Ausgabe - Sudetenpost
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8 SUDETENPOST FOLGE 24 VOM 75. DEZEMBER 1983<br />
Meine Lehrer<br />
Ein Kapitel Dankbarkeit<br />
Diesen Beitrag verdanken wir noch unserem geschätzten, leider<br />
verstorbenen Mitarbeiter Sektionschef i. R. Dr. Oskar Maschek.<br />
Im Kapitel 12, Vers 3, seines Buches widmet der<br />
Prophet Daniel den Lehrern diese Verherrlichung:<br />
„Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels<br />
Glanz und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen,<br />
wie die Sterne immer und ewiglich." Diese<br />
tiefsinnige Bibelstelle kommt mir immer in den<br />
Sinn, wenn ich an die Heimat denke, Land und<br />
Leute in meiner Erinnerung vorüberziehen lasse<br />
und mich derer erinnere, denen diese prophetische<br />
Lobpreisung gilt: meiner Lehrer.<br />
Ich bin in dem ziemlich weltfernen Böhmerwaldstädtchen<br />
Deutsch-Beneschau geboren und aufgewachsen<br />
und kam im Herbst 1905 in die Schule.<br />
Mein Stolz war eine Schultasche, die die Eltern im<br />
Sommer auf einer Reise in Linz gekauft hatten und<br />
die auf dunkelrotem Samt einen mächtigen Löwen<br />
zeigte. Mein Schulparadies begann mit dem ersten<br />
Tag, denn unser Klassenlehrer war Hans<br />
Turnier, der eben ernannte neue Oberlehrer, ein<br />
glänzender Pädagoge und überaus freundlicher<br />
Mensch, nebenbei ein begeisterter Jäger, der<br />
meistens mit hohen Schaftstiefeln in die Schule<br />
kam und als erstes Lied mit uns einübte: „Gestern<br />
abend ging ich aus, ging wohl in den Wald hinaus;<br />
kam ein Häslein aus dem Busch...". Er war gut zu<br />
uns wie ein Vater. Nach dem Nachmittagsunterricht<br />
fragte er nach wackligen Zähnen, zog sie mit<br />
viel Geschick und schmerzlos und nach der Mittagspause,<br />
wenn er, ein Junggeselle, aus dem<br />
Gasthaus kam, brachte er oft, sorgfältig eingehüllt,<br />
einen großen Knödel mit, den er einem armen<br />
Schüler schenkte, den Neid aller anderen,<br />
mich nicht ausgenommen, erweckend. In der<br />
Heimatkunde hatten wir auch von der Nützlichkeit<br />
des Pferdes gehört und dabei kam die Rede auf<br />
Pferdefleisch und Pferdewurst. Die Frage des<br />
Lehrers, ob wir schon Pferdefleisch oder -wurst<br />
gegessen hätten, bejahte wahrheitsgemäß als einziger<br />
nur ich, denn auf dem vergangenen Jahrmarkt<br />
hatte ich eine schmackhafte Pferdewurst<br />
billig erstanden, ohne natürlich davon daheim etwas<br />
zu sagen. Nun aber war mein Vater auch Lehrer,<br />
bei einem Ganggespäch der Lehrer kam auch<br />
die Sache von meiner Pferdewurst zur Sprache<br />
und so wurde meine Pferdeliebhaberei bekannt.<br />
Ich hatte meinen Lehrer Turnier sehr gern und ich<br />
glaube, er mich auch, denn die einzige Grußkarte,<br />
die ich je von einem Lehrer in den Ferien bekamm,<br />
war von ihm. Sie kam aus Innsbruck, stellte einen<br />
Bergsteiger in schwindelnder Höhe dar und ich<br />
bewahrte sie zeitlebens wie ein Heiligtum.<br />
Meine erste Kindheit war vorüber, als mein Vater<br />
im Jahre 1907 als Oberlehrer in das Nachbardorf<br />
Deutsch-Reichenau bei Gratzen, versetzt<br />
wurde und wir in dessen Schufhaus übersiedelten.<br />
Die Gewöhnung an das Dorfleben fiel uns anfänglich<br />
schwer und ich erinnere mich, wie ich zuweilen<br />
in der Dämmerung mit der Mutter vom Küchenfenster<br />
auf die Beneschauer Straße schaute<br />
und wir beide weinten. Auch an die Schulkameraden<br />
fand ich nicht sogleich Anschluß und wenn ich<br />
am Sonntagnachmittag vom Fenster aus ihren lustigen<br />
Spielen auf der großen Wiese vor dem<br />
Schulhaus zusah, dachte ich mit Wehmut zurück<br />
an Beneschau. Die Großmutter, der ich mein Leid<br />
klagte, tröstete mich über den Anfang hinweg una<br />
behielt recht mit ihrem Spruch, daß aller Anfang<br />
schwer sei und daß ich mich an das Dorf recht<br />
bald gewöhnen werde.<br />
Am nächsten Schulbeginn im Herbst 1908 erhielten<br />
wir einen neuen Lehrer, Ludwig Watzl, einen<br />
Budweiser, der eben erst von der Lehrerbildungsanstalt<br />
kam und trotz seiner Strenge im Nu<br />
unsere Herzen eroberte. Er war offenbar bemüht,<br />
die erlernte Pädagogik an uns Dorfschülern zu<br />
verwerten und brachte uns alles bei, was notwendig<br />
und nützlich war, um uns auf unseren Lebensweg<br />
vorzubereiten. Ich verdanke ihm, da die dritte<br />
als höchste Klasse drei Abteilungen hatte, drei<br />
ganze, lange, schöne Jahre und lernte bei ihm vieles,<br />
was mir im späteren Leben zustatten kam und<br />
mich bis ins Alter an ihn und Reichenau erinnerte.<br />
Er wußte, daß ich fürs Gymnasium bestimmt war<br />
und für Latein und Griechisch die gründliche<br />
Kennfnis der deutschen Sprachlehre notwendig<br />
brauchen werde. Eine Episode bleibt mir in diesem<br />
Zusammenhang besonders lebhaft in Erinnerung:<br />
Eines Tages kam Lehrer Watzl mit Entsetzen<br />
darauf, daß ich in der Abwandlung des Hilfszeitwortes<br />
„sein" schlecht bewandert war, und von da an<br />
war auf einen Wink von ihm mein täglicher Spruch<br />
nach dem Morgengebet: „Ich bin, ich war, ich bin<br />
gewesen, ich war gewesen, ich werde sein, ich<br />
werde gewesen sein" und natürlich auch die<br />
schwierigeren Möglichkeitsformen: ich sei, ich<br />
wäre, ich sei gewesen, ich wäre gewesen, ich werde<br />
sein, ich werde gewesen sein". Die Übung<br />
lohnte sich, denn als im Gymnasium diese Formen<br />
verlangt wurden, konnte ich sie, wozu der Professor<br />
brummend bemerkte: „Nur der Dorfschüler<br />
kann es."<br />
Es gab so vieles, was unser Lehrer, wahrscheinlich<br />
über den Lehrplan hinaus, uns lehrte. Als die<br />
Rede auf die Schreibmaschine kam, von deren wir<br />
noch keine gesehen hatten, zeichnete er, begabt<br />
im Zeichnen und Malen, eine solche mit ein paar<br />
Strichen an die Tafel und vermittelte uns so, besser<br />
als ein Lichtbild, eine lebhafte Vorstellung von<br />
dem Gegenstand. Die Felder um das Schuihaus<br />
maßen wir mit Schnüren aus'und berechneten<br />
dann ihre Flächeninhalte, für die geometrische<br />
Formenlehre kleisterten wir nach Anleitung des<br />
Lehrers Würfel, Prismen und Kegel, damals noch<br />
eine mühsame Arbeit, da es die heutige Vielfalt<br />
und Menge an derartigen Verpackungsformen<br />
noch nicht gab. Auch Redeübungen führte Lehrer<br />
Watzl ein und weil sich gerade, nämlich am 20. Feber<br />
1910, der Todestag Andreas Hofers zum hundertstenmal<br />
jährte, wählte ich sein Leben zum Gegenstand<br />
meines Vortrages. An den schulfreien<br />
Donnerstagen im Winter 1910/11 hielt Lehrer<br />
Watzl für einige interessierte Schüler einen Stenographiekurs,<br />
der so erfolgreich war, daß ich beim<br />
Eintritt ins Gymnasium schon geläufig stenographieren<br />
konnte, eine Kunst, die mir ein ganzes Leben<br />
lang wertvollste Dienste leistete. Im Sommer<br />
machte Lehrer Watzl mit uns Lehrausflüge, einmal<br />
an einem Sonntagnachmittag auf den 1000 m hohen<br />
Schreiberberg, aber noch schöner war es im<br />
Winter, wenn er mit einigen Schülern, die Schlittschuhe<br />
hatten, in der Dämmerung auf den Preinteich<br />
Schlittschuh laufen ging. Jeder wollfe zeigen,<br />
wie mutig er ist, und fuhr allein weit abseits<br />
bis an den Rand des Teiches, wo dunkle Wälder<br />
standen, aber wenn zuweilen ein lauter Krach von<br />
einem bis zum anderen Ende das Eis durchzog,<br />
waren plötzlich alle wie von ungefähr wieder um<br />
den Lehrer versammelt, der verständnisvoll lächelte<br />
und zum fröhlichen Abschluß seine Schar in das<br />
nahe Elternhaus eines Schulkameraden führte,<br />
das „Beim Werdl" hieß und dessen freundliche<br />
Hausfrau uns mit heißem Tee und duftendem, weißem<br />
Brot bewirtete. Drei Jahre war ich glücklich<br />
mit meinem Lehrer, aber sie vergingen allzu rasch,<br />
bis eines Tages der Dorffrächter vor dem Schulhaus<br />
hielt und unsere Koffer auf seinen Fuhrwagen<br />
lud. Den letzten Schultag werde ich nie vergessen.<br />
Er endete mit der Gesangstunde und der<br />
Lehrer sang mit uns als letztes Lied: „Es ist bestimmt<br />
in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was<br />
man hat, muß scheiden." Jugendlich unbekümmert,<br />
erkannte ich die feine Absicht meines Lehrers<br />
erst, als ich nach dem Unterricht in unsere<br />
Wohnung im Erdgeschoß des Schulhauses kam<br />
und sah, daß meine Mutter bitterlich weinte.<br />
Im Herbst dieses Jahres, man schrieb 1911,<br />
hieß es Abschied nehmen von daheim und das liebe,<br />
kleine Dorf verlassen, um in die große, fremde<br />
Stadt zu ziehen. Meine Eltern und mein Bruder,<br />
der in die Lehrerbildungsanstalt kam, begleiteten<br />
mich, das Heimweh aber rührte sich erst, als ich<br />
nach dem Abschied zum erstenmal durch die<br />
Straßen ging. Selbstbewußt kaufte ich mir vom ersten,<br />
noch reichlicheren Taschengeld an einem<br />
Obststand ein ganzes Kilo Weintrauben, die es im<br />
Dorfe niemals gab und nach denen es mich schon<br />
seit langem gelüstet hatte. Doch merkwürdig, so<br />
schön sie auch waren, ich fand nichts an ihnen,<br />
trug sie nach Hause und verschenkte sie auf der<br />
Bude. Nun war ich also Gymnasiast in Budweis<br />
und ein bißchen stolz darauf. Mein Vater stammte<br />
aus Dürnfellern bei Budweis, hatte selbst auch in<br />
Budweis studiert und wahrscheinlich dieses desha/b<br />
den zwei anderen Gymnasiälstädten Krummau<br />
und Freistadt vorgezogen, obwohl ihm seine<br />
Kollegen vor dem Budweiser Gymnasium gewarnt<br />
hatten: der Latein- und Griechischprofessor Andreas<br />
Goll sei furchtbar streng und gefährlich. Als<br />
er zum erstenmal in die Klasse kam, sah ich in ihm<br />
einen rüstigen Mann in den besten Jahren, mit<br />
blonden Haaren, in die er sich gern den Kreidestaub<br />
von der Hand abstreifte, ansehnlich und etwas<br />
herrisch, aber nicht unsympathisch. Ich begegnete<br />
ihm nun sechs Jahre lang täglich und so<br />
lernten wir uns gründlich kennen. Zu fürchten<br />
brauchte ich ihn beileibe nicht, denn Latein und<br />
Griechisch wurden neben Deutsch meine Lieblingsfächer,<br />
alle Anzeichen sprachen dafür, daß er<br />
mich schätzte, was wieder mich anspornte, ihm<br />
vollauf zu entsprechen. Bald arbeitete ich mich<br />
zum Primus empor und konnte das „sehr gut" auf<br />
Schularbeiten und Zeugnissen bis hinauf bewahren,<br />
vom Professor insofern bevorzugt, als er mir<br />
die besten Hauslehrerstunden verschaffte und mir<br />
dadurch zu einem Taschengeld verhalf, das ich<br />
von zu Hause nicht bekam. Goll war sehr gescheit<br />
und ein ausgezeichneter Pädagoge, ich verstand<br />
mich mit ¡hm bestens, nur dreimal gerieten wir etwas<br />
aneinander: einmal erwischte er mich in einem<br />
Theaterstück, um dessen Besuch ich nicht<br />
gebeten hatte; als ich tief im Ersten Weltkrieg meinem<br />
Bruder ins Feld ein Päckchen Zigaretten<br />
schicken wollte und nach Hause eilte, um es noch<br />
am selben Tag zur Post zu bringen, stürzte ich auf<br />
der Stiege des Kosthauses so unglücklich, daß ich<br />
mir ein Loch in den Kopf schlug, wozu Professor<br />
Goll ohne ein Wort des Bedauerns nichts anderes<br />
zu sagen wußte als das griechische „Speude bra-<br />
•deos!" - „Eile mit Weile!" Die dritte Meinungsverschiedenheit<br />
betraf eine Verwandte des Professors,<br />
in deren Begleitung er mich eines Tages auf<br />
der Krummauer Allee traf; er beschied sie und<br />
mich getrennt zu çich und redete uns zu, unsere<br />
Bekanntschaft aufzugeben, weil sie zu nichts führen<br />
könne und weil ihre Eltern sie nicht erlauben<br />
würden. Der Gute hatte unrecht^denn acht Jahre<br />
später heiratete ich seine Verwandte und jetzt vor<br />
acht Jahren feierten wir miteinander die goldene<br />
Hochzeit. 1919 - der Sommer war vorüber und der<br />
Herbst ins Land gezogen. Zum letztenmal ging ich<br />
mit Rosa, dem guten Hausgeist, auf unsere Mietacker<br />
beim Pfarrerwald Erdäpfel graben und sah,<br />
Abschied nehmend, noch einmal hinunter auf das<br />
stille, nebelumsponnene Heimatdorf. Ein Platz in<br />
der Postkutsche war bereits bestellt und der Tag<br />
meiner Abreise nach Prag festgesetzt. Daß mich<br />
dort keine fröhliche Zeit erwartete, wußte ich genau,<br />
denn seit dem frühen Tod des Vaters waren<br />
wir nur auf die bescheidene Pension meiner Mutter<br />
angewiesen und zu großer Sparsamkeit gezwungen.<br />
Mein Universitätsstudium war daher ein<br />
geldliches Wagnis und ich sah ihm nicht ohne ein<br />
gewisses Bangen entgegen. Eine Unterkunft hatte<br />
ich bei der tschechischen Eisenbahnerfamilie<br />
Trejbal in Zizkov, Komenskyplatz 179, damals<br />
schon ziemlich am Rande von Prag, gefunden.<br />
Frau Trejbal schlief mit einem Buben in der Küche,<br />
Herr Trejbal gemeinsam in einem Bett mit dem<br />
zweiten Buben und ich im Zimmer. Aber es waren<br />
brave Leute, die die Beengung durch mich geduldig<br />
hinnahmen und sich am Sonntagmorgen,<br />
wenn ich mich in der Küche wusch, bereitwillig auf<br />
eine halbe Stunde in das Zimmer und auf die<br />
„Pawlatschen" zurückzogen. Dann begann das<br />
Studium. Täglich früh ging ich von Zizkov hinab in<br />
die Innenstadt zur Karls-Universität, die Vorlesungshefte<br />
in der Manteltasche und als es ihrer<br />
mehr wurden, in einer um 15 Kronen antiquarisch<br />
erworbenen Aktentasche aus Wichsleinwand. Im<br />
Carolinum verbrachte ich die Vormittage mit Vorlesungen,<br />
die Nachmittage zum Studium im Clementinum,<br />
wo sich die Studienbibliothek befand.<br />
So bescheiden auch mein Alltag war, ich war dennoch<br />
zufrieden, weil ich nun wenigstens auf dem<br />
Wege zu dem noch so fernen Ziele war. Daran<br />
dachte ich immer, wenn ich gelegentlich an der<br />
Großen Aula vorüberging und das „Gaudeamus"<br />
einer Promotionsfeier heraushörte. Die Professoren<br />
flößten mir insgesamt hohe Achtung ein, weil<br />
ich ihr Wissen schätzte, und wenn auch nicht alle<br />
volles Verständnis für uns aufbrachten, so war<br />
doch die Mehrzahl nicht nur geistig hochstehend<br />
sondern auch menschlich aufgeschlossen. Wenn<br />
zum Beispiel Professor Ludwig Spiegel auf dem<br />
Katheder sein Heft mit der tschechischen Verfassung<br />
schwenkend und ihren Inhalt zerpflückend,<br />
begeistert ausrief: „Sehen Sie, meine Herren, das<br />
alles steht in dieser Verfassung, aber ihre Schöpfer<br />
wußten es erst, als ich es ihnen sagte." Als<br />
Professor Egon Weiß einmal Pfandrecht lehrte<br />
und gerade schwungvoll erklärte: „Das Pfandrecht<br />
ist ein dingliches Recht!" — öffnete sich<br />
sacht die Tür des Hörsaals, drei oder vier Rastelbinder<br />
schoben sich mit ihren Tragen vorsichtig<br />
herein und boten laut ihre Waren an: „Kupte, Pañi,<br />
kupte pasti na mysi, varecky, vácky na penize!" —<br />
„Kaufen Sie, Herren, kaufen Sie Mausefallen,<br />
Kochlöffel, Geldbeutel!" — Professor Weiß verschlug<br />
es die Rede, bevor er sein „Hinaus, bitte,<br />
hinaus!" herausbrachte. Der Arme, ein großer Gelehrter<br />
und guter Mensch, blieb auch von der Vertreibung<br />
nicht verschont, das Schicksal verschlug<br />
ihn nach Innsbruck, wo er in einem Zimmer neben<br />
der Universitätsbibliothek hauste und an der Neuherausgabe<br />
des bürgerlichen Rechts mitarbeitete.<br />
Sehr menschenfreundlich war auch Professor<br />
Schranil aus Staatsrecht und Verwaltungsrecht,<br />
dessen Vorlesungen sehr ungünstig angesetzt<br />
waren, nämlich um 4 Uhr nachmittag. Einige Unverdrossene<br />
kamen trotzdem, wofür er mit einem<br />
freundlichen Lächeln dankte, sich die wenigen Gesichter<br />
bis zum Tage der Staatsprüfung oder des<br />
Rigorosums vielleicht gut merkend. Professor<br />
Rauchbeg lehrte Völkerrecht, ein gefürchtetes Rigorosumthema,<br />
war auf seinen k. k. Hofratstiter<br />
noch immer stolz und manchmal auch launenhaft.<br />
Als ich bei ihm antrat, machte mich Oberpedell<br />
Wandl aufmerksam, daß tagsvorher alle drei Kanditaten<br />
„geflogen" waren, aber ich hatte Glück und<br />
kam heil davon. Am meisten fürchtete ich das erste<br />
Rigorosums, das ich als letzte Prüfung am<br />
Tage vor der bereits angesetzten und verkündeten<br />
Promotion machte. Eben deshalb war es sehr<br />
gewagt, zumal der Prüfer, Professor Wahrmund,<br />
von seiner Affäre in Innsbruck her bekannt, besonders<br />
streng und gefürchtet war. Aber die Prüfung<br />
begann leidlich, Wahrmund war vorerst recht<br />
zufrieden und bemerkte erst später: „Jetzt ist es<br />
nicht mehr so gut." Aber ich schaffte es und<br />
brauchte die bereits anfahrenden Promotionsgäste<br />
nicht abzubestellen. Indem ich diese Zeilen<br />
schreibe, gaukelt mir die Erinnerung aller beschriebenen<br />
Gestalten so deutlich vor, daß ich sie<br />
leibhaftig vor mir zu sehen wähne. Ich bin unsagbar<br />
glücklich, lauter gute Lehrer gehabt zu haben,,<br />
deren Lehre und Vorbild mir wesentlich durch ein<br />
schweres Leben geholfen haben. Nun sind sie alle<br />
schon tot, manche recht schwer aus dem Leben<br />
geschieden, aber in meinem Andenken leben sie<br />
fort, bis ich ihnen selbst in die Ewigkeit nachfolgen<br />
werde.<br />
Sudetendeutsches Exil 1938-1945<br />
Toni Herget<br />
Gab es bisher nur wenige Darstellungen über<br />
den politischen Weg der sudetendeutschen Anschlußgegner<br />
von 1938, so liegt mit dem dritten<br />
Band von Leopold Grünwalds Geschichte des sudetendeutschen<br />
Widerstands und Exils („In der<br />
Fremde für die Heimat") erstmals eine geschlossene,<br />
wenn auch noch sehr unvollständige Zusammenfassung<br />
über einen politisch sehr gewichtigen<br />
Zeitabschnitt sudetendeutscher Geschichte<br />
vor.<br />
Daß die Sudetendeutschen — anders als das<br />
Binnendeutschtum, die Juden, Österreicher, von<br />
den Tschechen gar nicht zu reden — mit der<br />
schriftlichen Fixierung des Zeitraumes seit der<br />
zwangsweisen Einverleibung in den tschechoslowakischen<br />
Staat und vor allem die Entwicklung<br />
seit 1938, und noch mehr nach 1945, so sehr in<br />
Verzug gerieten und dadurch beigetragen haben,<br />
in eine völlig falsche historische Betrachtung und<br />
Beurteilung zu kommen, ist unverständlich. Das<br />
zeigt, daß es bei ihnen mehr als eine Fehlentwicklung<br />
gegeben hat. Sie mußten bisher dafür mehr<br />
als einmal politisch, wie in der historischen Darstellung<br />
dieses Zeitabschnittes, bezahlen.<br />
Sieht man von den völlig einseitigen und sporadischen<br />
Aussagen ab, die die in die DDR verschla r<br />
genen sudetendeutschen Sozialdemokraten und<br />
Kommunisten und die im Sudetenland verbliebenen<br />
oder aus dem Exil wieder dorthin gelangten<br />
"Antifaschisten" ab, die in den deutsch geschriebenen<br />
aber tschechische Vorstellungen propagierende<br />
Zeitungen („Aufbau und Frieden", „Volks-<br />
Zeitung" und „Prager Volks-Zeitung") erschienen,<br />
gab es bisher eigentlich nur Stellungnahmen von<br />
sudetendeutschen Sozialdemokraten. Martin Grill<br />
und Karl Richard Kern, Schweden, Andrew Amstätter,<br />
Kanada und Ernst Paul von der „Seliger-<br />
Gemeinde" schrieben Erinnerungen, die das Exil<br />
aus ihrer Sicht darstellten. Die anderen sudetendeutschen<br />
Exilgruppen: Juden, Kommunisten,<br />
bürgerliche Gruppierungen, sieht man von Johann<br />
Wolfgang Brügel, London, ab, wußten sich bisher<br />
noch nicht zu äußern. Daß es auch eine harte und<br />
sehr schicksalshafte Auseinandersetzung zwischen<br />
der früheren Führungsgruppe um Henlein<br />
(Sudetendeutsche Partei) und der Berliner<br />
NSDAP und den verschiedenen anderen sich gegenseitig<br />
bekämpfenden Stellen gab, ist bisher<br />
kaum bekannt geworden. Aus all diesen Versäumnissen<br />
hat die tschechoslowakische Propaganda<br />
seit 1945 unermeßliches politisches Kapital geschlagen<br />
und die vertriebenen Sudetendeutschen<br />
erfolgreich in einem völlig falschen Licht dargestellt.<br />
Politisch kam Grünwalds Arbeit zu spät, nicht<br />
jedoch historisch. Trotz aller Mängel, die diesen<br />
drei Bänden anhaften, muß man dem Verfasser<br />
dankbar für seine Arbeit sein, da es Besseres bisher<br />
nicht gegeben hat. Freilich ist zu bemängeln,<br />
daß die Möglichkeiten, wie sie z. B. das reichhaltige<br />
Pressearchiv des Marburger J. G. Herder-Instituts<br />
geboten hätte, für diese Arbeit nicht genutzt<br />
wurden.<br />
Da Grünwald bis 1945 als führender sudetendeutscher<br />
Kommunist in der Sowjetunion lebte<br />
(letzter Leiter des „Sudetendeutschen Freiheitssenders<br />
Moskau"), bis 1969 Mitarbeiter von<br />
KPTsch-Organen war und seither Eurokommunist<br />
ist, kann man ihn schlecht faschistischer Darstellung<br />
bezichtigen. Prag und Preßburg werden es<br />
also in ihrer Stellungnahme zu den drei Bänden<br />
schwer haben. Man mag stehen, wo man will, man<br />
muß Grünwald zustimmen, wenn er sagt, daß mit<br />
seinen Forschungsergebnissen „Opfer und<br />
Kampf des sudetendeutschen Widerstands in<br />
neuem Licht" erscheint und „Rechtfertigung" findet<br />
(S. 10). Grünwald betrachtet die Tätigkeit der<br />
„Antifaschisten" nicht aus engem Blickwinkel. Gerade<br />
weil er iuch die Vertreibung, ihre Auswirkungen<br />
für Moral, Recht und Freiheit der Vertreiber,<br />
den wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang<br />
des Sudetenlandes nach der Vertreibung, den allmählichen<br />
Wandel in der Einstellung des tschechischen<br />
Volkes, vor allem von Teilen des tschechischen<br />
Exils zur Vertreibung und den Sudetendeutschen<br />
in seine Untersuchungen mit einbezieht,,<br />
kommt seiner Arbeit immense Bedeutung<br />
zu. Der Autor hat den Mut, festzuhalten, daß aus<br />
einem ursprünglich antifaschistem Kampf ein<br />
Kampf gegen alles Deutsche wurde (S. 9), der seine<br />
schärfste Ausprägung in der Tschechoslowakei<br />
fand.<br />
Es ist gar nicht notwendig, in allem Grünwald<br />
zuzustimmen; manche Einzelangaben treffen<br />
nämlich so, wie sie dargestellt wurden, nicht zu. Im<br />
Prinzip ist aber gegen seine Aussagen nichts einzuwenden.<br />
Gerade von ihm hätte man sich freilich '<br />
gewünscht, etwas mehr über die Rolle der deutschen<br />
(und vielfachLaufe der Emigration zu<br />
Tschechen gewordenen) Juden etwas mehr zu erfahren.<br />
Die Zahlen über die jüdischen Verluste in<br />
den Sudetenländern und im Protektorat hätten dadurch<br />
leicht eine Berichtigung erfahren können.<br />
Daß ein Nichtwissenschafter diese Arbeit geschrieben<br />
hat, zeigt aber einmal mehr die Relativität<br />
des Gewichts der historischen Wissenschaft<br />
auf.<br />
Trotz aller Lücken und Mängel erfährt, man<br />
durch Grünwald sehr viel über die verschiedenen<br />
sudetendeutschen Exilgruppen in Ost und West,<br />
ihre politischen Vorstellungen, Kontakte und personellen<br />
Zusammensetzungen. Über die Zusammenarbeit<br />
mit den verschiedenen politischen<br />
tschechischen Gruppierungen von London bis<br />
Moskau wird allerdings wenig ausgesagt. Aufschlußreich<br />
sind die Stellungnahmen der einzelnen<br />
Exilgruppen zu den tschechischen Vertreibungsplänen.<br />
Die unterschiedlichen Standpunkte<br />
der sudetendeutschen Kommunisten hätte man<br />
sich etwas detaillierter gewünscht. Nach 1943<br />
schwenkten sie nämlich in die Vertreibungspläne<br />
von Edvard Benesch ein, ihre internationalistische<br />
Grundlinie dabei verratend. Grünwald nimmt vor<br />
allem den Tschechen den Wind aus den Segeln,<br />
daß die Sudetendeutschen als Ganzes härteste<br />
Verfechter des nationalsozialistischen Gedankenguts<br />
gewesen seien. Er weist sogar nach, daß sie<br />
sich weit mehr gegen Hitler gestellt haben als die<br />
Tschechen selbst. Das Buch über die tschechische<br />
Kollaboration ist im übrigen ja noch zu<br />
schreiben.-<br />
Im einzelnen berichtet der Autor ferner über die<br />
Exilgruppen in Skandinavien, Westeuropa, in Kanada<br />
und Übersee, in Israel und jene in den Armeen<br />
der Alliierten. Besonderes Gewicht kommt<br />
der Schilderung der Lage und der Entwicklung<br />
des sudetendeutschen kommunistischen Exils in<br />
der Sowjetunion zu. Die Aussagen über den „Sudetendeutschen<br />
Freiheitssender Moskau", dürften<br />
für viele ein völlig neues Kapitel sudetendeutscher<br />
Politik sein (S. 46). Über die Pionierleistungen<br />
der nach Westkanada ausgewanderten sudetendeutschen<br />
Sozialdemokraten wird hoffentlich<br />
in nächster Zeit eine Arbeit von Willi Wanka, der<br />
diesen Zweig der Auswanderung in die Wege geleitet<br />
hat, erscheinen.<br />
Rund zwei Drittel dieses Bandes macht der Anhang<br />
aus, der verschiedene Dokumente, leider oft<br />
ohne Zeitangabe, bringt. Aus ihm geht auch hervor,<br />
daß das Hauptgewicht des sudetendeutschen<br />
Exils durch Wenzel Jaksch und seine Gruppen<br />
verkörpert wurden. Die Namensverzeichnisse der<br />
einzelnen Exilgruppen sind zwar interessant, doch<br />
bei weitem nicht vollständig, was infolge des großen<br />
Zeitabstandes aber auch verständlich ist.<br />
Große Bedeutung kommt den biographischen Angaben<br />
über herausragende Persönlichkeiten des<br />
Exils zu. Dabei wird klar ersichtlich, daß niemand<br />
durch seine Zusammenarbeit mit den tschechischen<br />
Exilgruppen — in Ost, wie in West — für<br />
das Sudetendeutschtum der Nachkriegszeit etwas<br />
erreichen konnte, am allerwenigsten diejenigen,<br />
die nach 1945 in die Heimat zurückkehrten<br />
und dort geblieben sind.<br />
Leopold Grünwald: „In der Fremde für die Heimat",<br />
(Veröffentlichung des Sudetendeutschen<br />
Archivs), München 1982, S 184,—.