brüssel 2002 (24.01.2002).<br />
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Beschäftigung in Europa 2003.<br />
Jüngste Tendenzen und Ausblick in die Zukunft (Juli 2003). Luxemburg 2003a.<br />
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen:<br />
Die Zielvorgaben von Stockholm und Barcelona: Die Beschäftigungsquote<br />
der älteren Arbeitskräfte und das Erwerbsaustrittsalter anheben,<br />
Brüssel 2003b, (02.04.2003).<br />
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Modernising Social Protection for<br />
more and better Jobs - a comprehensive approach contributing to making work<br />
pay. Com 2003 842 Final, Brüssel 2003c (30.12.2003).<br />
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Anhebung der Beschäftigungsquote<br />
älterer Arbeitskräfte und des Erwerbsaustrittsalters. KOM 2004 146 endg.,<br />
Brüssel 2004 (03.03.2004).<br />
Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD): Employment<br />
Outlook, Paris 2005.<br />
Reinberg, Alexander/Hummel, Markus: Höhere Bildung schützt auch in der Krise vor<br />
Arbeitslosigkeit. In: IAB-Kurzbericht. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung<br />
der Bundesagentur für Arbeit. Nürnberg 2005.<br />
Sociaal Economische Raad: Advisory Report on the Cabinets Disability Insurance<br />
Policy, 2004/02 E.<br />
Social Protection Committee: Promoting Longer Working Lives Through Better Social<br />
Protection Systems, Brüssel 2004.<br />
Stecker, Christina: „Die neue deutsche Aktivierungspolitik im europäischen<br />
Ländervergleich und Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit“. In:<br />
Deutsche Rentenversicherung, Heft 3/2004a: S. 164-184.<br />
71
Stecker, Christina: Förderung des „aktiven Alterns“ in Europa – Empirische<br />
Bestandsaufnahme und beschäftigungspolitische Strategien in der Europäischen<br />
Union. In: Deutsche Rentenversicherung, Heft 11-12/2004b: S. 750-777.<br />
Taskforce Beschäftigung: Jobs, Jobs, Jobs. In Europa mehr Beschäftigung schaffen.<br />
Bericht der Taskforce Beschäftigung unter dem Vorsitz von Wim Kok, Brüssel<br />
2003.<br />
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR): Europa in Zeitreihen 2004,<br />
Frankfurt am Main 2004.<br />
72
4. Betriebliche Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber Älteren<br />
- Eine Bestandsaufnahme für Ostdeutschland -<br />
Monika Putzing, Jürgen Wahse, SÖSTRA<br />
Alle Prognosen zur demografischen Entwicklung lassen in den nächsten 50 Jahren<br />
auch für Deutschland einen spürbaren demografischen Wandel erwarten. Wesentliche<br />
Konsequenz dieser Prozesse wird die Zunahme des Durchschnittsalters der<br />
Bevölkerung sowie des Erwerbspersonenpotenzials sein. Die deutsche Bevölkerung<br />
wird bis zum Jahr 2050 um ca. sieben Jahre altern. 1 Allerdings wird diese Entwicklung<br />
nicht voll auf die Alterung der Betriebsbelegschaften durchschlagen, dennoch<br />
altern auch diese – und zwar um etwa zwei Jahre. Angesichts der bereits zu Beginn<br />
der 1990er Jahre eingeleiteten Veränderungen zur Regelung des Renteneintrittsalters<br />
– dabei wird von einem Paradigmenwechsel, dem Übergang von der Früh- zur<br />
Spätverrentung gesprochen 2 – werden dem Arbeitsmarkt künftig nicht nur mehr<br />
ältere Personen zur Verfügung stehen, sie werden zudem auch länger als bisher im<br />
Erwerbsleben verbleiben.<br />
Mit der politischen Neujustierung der Rentenregelung ist auch eine stärkere Hinwendung<br />
der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Thematik „Ältere im Erwerbsleben“<br />
in Deutschland festzustellen. Die größte Herausforderung, die von dieser gegenwärtig<br />
zu bewältigen ist, dürfte wohl darin bestehen, Strategien und methodische<br />
Vorgehensweisen zu entwickeln, damit dieses Thema in seiner Bedeutung erkannt<br />
und in der Folge in konkretes praktisches Handeln umgesetzt wird.<br />
Die Bedingungen dafür gestalten sich in Deutschland derzeit noch immer nicht sehr<br />
günstig. Die jahrzehntelange Frühverrentungspraxis, die unter anderem in der nach<br />
wie vor sehr geringen Erwerbsquote 3 dieser Personengruppe ihren Niederschlag fin-<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland wird 2050 voraussichtlich 48 Jahre betragen,<br />
gegenwärtig liegt es bei 41 Jahren. In Ostdeutschland altert die Bevölkerung ebenfalls um<br />
sieben Jahre, allerdings vollzieht sich der Alterungsprozess ausgehend von einem deutlich höheren<br />
Durchschnittsalter. Dieses liegt derzeit bei 43 Jahren, im Jahr 2050 voraussichtlich bei fast 50<br />
Jahren. Eigene Berechnungen auf Grundlage: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung<br />
Deutschlands von 2002 bis 2050. 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden:<br />
Juni 2003.<br />
Der Terminus Frühverrentung meint den Austritt älterer Erwerbspersonen aus dem Arbeitsleben<br />
deutlich vor Erreichen des gesetzlich festgelegten Renteneintrittsalters. Spätverrentung bedeutet<br />
vor diesem Hintergrund den Renteneintritt zum Zeitpunkt des gesetzlich fixierten Alters.<br />
Erwerbsquote = Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung in der jeweiligen Altersgruppe<br />
73
det 4 , hat unter anderem dazu geführt, dass derzeit nur in rund 60% der deutschen<br />
Firmen Ältere beschäftigt sind. Zusätzlich erschwert wird die Sensibilisierung der<br />
Unternehmen für diese Thematik durch das hohe Niveau der Arbeitslosigkeit. Die<br />
zum Jahresbeginn 2005 erstmals überschrittene Fünf-Millionen-Grenze der Zahl der<br />
amtlich registrierten Arbeitslosen 5 lässt im Denken vieler Betriebe keinerlei Mangel<br />
an Arbeits- sowie Fachkräften erwarten. Schließlich gibt es in der Gesellschaft, insbesondere<br />
in der Wirtschaft, Unklarheiten und Vorurteile über das Leistungsvermögen<br />
und die Leistungsbereitschaft Älterer. Die Kategorie Alter ist meist negativ<br />
belegt und wird vielfach mit geringer Leistungskraft gleichgesetzt. In Anbetracht des<br />
demografischen Wandels ist es erforderlich, die Potenziale der älteren Erwerbspersonen<br />
unvoreingenommen einzuschätzen, ihre tatsächlichen Vorzüge wie auch<br />
deren Schwächen und Defizite zu bestimmen und zu bewerten. Dies zu klären, ist<br />
eine Voraussetzung dafür, zu wissen, wie deren Leistungsfähigkeit bis zum<br />
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben auf dem erforderlichen hohen Niveau erhalten<br />
bzw. den veränderten Anforderungen entsprechend weiterentwickelt werden kann.<br />
Zugleich ließe sich damit eine Antwort darauf finden, ob die Bewältigung des<br />
wirtschaftsstrukturellen Wandels und insbesondere innovativer Entwicklungen mit<br />
älter werdenden Belegschaften möglich ist und wie diese gegebenenfalls darauf<br />
vorzubereiten sind.<br />
Einen empirisch verlässlichen und repräsentativen Einblick in die betrieblichen Sichtund<br />
Verhaltensweisen gegenüber Älteren gestattet in der Bundesrepublik gegenwärtig<br />
das IAB-Betriebspanel. Diese im Auftrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und<br />
Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit durchgeführte Arbeitgeberbefragung<br />
wird für Westdeutschland seit 1993 und für Ostdeutschland seit 1996 jährlich<br />
erhoben. Ziel der Untersuchung ist es, aktuelle repräsentative Daten über die Be-<br />
4<br />
5<br />
Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit,<br />
die auf der Basis der OECD-Statistiken zur Erwerbsbeteiligung im Altersbereich von 55 bis 64 Jahren<br />
durchgeführt wurden, belegen die geringe Erwerbsbeteiligung dieser Altersgruppe in Deutschland.<br />
Dort kommt man zu folgendem Ergebnis: „Deutschland hat im Vergleich der Industrieländer<br />
einen schlechten Mittelfeldplatz in der Erwerbsbeteiligung Älterer.“ Im Rahmen der analysierten 18<br />
Länder liegt Deutschland an 11. Stelle. Vgl.: Koller, B.; Bach, H.-U.; Brix, U.: Ältere ab 55 Jahren –<br />
Erwerbstätigkeit, Arbeitslosigkeit und Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit. In: IAB Werkstattbericht,<br />
Ausgabe Nr. 5/16.4.2003: S. 7<br />
Durch Inkrafttreten der neuen Arbeitsmarktregelungen zum 01.01.2005 – die Einführung des sogenannten<br />
Arbeitslosengeldes II (ALG II) hat sich die Grundlage zur Erfassung der Anzahl der<br />
Arbeitslosen verändert. Ein <strong>Teil</strong> der vormaligen SozialhilfeempfängerInnen, die nun das ALG II<br />
erhalten, bislang aber nicht zu den Arbeitslosen gezählt wurden, findet nun Eingang in die Arbeitslosenstatistik.<br />
Daher hat sich die amtlich ausgewiesene Zahl der als arbeitslos gemeldeten Personen<br />
mit Übergang zum Jahr 2005 spürbar erhöht (Dezember 2004: 4,46 Mio. Arbeitslose/Arbeitslosenquote:<br />
10,8%; Januar 2005: 5,04 Mio. Arbeitslose/Arbeitslosenquote: 12,1%).<br />
74
schäftigungsentwicklung und deren Bestimmungsgrößen zu ermitteln. In die Erhebung<br />
sind insgesamt fast 16.000 Betriebe einbezogen (Ostdeutschland: rund 6.000<br />
Betriebe; Westdeutschland: 10.000 Betriebe).<br />
Mit der Befragungswelle aus dem Jahre 1997 fand die Altersproblematik erstmalig<br />
Berücksichtigung. 2002 wurde dieser thematische Schwerpunkt so ausgebaut, dass<br />
für die Bundesrepublik erstmals eine umfangreiche und empirisch abgesicherte,<br />
repräsentative Einschätzung der Beschäftigungssituation älterer ArbeitnehmerInnen<br />
im Betrieb vorgenommen werden konnte. Die besondere Bedeutung dieser<br />
Erhebungswelle verbindet sich mit der damit vorliegenden Leistungseinschätzung für<br />
ältere Erwerbstätige durch die Betriebe selbst. Erstmals liegen damit belastbare<br />
Ergebnisse über die unterschiedliche Ausprägung einzelner Leistungsparameter bei<br />
jüngeren und älteren ArbeitnehmerInnen vor. 2002 wurde hinterfragt, wie die Unternehmen<br />
mit „ihren“ beschäftigten Älteren umgehen und wie sie sich gegenüber<br />
älteren Arbeit-suchenden verhalten. Daran ansetzend wurden mit dem IAB-Betriebspanel<br />
2004 die konkreten Gründe für das Einstellungsverhalten der Unternehmen<br />
gegenüber Älteren, insbesondere die Motive der Nicht-Einstellung erfasst.<br />
Neben einer bundesweit einheitlichen Erhebung bietet das IAB-Betriebspanel<br />
zugleich den Vorteil, die Daten jeweils nach <strong>Region</strong>en, Berufen, Branchen, Betriebsgrößenklassen<br />
usw. differenziert betrachten und bewerten zu können. Das kommt<br />
dem Erfordernis entgegen, das Alterungsproblem der Betriebe nicht als ein pauschaliertes<br />
anzusehen, sondern die sehr unterschiedlichen Befindlichkeiten und Planungshorizonte,<br />
aber auch die individuellen Bedürfnisse der Unternehmen in Rechnung<br />
zu stellen.<br />
Nachfolgend werden vorrangig Daten aus den Panelerhebungen für Ostdeutschland<br />
– das betrifft die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-<br />
Anhalt, Sachsen, Thüringen und Berlin (Ost) – genutzt. 6<br />
1. Betriebliche Wahrnehmung der Alterung von Betriebsbelegschaften<br />
Erstmalig im Jahre 1997 und dann wiederholt in den Jahren 2000 und 2004 konnte<br />
mit dem IAB-Betriebspanel untersucht werden, ob und wie die Unternehmen die Alterungsproblematik<br />
reflektieren. Eingebettet in eine Frage zu Personalproblemen war<br />
6<br />
SÖSTRA wertet das IAB-Betriebspanel seit 1996 sowohl für Ostdeutschland insgesamt als auch<br />
für die einzelnen neuen Bundesländer sowie Berlin-Ost aus.<br />
75
es den Befragten möglich, neben einem zu hohen Personalbestand, dem Nachwuchs-,<br />
Personal- und Fachkräftemangel, einer hohen Lohnkostenbelastung sowie<br />
dem Weiterbildungs- und Qualifizierungsbedarf auch die Überalterung als ein Problem<br />
der aktuellen Personalentwicklung anzugeben. Einzuräumen ist hier, dass der<br />
Begriff der Überalterung negativ belegt und auch unsinnig ist. Wertfrei sollte besser<br />
von Alterung gesprochen werden. Zielstellung der im Panel angesprochenen Überalterungsproblematik<br />
war es, Hinweise darauf zu erhalten, wie die Betriebe in Bezug<br />
auf die Alterung der Betriebsbelegschaft derzeit sensibilisiert sind. Das lässt Rückschlüsse<br />
darauf zu, wie die Unternehmen mit der Problematik umgehen.<br />
Im Kontext personalpolitischer Probleme wird der Überalterung der Betriebsbelegschaft<br />
seit Beginn der Erhebung im Jahr 1997 nur geringe Bedeutung beigemessen.<br />
In Ostdeutschland wurde diese im Durchschnitt nur von höchstens 4% der Unternehmen<br />
als ein personalpolitisches Problem thematisiert (vgl. Abbildung 1). Den<br />
gleichen geringen Stellenwert nahm sie auch nach Einschätzung der westdeutschen<br />
Unternehmen ein. Das spricht dafür, dass die Betriebe derzeit in Bezug auf die Überalterungsproblematik<br />
keinen nennenswerten Handlungsbedarf sehen.<br />
Abbildung 1: Personalprobleme der Betriebe Ostdeutschlands in den Jahren<br />
1997, 2000 und 2004 (Anteil der befragten Betriebe in %)<br />
60<br />
50<br />
40<br />
Prozent<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
zu hoher<br />
Personalbestand<br />
Personalmangel<br />
Nachwuchsmangel<br />
Schwierigkeit<br />
bei Fachkräftebeschaffung<br />
Überalterung<br />
Weiterbildungsund<br />
Qualifizierungsbedarf<br />
hohe<br />
Lohnkostenbelastung<br />
keine Personalprobleme<br />
1997 9 2 2 11 4 5 41 45<br />
2000 6 3 4 13 3 4 28 56<br />
2004 6 2 4 8 4 4 28 59<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2004<br />
76
Anderen Problemen der personalpolitischen Entwicklung wurde ein wesentlich höherer<br />
Stellenwert beigemessen. An vorderster Stelle wurden die hohen Lohnkosten als<br />
Problem benannt. Zugleich machten die Unternehmen auf Schwierigkeiten aufmerksam,<br />
Fachkräfte zu rekrutieren, wobei die westdeutschen Betriebe diese allerdings<br />
kritischer als die ostdeutschen sahen. Folgende Ergebnisse sollten hinterfragt<br />
werden:<br />
Erstens ergibt sich die Frage, was sich hinter der Bewertung „Überalterung“ verbirgt.<br />
Da es dafür keine klar definierte Vorgabe für die Betriebe gegeben hat, ist davon<br />
auszugehen, dass sich damit ein sehr individuelles Verständnis verbindet. Zum<br />
Spektrum möglicher Interpretationsansätze können Aspekte gehören, die unmittelbar<br />
mit Leistungs- und Weiterbildungsdefiziten älterer Belegschaftsmitglieder korrelieren.<br />
Daher können sich hinter „Überalterung“ tatsächliche Flexibilitäts- und Leistungsprobleme<br />
verbergen, aber auch eine unzureichende Weiterbildungsbereitschaft.<br />
Ebenfalls könnte das Antwortverhalten mit solch oft geäußerten Kritikpunkten wie<br />
einem veralteten theoretischen Wissen der Älteren im Zusammenhang stehen.<br />
Mit dem Antwortverhalten können aber auch über das eigentliche Leistungsproblem<br />
hinausgehende Fragen angesprochen sein – wie zum Beispiel folgende:<br />
- Es kann Indiz für eine Veränderung der Arbeitsplatzanforderungen in Richtung auf<br />
jüngere Arbeitskräfte sein. Gerade innovative Branchen wie Informatik, Werbung<br />
oder Telekommunikation arbeiten in der Regel mit sehr jungen MitarbeiterInnen,<br />
sodass in deren Reflexion schon ein Durchschnittsalter von 35 Jahren als hoch<br />
gelten kann.<br />
- Ein Problem in Bezug auf die Überalterung kann auch mit steigenden Lohnkosten<br />
im Alter auftreten. Das bedeutet, nicht eine mit dem Alter verbundene Leistungsminderung,<br />
sondern die höhere Lohnkostenbelastung ist die eigentliche Ursache.<br />
- Hinter der Antwort der Unternehmen kann aber auch „lediglich“ die gegenwärtig<br />
ungelöste Frage der Nachfolge in der Geschäftsführung stehen.<br />
Zweitens ist es von Interesse zu hinterfragen, welche Betriebe es vorrangig sind, die<br />
die Überalterung der Belegschaft als personalpolitisches Problem wahrnehmen. Hier<br />
ist davon auszugehen, dass sich hinter dem Durchschnittswert zum <strong>Teil</strong> stark abweichende<br />
Einzelwerte in den verschiedenen Wirtschaftszweigen aber auch bei den Betriebsgrößenklassen<br />
verbergen können.<br />
Eine Auswertung des IAB-Betriebspanels nach der Betriebsgröße ergab zwei interessante<br />
Sachverhalte: Die Betrachtung in Abhängigkeit von der Anzahl der Mitarbeiter-<br />
Innen zeigt zunächst mit steigenden Belegschaftsmitgliedern eine zunehmende<br />
77
Wahrnehmung der Überalterung. Lediglich 2% der Betriebe mit bis zu 4 Beschäftigten<br />
sehen dieses. In der Betriebsgrößenklasse 5 bis 19 Beschäftigte beläuft sich<br />
dieser Anteil auf 4%. Der Anteil steigert sich erst merklich in den größeren Betrieben<br />
(20 bis 99 MitarbeiterInnen: 16%; 100 bis 499 MitarbeiterInnen: 22%, ab 500 Beschäftigte:<br />
27%). Dies dürfte ein Indiz für das bei größeren Unternehmen deutlich<br />
stärkere Gewicht personalpolitischer Strategien sein und ordnet sich in den Trend<br />
ein: Je größer der Betrieb ist, desto häufiger werden Personalprobleme und damit<br />
auch die Überalterung als ein solches genannt.<br />
Ein anderer Blickwinkel auf das Überalterungsproblem ergibt sich, wenn die Unternehmen<br />
differenziert nach ihrem Anteil der Älteren an den Beschäftigten insgesamt<br />
untersucht werden. Zu den Firmen, in denen das Überalterungsproblem konzentriert<br />
angesprochen worden ist, gehörten jene, die einen Anteil der Älteren an den<br />
Beschäftigten bis zu 20% sowie zwischen 20 und 40% angaben. Hierbei handelte es<br />
sich mit 47,4% vorrangig um Klein- und Kleinstbetriebe. 16,4% der Firmen mit bis zu<br />
4 Beschäftigten sowie 31,1% der Betriebe mit bis zu 19 MitarbeiterInnen identifizierten<br />
für sich ein Überalterungsproblem. Mit der Zunahme der Beschäftigtengröße der<br />
Unternehmen verliert dieses jedoch an Bedeutung. Dies spricht dafür, dass es bei<br />
einer geringen Personaldecke offenbar wesentlich komplizierter ist, eine Alterung der<br />
Belegschaft zu kompensieren. Gerade in kleineren Betrieben besteht mit dem Ausscheiden<br />
Älterer die Gefahr des Verlustes an LeistungsträgerInnen und damit an<br />
Know-how, wenn dies durch die Verbleibenden nicht ersetzt werden kann. Das dürfte<br />
ebenfalls vor allem Folge der hier oft fehlenden gezielten, auf die Zukunft orientierenden<br />
Personalpolitik sein.<br />
Die meisten Betriebe, die 2004 auf Probleme einer Überalterung hingewiesen haben,<br />
gehören zur Öffentlichen Verwaltung (15%), zur Branche Bergbau/Energie/Wasser<br />
(11%) sowie zum Verarbeitenden Gewerbe (7%). Daraus lässt sich schlussfolgern:<br />
Das Problem der Überalterung zeigt sich gegenwärtig nicht flächendeckend, sondern<br />
eher individuell. Beträchtliche Unterschiede bestehen auch innerhalb der Branchen:<br />
Verwiesen beispielsweise lediglich 4% der im Dienstleistungsbereich tätigen Betriebe<br />
auf eine Überalterung, so waren es im Bereich Erziehung und Unterricht hingegen<br />
13%.<br />
Drittens bleibt abzuklären, inwieweit das Antwortverhalten dafür spricht, ob es ein<br />
Überalterungsproblem gar nicht gibt oder dass es „nur“ nicht wahrgenommen wird.<br />
78
Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist mithilfe des Panels schwierig, aber das<br />
Antwortverhalten sollte zumindest als Indiz gewertet werden, dass die übergroße<br />
Mehrheit der Unternehmen Fragen der Altersstruktur ihrer Belegschaft derzeit nicht<br />
im Blick hat. Damit lässt sich schlussfolgern: Erst recht sind die Betriebe nicht für die<br />
bevorstehende Alterung ihrer MitarbeiterInnen sensibilisiert. Folglich ist in Bezug auf<br />
die zu erwartende Alterung der Betriebsbelegschaften eine verstärkte Sensibilisierungsarbeit<br />
gegenüber den Personalverantwortlichen zu leisten.<br />
Wie ist dieses „Nichtsehen“ des Alterungsprozesses des Erwerbspersonenpotenzials<br />
zu erklären? Das dürfte im Wesentlichen mit der geringen Präsenz Älterer im Wirtschaftsleben<br />
zusammenhängen. Jene Betriebe, die Ältere beschäftigen, repräsentieren<br />
gegenwärtig nur eine <strong>Teil</strong>größe des bundesdeutschen Unternehmensbestandes<br />
(ca. 60%), wobei sich die Situation in Abhängigkeit von der Branche, der Betriebsgröße,<br />
der Berufsgruppe sowie dem regionalen Umfeld sehr differenziert gestaltet.<br />
Außerdem dürfte diese Einschätzung auch im Kontext der nach wie vor weit<br />
verbreiteten Frühverrentungsmentalität zu betrachten sein. „Unerwünschte“ Ältere<br />
waren für die Unternehmen bisher insofern kein Problem, da sie sich ihrer bei Bedarf<br />
relativ unproblematisch, oft sogar bei weitgehender Übereinstimmung der<br />
Interessenlage von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen entledigen konnten.<br />
Schließlich darf die Arbeitsmarktlage nicht außer Acht gelassen werden. Das anhaltend<br />
hohe Niveau der Arbeitslosigkeit und die Betroffenheit aller Altersgruppen von<br />
Erwerbslosigkeit erlaubt eine nahezu unbegrenzte Rückgriffsmöglichkeit der Unternehmen<br />
auf Arbeitskräfte im Allgemeinen und auf Jüngere im Besonderen. Vor dem<br />
Hintergrund des massenhaften Angebotes an (jüngeren) Erwerbspersonen einerseits<br />
und den bestehenden Vorbehalten und Vorurteilen gegenüber Älteren andererseits<br />
konzentrieren sich die Betriebe gegenwärtig auf die Einstellung jüngerer Altersgruppen.<br />
Von Ausnahmen abgesehen – etwa wo es um die Absicherung des Bedarfes an<br />
Fachkräften geht – besteht für die deutschen Betriebe im Allgemeinen derzeit keine<br />
Notwendigkeit, verstärkt auf ältere Erwerbspersonen zurückzugreifen. Auch von<br />
daher stellen die Alterung der Belegschaften und die sich daraus ergebenden Anforderungen<br />
an eine langfristige strategische Personalplanung zurzeit in vielen Unternehmen<br />
kein relevantes Thema dar.<br />
Die Ambivalenz der Alterungsproblematik ergibt sich mit besonderer Schärfe für Ostdeutschland.<br />
Neben der im Vergleich zum früheren Bundesgebiet hier deutlich kom-<br />
79
plizierteren Lage auf dem Arbeitsmarkt ist dabei die ökonomische Situation der<br />
Unternehmen von Bedeutung. Die erforderliche Zukunftsorientierung wird von tagesaktuellen<br />
betriebswirtschaftlichen Überlegungen deutlich überlagert. Bei den von den<br />
ostdeutschen Betrieben angesprochenen Hauptproblemfeldern (hohe Lohnkosten-<br />
Belastungen, Schwierigkeiten bei der Fachkräfte-Rekrutierung, zu hoher Personalbestand)<br />
handelt es sich um Faktoren, die ganz unmittelbar und vor allem kurzfristig auf<br />
die betrieblichen Handlungsspielräume und –resultate Einfluss haben. In manchen<br />
Unternehmen dürften diese Personalprobleme so gravierend sein, dass selbst vorhandene<br />
und auch erkannte Alterungsprozesse der Belegschaft nur sehr begrenzt<br />
wahrgenommen oder sogar verdrängt werden.<br />
2. Betriebliche Einschätzungen zur Leistungs- und Weiterbildungsbereitschaft<br />
älterer ArbeitnehmerInnen<br />
Eine Behauptung, die sich hartnäckig hält, wenn es um die Beschäftigung sowie um<br />
die Externalisierung Älterer geht, ist deren geringere Leistungsfähigkeit. Wenngleich<br />
in den letzten Jahren auch durch die gerontologische Forschung zahlreiche gegenteilige<br />
Befunde erbracht werden konnten, so mangelte es bislang an einer fundierten<br />
und empirisch abgesicherten Einschätzung, insbesondere aus betrieblicher Sicht. Mit<br />
der Befragung im Rahmen des IAB-Betriebspanels im Jahre 2002 konnten einige<br />
dieser Lücken durch die Bereitstellung einer empirisch abgesicherten Datenbasis für<br />
Deutschland geschlossen werden. Zur Bilanzierung des Leistungspotenzials der<br />
Belegschaft und damit sowohl der jüngeren als auch der älteren MitarbeiterInnen<br />
wurden in die Erhebung des IAB-Betriebspanels aus dem Jahre 2002 folgende 12<br />
Eigenschaften bzw. Leistungsparameter von ArbeitnehmerInnen einbezogen: Erfahrungswissen,<br />
körperliche Belastbarkeit, psychische Belastbarkeit, Kreativität, Arbeitsmoral/Arbeitsdisziplin,<br />
Flexibilität, Lernfähigkeit, Qualitätsbewusstsein, theoretisches<br />
Wissen, Teamfähigkeit, Loyalität und Lernbereitschaft.<br />
2.1 Zur Wertschätzung einzelner Leistungsparameter durch die Betriebe<br />
Einen Überblick darüber, welchen Stellenwert die Unternehmen den erfragten 12<br />
Parametern beimessen, vermittelt Abbildung 2. Hierzu hatten die Befragten die<br />
Möglichkeit einer Gewichtung: Eine Eigenschaft konnte entweder als sehr wichtig,<br />
wichtig oder als weniger wichtig bewertet werden.<br />
80
Abbildung 2: Durchschnittswert* der einzelnen Eigenschaften/Leistungsparameter<br />
nach ihrer Bedeutung für die Arbeitsplätze im Betrieb,<br />
Ostdeutschland 2002<br />
Arbeitsmoral, Arbeitsdisziplin<br />
Qualitätsbewusstsein<br />
138<br />
143<br />
Flexibilität<br />
Erfahrungswissen<br />
126<br />
130<br />
Lernbereitschaft<br />
Lernfähigkeit<br />
Loyalität<br />
Teamfähigkeit<br />
121<br />
121<br />
120<br />
118<br />
theoretisches Wissen<br />
Kreativität<br />
psychische Belastbarkeit<br />
körperliche Belastbarkeit<br />
110<br />
108<br />
108<br />
108<br />
0 20 40 60 80 100 120 140 160<br />
* Je höher der Durchschnittswert, desto wichtiger die Eigenschaft.<br />
Hell dargestellt sind in der Grafik jene Eigenschaften, die im gängigen Verständnis<br />
sowohl als Vorzug der Älteren (Erfahrungswissen) als auch als Kritikpunkt an ihnen<br />
(Lernbereitschaft und –fähigkeit, Theoriewissen) betrachtet werden.<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2002<br />
Nach Selbsteinschätzung der Unternehmen werden Arbeitsmoral und Arbeitsdisziplin,<br />
Qualitätsbewusstsein sowie Flexibilität und Erfahrungswissen als jene<br />
Leistungskriterien hervorgehoben, denen für die betriebliche Arbeit mit Abstand die<br />
höchste Bedeutung beigemessen wird. Im Vergleich dazu haben jene Kriterien, die<br />
immer wieder als Argumente für ein frühzeitiges Ausscheiden Älterer aus dem<br />
Erwerbsleben sprechen bzw. die als Hemmnis für eine Wiedereinstellung älterer<br />
Personen gelten (Lernbereitschaft/Lernfähigkeit, Theoriewissen), eine deutlich<br />
geringere Bedeutung für die betrieblichen Abläufe. Auch viele andere<br />
Externalisierungsargumente gegenüber Älteren können infrage gestellt werden,<br />
wenn beispielsweise Kreativität oder die körperliche bzw. psychische Belastbarkeit<br />
nach Einschätzung der Betriebe in der Leistungsskala nur eine relativ geringe Rolle<br />
spielen. Diese an Älteren häufig kritisierten Leistungsparameter sind also aus<br />
betrieblicher Sicht eher von nachgeordneter Bedeutung (vgl. Abbildung 3).<br />
81
Abbildung 3: Beurteilung der einzelnen Eigenschaften/Leistungsparameter<br />
nach ihrer Bedeutung für die Arbeitsplätze im Betrieb,<br />
Ostdeutschland 2002 (in %)<br />
Arbeitsmoral, -disziplin<br />
Qualitätsbewusstsein<br />
Flexibilität<br />
Erfahrungswissen<br />
Lernfähigkeit<br />
Teamfähigkeit<br />
Loyalität<br />
Lernbereitschaft<br />
Körperliche Belastbarkeit<br />
Kreativität<br />
Theoretisches Wissen<br />
Psychische Belastbarkeit<br />
85 15 0<br />
76 23 1<br />
62 37 2<br />
55 42 3<br />
45 52 3<br />
44 47 9<br />
44 52 4<br />
44 54 2<br />
34 48 18<br />
32 51 17<br />
31 59 10<br />
30 56 14<br />
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%<br />
sehr wichtig wichtig weniger wichtig<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2002<br />
2.2 Differenzierte Bewertung älterer und jüngerer Beschäftigter bei<br />
einzelnen Eigenschaften<br />
Ein weiteres Ergebnis des IAB-Betriebspanels aus dem Jahre 2002 besagt, dass die<br />
Leistungsfähigkeit jüngerer und älterer Erwerbstätiger durch die Betriebe unterschiedlich<br />
eingeschätzt wird. Jüngere wie Ältere weisen also jeweils ein spezifisches<br />
Leistungsportefeuille auf. Mit diesem jeweils spezifischen Leistungs- und Kompetenzprofil<br />
bringen beide Personengruppen besondere Potenziale aber auch Defizite in<br />
den Betrieb ein; sie tragen jeweils in sehr individueller Weise zum Erfolg unternehmerischen<br />
Handelns bei. Das spricht letztlich dafür, dass eine Leistungsoptimierung<br />
der Belegschaft nur durch eine gute Synthese zwischen Jüngeren und Älteren zu erreichen<br />
ist. Eine ausgeglichene Altersstruktur in den Arbeits-Teams verhindert einerseits<br />
das „Abreißen“ des Wissenstransfers und den Verlust von Erfahrungen gegenüber<br />
den jeweils nachrückenden ArbeitnehmerInnengenerationen andererseits.<br />
In Bezug auf die Bedeutung älterer Belegschaftsmitglieder widerspiegelt das Antwortverhalten<br />
der befragten Unternehmen folgende interessante Sachverhalte:<br />
82
Erstens ist auffällig, dass für die einzelnen Leistungsparameter überwiegend keine<br />
Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Jüngeren und Älteren ausgewiesen<br />
werden. Die Kategorie „kein Unterschied“ unterstellt dabei eine bei Jüngeren und<br />
Älteren gleichermaßen ausgeprägte Leistungsfähigkeit. Der mittlere Balken in<br />
Abbildung 4, der diese „Gleichwertigkeit“ beider Personengruppen verdeutlicht,<br />
weist darauf hin, dass - lediglich mit einer Ausnahme - Jüngere und Ältere<br />
überwiegend als gleichermaßen leistungsfähig betrachtet werden. Die geringste<br />
einheitliche Leistungsbewertung beider Personengruppen wird, wie zu erwarten war,<br />
bei der körperlichen Belastbarkeit gesehen: Aber letztlich meinten auch hier<br />
immerhin noch zwei Drittel der Befragten, diesbezüglich keine Leistungsunterschiede<br />
erkennen zu können.<br />
Abbildung 4: Vergleich der Eigenschaften/Leistungsparameter von jüngeren<br />
und älteren Beschäftigten, Ostdeutschland 2002 (Angaben in %)<br />
Teamfähigkeit<br />
Loyalität<br />
Lernbereitschaft<br />
Kreativität<br />
Psychische Belastbarkeit<br />
Flexibilität<br />
Theoretisches Wissen<br />
Qualitätsbewusstsein<br />
Lernfähigkeit<br />
Arbeitsmoral, -disziplin<br />
Körperliche Belastbarkeit<br />
Erfahrungswissen<br />
7 86 8<br />
5 83 12<br />
17 78 4<br />
17 76 7<br />
14 75 11<br />
16 74 9<br />
16 73 11<br />
4 72 24<br />
28 69 3<br />
4 68 28<br />
28 66 6<br />
4 43 55<br />
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%<br />
eher bei Jüngeren kein Unterschied eher bei Älteren<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2002<br />
Die größte Übereinstimmung zwischen Jung und Alt wurde bei der Teamfähigkeit<br />
erreicht. Hier gaben 86% der Firmen an, keine Unterschiede festzustellen.<br />
Überraschend sind auch die Ergebnisse zum Theoriewissen sowie zur<br />
Lernbereitschaft und Lernfähigkeit: Hier sehen rund drei Viertel der Unternehmen<br />
keinen Unterschied zwischen Alt und Jung. Die Lernbereitschaft wird sogar von 78%<br />
aller Betriebe als gleich groß eingeschätzt.<br />
83
Zweitens: Die bereits angedeutete Ausnahme betrifft das Erfahrungswissen.<br />
Lediglich 43% der Befragten gaben hier eine Übereinstimmung zwischen Jung und<br />
Alt an. Keinem anderen Parameter wurde eine derart geringe Gleichwertigkeit für die<br />
beiden Personengruppen beigemessen. Dem steht gegenüber, dass 53% der<br />
Betriebe das Erfahrungswissen eher unter der älteren Mitarbeiterschaft als<br />
ausgeprägt betrachteten. Dieser Leistungsparameter wird insofern als der<br />
entscheidende Vorzug der Älteren gesehen.<br />
Drittens: Die nach Dafürhalten der Unternehmen wichtigsten Erfordernisse der<br />
Arbeitsplätze sind – soweit Unterschiede wahrgenommen werden – vorrangig bei<br />
Älteren ausgeprägt. Besonders deutlich ergibt sich das für die Eigenschaften<br />
Arbeitsmoral/Arbeitsdisziplin (28% eher bei Älteren) sowie beim Qualitätsbewusstsein<br />
(24% eher bei Älteren). In Ergänzung zum Erfahrungswissen verfügen damit<br />
vorrangig die älteren Belegschaftsmitglieder über Eigenschaften, die von den<br />
Betrieben als besonders wichtig eingestuft worden sind. Damit zeichnet sich für die<br />
älteren Beschäftigten ein Leistungs- und Kompetenzprofil ab, das sie als eine<br />
besonders wertvolle Humankapitalressource charakterisiert.<br />
2.3 Gleiches Leistungsvermögen Älterer und Jüngerer in der Gesamtbilanz<br />
Die Aussage, wonach Jüngere und Ältere ein differenziertes Leistungs- und Kompetenzprofil<br />
aufweisen, beantwortet allerdings noch nicht die Frage, ob bzw. in welchem<br />
Maße eine dieser Personengruppen in der Summe betrachtet über ein Potenzial<br />
verfügt, das den Betrieben einen höheren Nutzen erbringt. Hierzu führt die Untersuchung<br />
aus dem Jahre 2002 zu folgender Erkenntnis: Ältere Erwerbstätige bleiben<br />
in der quantitativen Bilanz aller 12 Leistungsparameter und gewichtet über den<br />
eingeschätzten Stellenwert der verschiedenen Leistungsparameter aus Sicht der Unternehmen<br />
nicht hinter den Jüngeren zurück. Die Befragungsergebnisse stützen von<br />
daher die Aussage, wonach Ältere insgesamt ebenso leistungsfähig sind wie Jüngere.<br />
So weist Abbildung 5 für Ostdeutschland einen errechneten durchschnittlichen<br />
Leistungsindex für die Älteren in Höhe von 105% und für Westdeutschland in Höhe<br />
von 107% aus – ein Ergebnis, das auf ein Leistungspotenzial hindeutet, das sogar<br />
noch leicht über dem der Jüngeren liegt. Neben dem bereits skizzierten Stärken-<br />
Schwächen-Profil ist es insbesondere auch diese Gesamtbewertung der Älteren, die<br />
dafür spricht, dass die Leistungsfähigkeit sowie die Produktivität vordergründig nicht<br />
vom Lebensalter abhängen, sondern vom Umgang mit den Beschäftigten, ihrem effi-<br />
84
zienten Einsatz, den Arbeitsbedingungen, der Art der Tätigkeit, der Lernbereitschaft<br />
und Lernfähigkeit.<br />
Abbildung 5: Bewertung aller Leistungsparameter für ältere Beschäftigte<br />
(Leistungsfähigkeit Jüngerer = 100), Ostdeutschland 2002<br />
Erfahrungswissen<br />
288<br />
Arbeitsmoral, -disziplin<br />
162<br />
Qualitätsbewusstsein<br />
151<br />
Loyalität<br />
116<br />
Teamfähigkeit<br />
102<br />
Theoretisches Wissen<br />
Psychische Belastbarkeit<br />
Flexibilität<br />
Kreativität<br />
Lernbereitschaft<br />
Körperliche Belastbarkeit<br />
Lernfähigkeit<br />
61<br />
59<br />
93<br />
92<br />
88<br />
82<br />
77<br />
Ostdeutschland<br />
Westdeutschland<br />
105<br />
107<br />
0 50 100 150 200 250 300<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2002<br />
2.4 Fazit<br />
Die mithilfe des IAB-Betriebspanels 2002 vorgenommene erste systematische Erhebung<br />
zur Erfassung und Bewertung der Leistungspotenziale Älterer in Deutschland<br />
ermöglicht es, die Kategorie „Alter“, die bislang per se mit einer geringeren Leistungsfähigkeit<br />
gleichgesetzt wurde und damit zugleich als Argument zur Externalisierung<br />
benutzt wurde, zu objektivieren. Es ist daher gelungen, ein wesentlich realistischeres<br />
Bild für diese Personengruppe zu zeichnen. Ältere Beschäftigte sind insgesamt<br />
ebenso leistungsfähig wie Jüngere, wobei beide Personengruppen durchaus<br />
ein abweichendes Stärke-Schwächen-Profil erkennen lassen. Ältere können daher<br />
als LeistungsträgerInnen und damit als eine wichtige Ressource für die Unternehmen<br />
definiert werden. Diese nunmehr empirisch abgesicherte Erkenntnis hilft, viele der<br />
bislang weit verbreiteten pauschalen Wertungen und Vorurteile gegenüber dieser<br />
Personengruppe zu widerlegen.<br />
85
Die vorliegenden Befunde verweisen damit zugleich einerseits auf gute<br />
Voraussetzungen für die Gestaltung des demografischen Wandels unter besonderer<br />
Berücksichtigung der Alterung des Erwerbspersonenpotenzials. Sie sprechen dafür,<br />
dass auch eine älter werdende Belegschaft in der Lage sein wird, den Anforderungen<br />
von Innovation und Wettbewerb stand zu halten. Andererseits sollte diese Erkenntnis<br />
aber nicht dazu verleiten, die betrieblichen Alterungsprozesse dem Selbstlauf zu<br />
überlassen. Es wird Aufgabe von Politik und Wirtschaft wie auch von Individuen und<br />
Weiterbildnern sein, diesen Prozess gezielt zu steuern und aktiv zu gestalten.<br />
Allerdings werfen die Erkenntnisse auch weitere Fragestellungen auf:<br />
- Es ist davon auszugehen, dass das IAB-Betriebspanel den in den Betrieben<br />
mittels der bisherigen Frühverrentungspraxis vollzogenen Prozess der<br />
„Bestenauslese“ unter der Beschäftigtengruppe der Älteren reflektiert.<br />
Untersuchungen haben erkennen lassen, dass diese Personengruppe im<br />
Vergleich zu den jüngeren Altersjahrgängen durchschnittlich eine höhere<br />
Qualifikation aufweist. 7 Wenn mit der allmählichen Durchsetzung des<br />
Paradigmenwechsels wieder eine durchmischtere Älterengruppe in den Betrieben<br />
präsent sein wird, dann können sich derartige Ergebnisse zum<br />
Leistungsvermögen der Älteren durchaus auch ändern, evtl. weniger positiv,<br />
insgesamt aber wesentlich differenzierter ausfallen.<br />
- Die Panelerhebung abstrahiert bei den betrachteten Älteren davon, dass es sich<br />
hierbei um eine heterogene Gruppe handelt. Es wird eine Personengruppe<br />
betrachtet, die 15 Jahre Altersdifferenz umfasst. Zweifellos bestehen damit<br />
Differenzierungen – beispielsweise zwischen den rentenfernen und den<br />
rentennahen Personen. Künftige Untersuchungen sollten diesem Umstand stärker<br />
Rechnung tragen. Bei einem differenzierteren methodischen Herangehen kann es<br />
dann auch durchaus möglich sein, dass die Gruppe der Älteren in Bezug auf ihre<br />
Leistungspotenziale in sich unterschiedlich bewertet wird. Einige der gängigen<br />
Vorbehalte können dann möglicherweise auf die eine oder andere Gruppe<br />
durchaus zutreffen.<br />
Mit dem künftig größeren Gewicht, das die älteren Jahrgänge im Erwerbsleben und<br />
damit im betrieblichen Arbeitsprozess erlangen werden, sind vielfältige wissenschaftliche<br />
Untersuchungen vorzunehmen, die die nach wie vor bestehenden Wissenslücken<br />
immer weiter schließen. Die Klärung heute noch vieler offener Fragen wird<br />
darüber entscheiden, dass alle Akteure besser als bisher für die spezifischen Potenziale<br />
Älterer sensibilisiert werden und deren Bereitschaft zur Weiterbeschäftigung<br />
bzw. Neueinstellung Älterer den künftigen Erfordernissen gerecht wird.<br />
7<br />
Diese Befunde ergeben sich in Auswertung des Mikrozensus, einer einprozentigen Stichprobe<br />
aller deutschen Haushalte.<br />
86
3. Widersprüchliches Verhalten der Unternehmen im Umgang mit „ihren“<br />
älteren MitarbeiterInnen<br />
Wurde bisher der Frage nachgegangen, wie die Unternehmen die Leistungen ihrer<br />
älteren Beschäftigten bewerten, soll nun diskutiert werden, wie mit dieser Personengruppe<br />
in der betrieblichen Praxis umgegangen wird. Wie engagieren sich die Firmen<br />
für den Erhalt und die Förderung der Leistungspotenziale „ihrer“ Älteren? Anhaltspunkte<br />
für den Umgang mit den in den Betrieben beschäftigten, also den „eigenen“<br />
Älteren bietet ebenfalls das im Jahre 2002 erhobene IAB-Betriebspanel. Der Fokus<br />
wurde dabei auf personalpolitische Maßnahmen gegenüber diesen Belegschaftsmitgliedern<br />
gerichtet. Damit kann Antwort darauf gegeben werden, ob Ältere heute eine<br />
Zielgruppe betrieblicher Personalpolitik sind. Das Antwortverhalten erweist sich als<br />
ein Gradmesser dafür, inwieweit die Unternehmen gegenwärtig für das Erfordernis<br />
sensibilisiert sind, auch die Leistungspotenziale dieser Beschäftigtengruppe zu<br />
fördern. Es gibt letztlich Auskunft über den bestehenden betrieblichen Handlungsbedarf<br />
vor dem Hintergrund der künftigen Alterung des Erwerbspersonenpotenzials.<br />
In Ostdeutschland führten 2002 lediglich 18% der befragten Firmen Maßnahmen für<br />
ihre älteren ArbeitnehmerInnen durch (Westdeutschland: 20% - vgl. Abbildung 6). In<br />
der Bilanz zeigt sich damit ein eher verhaltenes Engagement der Betriebe gegenüber<br />
ihren älteren Beschäftigten.<br />
Die Erklärungsansätze für solch eine Zurückhaltung der Unternehmen dürften vielfältig<br />
sein. Da die Älteren in ihrer Leistungsbereitschaft und –fähigkeit den Jüngeren in<br />
der Gesamtbilanz nicht nachstehen, wird offenbar kein gesonderter Handlungsbedarf<br />
gesehen. Damit könnte sich beispielsweise erklären, dass lediglich 2% der Betriebe<br />
in Ostdeutschland und 3% in Westdeutschland die Leistungsanforderungen der<br />
Arbeitsplätze für Ältere herabsetzen. Auch das Erfahrungswissen der Älteren könnte<br />
eine Rolle spielen. Sicherlich setzen die Firmen außerdem auf die Eigeninitiative der<br />
Älteren. Viele werden so argumentieren: Die Erfahrungen der Älteren einerseits und<br />
das Bemühen, den eigenen Arbeitsplatz so lange wie möglich behalten zu wollen<br />
andererseits, kombiniert mit der ausgeprägten Arbeitsmoral und Arbeitsdisziplin,<br />
bringen bei den älteren Beschäftigten ein hohes Maß an Eigeninitiative hervor.<br />
Schließlich ist dieses Verhalten der Betriebe einmal mehr im Kontext der bisherigen<br />
Frühverrentungspraxis zu betrachten. Da es bisher gängig war, viele Arbeitskräfte<br />
vorfristig in den Ruhestand zu verabschieden, wird sich auch ein betriebliches Den-<br />
87
ken ausgeprägt haben, das Investitionen in eine Personengruppe, die das<br />
Unternehmen ohnehin bald verlassen wird, als unnötig erachtet.<br />
Abbildung 6: Maßnahmen der Betriebe in Ost- und Westdeutschland in Bezug<br />
auf die Beschäftigung älterer ArbeitnehmerInnen 2002<br />
(alle Betriebe mit Älteren, Angaben in %)<br />
Ostdeutschland<br />
Westdeutschland<br />
100%<br />
100%<br />
90%<br />
90%<br />
80%<br />
80%<br />
70%<br />
60%<br />
82<br />
70%<br />
60%<br />
80<br />
50%<br />
50%<br />
40%<br />
40%<br />
30%<br />
30%<br />
20%<br />
10%<br />
18<br />
20%<br />
10%<br />
20<br />
0%<br />
0%<br />
mit Maßnahmen ohne Maßnahmen<br />
mit Maßnahmen ohne Maßnahmen<br />
Betriebliche Maßnahmen<br />
Altersteilzeit<br />
8<br />
12<br />
Altersgemischte<br />
Arbeitsgruppen<br />
6<br />
7<br />
Einbeziehung in<br />
Weiterbildung<br />
6<br />
7<br />
Herabsetzung der<br />
Leistungsanforderungen<br />
2<br />
3<br />
Besondere Ausstattung<br />
der Arbeitsplätze<br />
Altersgerechte<br />
Weiterbildungsangebote<br />
Andere Maßnahmen für<br />
Ältere<br />
1<br />
1 1 2<br />
1<br />
1<br />
Ostdeutschland<br />
Westdeutschland<br />
0 2 4 6 8 10 12 14<br />
Prozent<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2002<br />
Priorität bei den Maßnahmen der Betriebe in Ost- und Westdeutschland in Bezug auf<br />
die Beschäftigung älterer ArbeitnehmerInnen hatte im Jahre 2002 das Instrument der<br />
Altersteilzeit. 8 8% der ostdeutschen und 12% der westdeutschen Betriebe nutzten<br />
8<br />
Mit dem Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand (auch Altersteilzeitgesetz<br />
genannt) wurden mit Wirkung zum 01.08.1996 für ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen<br />
Rahmenbedingungen für Vereinbarungen über Altersteilzeitarbeit geschaffen. Altersteilzeit als<br />
ein Arbeitsmarktinstrument ermöglicht älteren Beschäftigten einen „gleitenden“ Ausstieg aus dem<br />
Erwerbsleben, denn das Altersteilzeitgesetz bietet ihnen die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit lange vor<br />
Erreichung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zu verringern und dabei auch vorfristig aus dem<br />
88
diese arbeitsrechtlichen Maßnahmen (vgl. vorstehende Abbildung). Das belegt nicht<br />
nur, dass für die Unternehmen in Deutschland die Externalisierung der älteren<br />
Belegschaftsmitglieder nach wie vor auf der Tagesordnung steht. Die Daten zeugen<br />
zugleich vom hohen Stellenwert dieses Instrumentariums, wenn es um die<br />
„Entwicklung“ der Ressourcen der älteren Mitarbeiterschaft geht – Externalisierungsinstrumente<br />
haben vor allen anderen personalpolitischen Strategien Vorrang. Die für<br />
Westdeutschland zu verzeichnende Abweichung resultiert nicht nur aus der höheren<br />
Anzahl vorhandener Großbetriebe, sondern auch aus der Tatsache, dass die<br />
überwiegende Anzahl der Betriebe in Ostdeutschland in der heutigen Form erst seit<br />
1990 besteht.<br />
Zugleich legen die Betriebe auf die altersgemischte Zusammensetzung der Arbeitsgruppen<br />
bzw. auf die Einbeziehung Älterer in betriebliche Weiterbildungsmaßnahmen<br />
Wert. Diese Initiativen werden jeweils von 7% der ostdeutschen und 6%<br />
der westdeutschen Betriebe durchgeführt. Bei Qualifizierungen präferiert 1% der<br />
Unternehmen spezielle Weiterbildungsangebote für Ältere.<br />
Bilanzierend lässt sich in Bezug auf das heutige Engagement der Unternehmen zur<br />
Förderung ihrer älteren Belegschaftsmitglieder festhalten: Personalpolitische Maßnahmen<br />
für Ältere werden lediglich durch einen kleinen <strong>Teil</strong> der Betriebe angeboten.<br />
Die geringe quantitative Nutzung der Instrumente ist zudem an die Inanspruchnahme<br />
eines nur eingeschränkten Spektrums gekoppelt. Es dominiert die Altersteilzeit, die<br />
vor allem der Externalisierung dient. Vor diesem Hintergrund sind die Aussagen zur<br />
Förderung älterer Erwerbstätiger weiter zu relativieren: Von einer gezielten<br />
Entwicklung der Kompetenzen und Potenziale Älterer seitens der ArbeitgeberInnen<br />
kann heute keine Rede sein. Erst recht sind kaum innovative Ansätze erkennbar.<br />
Vor allem mit Blick auf den erwarteten zunehmenden Anteil Älterer im betrieblichen<br />
Alltag ist diese geringe Aufmerksamkeit gegenüber Älteren problematisch. Diese<br />
Aussage erhärtet sich vor allem angesichts fehlender Angebote einer altersgerechten<br />
Qualifizierung. Insgesamt sprechen die Erhebungsergebnisse dafür, dass den Betrieben<br />
noch nicht ausreichend bewusst ist, dass die hohe Leistungsfähigkeit der Äl-<br />
Erwerbsleben auszuscheiden. Die Modifizierung dieses spezifischen Frühverrentungsmodells zum<br />
01.07.2004 hat z.B. durch Heraufsetzung der Alters für die Inanspruchnahme der Altersteilzeit die<br />
Bedingungen für den vorzeitigen Eintritt Älterer in den Ruhestand verschlechtert, dennoch wird<br />
damit die Externalisierung dieser Personengruppe fortgesetzt. Dies zeugt davon, dass ungeachtet<br />
der politischen Forderung, Ältere schon heute möglichst lange im Erwerbsleben zu halten, im<br />
Rahmen des Paradigmenwechsels im Sinne der Rechtssicherheit längerfristige Übergangsregelungen<br />
Anwendung finden.<br />
89
teren nicht per se vorhanden ist und auch nicht zum Nulltarif zu haben ist, sondern<br />
dass personalpolitisch auch etwas dafür getan werden muss, damit die durch die<br />
Betriebe dokumentierte hohe Leistungsfähigkeit Älterer erhalten bleibt bzw. richtig<br />
genutzt wird. Damit ist erheblicher betrieblicher Handlungsbedarf definiert.<br />
4. Einstellungsverhalten der Unternehmen gegenüber Älteren<br />
Eine weitere Fragestellung, die mithilfe des IAB-Betriebspanels erhellt werden kann,<br />
bezieht sich auf den Umgang der Unternehmen mit „fremden“ Älteren. Wenn den<br />
„eigenen“ Älteren auf der einen Seite große Wertschätzung hinsichtlich ihrer<br />
Leistungsparameter zuteil wird, wie verhalten sich die Unternehmen gegenüber jenen<br />
älteren Erwerbspersonen, die auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz sind?<br />
Antworten darauf ermöglichen die Paneluntersuchungen sowohl aus dem Jahre 2002<br />
als auch aus der jüngsten Erhebungswelle des Jahres 2004. 2002 wurde der Frage<br />
nachgegangen, inwieweit die Betriebe die Einstellung Älterer überhaupt in Erwägung<br />
ziehen und unter welchen Bedingungen dies erfolgt. 2004 wurden erstmals Gründe<br />
für das zu beobachtende Einstellungsverhalten gegenüber Älteren hinterfragt.<br />
4.1 Betriebliches Einstellungsverhalten gegenüber älteren BewerberInnen<br />
In Bezug auf das Einstellungsverhalten lassen sich drei Typen von Unternehmen<br />
identifizieren. Erstens gibt es Firmen, die grundsätzlich keine Älteren einstellen. In<br />
Ostdeutschland betrifft das 16% und in Westdeutschland 15% der Betriebe. Eine<br />
zweite Gruppe von Firmen ist bereit, Ältere ohne jegliche Vorbedingungen als MitarbeiterInnen<br />
zu gewinnen. Im Jahre 2002 war mit 45% der befragten ostdeutschen<br />
Betriebe knapp weniger als die Hälfte dazu bereit. Die Bereitschaft, Ältere ohne<br />
bestimmte Voraussetzungen einzustellen, ist mit 57% in Westdeutschland deutlich<br />
höher, was einerseits auf die dort bessere Arbeitsmarktsituation hinweisen,<br />
andererseits auch Ausdruck eine stärker auf größere Betriebseinheiten<br />
ausgerichteten Unternehmensstruktur sein dürfte. Drittens schließlich wollen 39% der<br />
ostdeutschen bzw. 28% der westdeutschen Firmen Ältere nur dann einstellen, wenn<br />
damit bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden.<br />
Diese Daten machen die bestehenden Vorbehalte der Unternehmen gegenüber<br />
„externen“ älteren Erwerbspersonen deutlich. Sie verweisen vor dem Hintergrund der<br />
zu erwartenden demografischen Entwicklung zugleich auf das Ausmaß der erforder-<br />
90
lichen Sensibilisierung und der zu erbringenden Anstrengungen, um die Betriebe<br />
zum Umdenken zu bewegen. Bemerkenswert am Antwortverhalten der Betriebe ist,<br />
dass die positive Leistungsbewertung der bereits beschäftigten Älteren keine<br />
Entsprechung findet, wenn es um die Einstellung „fremder“ Älterer, speziell älterer<br />
Arbeitsloser geht. Der Umgang mit den eigenen, noch im betrieblichen<br />
Arbeitsprozess verbliebenen älteren ArbeitnehmerInnen und das<br />
Einstellungsverhalten gegenüber betriebsfremden Älteren sind von daher zwei<br />
unterschiedliche Probleme, hinter denen sich völlig verschiedenartige<br />
Verhaltensmuster verbergen. Damit spielt die geringere Nachfrage nach Älteren eine<br />
eigenständige Rolle, wenn es um die Beurteilung der Arbeitsmarktrisiken,<br />
insbesondere die Wiedereinstellungschancen älterer Arbeitsuchender geht. 9<br />
Dass es offensichtlich Vorbehalte gegenüber Älteren gibt, verdeutlichen die von den<br />
Betrieben genannten Bedingungen, unter denen sie ältere BewerberInnen überhaupt<br />
einstellen würden. Jede fünfte ostdeutsche Firma gab an, einen Älteren einzustellen,<br />
wenn dafür eine Einstellungsbeihilfe (Lohnkostenzuschuss) durch die Arbeitsverwaltung<br />
gewährt wird (Westdeutschland: 6%). Dieses Antwortverhalten reflektiert<br />
zwei interessante Sachverhalte. Zum einen kommt darin eine gewisse Fördermentalität<br />
zum Ausdruck. Die seit rund einer Dekade in Ostdeutschland installierten<br />
vielfältigen Förderangebote haben teilweise auch unter den ArbeitgeberInnen zu<br />
einer Auffassung geführt, bei der Einstellung von Beschäftigten auf Förderangebote<br />
zurückzugreifen (vgl. Abbildung 7). Der Rückgriff auf derartige Arbeitsmarktinstrumente<br />
ist generell zu beobachten, und er ist nicht auf eine bestimmte Altersgruppe<br />
beschränkt. Allerdings wurden für Personen ab dem 55. Lebensjahr zusätzliche Instrumente<br />
geschaffen, die diese für die Betriebe besonders interessant machen sollten.<br />
Zum anderen widerspiegelt sich darin der bestehende Kostendruck oder zumindest<br />
die darum geführte Diskussion. Ältere ArbeitnehmerInnen sind für einige Betriebe<br />
auf Grund des „Senioritätsprinzips“ oft teurer, weil in einigen Branchen wie dem<br />
öffentlichen Dienst Angestellte unter anderem in Abhängigkeit vom Alter entlohnt<br />
werden. Diese Praxis wird in der öffentlichen Diskussion oft pauschaliert, und es wird<br />
davon ausgegangen, dass auch neu eingestellte Ältere prinzipiell teurer seien als<br />
9<br />
Die geringe Nachfrage nach älteren BewerberInnen ist auch einem Struktureffekt geschuldet,<br />
nämlich dem Rückgang der Branchen mit höheren Beschäftigtenanteilen Älterer. Vgl.: Bernhard<br />
Boockmann, Thomas Zwick: Betriebliche Determinanten der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer,<br />
in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, IAB der Bundesagentur für Arbeit, 37. Jahrgang 2004:<br />
Heft 1, S. 53<br />
91
Jüngere. Dem Rechnung tragend, sollen verschiedene arbeitsmarktpolitische<br />
Instrumente wie beispielsweise befristete Zuschüsse zu den Lohnkosten helfen, die<br />
Kosten zumindest zeitweilig zu verringern.<br />
Abbildung 7: Einstellungsbereitschaft der Betriebe gegenüber älteren BewerberInnen<br />
2002 (Mehrfachnennungen möglich, Angaben in %)<br />
Ostdeutschland<br />
Westdeutschland<br />
Einstellungsbereitschaft<br />
mit<br />
Bedingungen<br />
39%<br />
keine<br />
Einstellungsbereitschaft<br />
16%<br />
Einstellungsbereitschaft<br />
ohne<br />
Bedingungen<br />
45%<br />
Einstellungsbereitschaft<br />
mit<br />
Bedingungen<br />
28%<br />
keine<br />
Einstellungsbereitschaft<br />
15%<br />
Einstellungsbereitschaft<br />
ohne<br />
Bedingungen<br />
57%<br />
Art der Einstellungsbedingungen<br />
nur mit LKZ<br />
nur wenn es keine<br />
jüngeren Bewerber gibt<br />
6<br />
9<br />
8<br />
20<br />
vorzugsweise als<br />
<strong>Teil</strong>zeitkräfte<br />
nur mit befristetem<br />
Vertrag<br />
6<br />
7<br />
8<br />
8<br />
Ostdeutschland<br />
W estdeutschland<br />
andere Voraussetzungen<br />
8<br />
8<br />
0 5 10 15 20 25<br />
Prozent<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2002<br />
Im Vergleich zu diesem Arbeitsmarktinstrument werden alle anderen Einstellungsbedingungen<br />
aus Sicht der ost- wie auch der westdeutschen Unternehmen nahezu<br />
gleichwertig gehandhabt. 9 bzw. 8% der Unternehmen würden nur dann auf ältere<br />
ArbeitnehmerInnen zurückgreifen, wenn keine jüngeren verfügbar wären. <strong>Teil</strong>zeitarbeit<br />
wäre für jeweils 8% der Firmen eine gangbare Variante und 7 bzw. 6% würden<br />
nur einen befristeten Vertrag abschließen. Diese Vorstellungen zeigen, dass es vielfältige<br />
Überlegungen seitens der Unternehmen gibt, wenn es um die Einstellung Älterer<br />
geht. Einerseits zeigt sich dabei die „Notnagelvariante“: Besser ein älterer als gar<br />
kein Beschäftigter. Andererseits verweist die Orientierung auf eine <strong>Teil</strong>zeit- und auf<br />
eine befristete Beschäftigung von Älteren auf die „Hintertür-Praktik“ – ein Verfahren,<br />
92
das garantiert, sich der Älteren bei Bedarf schnell und unkompliziert wieder<br />
entledigen zu können. Es ist von den Unternehmen also ein vielgliedriger<br />
Selektionsmechanismus entwickelt worden, der sicherstellt, dass nur so viele Ältere<br />
wie dringend benötigt Zugang finden.<br />
4.2 Gründe für die Nichteinstellung Älterer<br />
Auf den ersten Blick deuten diese Ergebnisse auf diskriminierende Praktiken<br />
gegenüber älteren Arbeitsuchenden hin. In Auswertung des IAB-Betriebspanels 2004<br />
ist es nun erstmals möglich, vorläufige Antworten zu geben, welche Motivation bei<br />
den Betrieben eine Rolle spielt, wenn sie ältere BewerberInnen nicht oder nur zu<br />
bestimmten Konditionen einstellen und worin die wichtigsten Gründe dafür liegen.<br />
Das maßgebliche Kriterium für die Beurteilung des Einstellungsverhaltens der Firmen<br />
war die zuletzt besetzte Stelle. 14% aller im ersten Halbjahr 2004 zuletzt besetzten<br />
Stellen fielen zu Gunsten älterer BewerberInnen aus, dementsprechend 86% auf<br />
jüngere. Gemessen am Anteil der über 50Jährigen an den Beschäftigten in<br />
Ostdeutschland von 24% (2004) wurden damit in den ostdeutschen Betrieben<br />
unterdurchschnittlich viele Ältere eingestellt. In Westdeutschland wurden sogar nur<br />
11% aller Stellen durch Ältere besetzt (bei einem Beschäftigtenanteil von 21% im<br />
Jahre 2004).<br />
Die Gründe für diese Situation sind vielfältig und relativieren bisherige Vorstellungen<br />
und Wertungen zum Einstellungsverhalten der Firmen. Eine erste zentrale Erkenntnis<br />
besteht interessanterweise darin, dass die Nichteinstellung keineswegs<br />
ausschließlich auf eine eventuelle restriktive Einstellungspraxis der Unternehmen<br />
zurückzuführen ist, sondern in nicht geringem Maße auch dem Verhalten der<br />
BewerberInnen selbst geschuldet ist. Denn für etwa drei Viertel (74%) aller im ersten<br />
Halbjahr 2004 zuletzt besetzten Plätze gab es von vornherein keine Bewerbungen<br />
seitens Älterer. Diese Größenordnung resultiert überwiegend aus dem individuellen<br />
Verhalten bei Bewerbungen (71%) und zum geringen <strong>Teil</strong> aus restriktiven<br />
Ausschreibungspraktiken der Unternehmen. Altersbegrenzte, das heißt ältere<br />
BewerberInnen von vornherein ausgrenzende Ausschreibungen, gab es nur in 3%<br />
der Betriebe. Zum anderen entschieden sich weitere 12% der Unternehmen infolge<br />
betriebsinterner Gründe gegen eine Einstellung Älterer (vgl. Abbildung 8).<br />
93
Abbildung 8:<br />
Einstellungsverhalten der Betriebe gegenüber Älteren in Ostdeutschland<br />
(Anteil an den im ersten Halbjahr 2004 zuletzt<br />
besetzten Stellen in %)<br />
Stelle explizit für Jüngere<br />
ausgeschrieben<br />
3% Ältere Bewerber<br />
eingestellt<br />
14%<br />
Keine Älteren eingestellt<br />
12%<br />
Es gab keine<br />
Bewerbungen Älterer<br />
71%<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2004<br />
Vieles spricht dafür, dass das mit dem Panel 2004 empirisch nachgewiesene<br />
BewerberInnenverhalten Ausdruck eines in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Bildes<br />
ist, nach dem Ältere in einem modernen Betrieb nur wenig bis keine Chancen hätten.<br />
So dominiert verstärkt seit den 1990er Jahren der „Jugendwahn“ die Diskussion bei<br />
der Zusammensetzung von Betriebsbelegschaften. Gegenwärtig tritt diese einseitige<br />
Betrachtungsweise zwar schrittweise in den Hintergrund, dennoch müssen im<br />
BewerberInnenverhalten offensichtlich vorhandene Hemmschwellen überwunden<br />
werden - etwa dergestalt: „Ich habe in meinem Alter von vornherein keine Chance.“<br />
Wenn es gelingen soll, die Anzahl Älterer an den Neueinstellungen zu erhöhen, dann<br />
setzt das ein aktiveres und engagierteres Bewerbungsverhalten bei den<br />
Stellensuchenden selbst voraus. Dieser Personenkreis ist von daher als eine<br />
eigenständige Zielgruppe der Sensibilisierungs- und Motivierungsarbeit seitens<br />
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu betrachten.<br />
Ein zweites Ergebnis besteht darin, dass es neben „prinzipiellen“ Vorbehalten gegenüber<br />
Älteren seitens der Betriebe durchaus auch eine Reihe realer, plausibler Hemmnisse<br />
bei deren Neueinstellung gibt. Es liegen also durchaus auch objektive und so-<br />
94
mit berechtigte Gründe vor, wenn die Entscheidung zu Ungunsten Älterer ausfällt. Mit<br />
dem Panel 2004 liegen Informationen vor, mit denen hinterfragt wird, warum Betriebe<br />
bei der letzten Stellenbesetzung den/die ältere(n) Bewerber/-in ablehnten und sich<br />
für eine(n) Jüngere(n) entschieden haben. „Nachvollziehbar“ ist, dass bestimmte<br />
Arbeiten körperlich und psychisch nur von jüngeren Arbeitskräften auszuführen sind,<br />
dass die Tätigkeit älterer Arbeitskräfte die vorhandene Altersstruktur der Firma<br />
sprengen würde, dass bestimmte Qualifikationsprofile bei älteren ArbeitnehmerInnen<br />
nicht vorhanden waren. Diese Gründe für die Ablehnung Älterer basieren also auf<br />
Defiziten bei der Qualifikation, bei der sozialen Kompetenz, bei der Altersstruktur, im<br />
Tätigkeitsprofil usw. Für ca. 83% der Unternehmen, die sich bei der konkreten<br />
Einstellung gegen den/die ältere(n) Bewerber/-in entschieden, waren die genannten<br />
Beweggründe entscheidend (vgl. Abbildung 9).<br />
Abbildung 9: Gründe für die Nichteinstellung Älterer im ersten Halbjahr 2004<br />
in Ostdeutschland (in %)<br />
Defizit bei Qualifikationsprofil<br />
/<br />
sozialer<br />
Kompetenz<br />
69%<br />
keine Älteren<br />
eingestellt<br />
12%<br />
Ältere passen<br />
nicht zur<br />
Altersstruktur im<br />
Betrieb<br />
14%<br />
schlechte<br />
Erfahrungen<br />
8%<br />
prinzipielle<br />
Vorbehalte<br />
9%<br />
Quelle: SÖSTRA-Grafik, IAB-Betriebspanel 2004<br />
Gleichzeitig haben 17% aller Betriebe, die Ältere ablehnten, ihre Stellen mit Jüngeren<br />
besetzt, nicht weil es objektive, „nachvollziehbare“ Gründe dafür gab, sondern weil<br />
die Betriebe mit der Einstellung Älterer gravierende Probleme verbinden. Diese bestehen<br />
zum einen in eigenen schlechten Erfahrungen mit der Arbeit Älterer und zum<br />
anderen in befürchteten Schwierigkeiten, ohne dass dafür auf eigene Erfahrungen<br />
zurückgegriffen werden kann. Diese betriebliche Denk- und Handlungsweise kann<br />
bereits in die Nähe von Altersdiskriminierung gerückt werden (vgl. Abbildung 9).<br />
95
Auf der Grundlage der aktuellen empirischen Befunde bleibt festzustellen, dass<br />
altersdiskriminierende Einstellungspraktiken in deutschen Unternehmen ganz offenbar<br />
nicht der Hauptgrund für eine Ablehnung Älterer sind. Diese sind zwar<br />
vorhanden, aber nur in einer Minderheit der Betriebe. Ein alleiniges Ansetzen an der<br />
Diskriminierungsproblematik und damit die weitgehende Reduzierung des Einstellungsverhaltens<br />
der Betriebe auf ein moralisch-ethisches Problem würden daher<br />
kaum zu einer stärkeren Berücksichtigung älterer BewerberInnen führen. Demgegenüber<br />
scheint das betriebliche Hauptproblem bei der Einstellung Älterer im nicht passfähigen<br />
Qualifikationsprofil und in einer unzureichenden sozialen Kompetenz der<br />
BewerberInnen zu liegen. Defizite in diesem Bereich sah immerhin die deutliche<br />
Mehrheit der Unternehmen, die vor allem aus diesem Grund den/die ältere(n) Bewerber/-in<br />
ablehnten. Künftig zu entwickelnde Handlungsstrategien sollten diesen Sachverhalt<br />
unbedingt berücksichtigen.<br />
Sicherlich besteht hier auch weiterer Forschungsbedarf. So sind insbesondere unter<br />
dem Aspekt der Nicht-Passfähigkeit von angebotener und nachgefragter Qualifikation<br />
Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren zu identifizieren. Eventuelle Besonderheiten<br />
seitens Älterer sind herauszuarbeiten und auf ihre Ursachen zu hinterfragen.<br />
Ebenso sind wirksame Gegenstrategien zu entwickeln, wie es gelingen kann,<br />
Angebot und Nachfrage besser in Übereinstimmung zu bringen. Adressaten dürften<br />
sowohl die Unternehmen als auch die Erwerbspersonen selbst sein.<br />
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