21.10.2014 Aufrufe

Einsichten 2 - Ludwig-Maximilians-Universität München

Einsichten 2 - Ludwig-Maximilians-Universität München

Einsichten 2 - Ludwig-Maximilians-Universität München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Nr. 2/2013<br />

<strong>Einsichten</strong><br />

Der Forschungsnewsletter<br />

<strong>Ludwig</strong>-<strong>Maximilians</strong>-<strong>Universität</strong> <strong>München</strong><br />

Im Gespräch mit: Sebastian Scherr<br />

„Es gibt auch einen Werther-Defekt“<br />

Berichte über Suizide können Nachahmungstaten anregen, das legen Statistiken nahe. Viele Medien<br />

verzichten darum weitgehend darauf, den Selbstmord zu thematisieren. Doch ist der Zusammenhang<br />

so klar? Kommunikationswissenschaftler Sebastian Scherr untersucht den sogenannten Werther-Effekt<br />

nun genauer.<br />

„Die bisherige Forschung sagt wenig über das Individuum“, meint<br />

Sebastian Scherr.<br />

Lassen sich Menschen durch Medien tatsächlich zum Selbstmord<br />

verleiten?<br />

Scherr: Ganz offenbar, Berichte über Selbstmorde führen zu<br />

einem Anstieg der amtlich registrierten Suizide. Das geht zumindest<br />

aus zahlreichen Studien hervor. Und es lässt sich zeigen,<br />

dass es sich dabei nicht um vorgezogene Suizide handelt, sondern<br />

tatsächlich um eine Zunahme. Es lässt sich im Übrigen auch das<br />

Gegenteil beobachten: Nach Medienberichten über bewältigte<br />

existenzielle Krisen etwa können die Suizidzahlen zurückgehen –<br />

ein sogenannter Papageno-Effekt.<br />

Aber reicht es wirklich, die Polizeistatistik auszuzählen, um sich<br />

dem Phänomen zu nähern?<br />

Scherr: Ich meine, nicht. Aber zumindest in dem Forschungsstrang,<br />

der sich mit dem Werther-Effekt im engeren Sinne befasst,<br />

war das bislang meist das Vorgehen. Solch reine Aggregat-<br />

Analysen sagen aber nichts über das Individuum, nichts darüber,<br />

welche Disposition ein Mediennutzer mitbringen muss, damit ein<br />

Suizidbericht in fataler Weise verfängt. Das ist ein deutlich zu enger<br />

Fokus, der Forschungslücken mit sich bringt. Dies haben wir<br />

in einem Aufsatz als „Werther-Defekt“ beschrieben.<br />

Und: Wie erklärt man sich diese extreme Form der Medienwirkung?<br />

Scherr: Zugegeben, da gibt es noch eine Menge offener Fragen. In<br />

vielen Studien gehen die Wissenschaftler von einer Art Suggestivwirkung<br />

der Berichte aus – auf entsprechend vulnerable Personen.<br />

So heißt es dann immer, ohne dass die Autoren diese Verletzbarkeit<br />

jedoch näher charakterisieren. Das folgt einer simplen Stimulus-<br />

Response-Logik, nicht besonders ausgearbeitet.<br />

Aber es gibt bessere Erklärungsansätze?<br />

Scherr: Die Medizin sieht Suizidalität seit langem als multifaktoriell<br />

bedingtes Verhalten mit einer entsprechenden Krankengeschichte.<br />

Dass Medieninhalte in den verschiedenen Phasen<br />

psychischer Labilität vielfältige Wirkungen zeigen können, darf<br />

als sicher gelten. Nebenbei bemerkt: Nur die statistisch erfassten<br />

Suizide in den Blick zu nehmen, wie es die meisten Untersuchungen<br />

zum Werther-Effekt tun, greift deshalb viel zu kurz. Die<br />

Fachleute rechnen zu suizidalem Verhalten auch Selbstmordversuche<br />

und Selbstmordgedanken, deren Ausgangspunkt häufig<br />

Depressionen sind.<br />

Welche Medieneinflüsse könnten das sein?<br />

Scherr: Medieninhalte können nicht nur Emotionen auslösen, sie<br />

werden auch zur Regulation von Stimmungen genutzt, sie dienen<br />

zu Orientierung und sozialem Vergleich, Mediennutzer können<br />

sogar parasoziale Beziehungen zu Medienfiguren aufbauen. Wir<br />

hatten im Vorfeld Gespräche mit Psychiatern großer Kliniken in<br />

<strong>München</strong>. Die berichteten beispielsweise von Fällen gesteigerter<br />

Aufmerksamkeit, von Fällen, in denen Leute mit Suizidgedanken<br />

systematisch Artikel ausschneiden und sammeln, die sich auf<br />

Suizide beziehen. Inwieweit sich solch ein Drang dann zu einer<br />

Motivation verdichten kann, die Idee des Suizids gleichsam<br />

kultiviert im Kopf – all das ist ein komplexes Geschehen, auf das<br />

die Fachleute zur Erklärung heute ein ausgereiftes Modell von<br />

sozialem Lernen anwenden.<br />

Sind irgendwelche Quantifizierungen möglich?<br />

Scherr: Der Suizid ist in der Tat ein nicht eben seltenes Phänomen.<br />

Es sterben in Deutschland jährlich rund 10.000 Menschen<br />

durch Suizid, das sind mehr, als durch Verkehrsunfälle, Aids,<br />

illegale Drogen und Kapitalverbrechen zusammengenommen zu<br />

Tode kommen. Die Imitationssuizide machen davon allerdings<br />

sicher nur einen geringen Anteil aus. Die Zahl der Selbstmordversuche<br />

liegt bei mehr als 100.000 im Jahr, mit hoher Dunkelziffer.<br />

Aber ich habe so meine Schwierigkeiten mit Quantifizierungen.<br />

In jedem der Fälle geht es um ein Menschenleben. Und<br />

jeder Selbstmord ist in meinen Augen einer zuviel.<br />

Gleichzeitig ist der Medienkonsum explodiert.<br />

Scherr: Ja, insgesamt ist er – nach Arbeiten und Schlafen – die<br />

Seite 16 Nr. 2/2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!