SPRACHROHR 2/2006
Zeitung des ver.di-Landesfachbereichs Medien, Kunst und Industrie Berlin-Brandenburg.
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2|06 sprachrohr<br />
berichte<br />
Bewährtes und Neues ausgekramt<br />
6. Lesemarathon des VS förderte Ende März Textvielfalt aus Autoren-Schubladen<br />
An prominentem Ort, im Berliner<br />
Abgeordnetenhaus, eröffnete<br />
der hauptstädtische VS-Vorsitzende<br />
Prof. Horst Bosetzky am<br />
27. März <strong>2006</strong> den nunmehr<br />
6. Lesemarathon der Berliner<br />
und Brandenburger VS-Mitglieder.<br />
Schirm herr und Abgeordnetenhauspräsident<br />
Walter Momper<br />
hatte die Würde an seine<br />
Stellvertreterin Martina Michels<br />
delegiert, die nicht nur als umsichtige<br />
Gastgeberin, sondern<br />
auch selbst lesend agierte: Ihr<br />
deftiger Dialog zweier Prenzlauer-Berg-Typen<br />
aus „Frauenruheraum“<br />
von Anette Gröning ergänzte<br />
die zum Auftakt thematisierten<br />
„Berliner Biographien“.<br />
ERLEBTES UND<br />
NACHEMPFUNDENES<br />
Eingeleitet wurden sie von Till<br />
Sailer, der in seinem Text den Thomaskantor<br />
aus Leipzig, Johann<br />
Sebastian Bach, auf dessen Reise<br />
zu Sohn Philipp Emanuel an die<br />
Spree begleitet. Vater und Sohn<br />
machen einen Abstecher nach<br />
Sanssouci. Wie die unerwarteten<br />
Gäste den traditionellen Verlauf<br />
eines Friderizianischen Kammerkonzerts<br />
durcheinander bringen,<br />
war amüsant zu hören.<br />
Mit der Schriftstellerin Anette<br />
Kolb, eigentlich im bayerischen<br />
Badenweil zu Haus, beschäftigte<br />
sich Armin Strohmayr angesichts<br />
ihrer häufigen Berlin-Aufenthalte.<br />
Wobei die Besucherin bei Samuel<br />
Fischer versuchte, ihre Reisebeschreibungen<br />
unterzubringen. Kein<br />
reines Vergnügen für den Verleger,<br />
dem die selbstbewusste und<br />
eigenwillige Dame schon mal einen<br />
Brieföffner an den Kopf warf.<br />
Aus Holz, glücklicherweise.<br />
Elfriede Brüning kramte in Erinnerungen<br />
an die Zeit nach dem 2.<br />
Weltkrieg, als die Vorabdrucke ihres<br />
Romans über die ersten Semester<br />
an der Arbeiter- und Bauernfakultät<br />
in der Zeitschrift Forum<br />
abgebrochen wurden. Ihre<br />
Studenten entsprachen nicht dem<br />
Idealbild, das man in jener Zeit zu<br />
entwerfen beliebte.<br />
Gleichfalls aus eigenem Erleben<br />
entstand Jochanan Trilse-Finkelsteins<br />
Rückblick auf Flucht vor<br />
den Nazis ins Exil, letztlich nach<br />
6<br />
Shanghai. Bis schließlich Berlin<br />
sein Zuhause wurde. Ähnliches<br />
wusste Jörg Aufenanger zu berichten<br />
von „Silbermanns Reise in<br />
90 Jahren“. Nur kehrte dieser<br />
nicht an den Hausvogteiplatz zurück,<br />
sondern ist nun in Rom daheim.<br />
Berührend die Kurzfassung,<br />
die Ursula Otten aus ihrer Biographie<br />
des „ungeliebten Lebens“<br />
der Hannelore Kohl extra für diesen<br />
Abend verfasste. Und mutig,<br />
wie Özdemir Basargan mit seinem<br />
Text den Schleier einer nach<br />
außen glücklichen Ehe zerriss …<br />
Eva Brillke<br />
KINDHEIT – DIE ZWEITE<br />
SCHUBLADE<br />
LesArt, das Kinderliteraturhaus<br />
wenige Minuten vom Alex entfernt,<br />
war der denkbar geeignetste<br />
Ort für das Lesethema Kindheit,<br />
zu dem fünf Autorinnen am<br />
Tisch saßen. Ohne Biografisches<br />
zu schildern, merkte man doch<br />
jedem Text an, dass da Erfahrung<br />
der Schreibenden eingeflossen<br />
war. Charlotte Worgitzkys kindliche<br />
Heldin erlebt Nazilehrer, Krieg<br />
und Bomben – Eindrücke für ein<br />
ganzes ferneres Leben. Jüngere<br />
Autorinnen haben solche Zeiten<br />
nicht erlebt. Also reflektierte Maria<br />
Kolenda, aus Polen stammend,<br />
das politisch aufgeladene 68er<br />
Jahr, während Anja Tuckermann<br />
in einer Berliner Kindheit das alte<br />
Foto: transit/v. Polentz<br />
Brieföffner an den Kopf? Armin Strohmayr über Anette Kolb.<br />
Kreuzberger Milieu lebendig werden<br />
ließ. Die beiden anderen Texte,<br />
ganz in der Gegenwart angesiedelt,<br />
könnten trotz zeitlicher<br />
Nähe nicht gegensätzlicher im<br />
Ausdruck sein: Ilse S. Prick, die direkt<br />
mit jungen Menschen arbeitet,<br />
lässt eine Halbwüchsige ihre<br />
Sehnsüchte in unbekümmertem<br />
Jugendjargon dartun, während<br />
Sybil Volks die unerfüllte Sehnsucht<br />
nach Familienwärme in einem<br />
nachdenklichen, eher symbolischen<br />
Text behandelt.<br />
Neben solchen Inhalten lagen<br />
Spannung und Reiz für die Zuhörerinnen<br />
ebenso in den unterschiedlichen<br />
Handschriften, manche<br />
ernst zugreifend, manche<br />
witzig – und doch waren auch im<br />
Erheiternden stets die Probleme<br />
der Halbwüchsigen gegenwärtig.<br />
Die Texte sind nicht für Kinder geschrieben,<br />
eher wollen sie bei Erwachsenen<br />
Nachdenken anstoßen.<br />
Kei nes der Lesestücke beschreibt<br />
eine sogenannte „glückliche<br />
Kind heit“.<br />
Aber fühlen sich nicht alle Heranwachsenden<br />
irgendwann unverstanden?<br />
Nur unterscheiden<br />
sich die Probleme, mit denen sie<br />
sich herumschlagen, eben je nach<br />
dem Lauf der Zeiten. Als Erwachsene<br />
werden sie sich vielleicht<br />
dennoch einer schönen Kindheit<br />
erinnern. Verstehen das Frauen<br />
besser als Männer? Es war jedenfalls<br />
ein reiner Frauen-Leseabend.<br />
Annemarie Görne<br />
HEY LORELEY!<br />
Die Lyriker scheinen bescheidene<br />
Leute zu sein. Zu bescheiden.<br />
Blieben sie schon im vergangenen<br />
Jahr weitgehend unter sich,<br />
so schien auch beim diesjährigen<br />
Leseabend im Café Lyrik in Prenzlauer<br />
Berg gar nicht geplant, ein<br />
großes Publikum zu locken. Immerhin<br />
kamen so viele, dass die<br />
Wirtin die Doppelkopfrunde im<br />
Hinterzimmer ausfallen lassen<br />
musste.<br />
Was von den acht Vortragenden<br />
zum Thema „Aufbruch. Gedichte<br />
vom Neuanfang“ geboten<br />
wurde, war zudem hörens- und<br />
bedenkenswert. Neuerlich überwog<br />
die Reisethematik – Metapher<br />
für äußere und innere Aufbrüche.<br />
Vor allem Bahnhöfe wurden<br />
reichlich beschrieben, auch<br />
Landschaften, ob rund ums Mittelmeer,<br />
östlich der Oder, am Gebirge,<br />
im Sommerland oder einfach<br />
im Berliner Kiez Turm-/Ecke<br />
Gotzkowskystraße. Manche Verse<br />
werden, der Flüchtigkeit des<br />
Lesens zum Trotz, vielleicht im<br />
Gedächtnis haften. Wie der von<br />
den Engeln, die aus dem Trauzimmer<br />
fliehen, wenn eine Hochzeit<br />
in den November fällt (Salean<br />
Maiwald), Joachim Hildebrandts<br />
„Aber was ist ein Handy gegen<br />
eine Katze?“ oder die wiederholt<br />
formulierte Frage von Andreas<br />
Ernst Peter: „Welche Romantik<br />
haben Turnschuhe?“ Womöglich<br />
wirkt auch Ursula Kramm-Konewalows<br />
poetischer Vorschlag<br />
nach, frierenden Gedanken die<br />
eisigen Teppiche unter den Füßen<br />
wegzuziehn, um sie in die Sonne<br />
hängen zu können, oder Udo Tifferts<br />
Einwand, das Ross, das<br />
durchgeht, „tritt auf jede Blume<br />
nur einmal“…<br />
Hervorgehoben seien zwei lyrische<br />
Ausnahme-Marathonläufer:<br />
Ralf Gunter Landmesser und<br />
Wolfgang Fehse trugen tatsächlich<br />
auch Gereimtes vor, noch dazu<br />
Lästerlich-Heiteres und Wermut-Ironisches.<br />
Während Fehse<br />
in Limerick-Manier einen „Dichter<br />
aus Lettland, der morgens<br />
schwer aus dem Bett fand“ und<br />
andere Zeitgenossen skizzierte,<br />
nahm Landmesser ganz bewusst<br />
auf Harry H. aus D-dorf Bezug.<br />
Den Jubilar ehrend, hielt er mit