Stagione #2 - Theater an der Wien
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Oper im November<br />
Durch die Krise zur Besinnung<br />
Dirigent René Jacobs über seinen Zug<strong>an</strong>g zu La finta giardiniera.<br />
Welche Entwicklung erkennen Sie vom 12-jährigen<br />
Mozart von La finta semplice zum<br />
18-jährigen Komponisten von La finta giardiniera?<br />
Mozart hat sich in den sechs Jahren zwischen<br />
den beiden Opern bedeutend weiter<br />
entwickelt. Für ein Kind ist La finta semplice<br />
eine bewun<strong>der</strong>nswerte Musik, aber er übertrifft<br />
damit noch nicht seine Zeitgenossen.<br />
Mit den Zeitgenossen meine ich Komponisten<br />
wie Giov<strong>an</strong>ni Paisiello, die heute<br />
nicht mehr aufgeführt werden. Auch die<br />
Qualität <strong>der</strong> Haydn-Opern erreicht La finta<br />
semplice noch nicht. In La finta giardiniera<br />
können wir d<strong>an</strong>n schon über viele Seiten<br />
das Genie Mozarts erkennen.<br />
Zeigt Mozart sich in La finta giardiniera<br />
schon als erwachsener Komponist?<br />
Er ist noch nicht g<strong>an</strong>z erwachsen, aber er<br />
hat unglaublich viel Gespür für <strong>Theater</strong>,<br />
für Melodien und für Form. Mozart hat<br />
immer mit Formen gespielt. Viele <strong>der</strong> Arien<br />
in La finta giardiniera folgen <strong>der</strong> Sonatensatzform,<br />
aber er m<strong>an</strong>ipuliert sie stets<br />
im Dienste <strong>der</strong> Bühnenh<strong>an</strong>dlung, das sind<br />
auch die stärksten Momente des Dramas.<br />
Erkennen Sie in La finta giardiniera schon<br />
die Entwicklung zu den Da Ponte-Konversationsopern?<br />
Die Ensembles am Ende des ersten und<br />
des zweiten Aktes sind schon weit in diese<br />
Richtung entwickelt. Nur <strong>der</strong> dritte Akt enthält<br />
noch kein richtiges Ensemble, weil er<br />
sich <strong>an</strong> die typische Form <strong>der</strong> komischen<br />
Oper hält, wie wir es auch von Haydn<br />
kennen. Der dritte Akt ist kürzer und deutet<br />
bereits die Entwicklung <strong>der</strong> zweiaktigen<br />
Form <strong>an</strong>.<br />
Welche erzählerische Funktion erfüllt <strong>der</strong> dritte<br />
Akt?<br />
Es braucht den dritten Akt, um die Versöhnung<br />
zu zeigen. Am Ende des zweiten<br />
Aktes herrscht noch die Katastrophe. Die<br />
Szene in <strong>der</strong> Grotte im zweiten Akt ist wie<br />
in Die Zauberflöte eigentlich eine Prüfung<br />
für das Liebespaar Viol<strong>an</strong>te und Belfiore<br />
und sie sind am Ende dieser Szene beide<br />
wahnsinnig. Im dritten Akt müssen sie<br />
d<strong>an</strong>n vom Wahnsinn genesen. Durch diese<br />
Krise kommen sie schließlich zur Besinnung.<br />
Eine Grotte ist auch ein Freimaurersymbol<br />
und m<strong>an</strong> könnte spekulieren, ob<br />
es damit etwas zu tun hat.<br />
Hält sich Mozart noch <strong>an</strong> Gattungsmodelle<br />
o<strong>der</strong> vertont er bereits seelische Zustände?<br />
Immer, wenn es das Libretto zulässt, vertieft<br />
sich Mozart in die Seelen. Aber wie<br />
immer basiert eine italienische komische<br />
Oper auf den drei Rollentypen des Seria-<br />
Sängers, <strong>der</strong> komischen Buffo-Partie und<br />
des Mezzo carattere, <strong>der</strong> die interess<strong>an</strong>teste<br />
Gattung ist. In La finta giardiniera sind<br />
Belfiore und Viol<strong>an</strong>te Mezzo-Charaktere,<br />
die sich verstellen müssen. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n bei<br />
Mozart l<strong>an</strong>ge über das Thema Verstellung<br />
philosophieren. Er und die Sänger liebten<br />
die Verstellung. Die Marchesa Viol<strong>an</strong>te gibt<br />
sich als Gärtnerin S<strong>an</strong>drina aus und diese<br />
Finte verl<strong>an</strong>gt, dass sie mit einer verstellten<br />
Stimme und sogar in einem verstellten<br />
Stil singt. Eigentlich müsste Viol<strong>an</strong>te<br />
alles seria singen, aber wir hören sie erst<br />
am Ende des ersten Aktes ernsthaft. Ihre<br />
erste Arie ist gänzlich heiter. Mit solchen<br />
Verstellungen spielte Mozart gerne.<br />
Spielt er damit auch in <strong>der</strong> Instrumentierung?<br />
In <strong>der</strong> Notation ist Mozart noch nicht erwachsen.<br />
Er hat sich noch nicht um eine<br />
farbige Instrumentierung gekümmert,<br />
wie wir es bei ihm ab Idomeneo kennen.<br />
Mozart wurde gerne für zu viele Noten<br />
kritisiert, aber in La finta giardiniera werden<br />
die Bläser noch wenig genutzt. Wir<br />
folgen daher in unserer Aufführung teilweise<br />
einer Fassung mit erweiterten Bläsern,<br />
die aus zwei M<strong>an</strong>uskripten stammt,<br />
die mit frühestens 1780 und spätestens<br />
1796 datierbar sind. Die Musikologen haben<br />
immer schon diskutiert, ob Mozart<br />
selbst mit diesen Fassungen etwas zu tun<br />
hatte. Schon Herm<strong>an</strong>n Abert beschreibt in<br />
seiner Mozart-Biographie eines <strong>der</strong> beiden<br />
M<strong>an</strong>uskripte und sagt, dass die Bläser im<br />
Sinne <strong>der</strong> späteren Da Ponte-Opern psychologisch<br />
eingesetzt werden. Niem<strong>an</strong>d<br />
k<strong>an</strong>n beweisen, dass Mozart diese Fassungen<br />
selbst geschrieben hat, aber es ist<br />
zumindest so gut wie Mozart, wenn nicht<br />
sein Alter Ego. Ich denke, dass diese beiden<br />
M<strong>an</strong>uskripte eine Art Endprodukt eines<br />
Work in progress waren und finde, dass<br />
alle Ideen nach Mozart klingen. Für mich<br />
ist es auch ein Work in progress und sehr<br />
sp<strong>an</strong>nend, weil ich diese Stimmen <strong>der</strong> erweiterten<br />
Bläserbesetzung selbst schreiben<br />
muss. Ich f<strong>an</strong>d es im Autograph von La<br />
finta giardiniera immer ungewöhnlich, dass<br />
es neun Arien nur mit Streicherbesetzung<br />
gibt. Ich kenne keine einzige Mozart-Oper,<br />
auch nicht die g<strong>an</strong>z frühen wie La finta<br />
semplice, mit so vielen Arien mit reiner<br />
Streicherbegleitung.<br />
Drei Paare und ein komischer Alter: Folgt<br />
die Hierarchie <strong>der</strong> Figuren noch g<strong>an</strong>z <strong>der</strong><br />
Commedia dell’Arte?<br />
Es ist eine Mischung aus Commedia<br />
dell’Arte und dem bürgerlichen Rührstück,<br />
<strong>der</strong> comédie larmoy<strong>an</strong>te, wie wir es aus<br />
Fr<strong>an</strong>kreich kennen. Aber es ist typisch für<br />
Mozart, dass er die Hierarchie <strong>der</strong> Rollen<br />
durchbricht. Arminda ist zum Beispiel eine<br />
Seria-Rolle, aber ihre erste Arie ist komisch.<br />
Der Podestà ist ein seltener Buffo-Tenor.<br />
Er ist und bleibt eine komische Rolle, die<br />
m<strong>an</strong>chmal rührend sein k<strong>an</strong>n. Mit ihm<br />
k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong>, wie mit vielen komischen Alten,<br />
in m<strong>an</strong>chen Momenten Mitleid haben, aber<br />
er macht keine Entwicklung durch. Nur<br />
die beiden Mezzo carattere-Rollen Viol<strong>an</strong>te<br />
und Belfiore durchleben eine Entwicklung.<br />
Ist es ein typisches Merkmal für Mozarts<br />
Sinn für Humor, dass <strong>der</strong> Podestà in seiner<br />
Arie „Dentro il mio petto io sento“ mit dem<br />
Orchester kommuniziert?<br />
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