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Handbuch Patientenverfügung

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Psychiatrischer Zwang und<br />

seine rechtlichen Grundlagen<br />

PsychKG gegeben hatte, betrug die Anzahl der Verfahren zur Zwangsunterbringung nach Betreuungsrecht/BGB<br />

mit 145.624 mehr als das doppelte. 44 Professor Eckhard Rohrmann von der Universität Marburg kam angesichts<br />

dieser Statistiken zu folgender Überlegung: „Wenn wir das nicht auf einen Besorgnis erregenden Zuwachs der<br />

Einsichtsunfähigkeit in der Bevölkerung generell zurückführen wollen, können nur Verfahrensprobleme, genauer:<br />

eine gewachsene Bereitschaft, eine solche zu unterstellen und gutachterlich zu bescheinigen, die Ursache für diese<br />

Entwicklung sein. In diesem Fall wäre aber die Diagnose einer Einsichtsunfähigkeit weniger ein objektiver medizinischer<br />

Befund, als vielmehr Ausdruck spezifischer Einstellungen der Gutachter. (…) Wäre Einsichtsunfähigkeit<br />

tatsächlich ein objektivierbarer Tatbestand, so wäre damit zu rechnen, dass dieser mehr oder weniger gleichmäßig<br />

über die gesamte Bundesrepublik verteilt wäre.“ 45 Die Verteilung ist ganz und gar nicht gleichmäßig: In Bayern<br />

wurden nach Betreuungsrecht im Jahr 1998 „etwa doppelt so viele Unterbringungen pro tausend Einwohner<br />

angeordnet (…), wie im übrigen Bundesgebiet, und etwa zehn mal so viele, wie in den neuen Bundesländern, ohne<br />

dass dort die öffentliche Ordnung zusammengebrochen wäre“. 46 Das bedeutet: Wenn nicht „die Einsichtsunfähigkeit<br />

der bayerischen Bevölkerung in diesem dramatischen Ausmaß von derjenigen der übrigen Bundesbürger“<br />

abweicht, dann resultieren die Unterschiede aus “unterschiedlichen Einstellungen von Gutachtern und Richtern in<br />

den einzelnen Bundesländern gegenüber Willensentscheidungen, die ihnen sinnwidrig erscheinen”. 47 Ein Beleg<br />

für die Beliebigkeit und Willkür psychiatrischer „Diagnostik“.<br />

PsychiaterInnen können aus jeder menschlichen Regung eine „psychische Krankheit“ herbeiphantasieren. Indem<br />

Gert Postel, als sogenannter „Hochstapler“ bekannt, die Psychiatrie jahrelang täuschte, kann er nun darüber Zeugnis<br />

ablegen. Dem gelernten Postboten gelang es, ohne ärztliche Ausbildung, einmal als Amtsarzt in Flensburg<br />

und das andere Mal als hochgeachteter psychiatrischer Gutachter und Oberarzt in Zschadraß bei Leipzig zu arbeiten,<br />

wo er PsychiaterInnen anleitete, Approbationen verlieh und Stellen vergab. Am Ende wurde ihm sogar ein<br />

Chefarztposten in der Forensik angeboten. 48 „Niemals wurde er kritisiert“ berichtet auch FOCUS online, denn<br />

„fragen gilt in diesen Kreisen als Inkompetenz“, so Postel. 49 Gert Postel hatte auch neue „Krankheiten“ erfunden,<br />

wie die „bipolare Depression dritten Grades – die niemand jemals hinterfragte. Eine intellektuelle Herausforderung<br />

sei diese Arbeit nicht gewesen.“ 50 Postels Resümee: „Sie können mittels der psychiatrischen Sprache jede<br />

Diagnose begründen und jeweils auch das Gegenteil und das Gegenteil vom Gegenteil – der Fantasie sind keine<br />

Grenzen gesetzt.“ (…) „Bestimmte Symptome unter bestimmte Begriffe zu subsumieren, kann auch jede dressierte<br />

Ziege.“ 51 Und: „Wer die psychiatrische Sprache beherrscht, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren<br />

und ihn in das Gewand des Akademischen stecken“. 52<br />

Um Menschen anschließend einsperren und zwangsbehandeln zu können, kann auch “gute Fassade” als Begründung<br />

herhalten (es wird einfach unterstellt, die/der Betroffene tue nur so, als sei sie/er nicht “krank”). 53 Selbst<br />

wenn eine/r versucht, sich “krankheitseinsichtig” zu zeigen, in der Hoffnung, die Verurteilung abzumildern oder<br />

später schneller entlassen zu werden, kann sich das gegen ihn wenden, indem „vorgetäuschte Krankheitseinsicht“<br />

diagnostiziert wird. 54 Letzteres oder auch die „gute Fassade“ sind zwar keine „echten Diagnosen“, die sich verschlüsselt<br />

im „International Statistical Classification of Diseases (ICD)“ genannten Krankheitenkatalog der WHO<br />

finden lassen, doch für den Fall, dass PsychiaterInnen nicht einfällt, wo sie es ansonsten einordnen könnten, gibt es<br />

im ICD-10 (GM Version 2010) die Diagnose F99 „Psychische Störung ohne nähere Angabe“. [„Inkl.: Psychische<br />

Krankheit o.n.A.“, „Exkl.: Organische psychische Störung o.n.A. (F06.9)“]<br />

Psychiatrisiert zu werden könnte jede/n treffen. Häufig passiert es, wenn jemand bei zwischenmenschlichen Konflikten<br />

innerhalb einer Gruppe (z.B. Familie) oder anlässlich sozialer Probleme (z.B. Arbeitsunwilligkeit oder -<br />

unfähigkeit) als störend empfunden wird und ‚elegant‘ aus dem Weg geschafft und den herrschenden Verhältnissen<br />

angepasst werden soll. Aber auch politisch aktive Menschen sind besonders gefährdet. So diente beispielsweise<br />

die Psychiatrie in der Sowjetunion u.a. dazu, Oppositionellen eine „psychische Krankheit“ anzudichten, um sie<br />

wegzusperren. Zu den offensichtlich politischen Skurrilitäten psychiatrischer Worterfindungskunst gehören z.B.<br />

„Drapetomania“ – die Tendenz von SklavInnen, ihren Herren zu entfliehen, „Paranoia reformatoria sive politica“,<br />

44 vgl. ebd.: 31<br />

45 Rohrmann-Vortrag 2004<br />

46 ebd.; siehe auch die Unterschiede im regionalen Vergleich beim Bundesministerium der Justiz 2007: 30 ff.<br />

47 Rohrmann-Vortrag 2004<br />

48 Siehe auch Gert Postels Autobiographie „Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers“<br />

49 Postel, Gert: „Das kann auch eine dressierte Ziege“ in FOCUS online 05.08.2009<br />

50 Ebd.<br />

51 Ebd.<br />

52 Postel, Gert, zitiert bei Gert Postel-Gesellschaft, www.gert-postel.de<br />

53 Talbot, René/Narr, Wolf-Dieter: „Der Geständniszwang macht die Zwangsbehandlung zur Folter“. René Talbot und Wolf-Dieter Narr im<br />

Gespräch. In: Die Irren-Offensive Nr. 13, Berlin 2006, Seite 12, www.antipsychiatrie.de/io_13/narr.htm<br />

54 vgl. ebd.<br />

17

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