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Vechtaer fachdidaktische Forschungen und Berichte, Heft 16.

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Layout: Christine Kaiser<br />

Marlies Hempel (Hrsg.):<br />

Fachdidaktik<br />

<strong>und</strong> Geschlecht<br />

VECHTAER FACHDIDAKTISCHE FORSCHUNGEN UND BERICHTE<br />

Impressum:<br />

<strong>Vechtaer</strong> <strong>fachdidaktische</strong> <strong>Forschungen</strong> <strong>und</strong> <strong>Berichte</strong>, <strong>Heft</strong> 16<br />

Januar 2008<br />

Herausgeber: Institut für Didaktik der Naturwissenschaften,<br />

der Mathematik <strong>und</strong> des Sachunterrichts<br />

Anschrift: Hochschule Vechta, Postfach 15 53<br />

D-49364 Vechta<br />

ISSN: 1438-1559<br />

Hochschule Vechta • Postfach 15 53 • D-49364 Vechta <strong>Heft</strong> 16


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort 3<br />

Marita Kampshoff<br />

Zum Umgang mit Heterogenität im Unterricht 6<br />

Monika Finsterwald<br />

Geschlechtsrollenstereotype in Schulbüchern 27<br />

Marlies Hempel<br />

Lebens- <strong>und</strong> Berufsplanung – ein Thema<br />

für Mädchen <strong>und</strong> Jungen im Gr<strong>und</strong>schulalter? 37<br />

Astrid Kaiser<br />

Konzepte <strong>und</strong> Ansätze für mädchengerechten<br />

naturwissenschaftlichen Sachunterricht 67<br />

Petra Wolters<br />

Koedukation im Sportunterricht<br />

- Zwischen Gleichheit <strong>und</strong> Differenz 97<br />

Christine Biermann<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen als Beitrag<br />

zu einer geschlechterbewussten Pädagogik<br />

– Erfahrungen aus der Laborschule Bielefeld 114<br />

Autorinnen 127<br />

2


Fachdidaktik <strong>und</strong> die Kategorie "Geschlecht"<br />

Einleitung<br />

Den Stellenwert <strong>und</strong> die Bedeutung der Kategorie "Geschlecht"<br />

in der Fachdidaktik zu untersuchen <strong>und</strong> damit auf eine<br />

Kernfrage sowohl im Rahmen der Frauen- <strong>und</strong><br />

Geschlechterforschung wie der <strong>fachdidaktische</strong>n Forschung<br />

aufmerksam zu machen, ist Anliegen dieser Publikation.<br />

Fachdidaktik ist eine forschende Disziplin. Die hier publizierten<br />

Beiträge zeigen, dass Lehr-Lern-Forschung ohne<br />

Berücksichtigung des Geschlechts unvollständig bliebe.<br />

Fachdidaktiken sind eine wichtige wissenschaftliche Säule der<br />

Lehrerbildung. Die theoriegeleitete <strong>fachdidaktische</strong> Reflexion,<br />

fachbezogenes Unterrichten, Diagnostizieren <strong>und</strong> Beurteilen sind<br />

wie Kommunikation, Entwicklung <strong>und</strong> Evaluation wichtige<br />

Kompetenzbereiche, auf die die Fachdidaktiken die zukünftigen<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer vorbereiten müssen. Das ist ohne<br />

Berücksichtigung des Geschlechts <strong>und</strong> der<br />

Geschlechterverhältnisse <strong>und</strong>enkbar.<br />

Die aus dem Zusammenhang von Geschlechterzugehörigkeit <strong>und</strong><br />

Sozialerfahrung resultierenden anthropogenen <strong>und</strong><br />

soziokulturellen Voraussetzungen der Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

haben Auswirkungen auf das Lehren <strong>und</strong> Lernen. So bietet es<br />

sich in vielen Unterrichtsfächern an, durch eine Fach<br />

angemessene Thematisierung der geschlechterspezifischen<br />

Sozialisationsprozesse die Fachkompetenz zu erhöhen <strong>und</strong><br />

zugleich identitätsbildend zu wirken. Trotzdem scheint die<br />

Implementation der Kategorie Geschlecht in die <strong>fachdidaktische</strong><br />

Auseinandersetzung noch längst nicht allgemeiner Standard zu<br />

sein.<br />

Differenzen zwischen den Geschlechtern existieren, bzw. werden<br />

auch durch unreflektierte Koedukation immer wieder erzeugt.<br />

Sie als soziokulturelle Differenzen zu verorten heißt, die<br />

unterschiedlichen Lebensweisen, Kulturen, Lebenserfahrungen,<br />

Sicht- <strong>und</strong> Verarbeitungsweisen wahrzunehmen <strong>und</strong> für die<br />

Lernprozesse nutzbar zu machen. Geschlecht ist sowohl eine<br />

soziale Konstruktion als auch eine soziale Tatsache. Bei<br />

curricularen Überlegungen die Analysekategorie "Geschlecht" zu<br />

berücksichtigen heißt davon auszugehen, dass<br />

3


• man nicht als Mann <strong>und</strong> Frau zur Welt kommt, sondern dass<br />

man es wird,<br />

• die Kategorie "Geschlecht" in sex <strong>und</strong> gender (biologisches <strong>und</strong><br />

soziales Geschlecht) zu unterscheiden ist,<br />

• mit der kulturellen Konstruktion von verschiedenen<br />

Geschlechtern nicht nur Zuschreibungen von Merkmalen,<br />

Eigenschaften, Handlungsfeldern erfolgen, sondern<br />

Machtverhältnisse (damit sind keine dichotomen Opfer- Täter -<br />

Denkmuster gemeint) konstituiert, institutionalisiert <strong>und</strong><br />

reproduziert werden,<br />

• die Kategorie "Geschlecht" auch auf die<br />

Perspektivabhängigkeit analytischer Betrachtungen der<br />

Lebenswelt aufmerksam macht.<br />

Wenn die zukünftigen Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer durch das<br />

Studium der Fachdidaktik, der Erziehungswissenschaft <strong>und</strong> der<br />

Fach-wissenschaft verstanden haben, wie die kulturellen<br />

Konstrukte von 'Männlichkeit' <strong>und</strong> 'Weiblichkeit' im<br />

Interaktionszusammenhang entstehen, wie sie Wirklichkeit<br />

konstituieren <strong>und</strong> wieder rückwirkend das Weltverstehen der<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen beeinflussen, kann Unterricht zum<br />

Korrektiv der Wirklichkeitswahrnehmung der Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler werden. Das erfordert von den Lehrenden, Rückschlüsse<br />

aus den individuellen Konstruktionsschemata der Kinder ziehen<br />

zu können <strong>und</strong> auch kritisch mit der eigenen<br />

Geschlechtersozialisation umzugehen. Wird die<br />

Geschlechterzugehörigkeit ignoriert <strong>und</strong> bleiben die damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Zuschreibungen <strong>und</strong> Erwartungen unreflektiert, so<br />

werden die Lernumwelten <strong>und</strong> sozialen Erfahrungen von<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen nur unzureichend berücksichtigt. Wenn die<br />

zur "Normalität" des Schulalltags gehörenden Sexismen, die die<br />

unterschiedliche Wertschätzung der Geschlechter in der<br />

Gesellschaft widerspiegeln <strong>und</strong> sich nicht selten in abwertenden<br />

Urteilen <strong>und</strong> Begriffen äußern, als Lerngegenstand ungenutzt<br />

bleiben, werden Vorurteile gefestigt <strong>und</strong> weitergereicht. Die<br />

Hauptaufgabe des Unterrichts ist es aber, die Kinder bei der<br />

Selbstaneignung der Welt unterstützend zu begleiten. Diese<br />

Selbstaneignung der Welt beinhaltet auch die Entwicklung einer<br />

Vorstellung von Geschlecht <strong>und</strong> Geschlechter gerechtem<br />

Verhalten. Dabei spielen neben den eingesetzten Medien im<br />

4


Unterricht auch die Vorstellungen <strong>und</strong> Werte der Lehrkräfte<br />

eine entscheidende Rolle <strong>und</strong> weisen häufig synergetische<br />

Effekte auf. So werden Frauen in Gr<strong>und</strong>schullehrbüchern nach<br />

wie vor in scheinbar typischen Geschlechtsrollen dargestellt <strong>und</strong><br />

Lehrkräfte reagieren auf die Heterogenität der Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler oft unsicher <strong>und</strong> ratlos angesichts widerstreitender<br />

Motive im Sinne einer propagierten Gleichberechtigung <strong>und</strong><br />

eigenen, die Ungleichheit <strong>und</strong> Ungleichwertigkeit der<br />

Geschlechter tradierenden Sozialisationserfahrungen. Die<br />

Geschlechterperspektive hat daher für jedes Unterrichtsfach<br />

zentrale Bedeutung, weil erst die Reflexion dieser Prozesse einen<br />

bewussten <strong>und</strong> souveränen Umgang mit der Problematik<br />

ermöglicht.<br />

In diesem <strong>Heft</strong> der <strong>Vechtaer</strong> <strong>fachdidaktische</strong>n <strong>Forschungen</strong><br />

stehen daher Überlegungen im Mittelpunkt, die die<br />

naturwissenschaftlichen Lernprozesse der Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

in der Gr<strong>und</strong>schule betreffen. Es werden Fragen der eigenen<br />

Lebensplanung ins Zentrum der Überlegungen gerückt <strong>und</strong> die<br />

Rolle der Schulbücher untersucht. Mit Blick auf die<br />

Heterogenität heutiger Schulklassen wird auf die Rolle des<br />

Geschlechts verwiesen <strong>und</strong> es werden Fragen für den<br />

koedukativen Sportunterricht aufgeworfen. Am Beispiel der<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen an der Laborschule Bielefeld<br />

werden Möglichkeiten geschlechtshomogener Arbeitsformen<br />

vorgestellt.<br />

Die hier veröffentlichten Vorträge wurden im Sommersemester<br />

2007 von namhaften Referentinnen im Rahmen der<br />

Vortragsreihe „Fachdidaktik <strong>und</strong> Geschlecht“ an der Hochschule<br />

Vechta gehalten. Initiiert <strong>und</strong> organisiert wurde diese Reihe von<br />

der Kommission für Frauenförderung <strong>und</strong> Gleichstellung (KFG)<br />

sowie dem Gleichstellungsbüro. Die unterschiedlichen<br />

Herkunftsdisziplinen der Referentinnen ermöglichen eine<br />

interdisziplinäre Perspektive auf das Thema <strong>und</strong> wir hoffen,<br />

damit vielfältige Denkanstöße geben zu können. Allen<br />

Beteiligenten danken wir noch einmal ausdrücklich für ihr<br />

Engagement.<br />

Marlies Hempel (KFG) <strong>und</strong> Lydia Kocar (Gleichstellungsbeauftragte)<br />

5


Zum Umgang mit Heterogenität im Unterricht<br />

Marita Kampshoff<br />

Das Thema Heterogenität hat seit einigen Jahren in<br />

verschiedenen<br />

erziehungswissenschaftlichen<br />

Diskussionszusammenhängen Konjunktur. Seit der<br />

Veröffentlichung der ersten PISA- Ergebnisse 2001 wurde<br />

deutlich, dass das deutsche Bildungssystem die<br />

Unterschiedlichkeit der Lernenden nur unzulänglich<br />

berücksichtigt. Andere Länder sind beim Umgang mit einer<br />

vielfältigen Schülerschaft erfolgreicher.<br />

Im deutschen Bildungssystem wird viel dafür getan, immer<br />

wieder eine möglichst große Homogenität der Lernenden<br />

herzustellen. Tillmann (2004) nennt als Beispiele dafür die<br />

Zurückstellung vom ersten Schuljahr, die Klassenwiederholung,<br />

die Sonderschulüberweisung <strong>und</strong> die Übergangsauslese am Ende<br />

der Gr<strong>und</strong>schulzeit. Die Schulen versuchen durch diese<br />

Maßnahmen vor allem eine Sicherung der Leistungshomogenität<br />

zu gewährleisten, in dem die Heterogenität ‚nach unten‘, also in<br />

Richtung Leistungsschwächere, abgeschnitten wird.<br />

Allerdings wird diese Leistungshomogenität nicht erreicht: In<br />

den verschiedenen Schulformen der Sek<strong>und</strong>arstufe etwa findet<br />

sich eine große Überlappung bei den erbrachten Leistungen.<br />

Auch Zurückstellungen <strong>und</strong> Klassenwiederholungen erreichen<br />

nicht das eigentlich anvisierte Ziel. Die ausgesonderten<br />

Lernenden finden keinen Anschluss an ein mittleres<br />

Leistungsniveau, sondern ein Fördereffekt bleibt bei den beiden<br />

Maßnahmen meistens aus.<br />

Neben diesen – gemessen an den eigentlichen Zielen –<br />

Misserfolgen der Selektion hat sie auch eine weitere<br />

problematische Seite. Eigentlich soll die Selektion ja nach dem<br />

Kriterium Leistung erfolgen. Neben diesem offiziellen gibt es<br />

aber noch ein verdecktes Selektionskriterium, die soziale<br />

Auslese. Schüler/innen aus der Bildungsferne oder mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> werden dabei benachteiligt. Aus der<br />

Kunstfigur des ‚katholischen Arbeitermädchens vom Lande‘, das<br />

in den 1970er Jahren die Benachteiligungen damaliger<br />

6


Lernender in sich vereinigte, ist heute der ‚Großstadtjugendliche<br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong>‘ geworden.<br />

Zumindest was die Bildungsbeteiligung <strong>und</strong> die Schulabschlüsse<br />

angeht, finden sich viele Hinweise darauf, dass die Bildungswege<br />

einer Reihe von Jungen als problematisch angesehen werden<br />

müssen.<br />

Viele Vertreter/innen der Bildungsforschung sehen darin, dass<br />

die Schulen sich auf die Heterogenität ihrer Schülerschaft<br />

einlassen, eine wichtige Voraussetzung dafür, dass alle<br />

Lernenden möglichst hohe Kompetenzen erwerben. Vorbildlich<br />

sind in dieser Hinsicht die Schulsysteme Finnlands, Schwedens<br />

oder Kanadas, die seit dem Beginn des 21. Jh. vielfältige<br />

Aufmerksamkeit erfahren.<br />

Das Thema Heterogenität spielt also in der Bildungsforschung<br />

bzw. Schulleistungsforschung eine wichtige Rolle. Das Thema<br />

wird aber auch von Vertreter/innen anderer Forschungsbereiche<br />

der Erziehungswissenschaft diskutiert, die ich hier nur kurz<br />

benennen möchte:<br />

• die allgemeine Didaktik,<br />

• die Geschlechterforschung,<br />

• die Integrationspädagogik,<br />

• die Interkulturelle Pädagogik,<br />

• die Gr<strong>und</strong>schulpädagogik (hier vor allem beim Thema neue<br />

Schuleingangsphase),<br />

• die neue Kindheitsforschung <strong>und</strong> <strong>Forschungen</strong> im Rahmen des<br />

Wandels von Kindheit,<br />

• die Schulentwicklungsforschung,<br />

• die Qualitätsdiskussion (Stichwort Managing Diversity)<br />

• die Unterrichtsforschung <strong>und</strong> last but not least<br />

• die Lehrer/innenbildung.<br />

Durch den Begriff Heterogenität wird der Geschlechterforschung,<br />

die im vorliegenden Band zum Thema ‚Kategorie Geschlecht in<br />

der Fachdidaktik‘ im Zentrum steht, eine Vielzahl von<br />

Perspektiven beiseite gestellt. Dies ist für die<br />

Geschlechterforschung nichts Neues, muss sie sich doch schon<br />

seit den 1980er Jahren – damals noch als Frauenforschung –<br />

damit auseinandersetzen, dass ihr von Arbeitertöchtern oder<br />

7


schwarzen Frauen vorgeworfen wurde, sie sei einseitig an weißen<br />

bürgerlichen Mittelschichtfrauen orientiert.<br />

Die Vielschichtigkeit, die im Begriff Heterogenität mitschwingt,<br />

könnte also theoretisch eine Bereicherung für die Frage des<br />

Umgangs mit einer vielfältigen Schüler/innenschaft im<br />

Unterricht sein. Ein anderer Theorieansatz ist die in der<br />

Soziologie entwickelte Intersektionalität. Dieser Ansatz wird<br />

allerdings m.W. in der auf Schule bezogenen Literatur noch<br />

wenig diskutiert (vgl. aber Krüger-Potratz/Lutz 2002).<br />

Zum Aufbau meines Beitrages: Inwiefern die theoretische<br />

Bereicherung durch die Veröffentlichungen zur Heterogenität<br />

auch eingelöst wird, werde ich im Folgenden beleuchten.<br />

Ich werde mit der Lehrer/innenbildung den Einstieg in das<br />

Themengebiet beginnen. Ganz fortschrittlich wird in vielen<br />

Dokumenten zur Lehrer/innenbildung der Umgang mit<br />

Heterogenität berücksichtigt. Theoretisch bleibt hier jedoch noch<br />

einiges unklar. Darum werde ich mit Hilfe weiterführender<br />

Literatur eine Definition des Begriffes Heterogenität vornehmen.<br />

Dabei wird ein Spannungsverhältnis zwischen homogen <strong>und</strong><br />

heterogen, veränderlich <strong>und</strong> unbestimmbar herausgearbeitet, zu<br />

dem auch die Geschlechterforschung Beiträge geleistet hat. Diese<br />

Beiträge wurden im Rahmen der Kritik an der Kategorie<br />

Geschlecht entwickelt. Diese Kritik zu berücksichtigen ist nicht<br />

nur im Umgang mit Mädchen <strong>und</strong> Jungen, sondern auch in<br />

Hinsicht auf andere Aspekte der Heterogenität der<br />

Schüler/innenschaft wichtig. Negativbeispiele <strong>und</strong> Vorschläge<br />

zum Umgang mit Heterogenität im Unterricht, die in der<br />

schulischen Geschlechterforschung gemacht wurden, können<br />

auch für andere Differenzlinien fruchtbar gemacht werden.<br />

1<br />

Heterogenität in der Lehrer/innenbildung<br />

Viele Diskussionen im Rahmen der Lehrer/innenbildung kreisen<br />

in den vergangenen Jahren um die Entwicklung von Standards<br />

<strong>und</strong> die Ausrichtung an Kompetenzen für die Ausbildung der<br />

angehenden Lehrer/innen (vgl. Oser 1997, Terhart 2002, Lutz/<br />

8


Leiprecht 2003, KMK 2004). Dabei wird das Ziel verfolgt, einen<br />

Beitrag zur Verbesserung der Lehrer/innenbildung zu leisten.<br />

Mit der Formulierung von Standards wird die Hoffnung<br />

verknüpft, verbindliche Inhalte in der<br />

erziehungswissenschaftlichen Ausbildung von Lehrer/innen<br />

festzuhalten. Kompetenzen werden benannt, um das zu schärfen,<br />

was Lehrende am Ende des Studiums bzw. Referendariats<br />

können sollen. So soll einerseits der häufig kritisierten<br />

Beliebigkeit des Studiums entgegengewirkt werden <strong>und</strong> es soll<br />

andererseits eine starke Ausrichtung auf das Berufsfeld der<br />

angehenden Lehrkräfte erfolgen.<br />

Inwiefern dies gelingt oder nicht, ist eine Frage, die hier nicht<br />

diskutiert werden soll. Die Einführung von Standards/<br />

Kompetenzen ist deshalb im Rahmen meines Beitrages<br />

interessant, da bei fast allen Ansätzen <strong>und</strong> Empfehlungen bzw.<br />

in der konkreten Ausformulierung von Standards <strong>und</strong><br />

Kompetenzen auch die Heterogenität der Schüler/innen erwähnt<br />

wird.<br />

Terhart listet sie als inhaltlicher Aspekt der Lehrer/innenbildung<br />

auf unter dem Punkt „Lernschwierigkeiten, Heterogenität <strong>und</strong><br />

Leistungsbeurteilung“ (Terhart 2002, S. 34). Bei ihm scheint<br />

Heterogenität also etwas damit zu tun zu haben, dass Lernende<br />

nicht alle gleichschrittig in der Schule vorankommen, sondern<br />

für verschiedene Schüler/innen, wird ihre Heterogenität nicht<br />

ausreichend berücksichtigt, Schwierigkeiten auftauchen, die sich<br />

auch im Rahmen der Leistungsbeurteilung niederschlagen.<br />

Auch im niedersächsischen Kultusministerium findet sich ein<br />

Hinweis auf Schwierigkeiten, ohne dass ich dazu eine<br />

vollständige Recherche angestellt hätte: Bei einer<br />

Stichwortsuche zu Heterogenität auf der Homepage des<br />

Kultusministeriums finden sich Hinweise auf PISA, Schulen mit<br />

der neuen Eingangsstufe, die Förderung von Schüler/innen mit<br />

besonderen Schwierigkeiten, didaktisch-methodische<br />

Empfehlungen für die Sprachförderung vor der Einschulung <strong>und</strong><br />

ein Erlass ‚Sonderpädagogische Förderung‘.<br />

Die KMK listet konkret Kompetenzen auf (KMK 2004, S. 9). Im<br />

theoretischen Ausbildungsabschnitt der Lehrer/innenbildung<br />

sollen die Absolvent/innen kennen...<br />

9


• „... pädagogische, soziologische <strong>und</strong> psychologische Theorien<br />

der Entwicklung <strong>und</strong> der Sozialisation von Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen.<br />

• Kennen etwaige Benachteiligungen von Schüler/innen beim<br />

Lernprozess <strong>und</strong> Möglichkeiten der pädagogischen Hilfen <strong>und</strong><br />

Präventivmaßnahmen.<br />

• Kennen interkulturelle Dimensionen bei der Gestaltung von<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsprozessen.<br />

• Kennen die Bedeutung geschlechtsspezifischer Einflüsse auf<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsprozesse.“<br />

Für die praktischen Ausbildungsabschnitte lautet der Text: „Die<br />

Absolventinnen <strong>und</strong> Absolventen...<br />

• Erkennen Benachteiligungen <strong>und</strong> realisieren pädagogische<br />

Hilfen <strong>und</strong> Präventionsmaßnahmen.<br />

• Unterstützen individuell.<br />

• Beachten die kulturelle <strong>und</strong> soziale Vielfalt in der jeweiligen<br />

Lerngruppe.“<br />

Auch hier stehen wiederum Benachteiligungen im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Zusätzlich geraten noch verschiedene Differenzlinien in den<br />

Blick. Wie ich später noch zeigen werde, ist dies nicht<br />

unproblematisch, da hier Essentialisierungen <strong>und</strong><br />

Festschreibungen be-günstigt werden können. Buddensiek u.a..<br />

(2005) umgehen genau diese, indem sie in die Beschreibung der<br />

Kompetenzen für den Umgang mit Heterogenität auch die<br />

Relativität der Differenzlinien <strong>und</strong> Strukturkategorien mit<br />

aufgreifen.<br />

Die DGfE umschreibt die Thematik Heterogenität mit den<br />

Aspekten Gleichheit <strong>und</strong> Differenz, ordnet sich damit m.E. in die<br />

Diskussion ein, die bereits seit den 1990er Jahren in den<br />

Erziehungswissenschaften diskutiert wird (vgl. Gerhardt 1990,<br />

Prengel 1993). Auf diese komme ich noch einmal zurück.<br />

In der aktuellen Lehramtsprüfungsordnung von NRW 2003 wird<br />

wie bei der KMK beschrieben, welche Kompetenz den<br />

Lehramtsstudierenden durch ihr Studium vermittelt werden soll.<br />

Hier ist von „Befähigung zum Umgang mit Verschiedenheit“ die<br />

Rede. Diese ist für „Unterricht <strong>und</strong> Erziehung, Beurteilung <strong>und</strong><br />

Diagnostik sowie Evaluation <strong>und</strong> Qualitätssicherung“ von<br />

Bedeutung. Die Heterogenität ist hier weniger ein spezieller<br />

10


Problemfall als eine Normalität, die sich heutigen <strong>und</strong><br />

zukünftigen Lehrer/innen stellt.<br />

Für die Hamburger Kommission für Lehrer/innenbildung ist es<br />

die größte Herausforderung <strong>und</strong> die größte Neuerung in der<br />

aktuellen Diskussion, dass der Umgang mit sozialer <strong>und</strong><br />

kultureller Heterogenität als „Normalfall“ gelten soll <strong>und</strong> ein<br />

homogenisierender <strong>und</strong> zielgruppengerichteterer<br />

kompensatorischer Umgang mit Differenz (vgl. Lutz/Leiprecht<br />

2003, S. 115) überw<strong>und</strong>en werden soll. Die Kommission<br />

empfiehlt, die Wahrnehmung <strong>und</strong> den Umgang mit Differenz zur<br />

Querschnittsaufgabe zu machen.<br />

In den Rahmenvorgaben zur Entwicklung von Kerncurricula, die<br />

das nordrhein-westfälische MSJK 2004 veröffentlicht hat, ist der<br />

Umgang mit Verschiedenheit nicht nur Normalität, sondern<br />

sogar eine Chance. Heterogenität soll als Chance wahrgenommen<br />

werden. Explizit genannt werden dabei die Möglichkeiten, die in<br />

reflektierter Koedukation, interkultureller sowie integrativer<br />

Erziehung <strong>und</strong> Bildung liegen.<br />

Schon ein kurzer Blick in die verschiedenen Beschreibungen von<br />

Standards <strong>und</strong> Kompetenzen weist also darauf hin, dass das<br />

Themenfeld Heterogenität in der Lehrer/innenbildung einige<br />

Ungereimtheiten <strong>und</strong> Widersprüchlichkeiten auf der<br />

Theorieebene mit sich bringt. Festhalten lässt sich bislang, dass<br />

Heterogenität im Rahmen der Standard/ Kompetenzen-Debatte<br />

zum einen als inhaltlicher Aspekt der Lehrer/innenbildung<br />

verstanden wird, zum anderen wird durch die Betonung des<br />

pädagogischen Handelns, nämlich beim Umgang mit<br />

Heterogenität, eine Kompetenz angesprochen, die angehende<br />

Lehrer/innen erwerben sollen. Dieser Umgang mit Heterogenität<br />

scheint für manche Lehrerbildner/innen/ Theoretiker/innen eine<br />

Problematik bzw. Schwierigkeit zu bergen oder auf<br />

Benachteiligungen bestimmter Gruppen von Lernenden<br />

hinzuweisen. Von anderen hingegen wird die Heterogenität als<br />

Chance <strong>und</strong> Normalität gesehen. Als Drittes wird zum einen auf<br />

Dimensionen hingewiesen, in denen Differenzen bedeutsam sind.<br />

Genannt werden Lernende, die pädagogische Hilfen brauchen,<br />

Lernende mit besonderem kulturellen oder sozialen Hintergr<strong>und</strong><br />

sowie die Bedeutung der Geschlechtersozialisation. Zum anderen<br />

finden sich Positionen, in denen beim Stichwort Heterogenität<br />

11


auf das Spannungsverhältnis zwischen Differenz <strong>und</strong> Gleichheit<br />

hingewiesen wird bzw. auf die Relativität von Differenzlinien<br />

<strong>und</strong> Strukturkategorien.<br />

2<br />

Der Begriff Heterogenität<br />

Um die Ungereimtheiten <strong>und</strong> Widersprüchlichkeiten, die sich<br />

eben auf der theoretischen Ebene gezeigt haben, zu klären, wird<br />

im Folgenden gesichtet, welche theoretischen Ansätze sich in<br />

aktuellen Veröffentlichungen zum Thema Heterogenität finden<br />

lassen <strong>und</strong> inwiefern diese weiterführend sein können.<br />

Heterogen bedeutet dem Wortsinn nach eigentlich ‚verschiedenen<br />

Ursprungs‘. Homogen heißt ‚gleichen Ursprungs‘.<br />

In diesem Sinn wird das Wort aber nicht verwendet. Von der<br />

Groeben (2003, S. 6ff.) geht davon aus, Heterogenität werde als<br />

Synonym für Unterschiedlichkeit verwendet. Damit ist aber<br />

nicht eine bestimmte Unterschiedlichkeit gemeint, sondern ein<br />

„Etikett auf dem Sammelbecken einer diffusen Gemengelage“.<br />

Dementsprechend werden von der Autorin auch verschiedene<br />

Aspekte für Heterogenität aufgezählt: Unterschiedlichkeit der<br />

Elternhäuser, der Herkünfte, der sozialen Umwelten, der<br />

biographischen, kulturellen <strong>und</strong> ethnisch codierten<br />

Hintergründe, der Orientierungen, Wertvorstellungen <strong>und</strong><br />

Moral.<br />

Heyer u.a. 2003 meinen, dass mit Heterogenität sehr<br />

Unterschiedliches gemeint sein kann. Es kann den Autoren nach<br />

die Unterschiede in den kognitiven Lernvoraussetzungen<br />

meinen, die Unterschiede in sprachlichen oder sozialen<br />

Kompetenzen, Unterschiede in Interessen, Neigungen,<br />

Erwartungen <strong>und</strong> Leistungsmotivation. Unterschiede in<br />

physischen <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Voraussetzungen, im Alter,<br />

Unterschiede von Traditionen, Wertmustern <strong>und</strong> Normen je nach<br />

sozialem <strong>und</strong> kulturellem Hintergr<strong>und</strong> der Familien <strong>und</strong><br />

Unterschiede bei den Wirkungen der Geschlechtersozialisation.<br />

Ihr Verständnis von Heterogenität ist weniger das eines<br />

12


Sammelbeckens als eher das verschiedener Becken, die alle<br />

gleich bezeichnet werden können 1 .<br />

Becker u.a. 2004 verstehen unter Heterogenität, dass die<br />

Lerngruppen in der Schule bunter geworden sind. Dies hängt mit<br />

dem gesellschaftlichen Wandel von Lebenszusammenhängen,<br />

Familienformen, Normalbiographien, nationalen <strong>und</strong> religiösen<br />

Herkünften zusammen. Daraus resultierende Erfahrungen der<br />

Schulkinder sind bunter, vielfältiger, disparater als früher.<br />

Kinder leben sehr unterschiedlich, sprechen andere Sprachen,<br />

sind behütet oder verwahrlost u.v.m. All dies meint den Autoren<br />

nach Heterogenität, es bezeichnet die Verschiedenheit der<br />

Kinder.<br />

Allen drei Autorinnen bzw. Autorengruppen ist gemeinsam, dass<br />

Heterogenität als eine Art Schlagwort für die Unterschiedlichkeit<br />

der Kinder verwendet wird, die aufgr<strong>und</strong> des gesellschaftlichen<br />

Wandels der letzten 30-40 Jahre auch in die Klassenzimmer<br />

Einzug gehalten hat. Darüber hinaus wird von allen hier<br />

genannten Autor/innen mit Heterogenität nicht eine bestimmte<br />

Unterschiedlichkeit, sondern eine Vielzahl von möglichen<br />

Aspekten angesprochen. Eine nähere Auseinandersetzung mit<br />

diesem Begriff oder ein Ausleuchten der Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Grenzen der Verwendung dieser Begrifflichkeit findet sich nicht.<br />

Hier ist der Vorschlag von Heinzel/Prengel (2002) weiterführend.<br />

Die beiden Autorinnen entwickeln den Begriff Heterogenität in<br />

einer Vielschichtigkeit, die von den bislang erwähnten<br />

Autor/innen nicht erfasst wurde.<br />

In insgesamt fünf Dimensionen sehen sie Heterogenität.<br />

• Erstens meint Heterogenität (wie ja auch die anderen<br />

betonten) Verschiedenheit. Heinzel/ Prengel sehen diese<br />

Verschiedenheit jedoch in einem Spannungsverhältnis zu<br />

einer Gleichheitsaussage, die hinter Aussagen zu Differenz<br />

stehen. Wenn zum Beispiel die sprachliche Verschiedenheit<br />

von Kindern betont wird, ist die gemeinsame Gr<strong>und</strong>lage die<br />

Sprache selbst. Bei der Differenz zwischen Kindern <strong>und</strong><br />

1 Dieser Eindruck verstärkt sich auch durch Sammelbände, die zwar den Begriff<br />

Heterogenität im Titel führen, sich aber nur mit einem Aspekt, z.B. nur mit<br />

interkultureller Pädagogik beschäftigen.<br />

13


Erwachsenen steht als Gleichheitsaussage die verbindende<br />

Auffassung dahinter, dass beide Menschen sind usw. Hier<br />

wird das eben angeführte Spannungsverhältnis zwischen<br />

Gleichheit <strong>und</strong> Differenz wieder aufgegriffen.<br />

• Zweitens wird von Heinzel/Prengel mit dem Begriff<br />

Heterogenität eine Veränderlichkeit oder Dynamik erfasst.<br />

Hier ist das Prozesshafte, sich Entwickelnde im Blick, der<br />

Wandel von Menschen. Wir bleiben uns niemals völlig gleich,<br />

sondern verändern uns während der Lebensspanne.<br />

• Drittens ist mit Heterogenität etwas Unbestimmbares<br />

verb<strong>und</strong>en. Das was unbegreiflich, unvorhersehbar oder<br />

unsagbar ist. Begriffe, Definitionen <strong>und</strong> Forschungsergebnisse<br />

können nicht die Realität abbilden. Stets existieren Aspekte<br />

eines Forschungsgegenstandes, die nicht erfasst wurden oder<br />

der Gegenstand ändert sich während seiner Untersuchung.<br />

Aussagen über Menschen bleiben somit immer begrenzt,<br />

unvollständig oder vorläufig. Daraus ergibt sich die Forderung<br />

nach einer Offenheit für Unbestimmtes oder<br />

Unvorhergesehenes. Jegliche etikettierenden Zuschreibungen<br />

müssen aus dieser Perspektive abgelehnt werden.<br />

Die drei bislang genannten Aspekte verbindet die Abgrenzung zu<br />

Homogenität <strong>und</strong> Hierarchiebildung. „Monistische,<br />

identifizierende, klassifizierende, linear vergleichende <strong>und</strong><br />

hierarchisierende Denkweisen werden kritisiert“ (12).<br />

Heterogenität birgt jedoch laut den beiden Autorinnen auch<br />

Schattenseiten:<br />

• Viertens nennen sie als Kritikpunkt die ‚postmoderne<br />

Beliebigkeit‘. Das Ungeordnete, Chaotische, Irrationale <strong>und</strong><br />

Unverbindliche wird hier angesprochen sowie die Befreiung<br />

aus Bindungen <strong>und</strong> die Unfähigkeit zu Verbindlichkeit. In der<br />

Pädagogik würde dies konsequent verfolgt letztlich bedeuten,<br />

dass sie auf Anforderungen <strong>und</strong> Normen verzichten müsste.<br />

‚Anything goes‘ lautet ein bekanntes Schlagwort, dass diese<br />

Seite der Heterogenität umschreibt.<br />

• Als Korrektiv dieser Gefahr entwickeln Heinzel/Prengel<br />

deshalb fünftens den Begriff der ‚Aufgeklärten Heterogenität‘:<br />

Zu den Personen, die als heterogen (im Sinne von verschieden,<br />

veränderlich <strong>und</strong> unbestimmbar) wahrgenommen werden,<br />

gelte es eine Beziehungsmöglichkeit auszuloten. Wird die<br />

14


Beziehungsmöglichkeit beim Betrachten der Heterogenität<br />

mitberücksichtigt, ist diese verb<strong>und</strong>en mit<br />

Gleichberechtigung, Toleranz, Dialog- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit.<br />

Für die Wissenschaft bedeutet dies, die Potenziale <strong>und</strong><br />

Grenzen eines jeden Forschungszuganges in den Blick zu<br />

nehmen. Für die Pädagogik heißt dies, Freiräume für<br />

Individualität zu schaffen, auf Normen <strong>und</strong> Anforderungen<br />

nicht zu verzichten, sondern sie transparent <strong>und</strong><br />

nachvollziehbar zu machen.<br />

Hierarchien, wenn sie auch nicht immer abgebaut werden<br />

können, sollten zumindest gemildert werden, es gelte sowohl<br />

den Einzelfall zu verstehen als auch ein generalisierendes<br />

Wissen zu diesem in Beziehung zu setzen.<br />

Beim Blick auf die Lerngruppen, die bunter geworden sind, <strong>und</strong><br />

die Heterogenität, die in vielen Schulklassen Normalität<br />

geworden ist, wird durch den Ansatz der Autorinnen ein<br />

Spannungsverhältnis zwischen gleich <strong>und</strong> verschieden,<br />

veränderlich <strong>und</strong> unbestimmbar deutlich. Es geht um<br />

Beziehungsverhältnisse zwischen Lernenden untereinander <strong>und</strong><br />

zwischen Lernenden <strong>und</strong> Lehrenden. Diese sind teilweise durch<br />

Hierarchien gekennzeichnet, die nicht geleugnet werden dürfen,<br />

aber die gemildert werden sollen. Es geht um Individualität,<br />

aber auch um Anforderungen <strong>und</strong> Normen.<br />

Heterogenität wertschätzen ist nicht gleichzusetzen mit naivem<br />

Postulieren des Verschiedenen, sondern geht mit einer<br />

Sensibilität für Paradoxien von Bildung in der Moderne einher,<br />

die auch die Schule <strong>und</strong> den Unterricht durchdringen (vgl<br />

Prengel 2005). Was ist damit gemeint? Die ‚Aufgeklärte<br />

Heterogenität‘ bezieht die Erkenntnisse, die im Rahmen um<br />

Auseinandersetzungen mit Gleichheit <strong>und</strong> Differenz gewonnen<br />

wurden, mit ein. Dieses Spannungsverhältnis betont auch<br />

Wenning (2004) am Beispiel von Heterogenität <strong>und</strong><br />

Homogenität. Dieses Verhältnis darf seiner Ansicht nach nicht<br />

einseitig Richtung Heterogenität aufgelöst werden.<br />

Heterogenität <strong>und</strong> Homogenität sind wie zwei Seiten einer<br />

Medaille. Im Bildungswesen entsteht Heterogenität durch<br />

gleiche Anforderungen an Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, die mit<br />

unterschiedlichen Vorbedingungen in die Schule kommen. Die<br />

Heterogenisierung ist also die Kehrseite der Homogenisierung.<br />

15


Hinter dieser Homogenisierung steht aber z.B. das Recht auf<br />

Bildung <strong>und</strong> gleiche Rechte für alle Schüler/innen <strong>und</strong> somit die<br />

Idee der Chancengleichheit. Homogenität hat in diesem Sinne<br />

eine demokratische Funktion. Was fehlt, ist die Akzeptanz der<br />

Differenz <strong>und</strong> das Arbeiten mit dem Spannungsverhältnis von<br />

gleich <strong>und</strong> verschieden.<br />

3<br />

Kritik <strong>und</strong> Vorschläge aus der<br />

Geschlechterforschung<br />

Dieses Spannungsfeld gilt für alle Aspekte, die bislang zum<br />

Thema Heterogenität erwähnt wurden. Bereits lange diskutiert<br />

wird dieses Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit <strong>und</strong><br />

Verschiedenheit in der Geschlechterforschung, aber es finden<br />

sich auch Diskurse bei der Interkulturellen Pädagogik, der<br />

Integrationspädagogik, bei der so genannten ‚neuen Lernkultur‘,<br />

in der ein neuer Leistungsbegriff gefordert wird usw.<br />

Es geht immer einerseits darum, dass für bestimmte Gruppen<br />

gleiche Rechte <strong>und</strong> Möglichkeiten gefordert werden, andererseits<br />

aber auch die Verschiedenheit dieser Gruppen akzeptiert <strong>und</strong><br />

wertgeschätzt werden soll.<br />

Eine in der Geschlechter-, Integrations- <strong>und</strong> Interkulturellen<br />

Forschung entwickelte dritte Perspektive besagt, dass hinter<br />

diesen Konzepten essentialisierende, sozusagen wesensmäßige<br />

Annahmen stehen. Diese Sichtweise gelte es aufzudecken <strong>und</strong> zu<br />

hinterfragen. Eine theoretische Folgeentwicklung dieser Kritik<br />

ist, die sozialen Konstruktionsleistungen, in denen zum Beispiel<br />

Geschlecht oder eine natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit (vgl.<br />

Mecheril/Hoffarth 2006) sozusagen ‚hergestellt‘ wird,<br />

herauszuarbeiten. Das wird auch als doing gender oder doing<br />

ethnicity bezeichnet. Eine andere theoretische Konsequenz aus<br />

diesem Essentialismusvorwurf ist es, Geschlecht, Behinderung<br />

<strong>und</strong> Kultur nicht als sozial, sondern als diskursiv hervorgebracht<br />

zu betrachten (vgl. dazu etwa Fritzsche u.a. 2001). Diese beiden<br />

Theorierichtungen, die ich hier nur ganz kurz anschneiden<br />

werde, werden als Sozialkonstruktivismus <strong>und</strong> Dekonstruktion<br />

bezeichnet. Auch sie müssen sich mit dem Vorwurf der<br />

16


Beliebigkeit <strong>und</strong> Unfähigkeit zur Verbindlichkeit<br />

auseinandersetzen, die ich als Kritik am Begriff Heterogenität<br />

unter Punkt 4 schon erwähnt habe. Ein wichtiger<br />

Erkenntnisgewinn dieser beiden Theorierichtungen, <strong>und</strong> das<br />

wurde eben noch nicht so deutlich, liegt darin, dass die<br />

Geschlechterforschung auf die eigene Beteiligung an der<br />

Produktion der Geschlechterdifferenz, die interkulturelle<br />

Forschung an der Produktion von kulturellen Unterschieden <strong>und</strong><br />

die Sonderpädagogik an der Produktion von verschiedenen<br />

Behinderungen aufmerksam gemacht wurden.<br />

Ich werde dies kurz an der Kritik, die an der Kategorie<br />

Geschlecht formuliert wurde, beschreiben, um daran<br />

anschließend aktuelle Vorschläge zur Verwendung der Kategorie<br />

Geschlecht <strong>und</strong> zum Umgang mit Heterogenität zu diskutieren.<br />

Früher war alles einfacher: Was Mädchen <strong>und</strong> Frauen ausmacht<br />

<strong>und</strong> wer sie sind, war unbestritten. Mädchen/ Frauen galten als<br />

benachteiligt. Schuld war die Gesellschaft, d.h. Eltern,<br />

Erzieher/innen, Lehrer/innen, Werbung etc. Auch in Schule<br />

wurde dies auf vielfältige Weise bewiesen: In Untersuchungen<br />

wurde festgestellt, dass Mädchen weniger im Unterricht beteiligt<br />

<strong>und</strong> beachtet werden, in Schulbüchern werden sie weniger oder<br />

nur in stereotypisierender Weise dargestellt, Lehrende glauben<br />

von Mädchen, dass diese fleißig, aber nicht begabt seien, Jungen<br />

wären häufig faul, aber eigentlich die interessanteren, genialen<br />

Schüler. Jungen seien die Begabteren in Physik, Mädchen hätten<br />

vor allem sprachliche <strong>und</strong> soziale Kompetenzen.<br />

Während sich für diese <strong>und</strong> weitere Forschungsergebnisse bis<br />

heute immer wieder Bestätigungen finden lassen <strong>und</strong> sich dies<br />

zum Beispiel in unterschiedlichen Fächerwahlen der Lernenden<br />

beiderlei Geschlechts oder in geringerem Selbstwertgefühl der<br />

Mädchen niederschlägt, wird die Ausrichtung dieser <strong>und</strong><br />

ähnlicher Untersuchungen gleichzeitig massiv kritisiert.<br />

Wer zum Beispiel behauptet, die Interessen der Mädchen würden<br />

im Unterricht nicht berücksichtigt, hat natürlich insofern Recht<br />

als sich der Lernstoff in Physik etwa oftmals an dem orientiert,<br />

was vielen Jungen aus Spielen <strong>und</strong> Hobbies näher ist als vielen<br />

Mädchen. Gleichzeitig ist aber die Aussage, was Mädchen (oder<br />

Jungen) interessiert, an sich schon problematisch. Mädchen (oder<br />

Jungen) interessiert nämlich nicht alle das Gleiche. Dadurch,<br />

17


dass ihre Interessen aber auf etwas Bestimmtes festgelegt<br />

werden, werden sie zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung,<br />

Forschung ‚entdeckt‘ dann etwas, was sie im Vorfeld bereits<br />

bestimmt hat. Die Identifizierung der Mädchen- oder Jungeninteressen<br />

wird zur Festlegung <strong>und</strong> Etikettierung. Das Gleiche<br />

gilt für die anderen Unterschiede, die bislang erwähnt wurden.<br />

Differenzen zwischen Mädchen <strong>und</strong> Jungen bei den<br />

Schulleistungen, der Bildungsbeteiligung, der Beachtung im<br />

Unterricht <strong>und</strong> in den Schulbüchern etc. Nach Unterschieden<br />

zwischen Mädchen <strong>und</strong> Jungen zu suchen ist problematisch.<br />

Dadurch, dass Geschlechterdifferenzen vorausgesetzt werden,<br />

werden sie gewissermaßen im Gewande wissenschaftlicher<br />

Argumente verstärkt (vgl. Bilden/Dausien 2006, S. 8).<br />

Ein Ausweg aus dieser Lage ist auf die Weise möglich, dass<br />

neben den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten von<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen gesucht werden. Oder es werden weitere<br />

Aspekte neben der Geschlechtszugehörigkeit, wie etwa<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong>, soziale Herkunft, Alter etc. zu den<br />

Untersuchungen hinzugezogen (vgl. Bilden 2006). Beide<br />

Vorgehensweisen relativieren bzw. entkräften die<br />

Geschlechterdifferenz <strong>und</strong> verdeutlichen den Aspekt der<br />

historisch-sozialen Gewordenheit der Unterschiede oder -<br />

dekonstruktiven Theorieansätzen nach - die diskursive<br />

Hervorbringung dieser Differenz. Hier bewegen wir uns auch<br />

wieder nahe an dem, was in meinen Augen den Begriff der<br />

Heterogenität so reizvoll macht, dass die Vielschichtigkeit, die<br />

Helga Bilden hier anspricht, nämlich bereits enthalten ist.<br />

Eine weitere Vorgehensweise hat kürzlich Barbara Rendtorff<br />

(2006) vorgeschlagen. Sie kritisiert die Verwendung des Begriffes<br />

Differenz als „bis zur Unkenntlichkeit verdünnt“ (S. 128).<br />

Differenz, umgangssprachlich im Sinne von Unterschied<br />

verwendet, wird in der philosophischen Literatur unter dem<br />

Stichwort Differenzphilosophie völlig anders verwendet.<br />

Differenztheorien kritisieren identitätslogisches Denken. Beim<br />

Denken in Begriffen wird das Verallgemeinerte, das Gemeinsame<br />

hervorgehoben, das Besondere, Nicht-Identische fällt deshalb aus<br />

diesem Raster heraus. In der Schulpädagogik/Didaktik wird dies<br />

auch am Beispiel des Bildungskanons deutlich: Das, was als<br />

gr<strong>und</strong>legender Bildungsinhalt für die Heranwachsenden gesehen<br />

18


wird, verweist immer auch auf das Ausgeschlossene, Nicht-<br />

Berücksichtigte dieses Kanons.<br />

„Anliegen der Differenztheorie ist es immer, auf Verschiedenes<br />

nicht, wie gewohnt, mit Vergleichen <strong>und</strong> Bemessen zu reagieren,<br />

sondern die Verschiedenheiten von Menschen, das<br />

Unabgeschlossene <strong>und</strong> Unplanbare menschlicher Existenz<br />

anzunehmen <strong>und</strong> zur Gr<strong>und</strong>lage des Denkens zu machen.<br />

So betrachtet müsste Differenz eher aufgefasst werden als ein<br />

‚Riss‘ oder Spalt im Eindeutigen, als Irritation an einer Stelle, wo<br />

etwas nicht aufgeht oder zusammenpasst.“ (ebd., S. 129)<br />

Geschlechterdifferenz ist nach Rendtorff deshalb nicht als<br />

geschlechtliche Verschiedenheit zu verstehen, sondern die<br />

Tatsache des Geschlechtlichseins macht einen ‚Riss‘ in der<br />

Selbstgewissheit der Individuen aus.<br />

„Da ist etwas, was nicht begreiflich ist, eine Spannung, die sich<br />

nicht beruhigen lässt, die von der Unassimilierbarkeit des<br />

Anderen (seiner ‚Fremdheit‘) ausgeht.“ (ebd., S. 132)<br />

Beide Ebenen der Differenz, einerseits die gewöhnlichen<br />

Unterschiede (<strong>und</strong> Gemeinsamkeiten oder andere ‚Differenzen‘),<br />

andererseits die Unbestimmbarkeit <strong>und</strong> Unfassbarkeit der<br />

Differenz, werden auch bei der Definition des Begriffs<br />

Heterogenität von Prengel/ Heinzel erfasst. Hier schließt sich<br />

wiederum der Kreis <strong>und</strong> es wird deutlich, wie anspruchsvoll<br />

diese Bedeutung von Heterogenität ist.<br />

Hilfreich um diesen Anspruch einzulösen ist es nach Prengel<br />

(1999) die Perspektivitätstheorie (eine Erkenntnistheorie) zu<br />

Rate zu ziehen: Wir sehen immer nur Teilaspekte, haben einiges<br />

im Blick, anderes nicht. Bei diesen Perspektiven lässt sich<br />

beispielsweise fragen: Welchen Zugang zur Welt nehmen wir ein?<br />

Welches Erkenntnisinteresse haben wir? Wir können jeweils nur<br />

einen Ausschnitt wahrnehmen <strong>und</strong> beeinflussen. Dieser ist auch<br />

abhängig von gesellschaftlichen Konventionen. Und unsere<br />

Wahrnehmungshorizonte bleiben nicht immer gleich, sondern<br />

ändern sich.<br />

Auf Kategorisierungen muss dabei nicht ganz verzichtet werden.<br />

Aber es gilt hier verschiedene Ebenen zu beachten:<br />

1. Es gibt Gemeinsamkeiten, die alle Menschen verbinden<br />

(Natalität, Mortalität, Schmerz, Glück...).<br />

19


2. Es finden sich kollektive Verschiedenheiten (wie etwa<br />

Mädchen, Türke, Rollstuhlfahrerin).<br />

3. Es gibt gleichzeitig eine individuell je einzigartige<br />

Perspektive, jeder Mensch ist einzigartig (vgl. ebd.).<br />

Die eben beschriebenen Konflikte finden sich auf der kollektiven<br />

Ebene. Hier wird es immer wieder schwierig sein eine<br />

Zugehörigkeit zu betonen, ohne dabei zu etikettieren. Das gilt<br />

nicht nur für die Kategorie Geschlecht, sondern auch für viele<br />

andere wie etwa kulturelle Identität, Behinderung, aber auch die<br />

Begriffe Kindheit <strong>und</strong> Jugend werden dieser kritischen Analyse<br />

unterworfen.<br />

Eine wichtige Gr<strong>und</strong>lage ist, wie ich schon erwähnt habe, dass<br />

erstens Gleichheit für alle gilt <strong>und</strong> gleichzeitig jede Person als<br />

einzigartiges Individuum anerkannt wird. Die Kenntnisse über<br />

bestimmte Gruppen, die u.a. die Wissenschaft liefert, können<br />

dabei als Vorinformation, Fachwissen genutzt werden (vgl. ebd.).<br />

Dieses Regelwissen ist aber nur sinnvoll, wenn es für ein<br />

individualisierendes Fallverstehen genutzt wird. Wenn ich in<br />

meiner Klasse ein blindes Kind, Schüler/innen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> verschiedene Altersstufen habe,<br />

macht es Sinn, mich über die jeweiligen Forschungsergebnisse,<br />

auch über die der Geschlechterforschung zu informieren. Diese<br />

Ergebnisse kann ich jedoch nicht direkt auf meine Klasse<br />

übertragen. Ich habe es ja nicht mit statistischen Mittelwerten<br />

zu tun, sondern mit je individuell einzigartigen Kindern. Das<br />

Fachwissen kann die Gr<strong>und</strong>lage bieten für die Eröffnung von<br />

Fragen <strong>und</strong> Hypothesen, die ich mir mache. Dabei gilt es sich<br />

bewusst zu machen, hier nicht in die Falle des Etikettierens zu<br />

geraten. Dazu ist es sinnvoll, sich an die Kinder heranzutasten,<br />

sie als einzigartig wahrzunehmen <strong>und</strong> neugierig auf sie zu<br />

bleiben. So eröffnen sich immer neue Perspektiven auf die<br />

Kinder (vgl. ebd.).<br />

Ich halte diese Vorschläge von Annedore Prengel deshalb für die<br />

Frage nach dem Umgang mit Heterogenität im Unterricht für<br />

fruchtbar, weil sie nicht das Spannungsverhältnis <strong>und</strong> das<br />

Paradoxe <strong>und</strong> das Unauflösbare leugnet. Gleichzeitig macht sie<br />

jedoch konkrete Vorschläge, wie mit dieser Spannung<br />

umgegangen werden kann. Und sie wirft nicht alles, was uns in<br />

unserem Alltagsbewußtsein so vertraut ist, über den Haufen,<br />

sondern setzt an diesem an. Sozialkonstruktivistische <strong>und</strong><br />

20


dekonstruktivistische Ansätze sind da viel radikaler. Das kann<br />

auf der Theorieebene ein Vorteil sein, weil hier<br />

Verunsicherungen zu Bemühungen um völlig neuartige Ansätze<br />

führen können. Aber für die Praxis in Schule <strong>und</strong> Unterricht<br />

macht es sie m. E. sehr sperrig. Oder die Ergebnisse <strong>und</strong><br />

Erkenntnisse der Forschung führen nicht zu Vorschlägen, wie<br />

die pädagogische Praxis verbessert werden kann.<br />

4<br />

Negativbeispiele <strong>und</strong> konstruktive Vorschläge zum<br />

Umgang mit Heterogenität im Unterricht<br />

Wie lässt sich nun erfolgreich mit Heterogenität im Unterricht<br />

umgehen? Dazu zunächst einige Negativbeispiele, dann einige<br />

Vorschläge verschiedener Forscherinnen.<br />

Hannelore Faulstich-Wieland forscht seit vielen Jahrzehnten<br />

daran, eine reflexive Koedukation zu entfalten. Dabei untersucht<br />

sie auch die bestehende Praxis <strong>und</strong> wie heutige Lehrer/innen mit<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen in Unterricht umgehen. In ihrem<br />

abgeschlossenen Projekt zum Doing gender in Gymnasien (das<br />

Forscherinnenteam arbeitet also mit sozialkonstruktivistischen<br />

Geschlechtertheorien) beschreiben die Autor/innen<br />

stereotypisierende Haltungen bei Lehrenden aller drei von ihnen<br />

untersuchten Klassen (vgl. Faulstich-Wieland u.a. 2004).<br />

Die subjektiven Theorien der Lehrenden beruhen auf<br />

Beschreibungen, wie Mädchen <strong>und</strong> Jungen wahrgenommen<br />

werden. Diese sind geschlechterdifferent <strong>und</strong> am sozialen<br />

Geschlecht der Lernenden festgemacht. Differenzierungen<br />

innerhalb der Gruppe der Mädchen bzw. der Jungen werden<br />

ausgeklammert. Dies ist den Lehrenden oftmals unbewusst.<br />

Faulstich-Wieland u.a. haben diese Haltungen, Einstellungen<br />

<strong>und</strong> Praktiken in den Auswertungen der Unterrichtsprotokolle<br />

oder Interviews mit Lehrer/innen herausgearbeitet.<br />

Die Forscherinnen (S. 223ff.) haben die Lehrenden auch direkt<br />

nach ihren Umgangsformen mit Schüler/innen befragt. Hier<br />

wurde also gezielt nach den pädagogischen Absichten, die die<br />

Lehrenden haben, gefragt. In den Gesprächen mit den<br />

Lehrenden schälen sich zwei beabsichtigte Formen des<br />

Umganges mit dem sozialen Geschlecht der Lernenden heraus.<br />

21


Erstens: Eine Gruppe glaubt von sich, „genderfree“ zu agieren,<br />

Jugendliche also ohne Bezugnahme auf ihre<br />

Geschlechtszugehörigkeit gleich zu behandeln. Zweitens: Eine<br />

weitere Gruppe Lehrender möchte Benachteiligungen<br />

ausgleichen <strong>und</strong> achtet zu diesem Zweck bewusst auf die<br />

Geschlechterdifferenzen.<br />

„Beide Gruppen tragen letztlich bei zur Reproduktion des<br />

Geschlechterverhältnisses (...). Die erste Gruppe bleibt in<br />

ihrem alltäglichen Handeln ebenso in die doing gender<br />

Prozesse involviert wie die Schüler/innen <strong>und</strong> Schüler selbst<br />

<strong>und</strong> reproduziert dabei die „normalen“ Geschlechterbilder. Die<br />

zweite Gruppe dramatisiert die Differenzen in doppelter<br />

Hinsicht: Zum einen erlaubt die klare Unterscheidung der<br />

Geschlechter nur schwer die Wahrnehmung der<br />

Differenzierungen innerhalb der Gendergruppen. Zum anderen<br />

erzwingt sie mindestens teilweise ein stereotypes doing gender<br />

durch die Schüler/innen <strong>und</strong> Schüler.“ (ebd., S. 224)<br />

Beide Haltungen erweisen sich also als ungeeignet,<br />

Stereotypisierungen zu vermeiden.<br />

Diese Erkenntnisse zu subjektiven Theorien von Lehrer/innen<br />

lassen sich auch auf andere Differenzen übertragen:<br />

Unterschiede zu leugnen oder Unterschiede kompensieren zu<br />

wollen, führt nicht zum gewünschten Erfolg. Unter der Hand<br />

wird auf beide Arten, mit der Heterogenität der Lernenden<br />

umzugehen, die Differenz bestätigt oder sogar dramatisiert.<br />

Auch Kreienbaum/Urbaniak (2006) gehen zunächst auf einige<br />

etablierte Umgangsweisen mit der Kategorie Geschlecht im<br />

schulischen Alltag ein, die sie als wenig gelungen betrachten.<br />

Nicht gut sei es, das Geschlecht selbst zum Thema zu machen.<br />

Das Gespräch ändert keine Verhaltensweisen von<br />

Heranwachsenden. Schüler/innen würden vielmehr erahnen,<br />

worauf die Lehrkraft hinaus will <strong>und</strong> lediglich das sagen, was<br />

der Lehrer/die Lehrerin hören will.<br />

Auch die Strategie, alles unter der Geschlechterperspektive zu<br />

problematisieren, halten die Autorinnen nicht für sinnvoll. Der<br />

Geschlechterunterschied wird so betont, was nicht dem Abbau<br />

von Ungleichheiten bei der Bildung von Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

dient, um die es im Sinne einer Chancengleichheit ja gehen soll.<br />

22


Für die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen bedeutet dieses<br />

Problematisieren in der Schule zudem häufig, dass<br />

Geschlechterfragen als monoton erlebt <strong>und</strong> abgelehnt werden.<br />

Die lange praktizierte kompensatorische Erziehung wird<br />

ebenfalls kritisiert. Hier ging es darum Defizite einer Gruppe zu<br />

beheben. Diese Defizitperspektive wurde auch in der so<br />

genannten Ausländerpädagogik betrieben <strong>und</strong> seit den 1980er<br />

Jahren in der Interkulturellen Pädagogik abgelehnt.<br />

Der Anlass für die Lernförderung ist ein negativer, was<br />

problematisch ist. Besser ist es, an den Stärken der Lernenden<br />

anzusetzen.<br />

Der in der Sozialpädagogik entwickelte Ansatz, alle da<br />

abzuholen, wo sie stehen, ist ebenso schwierig einzulösen. Es ist<br />

nämlich gar nicht klar für alle Jungen <strong>und</strong> Mädchen, wo sie<br />

jeweils stehen. Das verhält sich so wie mit den Interessen, die ja<br />

nicht für alle Mädchen <strong>und</strong> Jungen gleich sind. Ähnlich<br />

schwierig ist auch der Versuch, voneinander lernen zu wollen.<br />

Das setzt nämlich voraus alle Angehörigen eines Geschlechts<br />

oder einer Ethnie seien einheitlich, was ja nicht stimmt. Und es<br />

gibt neben Unterschieden zwischen Mädchen <strong>und</strong> Jungen oder<br />

Türken <strong>und</strong> Deutschen oder Menschen mit Behinderungen oder<br />

ohne auch Gemeinsamkeiten.<br />

Diese Negativbeispiele lassen sich also auch auf andere<br />

Differenzen übertragen: Kulturelle Identität, soziale Herkunft<br />

oder Behinderung lassen sich auf diesen Wegen ebenfalls nicht<br />

thematisieren oder im Unterricht bearbeiten. Auf diese Weise<br />

würden Unterschiede betont oder es würde von einer<br />

einheitlichen Grup-pe ausgegangen, die es so gar nicht gibt. Hier<br />

ist also wiederum das Konflikthafte der Kollektivebene<br />

angesprochen, welches bei Prengel erwähnt wird.<br />

Auch die etwa in der Laborschule Bielefeld <strong>und</strong> anderswo<br />

praktizierten exklusiven Angebote für Mädchen <strong>und</strong> Jungen (wie<br />

etwa den Haushaltspass für Jungen oder den Handwerkspass für<br />

Mädchen) sind letztendlich differenzorientiert <strong>und</strong> überholt.<br />

Besser ist es nach Kreienbaum <strong>und</strong> Urbaniak, diese Angebote<br />

verbindlich für alle anzubieten. Also eher darauf zu achten, dass<br />

alle Lebensbereiche von allen im Unterricht behandelt werden<br />

<strong>und</strong> nicht ein einseitiges Schwergewicht entsteht.<br />

23


Als gute Praxis bezeichnen die Autorinnen es denn auch, wenn<br />

verbindliche Kernbestände des Wissens für alle gelten. Somit<br />

kann auch verhindert werden, dass einseitig gewählt wird.<br />

Im Unterricht wäre eine Aktivieren <strong>und</strong> Sensibilisieren immer<br />

sinnvoll. Einseitiger lehrer/innenzentrierter Unterricht wird hier<br />

also abgelehnt.<br />

Als geeignet für eine reflexive Koedukation halten Kreienbaum/<br />

Urbaniak auch die einbeziehende Erziehung. Das Curriculum ist<br />

in dieser pädagogischen Richtung ein Spiegel für die<br />

Heranwachsenden <strong>und</strong> gleichzeitig ein Fenster zur Welt. Lernen<br />

geschieht dabei auf eine von innen nach außen wandernde Art<br />

<strong>und</strong> Weise.<br />

Zum Schluss stellen sich die beiden Autorinnen die Frage, wie<br />

viel Beachtung das Geschlechterverhältnis in Schule <strong>und</strong><br />

Unterricht braucht? Sie kommen zu dem Schluss: So wenig wie<br />

möglich, so viel wie nötig. Es gelte immer wieder zu überprüfen,<br />

ob niemand benachteiligt wird. Die besten Lernerfolge würden<br />

aber erzielt, wenn die Lehrenden glauben, eine kluge Klasse vor<br />

sich zu haben. Lehrer/innen müssen lernen, die Klugheit jedes<br />

Kindes, unabhängig von Geschlecht, sozialer oder ethnischer<br />

Herkunft zu sehen <strong>und</strong> zu fördern.<br />

5<br />

Schluss<br />

Ich möchte zum Schluss wieder auf die eingangs erwähnte<br />

Bildungsforschung <strong>und</strong> die dort so hoffnungsvoll betrachteten<br />

Bildungssysteme Finnlands, Schwedens <strong>und</strong> Kanadas<br />

zurückkom-men. Was machen die Lehrer/innen in diesen<br />

Ländern denn anders? Anne Ratzki (2005) hat einige<br />

Erkenntnisse von ihren Reisen in diese Länder mitgebracht: In<br />

Schweden <strong>und</strong> Finnland wird beim Umgang mit der heterogenen<br />

Schülerschaft Wertschätzung <strong>und</strong> Respekt groß geschrieben.<br />

Lehrende achten <strong>und</strong> respektieren alle Lernenden. Es gibt über<br />

eine lange Spanne keine Barrieren im Schulsystem, sondern alle<br />

werden gemeinsam unterrichtet. Die Lernenden entscheiden<br />

selbst, welche Bildungswege sie einschlagen <strong>und</strong> dies wird nicht<br />

über Berechtigungen, die von Lehrer/innen ausgestellt werden,<br />

geregelt.<br />

24


In Finnland werden die Lernenden <strong>und</strong> Lehrenden auch seitens<br />

der Gesellschaft hoch geschätzt. In Schweden kommt die<br />

Betonung eines individualisierenden Lernens hinzu.<br />

Jede Schülerin, jeder Schüler ist dabei für sich selbst<br />

verantwortlich. Die Schule ist für die gute Organisation des<br />

Lernens verantwortlich <strong>und</strong> die Kommune dafür, dass die<br />

Rahmenbedingungen stimmen.<br />

Auch in Kanada führt die Verschiedenheit der Lernenden dieser<br />

klassischen Einwanderungsgesellschaft mit ihren vielfältigen<br />

Sprachen <strong>und</strong> Kulturen nicht dazu, dass diese in eine Hierarchie<br />

von besser <strong>und</strong> schlechter verwandelt wird. Alle erhalten die<br />

Förderung, die sie benötigen, um das jeweils Bestmögliche aus<br />

ihnen herauszuholen. Die Vielfalt in den Schulen wird dabei auf<br />

mannigfaltige Art wertgeschätzt. So enthält das Curriculum<br />

reichhaltige Elemente aus der ganzen Welt. Alle sollen so im<br />

Lernstoff angesprochen werden. Kein Kind soll ausgeschlossen<br />

werden. Lernen setzt an der Anerkennung der Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

individueller Stärken der Schüler/innen an. Darauf aufbauend<br />

wird geschaut, welche Lernfortschritte jedes Kind, jede<br />

Jugendliche als nächstes machen kann. Der Vergleich<br />

untereinander steht dabei ausdrücklich nicht im Vordergr<strong>und</strong>,<br />

sondern Maßstab ist der individuelle Lernfortschritt jedes/jeder<br />

einzelnen. Auf diese Weise – so erlebte es die Autorin – sind<br />

Gleichheit <strong>und</strong> Differenz in einer Waage.<br />

Literatur<br />

Allemann-Ghionda, C./ Auernheimer, G./ Grabbe, H./ Krämer, A.:<br />

Beobachtung <strong>und</strong> Beurteilung in soziokulturell <strong>und</strong> sprachlich<br />

heterogenen Klassen: die Kompetenzen der Lehrpersonen. In: Zeitschrift<br />

für Pädagogik, 52. Jg, 51. Beiheft 2006, S. 250-266.<br />

Becker, G./ Lenzen, K.-D./ Stäudel, L./ Tillmann, K.-J./ Werning, R./ Winter,<br />

F. (Hrsg.): Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten<br />

stärken. Friedrich Jahresheft XXII 2004.<br />

Bilden, H./ Dausien, B. (Hrsg.): Sozialisation <strong>und</strong> Geschlecht. Theoretische<br />

<strong>und</strong> methodologische Aspekte. Opladen & Farmington Hills 2006.<br />

Bilden, H.: Sozialisation in der Dynamik von Geschlechter- <strong>und</strong> anderen<br />

Machtverhältnissen. In: Bilden, H./ Dausien, B. (Hrsg.): Sozialisation <strong>und</strong><br />

Geschlecht. Theoretische <strong>und</strong> methodologische Aspekte. Opladen &<br />

Farmington Hills 2006, S. 45-70.<br />

25


Buddensiek, W./ Winkel, J./ Kreienbaum, M. A.: Profil Umgang mit<br />

Heterogenität. Folder vorgestellt auf Tagung der Universität Paderborn<br />

<strong>und</strong> des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft/Stiftung<br />

Mercator, 1.-2. Juli 2005.<br />

DGfE, der Vorstand: Strukturmodell für die Lehrerbildung im Bachelor-<br />

Master-System. 11. Dezember 2004<br />

http://dgfe.pleurone.de/bilpol/2004/S6_Strukturmodell-BA-MA-<br />

Lehrerbildung.pdf (30.10.2006).<br />

Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/ Willems, Katharina: Doing<br />

Gender im heutigen Schulalltag. Juventa: Weinheim <strong>und</strong> München 2004.<br />

Fritzsche, Bettina (Hrsg.); u.a: Dekonstruktive Pädagogik.<br />

Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen<br />

Perspektiven. Opladen: Leske u. Budrich 2001.<br />

Gerhard, Ute: Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht. Muenchen:<br />

Beck 1990.<br />

Heinzel, F./ Prengel, A.: Einleitung zum Jahrbuch Heterogenität,<br />

Integration <strong>und</strong> Differenzierung in der Primarstufe. In: Heinzel, F./<br />

Prengel, A. (Hrsg.): Heterogenität, Integration <strong>und</strong> Differenzierung in der<br />

Primarstufe. Opladen 2002, S. 9-19.<br />

Heyer, P./ Preuss-Lausitz, U./ Sack, L. (Hrsg.): Länger gemeinsam lernen.<br />

Positionen – Forschungsergebnisse – Beispiele. Gr<strong>und</strong>schulverband<br />

Arbeitskreis Gr<strong>und</strong>schule e.V. <strong>und</strong> Gemeinnützige Gesellschaft<br />

Gesamtschule. Frankfurt am Main 2003.<br />

Hilligus, A. (i.A. des PLAZ-Vorstandes) (Hrsg): Zur Entwicklung von<br />

Standards für die Lehrerausbildung (I). PLAZ-Forum. Lehrerausbildung<br />

<strong>und</strong> Schule in der Diskussion <strong>Heft</strong> 6/2004.<br />

KMK: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. (Beschluss<br />

vom <strong>16.</strong>12.2004) Standards Lehrerbildung_16-12-04.doc (20.10.2006).<br />

Kreienbaum, Maria Anna/ Urbaniak, Tamina: Jungen <strong>und</strong> Mädchen in der<br />

Schule. Konzepte der Koedukation. Berlin 2006.<br />

Krüger-Potratz, Marianne; Lutz, Helma: Sitting at a crossroads -<br />

rekonstruktive <strong>und</strong> systematische Überlegungen zum wissenschaftlichen<br />

Umgang mit Differenzen. In: Tertium comparationis, 8. Jg. <strong>Heft</strong> 2/2002,<br />

S. 81-92.<br />

Lutz, H./ Leiprecht, R.: Heterogenität als Normalfall. Eine Herausforderung<br />

für die Lehrerbildung. In: Gogolin, I./ Helmchen, J./ .Lutz, H./ Schmidt,<br />

G. (Hrsg.): Pluralismus unausweichlich? Blickwechsel zwischen<br />

Vergleichender <strong>und</strong> Interkultureller Pädagogik. Waxmann: Münster u.a.<br />

2003, S. 115-127.<br />

Mecheril, P./ Hoffarth, B.: Adoleszenz <strong>und</strong> Migration. Zur Bedeutung von<br />

Zugehörigkeitsordnungen. In: King, V./ Koller, H.-C. (Hrsg.): Adoleszenz<br />

– Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher <strong>und</strong> junger<br />

Erwachsener mit Migrationshintergr<strong>und</strong>. Wiesbaden: Verlag für<br />

Sozialwissenschaften 2006, S. 221-240.<br />

Oser, Fritz: Standards in der Lehrerbildung. Wie werden Standards in der<br />

schweizerischen Lehrerbildung erworben? Erste empirische Ergebnisse.<br />

In: Beiträge zur Lehrerbildung, heft 2/1997, S. 210-228.<br />

26


Prengel, Annedore: Paedagogik der Vielfalt. Verschiedenheit <strong>und</strong><br />

Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer <strong>und</strong> Integrativer<br />

Paedagogik. Opladen: Leske u. Budrich (1993).<br />

Prengel, A.: Vielfalt durch gute Ordnung im Anfangsunterricht. Opladen<br />

1999.<br />

Prengel, A.: Heterogenität in der Bildung – Rückblick <strong>und</strong> Ausblick. In:<br />

Bräu, K./ Schwerdt, U. (Hrsg.): Heterogenität als Chance. Vom<br />

produktiven Umgang mit Gleichheit <strong>und</strong> Differenz in der Schule.<br />

Münster: Lit Verlag 2005, S. 19-36.<br />

Ratzki, A.: Pädagogik der Vielfalt im Licht internationaler<br />

Schulerfahrungen. In: Bräu, K./ Schwerdt, U. 2005, S. 37-52.<br />

Rendtorff, B.: Erziehung <strong>und</strong> Geschlecht. Eine Einführung. Stuttgart 2006.<br />

Terhart, Ewald: Standards für die Lehrerbildung. Eine Expertise für die<br />

Kultusministerkonferenz. Münster: Institut für Schulpädagogik <strong>und</strong><br />

Allgemeine Didaktik 2002.<br />

Tillmann, K.-J. (2004). „System jagt Fiktion. Die homogene Lerngruppe“. In:<br />

Becker, G. u.a. (Hrsg.). Heterogenität. Unterschiede nutzen –<br />

Gemeinsamkeiten stärken. (Friedrich Jahresheft XXII), S. 6-9.<br />

Tulodziecki, G.: Bildungsstandards im erziehungswissenschaftlichen<br />

Studium für Lehrämter. In: Hilligus 2004 (a.a.O.), S. 29-54.<br />

Von der Groeben, A.: Lernen in heterogenen Gruppen. Chance <strong>und</strong><br />

Herausforderung. In: Pädagogik <strong>Heft</strong> 9/2003, S. 6-9.<br />

Wenning, N.: Heterogenität als neue Leitidee der Erziehungswissenschaft?<br />

Zur Berücksichtigung von Gleichheit <strong>und</strong> Verschiedenheit. In: Zeitschrift<br />

für Pädagogik, 50. Jg. <strong>Heft</strong> 4/2004, S. 565-582.<br />

Geschlechtsrollenstereotype in Schulbüchern<br />

Monika Finsterwald<br />

in Zusammenarbeit mit Albert Ziegler<br />

Wird versucht geschlechtsspezifische Interessen <strong>und</strong><br />

Unterschiede in den Partizipationsraten im mathematischnaturwissen-schaftlich-<br />

technischen Bereich zu erklären, so<br />

werden in der Literatur Sozialisationseinflüsse als besonders<br />

zentral herausgestellt. Insbesondere dem Elternhaus <strong>und</strong> der<br />

schulischen Sozialisation wird eine tragende Rolle zugeschrieben<br />

(zfs. Ziegler 2002). In diesbezüglicher Forschung im Schulbereich<br />

wird fast ausschließlich auf die Lehrkraft <strong>und</strong> ihren Unterricht<br />

fokussiert, Schulmedien werden lediglich als zusätzliche<br />

Einflussgröße erwähnt. Jedoch gilt es auch in Bezug auf<br />

eingesetzte Schulmedien kritisch zu hinterfragen, ob diese nicht<br />

häufig traditionelle, nicht mehr dem Gleichheitsgr<strong>und</strong>satz<br />

27


moderner Gesellschaften verpflichtete Rollenklischees<br />

transportieren. Mehr Informationen darüber zu bekommen, war<br />

Ziel der vorliegenden Studie.<br />

In dieser Studie wurden Schulbücher (Gr<strong>und</strong>schule) als<br />

Untersuchungsgegenstand ausgewählt, da diesen eine hohe<br />

didaktische Bedeutung im Unterricht insofern zukommt, als dass<br />

sie Lehrer/innen eine Orientierung für die Unterrichtsgestaltung<br />

bieten. Insbesondere in der Primarstufe übernehmen wiederum<br />

Abbildungen in Büchern eine wichtige Funktion: Sie sind<br />

Ankerpunkt für zentrale inhaltliche Aussagen <strong>und</strong> dienen der<br />

Veranschaulichung <strong>und</strong> dem besseren Verständnis von Texten.<br />

Die Primarstufe wurde deshalb gewählt, da innerhalb dieses<br />

Zeitraums die Entwicklung einer flexiblen<br />

Geschlechtsrollenidentität abgeschlossen wird (vgl. zfs. Trautner<br />

2002). Diese wird durch eine starke soziale Betonung von<br />

Geschlechterdifferenzen beeinflusst. Den Sozialisationsagenten<br />

kommt somit in diesem Altersbereich eine besonders bedeutende<br />

Rolle für die Entwicklung der Geschlechtsrollenidentität zu.<br />

Zusammenfassung der Forschungsergebnisse<br />

zu Schulbuchanalysen<br />

Aktuelle Arbeiten zur Geschlechterdarstellung in Schulbüchern<br />

liegen keine vor, diese wurden hauptsächlich im Zeitraum 1970<br />

bis 1990 durchgeführt. 2 Älteren Schulbuchanalysen ist zu<br />

entnehmen, dass sowohl in den Texten als auch in den<br />

Abbildungen sehr viele Rollenklischees enthalten sind (Barz<br />

1982, Lindner/ Lukesch 1994). Neuere Analysen wiesen zwar auf<br />

eine positive Entwicklung hin, jedoch waren nach wie vor viele<br />

Abbildungen Träger von Geschlechtsrollenstereotypen (Hempel<br />

1994, Lindner/ Lukesch 1994, Scheer 1997). Dies ist insbesondere<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> überraschend, dass Schulbücher seit den<br />

80-iger Jahren vor der Zulassung auf die Erfüllung des<br />

Gleichberechtigungsgr<strong>und</strong>satzes überprüft werden. Da im Laufe<br />

des letzten Jahrzehnts jedoch ein verändertes öffentliches<br />

2 Auf eine genauere Darstellung der Ergebnisse kann in diesem Beitrag nicht<br />

eingegangen werden. Einen sehr guten Überblick über die Ergebnisse von<br />

Schulbuchanalysen der siebziger bis neunziger Jahre gibt Hunze (2003).<br />

28


Bewusstsein im Umgang mit Rollenzuschreibung beobachtet<br />

werden konnte, sind auch Auswirkungen auf den schulischen<br />

Bereich bzw. die Gestaltung von Schulbüchern zu erwarten. Dies<br />

galt es zu untersuchen.<br />

Fragestellung<br />

Anlass der vorliegenden Studie war es zu prüfen, inwieweit<br />

traditionelle Vorstellungen geschlechtsbezogener<br />

Rollenverteilungen in Schulbuchabbildungen der Gr<strong>und</strong>schule zu<br />

finden sind. Fokussiert wurden ausschließlich Abbildungen<br />

(keine Texte), da diesen (wie erläutert) im Primarschulbereich<br />

eine tragende Funktion zukommt. Konkret sollen in diesem<br />

Beitrag folgende drei Fragestellungen beantwortet werden:<br />

1. Sind Mädchen/ Frauen <strong>und</strong> Jungen/ Männer in<br />

Schulbuchabbildungen gleichermaßen repräsentiert?<br />

2. Werden Mädchen/ Frauen <strong>und</strong> Jungen/ Männer in<br />

Schulbuchabbildungen in ihren Geschlechterrollen<br />

dargestellt?<br />

3. Gibt es Unterschiede in den geschlechtsrollenstereotypen<br />

Darstellungen in Abhängigkeit vom Erscheinungsjahr?<br />

Methodik<br />

Zur Schulbuchanalyse wurden zugelassene Schulbücher der<br />

Jahrgangsstufe 1-4 aus den Fächern Deutsch <strong>und</strong> Sachk<strong>und</strong>e<br />

herangezogen. Insgesamt wurden Abbildungen aus 28<br />

Schulbüchern (Deutsch, Sachk<strong>und</strong>e) analysiert, die zwischen<br />

1993 <strong>und</strong> 2003 erschienen sind. 3 Für jedes Fach <strong>und</strong> jede<br />

Jahrgangsstufe wurden die ersten 25 Abbildungen von drei bzw.<br />

fünf verschiedenen Schulbüchern betrachtet, sodass in der<br />

Gesamtsumme in etwa 300 Abbildungen einbezogen wurden. Auf<br />

jedem Bild wurden bis zu fünf Personen analysiert. Insgesamt<br />

umfassen die Analysen Daten von 838 Personen.<br />

Für die Schulbuchanalysen wurde ein Kategoriensystem<br />

entwickelt, das in einem Prätest auf seine Intercoder-Reliabilität<br />

überprüft wurde. Dazu wurden zunächst gleiche Bilder von den<br />

3 Eine Auflistung der in die Bildanalysen einbezogenen Schulbücher ist dem Beitrag<br />

von Finsterwald <strong>und</strong> Ziegler (2007) zu entnehmen.<br />

29


zur Verfügung stehenden vier Codierer/innen analysiert,<br />

Ergebnisunterschiede diskutiert <strong>und</strong> das Kategorienschema<br />

revidiert (Beobachtungsübereinstimmung bei 90.4%). Jede<br />

Abbildung, die in der Studie aufgenommen wurde, wurde<br />

dennoch von zwei Codierer/innen (einer männlichen <strong>und</strong> einer<br />

weiblichen Person) betrachtet, um subjektive Interpretationen<br />

soweit wie möglich auszuschließen. Auf eine genauere<br />

Beschreibung des Kategoriensystems wird an dieser Stelle<br />

verzichtet. Es kann in dem Beitrag von Finsterwald <strong>und</strong> Ziegler<br />

(2007) nachgelesen werden.<br />

Ergebnisse<br />

Die gewonnenen Informationen aus den Abbildungen wurden<br />

deskriptiv <strong>und</strong> inferenzstatistisch analysiert. Es wurden<br />

nonparametrische Verfahren aufgr<strong>und</strong> des Skalenniveaus<br />

gewählt. Zur Absicherung von signifikanten Unterschieden<br />

zwischen den Geschlechtern wurden Chi²-Tests eingesetzt<br />

(zweiseitige Testung). Auch Binominaltests wurden bei Bedarf<br />

angewandt.<br />

1 Fragestellung 1:<br />

2 Sind Mädchen/ Frauen <strong>und</strong> Jungen/ Männer in<br />

Schulbuchabbildungen gleichermaßen repräsentiert?<br />

Die Ergebnisse ergaben, dass ebenso wie in vorangegangenen<br />

Schulbuchanalysen (vgl. zfs. Hunze 2003) Mädchen bzw. Frauen<br />

signifikant weniger repräsentiert waren. Nähere Analysen<br />

ergaben jedoch, dass lediglich in der Gruppe der Erwachsenen<br />

Männer signifikant stärker vertreten waren: Bei den<br />

betrachteten erwachsenen Personen waren 32% Frauen, bei den<br />

Kindern 50% Mädchen (s. Abb. 1).<br />

300<br />

293<br />

250<br />

Häufigkeiten<br />

200<br />

150<br />

100<br />

168 168<br />

140<br />

50<br />

30<br />

0<br />

Kinder<br />

Erwachsene<br />

männlich<br />

weiblich


Abbildung 1. Überblick über die Verteilung der Geschlechter getrennt nach<br />

Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen.<br />

3 Fragestellung 2:<br />

4 Werden Mädchen/ Frauen <strong>und</strong> Jungen/ Männer in<br />

Schulbuchabbildungen in ihren Geschlechterrollen<br />

dargestellt?<br />

Es zeigte sich insgesamt das Bild, dass in den untersuchten<br />

Abbildungen Jungen <strong>und</strong> Mädchen in Schulbüchern nicht mehr<br />

in Rollenstereotypen dargestellt wurden. Bei den Erwachsenen<br />

war diese positive Entwicklung nicht zu beobachten. Die<br />

Inhaltsanalysen wiesen geschlechterstereotype Unterschiede bei<br />

den Erwachsenen in den (1) dargestellten Berufen, (2)<br />

Handlungssituationen, (3) konkreten Handlungen sowie im (4)<br />

Umgang mit Technik auf.<br />

(1) Berufe<br />

Bei den Erwachsenen war am stärksten die Gruppe der<br />

Hausfrauen/-männer in Schulbuchbildern vertreten (29<br />

Nennungen), wobei im Einklang mit traditionellen<br />

Rollenklischees hauptsächlich Hausfrauen abgebildet waren (s.<br />

Abb. 2). Auch Lehrkräfte wurden sehr häufig dargestellt (26<br />

Nennungen) - das Geschlechterverhältnis war in diesem<br />

Berufsfeld jedoch relativ ausgeglichen. Hingegen waren deutlich<br />

mehr Männer als Handwerker (19 von 19 Nennungen), Bauern<br />

(16 von 19 Nennungen), Arbeiter (15 von 17 Nennungen) oder<br />

Ärzte (11 von 17 Nennungen) zu finden, wohingegen bei der<br />

Berufsgruppe der Verkäufer/innen der Frauenanteil sehr hoch<br />

war (10 von 17 Nennungen). Konform zu früheren<br />

Schulbuchanalysen (vgl. Scheer 1997) war zudem eine höhere<br />

Berufsvielfalt bei den Männern zu finden (6 zu 17 Kategorien,<br />

wobei nur Kategorien mit fünf oder mehr Nennungen gezählt<br />

wurden).<br />

Um einen besseren Überblick über noch vorherrschende<br />

Rollenklischees bei den Berufen zu bekommen, wurden die<br />

gef<strong>und</strong>enden Berufe in „weiblich“ bzw. „männlich konnotierte“<br />

oder „neutrale“ Berufe eingeteilt. Es zeigte sich, dass der Anteil<br />

an Männern in so genannten Frauenberufen (z.B. Verkäufer/in,<br />

31


Krankenpfleger/in, Sekretärin) sehr hoch war, wohingegen der<br />

Frauenanteil in Männerberufen (z.B. Handwerker/in, Bauer/<br />

Bäurin, Arbeiter/in, Förste/iIn) sehr viel geringer war (s. auch<br />

Abb. 2). Dies entspricht den Feststellungen früherer<br />

Schulbuchanalysen (vgl. Linder/Lukesch 1994).<br />

100<br />

80<br />

in Prozent<br />

60<br />

40<br />

29<br />

38<br />

54<br />

30<br />

25<br />

20<br />

0<br />

13<br />

8<br />

2<br />

Hausfrau/-mann weiblich konnotiert männlich konnotiert neutral<br />

Männer<br />

Frauen<br />

Abbildung 2. Überblick über die prozentuale Verteilung bei den Berufen<br />

getrennt nach Männern <strong>und</strong> Frauen.<br />

(2) Handlungssituationen<br />

Unter Handlungssituationen sind Darstellungen im Beruf, in der<br />

Familie, in der Freizeit oder beim Spiel gefasst. Es wurde<br />

deutlich, dass die meisten Erwachsenen in ihren Berufen<br />

abgebildet wurden, gefolgt von Darstellungen in der Freizeit <strong>und</strong><br />

in der Familie. Auch wenn Hausfrauen/ Hausmänner als<br />

Berufsfeld ausgeschlossen werden, dominierten die Männer in<br />

der Handlungssituation „Beruf“). Frauen hingegen waren<br />

häufiger im familialen Umfeld <strong>und</strong> in der Freizeit zu finden (s.<br />

Abb. 3). Diese Bef<strong>und</strong>e entsprechen früheren Schulbuchanalysen<br />

(vgl. Fischer 2000, Hempel 1994).<br />

Männer<br />

Frauen<br />

100<br />

in Prozent<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

72<br />

53<br />

30<br />

18 20 18<br />

7<br />

1<br />

1 1<br />

Beruf Hausfrau/-mann Familie Freizeit Spiel<br />

Handlungsfeld<br />

32


Abbildung 3. Überblick über die prozentuale Verteilung in den einzelnen<br />

Handlungssituationen getrennt nach Männern <strong>und</strong> Frauen.<br />

(3) Konkrete Handlungen<br />

Bei der näheren Analyse der Darstellung von „konkreten<br />

Handlungen“ wurden bei den Erwachsenen einige<br />

Geschlechtsrollenstereotype gef<strong>und</strong>en (s. Tab. 1). In den<br />

Schulbuchabbildungen waren Frauen deutlich weniger in<br />

individualistischen Situationen zu finden als Männer (39 zu 103<br />

Nennungen) <strong>und</strong> wurden als kooperativer dargestellt (40 zu 19<br />

Nennungen). Dafür wurde das Bild vermittelt, dass Männer<br />

kompetitiver <strong>und</strong> risikofreudiger sind (15 zu 0 Nennungen bzw.<br />

25 zu 1 Nennung/en). Ein deutlicher Fortschritt zu früheren<br />

Studien (z. B. Barz 1982) ist jedoch dahingehend zu vermerken,<br />

dass Frauen ebenso häufig wie Männer in dominierenden Rollen<br />

abgebildet wurden <strong>und</strong> ihnen nicht vermehrt<br />

Handlangertätigkeiten oder laienhafte Tätigkeiten<br />

zugeschrieben wurden. Auch wurden Männer <strong>und</strong> Frauen<br />

gleichermaßen in instruierenden <strong>und</strong> pflegenden Situationen<br />

dargestellt.<br />

Tabelle 1. Übersicht über die Darstellung der konkreten Handlungen in<br />

Hinblick auf Geschlechtsunterschiede getrennt nach Kindern <strong>und</strong><br />

Erwachsenen.<br />

Altersgruppe<br />

Handlungsaspekte<br />

Individuell/Interaktiv<br />

Kompetitiv/kooperativ<br />

Hohes/niedriges Risiko<br />

Dominant/submissiv<br />

Instruierend/lernend<br />

Erwachsene<br />

Frauen sind weniger<br />

individualistisch<br />

Frauen sind kooperativer,<br />

Männer kompetitiver<br />

Männer gehen ein höheres<br />

Risiko ein<br />

Kein Unterschied<br />

Kein Unterschied<br />

Kinder<br />

Pflegend/versorgend Kein Unterschied Kein<br />

Kein<br />

Unterschied<br />

Kein<br />

Unterschied<br />

Kein<br />

Unterschied<br />

Kein<br />

Unterschied<br />

Kein<br />

Unterschied<br />

33


Professionell/laienhaft Kein Unterschied<br />

Unterschied<br />

Kein<br />

Unterschied<br />

Anmerkung: Signifikante Unterschiede sind in kursiver Schrift<br />

hervorgehoben.<br />

prozentuale Differenzwerte<br />

50<br />

40<br />

30<br />

-26,1<br />

20<br />

10<br />

0<br />

-10<br />

-20<br />

-30<br />

-40<br />

-50<br />

Alltag<br />

(4) Umgang mit Technik<br />

9,7<br />

Verwendung<br />

Beruf<br />

1,8<br />

Wissenschaft<br />

Um Unterschiede im Umgang mit Technik zu eruieren, wurden<br />

zum einen Abbildungen mit technischen Geräten ausgewertet,<br />

zum anderen wurden die Berufe, in denen die Personen<br />

dargestellt wurden, dahingehend untersucht, welches technische<br />

Wissen zur Ausübung notwendig ist.<br />

Generell konnte nachgewiesen werden, dass Männer häufiger<br />

mit technischen Geräten zu sehen waren. Außerdem<br />

verwendeten Frauen hauptsächlich technische Geräte des<br />

Alltags (z.B. Telefon, Fernseher, Küchenmaschine), Männer<br />

benutzten diese zumeist aus beruflichen Gründen (z.B.<br />

Mikroskop, PC). Signifikante Unterschiede bei der Verwendung<br />

für wissenschaftliche Zwecke (z. B. Laborgerät) konnten nicht<br />

gef<strong>und</strong>en werden (s. Abb. 4).<br />

Abbildung 4: Verwendungszweck der technischen Gegenstände<br />

(Differenzwerte zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen).<br />

Anmerkung: Bei einem positiven Wert ist der Männeranteil höher als der<br />

Frauenanteil.<br />

34


Betrachtet man die abgebildeten Berufe, so sind in Berufen, die<br />

wenig technisches Vorwissen erfordern, vor allem Frauen zu<br />

finden, Männern benötigen für ihre Berufsausübung entweder<br />

„kein Vorwissen“ oder „hohes Vorwissen“ (s. Abb. 5).<br />

prozentuale Differenzwerte<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

-10<br />

-20<br />

-30<br />

-40<br />

-50<br />

11,1<br />

10,7<br />

-0,7<br />

-21,0<br />

Technische Kenntnisse für den Beruf<br />

keine wenige moderate hohe<br />

Abbildung 5: Nötige technische Kenntnisse für die Berufsausübung<br />

(Differenzwerte zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen). Anmerkung: Bei einem<br />

positiven Wert ist der Männeranteil höher als der Frauenanteil.<br />

5 Fragestellung 3:<br />

6 Gibt es Unterschiede in den<br />

geschlechtsrollenstereotypen Darstellungen in<br />

Abhängigkeit vom Erscheinungsjahr?<br />

Wurden ältere Schulbücher mit neueren verglichen (1993-1997<br />

vs. 1998-2003), so konnten nur für die „Handlungssituationen“<br />

Unterschiede identifiziert werden: In neueren Schulbüchern<br />

waren signifikant mehr Männer <strong>und</strong> Frauen in der Freizeit<br />

dargestellt sowie mehr Frauen im Beruf, wobei immer noch mehr<br />

Abbildungen von Männern im Beruf zu finden waren. Positive<br />

Entwicklungen bei den dargestellten Berufen, den konkreten<br />

Handlungen sowie im Umgang mit Technik waren nicht<br />

erkennbar.<br />

Zusammenfassung <strong>und</strong> Resümee<br />

Die Analysen der Abbildungen aus Gr<strong>und</strong>schulbüchern der<br />

Fächer Deutsch <strong>und</strong> Sachk<strong>und</strong>e weisen immer noch auf eine<br />

Unterrepräsentanz von weiblichen Personen hin <strong>und</strong> zwar<br />

insbesondere von Frauen. Deren Anteil ist aber im Vergleich zu<br />

Studien der siebziger <strong>und</strong> achtziger Jahre stark gestiegen (vgl.<br />

35


zfs. Hunze 2003). Als Fortschritt kann ebenso gewertet werden,<br />

dass Kinder kaum mehr in Geschlechtsrollenstereotypen<br />

dargestellt werden.<br />

Bedenklich ist hingegen, dass Erwachsene, die als<br />

Identifikationsmodelle fungieren, nach wie vor häufig in<br />

geschlechtsstereotypen Situationen dargestellt werden.<br />

So sind beispielsweise Männer 2,5 Mal so häufig in Berufen<br />

abgebildet <strong>und</strong> Frauen hauptsächlich als Hausfrauen bzw. im<br />

familialen Umfeld oder in der Freizeit dargestellt. Dies spiegelt<br />

nicht die Realität wider (Statistischen B<strong>und</strong>esamt, 2003), da<br />

inzwischen ca. 77% der Frauen ohne Kinder <strong>und</strong> 60% der Frauen<br />

mit Kindern erwerbstätig sind. Zudem wird das Bild vermittelt,<br />

dass „typische Frauenberufe“ für Männer offen sind, wohingegen<br />

„typische Männerberufe“ nach wie vor nur von diesen ausgeübt<br />

werden.<br />

Auch bei den „konkreten Handlungen“ werden immer noch<br />

Rollenstereotype transportiert (Frauen als kooperativ <strong>und</strong><br />

interaktiv; Männer als individualistisch, kompetitiv <strong>und</strong><br />

risikofreudig), ebenso im Umgang mit technischen Geräten<br />

(Frauen werden weniger mit technischen Geräten abgebildet,<br />

benutzen häufiger technische Geräte aus dem Alltag <strong>und</strong> haben<br />

Berufe, bei denen nur wenig technisches Vorwissen benötigt<br />

wird).<br />

Ein positiver Trend in Abhängigkeit vom Erscheinungsjahr des<br />

Schulbuches kann ebenfalls nicht attestiert werden.<br />

Sieht man es als Auftrag von Schule, Schüler/innen auf ein<br />

Leben in einer sich wandelnden Gesellschaft vorzubereiten, muss<br />

man konstatieren, dass in verwendeten Schulbüchern nach wie<br />

vor überkommene Leitbilder transportiert werden. Schulbücher<br />

geschlechtsfair zu gestalten <strong>und</strong> mit den Schüler/innen<br />

vorherrschende Rollenklischees zu diskutieren, erscheint aber in<br />

der heutigen Zeit unabdingbar.<br />

Literatur<br />

Barz, M. (1982): Gleiche Chancen in Lesebüchern der Gr<strong>und</strong>schule? In:<br />

Brehmer, I. (Hrsg): Sexismus in der Schule: der heimliche Lehrplan der<br />

Frauendiskriminierung. Weinheim,103-114.<br />

36


Fischer, H. (2000): Rosa Strümpfe <strong>und</strong> kein Kakao. Geschlechtsspezifische<br />

Sozialisation in der Schule heute? Das Frauen- <strong>und</strong> Mädchenbild in<br />

bayerischen Lesebüchern. Libri Books on Demand..<br />

Finsterwald, M./ Ziegler, A. (2007): Geschlechtsrollenstereotype in<br />

Schulbuchabbildungen der Gr<strong>und</strong>schule. In: Ludwig, P. & Ludwig, H.<br />

(Hrsg.): Erwartungen in himmelblau <strong>und</strong> rosarot. Effekte, Determinanten<br />

<strong>und</strong> Konsequenzen von Geschlechterdifferenzen in der Schule. Reihe:<br />

Juventa Materialien. Weinheim: Juventa, 117-142.<br />

Hempel, M. (1994): Mädchen <strong>und</strong> Jungen im Schulbuch. Potsdam:<br />

Potsdamer Studien zur Gr<strong>und</strong>schulforschung.<br />

Hunze, A. (2003): Geschlechtertypisierung in Schulbüchern. In: Stürzer, M./<br />

Roisch, H./ Hunze, A.(Hrsg): Geschlechterverhältnisse in der Schule.<br />

Opladen: Leske + Budrich Verlag, 53-82.<br />

Lindner, V./ Lukesch, H. (Hrsg) (1994): Geschlechtsrollenstereotype im<br />

deutschen Schulbuch. Roderer Verlag: Regensburg.<br />

Scheer, M. (1997): Studie im Auftrag des Kultusministeriums des Landes<br />

Sachsen-Anhalt. Gleichberechtigung von Mädchen <strong>und</strong> Jungen, Frauen<br />

<strong>und</strong> Männern in Schulbüchern des Landes Sachsen-Anhalt. Halle:<br />

Referat für Gleichstellungsangelegenheiten.<br />

Statistisches B<strong>und</strong>esamt (2003): Die Familie im Spiegel der amtlichen<br />

Statistik. Online im Internet:<br />

www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/Kategorien/<br />

Publikationen/publikationsliste,did=3122.html [25.09.07].<br />

Trautner, H.M. (2002): Entwicklung der Geschlechtsidentität. In: Oerter, R./<br />

Montada, L. (Hrsg): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz<br />

Psychologie Verlags Union, 648-674.<br />

Ziegler, A. (2002): Reattributionstrainings: Auf der Suche nach Geschlechtsunterschieden<br />

im MNT-Bereich. In: Wagner, H. (Hrsg): Hoch begabte<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen: Begabungsentwicklung <strong>und</strong><br />

Geschlechtsunterschiede. Bad Honnef: Bock-Verlag, 85-98.<br />

Lebens- <strong>und</strong> Berufsplanung –<br />

ein Thema für Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

im Gr<strong>und</strong>schulalter?<br />

Marlies Hempel<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen im Gr<strong>und</strong>schulalter begegnen uns heute<br />

selbstbewusst, <strong>und</strong> sie scheinen genau zu wissen was sie jetzt<br />

<strong>und</strong> zukünftig wollen. Sie fühlen sich qua Geschlecht nicht<br />

eingeengt <strong>und</strong> Mädchen wie Jungen haben das Gefühl, die Welt<br />

stünde ihnen offen. Ihnen - <strong>und</strong> auch den Lehrenden - ist kaum<br />

bewusst, wie „verstrickt“ bereits die Gr<strong>und</strong>schulkinder in die<br />

37


Kultur der Zweigeschlechtlichkeit sind. Das schränkt die<br />

Entfaltungs- <strong>und</strong> Entscheidungsmöglichkeiten sowohl von<br />

Mädchen als auch von Jungen ein. Obwohl sich seit einigen<br />

Jahren Dauer <strong>und</strong> Qualität der Schulbildung von Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen immer stärker angeglichen haben, Mädchen in diesem<br />

Vergleich sogar besser abschneiden, ist die Chancengleichheit<br />

der Geschlechter noch nicht erreicht – weder im privaten Alltag,<br />

noch im Berufsleben.<br />

Bereits in der Gr<strong>und</strong>schule zeigen sich unterschiedliche<br />

Lernvoraussetzungen bei Mädchen <strong>und</strong> Jungen (vgl. Hempel<br />

2007a). Auch im Hinblick auf die Zukunftsvorstellungen,<br />

Berufskonzepte <strong>und</strong> Lebensentwürfe der Kinder zeigen sich<br />

bereits hier deutliche Unterschiede. Da es zu den besonderen<br />

Aufgaben des Sachunterrichts gehört, den Erwerb von Wissen<br />

<strong>und</strong> Einstellungen über sich selbst <strong>und</strong> die Welt zu fördern, die<br />

Entwicklung des Selbstwertgefühls <strong>und</strong> der Lebenszuversicht<br />

eines jeden Mädchens <strong>und</strong> eines jeden Jungen zu unterstützen,<br />

soll im Folgenden ein „geschlechtersensibler“ Blick auf die<br />

Lebensentwürfe <strong>und</strong> Berufsvorstellungen von<br />

Gr<strong>und</strong>schulkindern 4 gerichtet werden. Anschließend werden<br />

Möglichkeiten aufgezeigt, sich aus <strong>fachdidaktische</strong>r Perspektive<br />

mit Lebensentwürfen im Sachunterricht unter besonderer<br />

Berücksichtigung der Kategorie „Geschlecht“ auseinander zu<br />

setzen.<br />

Die Kategorie „Geschlecht“ im Sachunterricht<br />

Belegt ist, dass Sozialisationsprozesse geschlechterspezifisch<br />

verlaufen <strong>und</strong> die Aneignung der Werte <strong>und</strong> Normen, wie auch<br />

die Wahrnehmung der Welt, in Abhängigkeit vom eigenen<br />

Geschlecht erfolgt. Man kann davon ausgehen, dass das Kind<br />

selbst <strong>und</strong> nicht in erster Linie der soziale Druck von außen -<br />

dem man sich allerdings nicht entziehen kann - die<br />

Geschlechtsrollenidentifikation vorantreibt. Ebenfalls empirisch<br />

gut belegt ist die unterschiedliche Einstellung der Geschlechter<br />

zur eigenen Leistungsfähigkeit (vgl. Hempel 2007a). Bereits im<br />

4 Hier greife ich auf meine entsprechenden Untersuchungsergebnisse <strong>und</strong> Veröffentlichen aus den Jahren<br />

1995 bis 2007 zurück.<br />

38


Gr<strong>und</strong>schulalter ist das Selbstkonzept bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen<br />

unterschiedlich ausgeprägt - Mädchen neigen dazu, sich zu<br />

unterschätzen, Jungen überschätzen sich dagegen oft. Das hat<br />

nicht nur Auswirkungen auf geschlechtsspezifische Unterschiede<br />

in der kognitiven Leistung. Das hat Auswirkungen auf die<br />

Entwürfe zur Gestaltung des eigenen Lebens. Die Kinder bei der<br />

Selbstaneignung der Welt unterstützend zu begleiten heißt aus<br />

<strong>fachdidaktische</strong>r Perspektive, die mit der Geschlechterrolle<br />

verb<strong>und</strong>enen gesellschaftlichen Erwartungen aufzudecken <strong>und</strong><br />

die „geschlechtertypischen“ Verhaltens- <strong>und</strong> Denkmuster als<br />

Resultat dieses Prozesses zu verstehen. Bildung im<br />

Sachunterricht wird so zur „Aufklärung über die Bedingungen der<br />

eigenen Existenz <strong>und</strong> Konkretisierung der Individualität“<br />

(Mollenhauer 1970, S. 65).<br />

Der Sachunterricht hat mit seinem lebensweltlichen Ansatz<br />

konsequenter als andere Fächer <strong>und</strong> Lernbereiche die subjektive<br />

Erfahrung der Kinder von der Welt in den Blick genommen.<br />

Trotzdem bleibt die „Lebenswelt/ Lebenswirklichkeit des Kindes“<br />

auch im Sachunterricht oft ein Abstraktum, das zwar in<br />

Begründungszusammenhängen postuliert, aber in seiner<br />

didaktischen Funktion für die Individualisierung noch nicht<br />

immer ausgeschöpft wird. Eine Ursache könnte sein, dass die je<br />

individuelle Beziehung von Mädchen <strong>und</strong> Jungen zu ihrer Welt<br />

unter dem geschlechtsneutralen allgemeinen Begriff „Kind“ zu<br />

verschwinden droht. Das Kind in seiner Individualität zu<br />

berücksichtigen, es als Subjekt seines Sozialisations- <strong>und</strong><br />

Lernprozesses ernst zu nehmen, es tatsächlich auch seinen<br />

eigenen Fragen nachgehen zu lassen, setzt auch voraus, die<br />

Unterschiede wahrzunehmen, die aus der jeweiligen<br />

Geschlechtszugehörigkeit für die Identität <strong>und</strong> Individualität von<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen erwachsen.<br />

In Anlehnung an Soostmeyers Definition der<br />

„Lebenswirklichkeit/ Lebenswelt“ (vgl Soostmeyer 1992) sind<br />

unter Berücksichtigung der Kategorie „Geschlecht“ <strong>und</strong> der<br />

Dialektik von objektiver <strong>und</strong> subjektiver Wirklichkeit die<br />

folgenden Sachverhalte wichtige Aspekte bei der Analyse der<br />

Lebenswelt:<br />

a) die Beziehungen der Mädchen <strong>und</strong> Jungen zu Personen <strong>und</strong><br />

anderen Lebewesen,<br />

b) die Gr<strong>und</strong>bedürfnisse der Mädchen <strong>und</strong> Jungen,<br />

39


c) die individuellen Schemata der Mädchen <strong>und</strong> Jungen für die<br />

Wirklichkeitskonstruktion,<br />

d) die Lebensumstände der Mädchen <strong>und</strong> Jungen in unserer<br />

Gesellschaft,<br />

e) die Lebensgewohnheiten der Mädchen <strong>und</strong> Jungen in unserer<br />

Kultur,<br />

f) die Probleme dieser Welt, die sich aus den Verhältnissen der<br />

Geschlechter ergeben.<br />

Die Lebenswelt der Kinder ist also nicht homogen, sie ist<br />

gekennzeichnet durch verschiedene „soziale Welten“, die<br />

beeinflusst sind durch ein - sich ständig veränderndes -<br />

Arrangement der Geschlechter. „Mädchenwelten“ <strong>und</strong><br />

„Jungenwelten“ sind eine soziale Konstruktion <strong>und</strong> eine soziale<br />

Tatsache, denn der schulische Alltag ist ein Mikrokosmos<br />

nichtintendierter Geschlechter differenzierender Zuordnungen<br />

<strong>und</strong> Zuschreibungen, dem sich Kinder wie Erwachsene kaum<br />

entziehen können. Dieser Alltag widerspiegelt die Probleme der<br />

sozialen Umwelt der Kinder, Probleme <strong>und</strong> Beziehungen, die<br />

durch eine Kultur der Zweigeschlechtlichkeit geprägt <strong>und</strong><br />

tradiert sind. Von Geschlechterkulturen als Ausdruck der<br />

gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse zu sprechen bietet<br />

sich an, weil wir es in Schule <strong>und</strong> Gesellschaft mit einer<br />

Gesamtheit relativ typischer Lebensformen der Geschlechter <strong>und</strong><br />

ihren Werteinstellungen zu tun haben, die zu einem Großteil das<br />

Resultat von weiblichen <strong>und</strong> männlichen Kulturtraditionen sind.<br />

Kultur ist der Inbegriff der durch die Bearbeitung der Natur<br />

selbst geschaffenen Welt des Menschen. Kultur ist dabei als eine<br />

soziale Realität zu betrachten, auf deren Basis sich<br />

Gruppenbewusstsein aufbaut <strong>und</strong> Identität entwickelt. „Kultur<br />

ist demnach ein Kriterium für Inklusion <strong>und</strong> Exklusion sowie für<br />

die Struktur von innergesellschaftlichen <strong>und</strong> internationalen<br />

Konfliktformationen. Diese Kennzeichnung schließt weder den<br />

Wandel von Kultur aus, die Ergebnis historischer Prozesse ist,<br />

noch die Existenz von Interessendivergenzen…“ (Nohlen 2002, S.<br />

480). Sie ermöglicht das kulturbedingte Sinnverstehen, ohne das<br />

„die Akteure angesichts unterschiedlicher Werthorizonte <strong>und</strong><br />

Interessenlagen ihre Handlungen gegenseitig nicht verstehen<br />

könnten“ (ebenda). Mit der Begriffswahl Geschlechterkultur wird<br />

der nachhaltige Einfluss der Geschlechterverhältnisse bzw. der<br />

40


Geschlechterarrangements auf die individuellen Schemata zur<br />

Wirklichkeitskonstruktion der Mädchen <strong>und</strong> Jungen deutlich.<br />

Eine zentrale Frage bei der Diskussion um einen modernen<br />

Sachunterricht muss daher auch sein, wie er die Mädchen- <strong>und</strong><br />

Jungen-“kulturen“ respektiert, ohne sich auf eine normative<br />

Fixierung auf zwei Geschlechter einzulassen.<br />

Gr<strong>und</strong>voraussetzung dafür ist, Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen<br />

für die gesellschaftlich-kulturelle Dimension der Kategorie<br />

„Geschlecht“ zu sensibilisieren, um sich von der<br />

Geschlechtertypisierung zu emanzipieren <strong>und</strong><br />

Geschlechterhierarchien zu überwinden.<br />

Veränderte Kindheit <strong>und</strong> Zukunft<br />

von Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

Obwohl in den letzten Jahrzehnten durch einen umfassenden<br />

gesellschaftlichen Wandel die Gleichberechtigung der<br />

Geschlechter nicht nur gesetzlich fixiert ist, sondern auch als<br />

Gr<strong>und</strong>konsens die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem<br />

Land zu bestimmen scheint, ist die gesellschaftliche<br />

Nachrangigkeit der Frauen nicht überw<strong>und</strong>en. Der Prozess der<br />

Individualisierung löst den traditionellen Lebensrhythmus aller<br />

Menschen tendenziell auf - unabhängig vom Geschlecht. Aus<br />

„Normalbiografien“ werden „Wahlbiografien“, weil man nicht<br />

mehr in „traditionale Gesellschaften“ hineingeboren wird. Die<br />

einzelnen werden zu Akteuren <strong>und</strong> Konstrukteuren ihrer<br />

eigenen Biografie, ihrer sozialen Bindungen <strong>und</strong> Netzwerke (vgl.<br />

Beck 1996, S. 42). Deutlich wird dieser Prozess z.B. an solchen<br />

soziodemographischen Vorgängen der letzten 20-30 Jahre wie<br />

dem Geburtenrückgang, der rückläufigen Zahl der<br />

Eheschließungen <strong>und</strong> der Zunahme an Scheidungen, aber auch<br />

der Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften <strong>und</strong><br />

Alleinerziehenden. Immer mehr Menschen wählen vielfältige<br />

neue Familien- <strong>und</strong> Lebensformen. Dabei geht es immer um die<br />

Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensgestaltung in Beruf,<br />

Politik, Freizeit, Familie, Beziehungen <strong>und</strong> Sexualität. Früher<br />

als selbstverständlich, ja sogar als natürlich <strong>und</strong> unhinterfragt<br />

angenommen waren geschlechtshierarchische Lebensmuster. Die<br />

veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ermöglichen heute<br />

41


den Mädchen <strong>und</strong> Jungen eine große Bandbreite von<br />

Lebensgestaltungsmöglichkeiten. Zu diesen gesellschaftlichen<br />

Bedingungen gehören veränderte Arbeitsbedingungen, Inhalte,<br />

Technologien <strong>und</strong> Produktionskonzepte. Verändert haben sich<br />

die Ansprüche an Beziehungen <strong>und</strong> Beziehungsformen der<br />

Menschen. Die Rolle der Frau <strong>und</strong> ihre Partizipations- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsmöglichkeiten in Gesellschaft <strong>und</strong> Familie haben<br />

sich entscheidend gewandelt. Den biografischen Möglichkeiten<br />

der Menschen stehen prinzipiell kaum Einschränkungen<br />

entgegen. Besonders im beruflichen Leben ist zu erleben: Frauen<br />

greifen zunehmend in Männerdomänen ein, eine Einteilung in<br />

„Männer- <strong>und</strong> Frauenberufe“ scheint nicht mehr zeitgemäß zu<br />

sein. Der Trend ist unübersehbar, dass für Frauen <strong>und</strong> Männer,<br />

für Deutsche <strong>und</strong> Nichtdeutsche, für Arme <strong>und</strong> Reiche die<br />

Freiräume für die Gestaltung ihres eigenen Lebens –<br />

einschließlich ihres Berufs- <strong>und</strong> Arbeitslebens größer werden <strong>und</strong><br />

die Individualisierungschancen wachsen. Auch wenn zunehmend<br />

traditionelle Geschlechterrollen überschritten oder neu<br />

entworfen werden ist gegenwärtig doch offensichtlich, dass die<br />

Chancen zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen immer noch ungleich<br />

verteilt sind <strong>und</strong> Rollenklischees, Benachteiligungen <strong>und</strong><br />

Diskriminierungen unser Leben prägen, die die Wahloptionen<br />

der eigenen Biografie begrenzen. Wenn für Jungen auch<br />

weitgehend die Vorbereitung auf die Erwerbsarbeit dominiert, so<br />

ist auch hier die Hinwendung zur geteilten Elternschaft<br />

unübersehbar. Die damit im „Zeitalter des eigenen Lebens“<br />

(Beck) einher gehenden Selbstverwirklichungsansprüche zeigen<br />

sich in neuen Wertorientierungen <strong>und</strong> Handlungsmustern der<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen bereits im Gr<strong>und</strong>schulalter, die zum Teil<br />

unter dem Stichwort der „veränderten Kindheit“ in der Literatur<br />

dokumentiert sind. Mädchen streben heute bei einer<br />

Familiengründung oder bei der Geburt eines Kindes nicht mehr<br />

unbedingt den Rückzug aus dem Berufsleben an <strong>und</strong> wollen<br />

nicht nur Hausfrau <strong>und</strong> Mutter sein, doch die Realität lässt<br />

andere Möglichkeiten oft nicht zu. Es fehlen auch Vorbilder für<br />

moderne weibliche Lebensweisen <strong>und</strong> es mangelt nicht selten an<br />

Zukunftsvisionen, fern von tradierten Geschlechter- <strong>und</strong><br />

Arbeitsverhältnissen. Soziologen verweisen seit langem darauf,<br />

dass die Schule besser auf die veränderte Zukunft mit ihren<br />

potentiellen Möglichkeiten einer individuellen Lebensgestaltung<br />

42


vorzubereiten hat <strong>und</strong> bei den Kindern das Bewusstsein<br />

entwickeln muss, in immer stärkerem Maße selbst für die<br />

Gestaltung des eigenen Lebens verantwortlich zu sein.<br />

Chancengleichheit im Berufsleben?<br />

Obwohl, wie oben angemerkt, die Einteilung in „Männer- <strong>und</strong><br />

Frauenberufe“ nicht mehr zeitgemäß zu sein scheint, besteht sie<br />

subtil fort <strong>und</strong> eine „heimliche“ Diskriminierung untergräbt die<br />

Chancengleichheit. Frauen <strong>und</strong> Männer bekommen noch immer<br />

nicht für gleiche Arbeit den gleichen Lohn. Als Gr<strong>und</strong> für die<br />

Lohnunterschiede führt die Hans-Böckler-Stiftung 5 folgende<br />

Faktoren an, die für das geringere Verdienstniveau der Frauen<br />

verantwortlich gemacht werden:<br />

• Frauen sind häufiger in niedriger bewerteten Berufs- <strong>und</strong><br />

Tätigkeitspositionen als Männer,<br />

• sie arbeiten häufiger in Branchen mit niedrigerem<br />

Lohnniveau,<br />

• sie haben oft weniger Berufsjahre als Männer,<br />

• ihr angestiegenes Ausbildungsniveau schlägt sich noch nicht in<br />

einer höheren Entlohnung nieder,<br />

• sie arbeiten eher als Männer in Kleinunternehmen, in denen<br />

das Lohnniveau generell niedriger liegt,<br />

• sie arbeiten häufiger in Teilzeittätigkeiten, in denen die<br />

Aufstiegsmöglichkeiten geringer sind.<br />

Ein großer Teil des Lohnunterschieds (in Westdeutschland sind<br />

das ein Drittel - in Ostdeutschland ein Viertel- der Unterschiede)<br />

kann so aber nicht erklärt werden. Sie gehen vor allem auf<br />

Diskriminierung zurück.<br />

Die Autorin dieser Studie, Astrid Ziegler, geht davon aus, dass<br />

das deutsche Tarifsystem nicht geschlechtsneutral ist.<br />

Erste Weichen für systematische Differenzen zwischen Frauen<strong>und</strong><br />

Männereinkommen stellen die Tarifverträge. „So gibt es<br />

relativ gut bezahlte "Männerbranchen" (beispielsweise Chemie,<br />

Bau, Druck) <strong>und</strong> schlechter bezahlte "Frauenbranchen"<br />

(beispielsweise Hotel <strong>und</strong> Gaststätten, Bekleidung,<br />

Nahrungsmittel). Eine Verkaufshilfe im Einzelhandel Nordrhein-<br />

5<br />

Siehe dazu: www.boeckler-boxen.de<br />

43


Westfalen verdient beispielsweise 1.166 € im Monat, eine<br />

Maschinenwerkerin 1.750 € - ein Unterschied von 584 €!<br />

Niedriglohntätigkeiten gibt es besonders häufig in Bereichen, in<br />

denen viele Frauen arbeiten, beispielsweise als Friseurin,<br />

Floristin, Verkäuferin. Hoch bezahlte Tätigkeiten dagegen sind<br />

häufiger in männerdominierten Bereichen, (beispielsweise die<br />

Arbeit als Techniker, Ingenieur oder Pilot“ (ebenda). Die<br />

Übersicht auf der nächsten Seite verdeutlicht das Mädchen für<br />

gewerblich-technische Berufe zu interessieren <strong>und</strong> die Kategorie<br />

der „Männer- <strong>und</strong> Frauenberufe“ zu überwinden, ist im Interesse<br />

der Chancengleichheit eine alte Forderung. Sie war immer<br />

verb<strong>und</strong>en mit der Idee, den jungen Frauen auf dem<br />

Arbeitsmarkt die gleichen Chancen wie Männern zu<br />

ermöglichen, vor allem im Hinblick auf die Bezahlung, den<br />

beruflichen Aufstieg <strong>und</strong> den Schutz vor Arbeitslosigkeit. Trotz<br />

einiger positiver Beispiele haben sich diese Ziele <strong>und</strong> Hoffnungen<br />

nicht erfüllt. Im Gegenteil, man scheint in Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Schule wieder relativ unbekümmert der scheinbar<br />

„naturgemäßen“ Zuwendung der Mädchen <strong>und</strong> Jungen zu<br />

„frauen- bzw. männerspezifischen“ Berufe nachzugeben <strong>und</strong> das<br />

nicht mehr zu problematisieren oder gar in Frage zu stellen.<br />

Will man Kinder <strong>und</strong> Jugendliche dazu anregen, sich mir ihrem<br />

Wunschberuf auseinander zu setzen, muss man auch das<br />

Geschlecht berücksichtigen. Nicht wenige Lehrerinnen <strong>und</strong><br />

Lehrer sind der Meinung, dass mit der Perspektive auf das<br />

Geschlecht gewissermaßen künstlich Denkprozesse<br />

problematisiert <strong>und</strong> Vorurteile gefestigt werden. Das Gegenteil<br />

ist aber der Fall. Mit der Kategorie Geschlecht eröffnet sich eine<br />

wesentliche Perspektive auf den Berufs-, Arbeits- <strong>und</strong><br />

Lebensalltag der Menschen. Nicht umsonst wird seit<br />

Jahrzehnten im Zusammenhang mit Bildungschancengleichheit<br />

die Geschlechtsblindheit ebenso kritisiert, wie die die<br />

offensichtliche Benachteiligung des (weiblichen) Geschlechts in<br />

der Gesellschaft.<br />

44


Notwendig bleibt also nach wie vor, die gesellschaftlich<br />

existierenden ungleichen Bedingungen für die Geschlechter nicht<br />

zu verschweigen.<br />

Die Berufswahl ist einzuordnen in den Prozess der Ausformung<br />

der Bilder von den Geschlechterrollen in der Arbeitswelt, der<br />

schon im Vorschulalter beginnt. Das, was als persönlicher,<br />

individuell geformter Berufswunsch erscheint, ist bereits die<br />

Folge der durch Macht, Herrschaft, Sozialstrukturen <strong>und</strong><br />

Institutionen geprägten Handlungskontexte der Subjekte.<br />

(ausführlich dazu: Lemmermöhle 2004, S.237ff.). Das darf nicht<br />

45


unreflektiert bleiben. Will man als Mädchen später auf „eigenen<br />

Beinen“ stehen <strong>und</strong> ökonomisch unabhängig werden, muss man<br />

heute noch (leider) den „typischen“ Frauenberuf meiden.<br />

Das bestätigt auch eine Langzeitstudie zum Zusammenhang von<br />

Bildung <strong>und</strong> Lebensbewältigung, nach der beim Vergleich von<br />

Absolventen <strong>und</strong> Absolventinnen aller Schulformen im Alter von<br />

35 Jahren die Einkommen viermal stärker nach Geschlecht als<br />

nach Abschluss variieren (vgl. Fend 2006).<br />

Mädchen sollten also für die besonderen Risiken, die sich auf<br />

Gr<strong>und</strong> des Geschlechts im Berufsleben ergeben, sensibilisiert<br />

werden. Gerade die Gruppe der benachteiligten Mädchen setzt<br />

früh auf die Rückzugsargumente, sich überwiegend auf Familie<br />

<strong>und</strong> Kinder einstellen zu wollen <strong>und</strong> daher die berufliche<br />

Qualifikation nicht für so wichtig zu nehmen. Das wird z.T.<br />

immer noch gesellschaftlich toleriert <strong>und</strong> gefördert. Gleichzeitig<br />

zeigen die aktuellen Entwicklungstendenzen<br />

(Kinderbetreuungsangebote, Änderung der<br />

Versorgungsansprüche im Falle der Scheidung, geringer<br />

werdende Ressourcen des Sozialstaates etc.), dass junge Frauen<br />

in dem Ziel bestärkt werden müssen, selbst ökonomisch<br />

unabhängig zu werden. Schon die Gr<strong>und</strong>schule kann die<br />

Mädchen auf die Risiken im Lebenslauf <strong>und</strong> das Erkennen der<br />

Bedeutung der Berufswahl vorbereiten (vgl. Hempel 2007 b).<br />

Geschlechterbewusste Berufs- <strong>und</strong> Lebensplanung<br />

schon in der Gr<strong>und</strong>schule<br />

Das große Interesse der Mädchen <strong>und</strong> Jungen an der beruflichen<br />

Zukunft wird in der Schulpraxis zunehmend, beginnend in den<br />

Gr<strong>und</strong>schulen, auf hohem Niveau thematisiert. Die<br />

verschiedenen Wege zur Auseinandersetzung mit den Berufen<br />

werden verb<strong>und</strong>en mit Fragen der Lebensbewältigung <strong>und</strong> den<br />

Wünschen für das eigene Leben. Das kann ein Weg sein,<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen andere Perspektiven aufzuzeigen <strong>und</strong> zu<br />

verhindern, dass Mädchen „Sackgassenberufe“ wählen, die<br />

geringe Aufstiegschancen bieten <strong>und</strong> besonders niedrige<br />

Entgeltzahlungen erwarten lassen. Dass sich immer noch so<br />

wenige Mädchen technische Berufe zutrauen, dass diese auch<br />

nach wie vor nicht zu den Traumberufen gehören, ist vor allem<br />

46


die Folge mangelnder eigener Erfahrungen. Erst die eigene<br />

intensive Auseinandersetzung mit bestimmten technischpraktischen<br />

Sachverhalten könnte Interesse <strong>und</strong> vor allem das<br />

notwendige Selbstvertrauen aufbauen. Hier hat der<br />

Sachunterricht in besonderer Weise wirksam zu werden.<br />

Probleme <strong>und</strong> <strong>Forschungen</strong> zur Lebensplanung <strong>und</strong><br />

Berufsorientierung beziehen sich in der Regel vor allem auf ältere<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler. Seit einigen Jahren erst werden auch<br />

die Lebensentwürfe 6 , Berufswünsche <strong>und</strong> Zukunftsvisionen von<br />

Kindern im Gr<strong>und</strong>schulalter erforscht (vgl. Hempel 1995, 1997a,<br />

1998, 2000, Glumpler 1993, Kaiser 2002). Als Unterrichtsthemen<br />

gehören Familie, Arbeit <strong>und</strong> Beruf allerdings von je her zu den<br />

Lerngegenständen des Sachunterrichts. Damit kann der<br />

Sachunterricht einen entscheidenden Beitrag leisten, bereits in<br />

der Gr<strong>und</strong>schule gr<strong>und</strong>legende Kompetenzen auszubilden, sich in<br />

der Welt orientieren zu können. Sich orientieren zu können, gilt<br />

als eine bedeutende Entwicklungsaufgabe im Kindesalter. Kinder<br />

benötigen heute die Kompetenz, den eigenen Lebenslauf selbst zu<br />

organisieren <strong>und</strong> mit Ungewissheiten umzugehen. In der Kindheit<br />

müssen die gr<strong>und</strong>legenden Fähigkeiten <strong>und</strong> Haltungen angelegt<br />

werden, sich kritisch orientieren <strong>und</strong> entscheiden zu können (<strong>und</strong><br />

zu wollen). Um das eigene „Ich“ zu einer Orientierungsinstanz zu<br />

entwickeln, die beim „Finden <strong>und</strong> Benutzen eines eigenen inneren<br />

Kompasses durch all die Angebote <strong>und</strong> Märkte der Lebensformen<br />

hindurch“ (Brater 1997, S. 151) hilfreich ist, sollte der eigene<br />

Lebensentwurf explizit thematisiert werden. Möglichkeiten dazu<br />

habe ich an anderer Stelle ausführlich vorgestellt (vgl Hempel<br />

1997b, 2003, 2004, 2007d). Erst so kann aus der allgemeinen<br />

Zielstellung, dass sich Kinder in der Welt orientieren können<br />

sollen, eine aktuelle didaktische Aufgabenstellung für den<br />

Unterricht werden, in dem die Kinder unterstützt werden in<br />

ihrem Suchen nach persönlichen Leitbildern <strong>und</strong> individuellen<br />

Orientierungen für das eigene Handeln.<br />

„Lebensentwürfe“ sind geeignet, das von den sozialen<br />

Erfahrungen geprägte aktuelle Denken <strong>und</strong> die subjektiven<br />

6 Ich verwende den Begriff vor allem in Unterscheidung zur Lebensplanung, da es gerade bei jüngeren<br />

Kindern noch nicht so sehr um reale Planungsprozesse geht, sondern um das fantasievolle Entwerfen<br />

einer eigenen Zukunft. Es geht um ein Spiel mit Optionen, die sowohl im Hinblick auf die eigenen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Wünsche, wie im Hinblick auf gesellschaftlich Machbares untersucht <strong>und</strong> geprüft<br />

werden müssen. Insofern ist in diesem Prozess die Anbahnung von Kompetenzen integriert, das eigene<br />

Leben zukünftig planen zu können.<br />

47


Deutungs- <strong>und</strong> Interpretationsmuster der Kinder sichtbar zu<br />

machen.<br />

Bei jedem Kind ein Nachdenken über das eigene Leben<br />

anzuregen heißt vor allem, Erfahrungen (mit dem bisherigen<br />

Leben), Wünsche (zu Berufen, Partnern, Wohnverhältnissen),<br />

Gefühle (zum Zusammenleben) <strong>und</strong> Meinungen (zu<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Bedingungen) zu benennen.<br />

Kompetenzen zur biographischen Selbststeuerung, die im<br />

Gr<strong>und</strong>schulalter bereits anzubahnen sind, ermöglichen es, das<br />

eigene Leben im Kontext der gesellschaftlichen Bedingungen zu<br />

planen, sich selbst <strong>und</strong> sein Fähigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

kritisch zu reflektieren, um schließlich „das eigene Leben in die<br />

eigene Hand“ (Beck 1996) nehmen zu können. Da die<br />

Lebensentwürfe das Selbstbild <strong>und</strong> Werteverständnis der<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen widerspiegeln <strong>und</strong> erkennen lassen, wie sie<br />

ihre eigene berufliche Position, ihre Rolle in der Familie, ihr<br />

Verhältnis zum anderen Geschlecht <strong>und</strong> den eigenen Platz in der<br />

Gesellschaft jetzt <strong>und</strong> zukünftig verstehen, haben sie auch eine<br />

wichtige diagnostische Funktion. Es sind vor allem die im bisher<br />

gelebten Leben erworbenen Erfahrungen, die die Lebensentwürfe<br />

prägen. Oft werden so Vorurteile, Ängste <strong>und</strong> Schwächen, aber<br />

auch Zielvorstellungen <strong>und</strong> Ideale sichtbar, so dass die<br />

Lebensentwürfe als artikulierte Erfahrungen <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

ein wertvolles diagnostisches Material für die Hand der<br />

Lehrenden darstellen, das ein Blick auf das entsprechende<br />

Vorwissen der Mädchen <strong>und</strong> der Jungen ermöglicht. So können<br />

einengende Vorstellungen vom eigenen Leben, vom Arbeiten <strong>und</strong><br />

vom Zusammenleben der Geschlechter erfasst werden. In diesen<br />

subjektiven Zugängen der Kinder zur Welt zeigen sich auch<br />

besonders gut die individuellen kulturspezifischen Denk- <strong>und</strong><br />

Deutungsmuster. Ein Kennen der unterschiedlichen<br />

Perspektiven von Mädchen <strong>und</strong> Jungen in einer Klasse<br />

ermöglicht den Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern, den Blick für das<br />

Einzelne, Individuelle, Besondere jedes Kindes <strong>und</strong> seiner<br />

Lebenswelt zu schärfen - eine der wichtigsten Gr<strong>und</strong>lagen für die<br />

professionelle Gestaltung des Lehr-Lern-Prozesses im<br />

Sachunterricht.<br />

48


Forschung zu Lebensentwürfen <strong>und</strong><br />

Berufskonzepten von Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

Die im folgenden referierten Untersuchungen zu Lebens- <strong>und</strong><br />

Zukunftsentwürfen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen in Ost <strong>und</strong> West<br />

zeigen, dass die in 40 Jahren gelebten gesellschaftspolitischen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Unterschiede zwischen Ost <strong>und</strong> West die<br />

Einstellungen <strong>und</strong> Haltungen von Frauen <strong>und</strong> Männern gerade<br />

in den Punkten stark geprägt zu haben scheinen, die für eine<br />

gleichberechtigte <strong>und</strong> partnerschaftliche Geschlechtererziehung<br />

bedeutsam sind. Möglicherweise liegen für die Überwindung<br />

bestimmter hierarchisch geprägter Denkstrukturen im Osten<br />

trotz der fehlenden feministischen Debatten recht gute<br />

Ausgangsbedingungen vor. Nach der Wende kristallisierte sich<br />

als ein Gr<strong>und</strong>problem im Osten heraus, dass<br />

patriarchatskritisches Denken kaum entwickelt war <strong>und</strong> dass<br />

dadurch eine mit der Koedukation notwendig verb<strong>und</strong>ene<br />

Reflexion der Geschlechterverhältnisse im Erziehungsprozess<br />

kaum erfolgen konnte (vgl. Hempel 1996). Soziologische<br />

Untersuchungen zeigten aber, dass die Verringerung sozialer<br />

Ungleichheiten zwischen Frauen <strong>und</strong> Männern, als<br />

„emanzipatorischer Trend“ der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

insgesamt, in der DDR weiter fortgeschritten war als in der BRD<br />

(vgl. Geißler 1996, S. 292ff.). Der Gleichstellungsvorsprung<br />

ostdeutscher Frauen durch die sozialistische Frauenpolitik hatte<br />

die Unterschiede in Bildung, Arbeit, Politik <strong>und</strong> Familie in der<br />

DDR, so Geißler, etwas weiter verringert, als das in der „alten“<br />

B<strong>und</strong>esrepublik der Fall war. „Der Faktor Geschlecht als<br />

Determinante sozialer Ungleichheit war im sozialistischen<br />

System von etwas geringerem Gewicht als in der Bonner<br />

Republik“ (Geißler 1996, S.293). Der gelebte Alltag mit seinen -<br />

durch die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen<br />

geprägten „Selbstverständlichkeiten“ des Umgangs der<br />

Geschlechter - scheint sich tatsächlich nicht unwesentlich auf<br />

das Selbstbewusstsein <strong>und</strong> Selbstverständnis von Frauen <strong>und</strong><br />

Mädchen in den neuen B<strong>und</strong>esländern ausgewirkt zu haben.<br />

Soziologen gehen heute davon aus, dass sich unter den<br />

veränderten Bedingungen die Formen der privaten<br />

Lebensführung zwar gewandelt haben, nicht aber die Logik der<br />

Lebensführung.<br />

49


Diese Logik strukturiert <strong>und</strong> arrangiert mit relativer Stabilität<br />

die alltägliche Lebensführung. Dölling bezeichnet diesen<br />

Zusammenhang mit dem Begriff „Selbstverständlichkeiten“ <strong>und</strong><br />

versteht darunter solche Wertorientierungen <strong>und</strong><br />

Handlungsmuster, die ein individuelles Resultat der DDR-<br />

Sozialisation sind <strong>und</strong> die Alltagspraxis regeln“ (vgl. Dölling<br />

1998, S. 151).<br />

Zu den von ihr in den jeweiligen Biographien von Ost-Frauen<br />

herausgef<strong>und</strong>enen bedeutsamen Selbstverständlichkeiten zählt<br />

Dölling<br />

• die ganztägige qualifizierte Erwerbsarbeit,<br />

• die Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> Familie (Pendeln zwischen<br />

Berufs- <strong>und</strong> Hausarbeit),<br />

• das Gefühl der Wir-Gemeinschaft,<br />

• die tendenziell gleichberechtigte Partnerschaft,<br />

• die Minimierung der „Ernährerrolle“ des Mannes.<br />

Die tendenzielle Egalität beruhte nach Dölling auf der<br />

Selbstverständlichkeit der Berufstätigkeit beider Partner <strong>und</strong><br />

den daraus resultierenden selbstverständlichen Tätigkeiten der<br />

Männer wie Betreuung kranker Kinder, Bringen/ Abholen zu/<br />

von den Kindereinrichtungen. Erwerbsarbeit 7 galt für beide<br />

Geschlechter als selbstverständlich <strong>und</strong> gesellschaftlich<br />

notwendig. Das Negativbild „Hausfrau“ war sehr verbreitet <strong>und</strong><br />

hat sich nachhaltig ins Bewusstsein vieler Generationen<br />

eingeprägt (vgl. Dölling 1998, S. 153-160).<br />

Auch die unhinterfragte selbstverständliche koedukative<br />

Einheitsschule, die alle Eltern <strong>und</strong> Großeltern der heutigen<br />

Kindergeneration besucht hatten, prägte durchaus die<br />

subjektiven Gleichheitstheorien <strong>und</strong> damit das<br />

Erziehungsverhalten der Väter <strong>und</strong> Mütter. Dabei darf nicht<br />

übersehen werden, dass durch die fehlende Thematisierung <strong>und</strong><br />

Problematisierung der gesellschaftlichen<br />

Geschlechterverhältnisse der Blick auf das „real existierende“<br />

7 Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin-West betrug der Anteil,<br />

den berufstätige Frauen in der DDR zum Familieneinkommen leisteten, 41 % <strong>und</strong> lag damit weit höher<br />

im Vergleich zu den Verhältnissen in der BRD, wo der Anteil, den Frauen erwirtschafteten, 18 % betrug<br />

(Radke 1991, S. 4). Frauen fühlten sich nicht mehr als „Zuverdiener“. Trotzdem darf nicht übersehen<br />

werden, dass das in vielen Fällen eine außerordentliche psychische <strong>und</strong> physische Belastung der Frauen<br />

bedeutete, da vor allem sie doppelt <strong>und</strong> dreifach belastet waren durch die in vielen Familien immer noch<br />

dominierenden patriarchalen Strukturen. Die veröffentlichten <strong>Forschungen</strong> über Frauen verklärten das<br />

Bild eher, als dass sie aufklärten (vgl. Hempel 1997a). Diese „Aufklärungsarbeit“ wurde durch die<br />

Künstler, Schriftsteller <strong>und</strong> Filmemacher geleistet.<br />

50


System der Zweigeschlechtlichkeit verstellt war. Die<br />

Einheitsschule der DDR ignorierte die Analysekategorie<br />

„Geschlecht“ weitgehend, postulierte jedoch nachdrücklich die<br />

Gleichheit der Geschlechter hinsichtlich der zu erwerbenden<br />

Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen usw. in den<br />

Lehrplänen 8 . Lediglich biologische Ungleichheiten wurden<br />

akzeptiert, die dann auch den Begründungszusammenhang für<br />

den nicht koedukativ angelegten Sportunterricht in der DDR-<br />

Schule. Es dominierte zudem ein Frauenleitbild, das die aktive,<br />

im gesellschaftlichen Arbeitsprozess stehende Frau <strong>und</strong> Mutter<br />

in den Mittelpunkt rückte <strong>und</strong> z.T. sogar idealisierte. Davon<br />

wurden die Vorstellungen der Lehrer/innen <strong>und</strong> Schüler/innen<br />

von der Gleichberechtigung <strong>und</strong> Chancengleichheit in<br />

erheblichem Maße beeinflusst (vgl. Hempel 1995).<br />

Die relativ spezifischen Lebensweisen, Lebensgefühle <strong>und</strong> –<br />

formen prägen dann auch die Lebensentwürfe <strong>und</strong> beruflichen<br />

Orientierungen der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen der<br />

Nachwendezeit. Gerade im Zusammenhang mit den<br />

Vorstellungen der Mädchen <strong>und</strong> Jungen zur Einbindung der<br />

beruflichen Tätigkeit in ihr (zukünftiges) Leben zeigen sich<br />

deutliche Unterschiede zwischen Ost <strong>und</strong> West. Das soll im<br />

Folgenden anhand einiger Untersuchungsergebnisse gezeigt<br />

werden. Die folgenden Ausführungen eines Jungen aus der 5.<br />

Klasse in der „Potsdamer Studie“, zeigt exemplarisch diese<br />

männliche Sicht auf die Vereinbarkeit von Familie <strong>und</strong><br />

Berufstätigkeit:<br />

„Ich gehe zur 10. Klasse, wenn ich es schaffe. Mein<br />

Berufswunsch ist Truckfahrer zu werden. Und dann will ich<br />

in die Schweiz <strong>und</strong> eine Firma aufmachen <strong>und</strong> da sollen<br />

Truckfahrer arbeiten. Ein eigenes Haus möchte ich haben<br />

mit einem Kind <strong>und</strong> einer Frau. Und ein Auto, das ist ein<br />

BMW: Und eine Arbeit soll meine Frau haben <strong>und</strong> sie soll<br />

8<br />

Die in einer Längsschnittstudie des IPN „Bildungsprozesse <strong>und</strong> psycho-soziale<br />

Entwicklung im Jugendalter“ 1994 veröffentlichten Ergebnisse belegten (als mögliche<br />

Folge dieser Bedingungen), dass in den neuen B<strong>und</strong>esländern die Leistungen in Physik<br />

bei Mädchen <strong>und</strong> Jungen gleich waren. In Mathematik <strong>und</strong> Biologie hatten die Mädchen<br />

die Jungen sogar überr<strong>und</strong>et. Mädchen erreichten hier trotz (auch hier festgestellter<br />

motivationaler Distanz <strong>und</strong> Selbstunterschätzung) äquivalente Fachleistungen (vgl. IPN-<br />

Blätter 4/94).<br />

51


Chefin sein. Und meine Kinder sollen nicht so streng erzogen<br />

werden.“<br />

Der Aufsatz entstammt der Teilstudie zu kindlichen<br />

Lebensentwürfen, die im Rahmen der Potsdamer Studie 9 von mir<br />

durchgeführt wurde. Hier waren 120 Kinder der Klassen 3 bis 6<br />

aus dem Land Brandenburg beteiligt. Ziel war es, über<br />

subjektive Wünsche, Träume, Ideen vom eigenen zukünftigen<br />

Leben („Wie stelle ich mir mein Leben in 20 Jahren vor?“) die<br />

durch bisherige Erfahrungen geprägten Vorstellungen vom<br />

zukünftigen Berufs- <strong>und</strong> Familienleben zu erfassen. Die<br />

Ergebnisse dieser Studie bestätigten, dass Mädchen wie Jungen<br />

von der Vorstellung <strong>und</strong> dem intensiven Wunsch einer<br />

zukünftigen Berufstätigkeit geprägt sind. So gehört die<br />

antizipierte eigene Berufstätigkeit bei den Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

auch zu den Elementen, die am häufigsten von den Kindern in<br />

ihren Aufsätzen thematisiert wurden. An zweiter Stelle stehen<br />

Aussagen zur persönlichen Lebensgestaltung (Familie, Kinder,<br />

„Single-Leben“etc.). An dritter Stelle der Häufigkeit der von den<br />

Kindern beschriebenen Elemente in ihren Zukunftsvisionen steht<br />

die Beschreibung der gewünschten privaten Lebensverhältnisse,<br />

oft auch der/die gewünschten Partner/in (Arbeitsteilung,<br />

Tagesablauf, Beruf <strong>und</strong> Aussehen des Partners etc.). Ähnlich<br />

häufig wird von den Kindern beschrieben, wie sie einmal wohnen<br />

wollen (Villa, Einfamilienhaus, eigene Wohnung). Als weiteres -<br />

von den Kindern besonders lustvoll beschriebenes - Element<br />

kann der „eigene Besitz“ gelten, von dem sie träumen (Geld,<br />

Autos, Haus mit Pool <strong>und</strong> Garten usw.).<br />

9<br />

Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studie von 1994 sind im Rahmen eines<br />

mehrjährigen Projekts (1993-1997) entstanden, das sich mit Problemen der<br />

Gleichberechtigung <strong>und</strong> Chancengleichheit von Mädchen <strong>und</strong> Jungen an den<br />

Gr<strong>und</strong>schulen des Landes Brandenburg beschäftigte <strong>und</strong> vom Ministerium für Arbeit,<br />

Soziales <strong>und</strong> Frauen des Landes Brandenburg finanziell gefördert wurde. Das Projekt<br />

sollte sowohl dazu beitragen, notwendige Gr<strong>und</strong>lagen für eine primarstufenbezogene<br />

Geschlechterforschung an der Universität Potsdam zu schaffen, als auch darin, die<br />

geschlechtsspezifische schulische Sozialisation der Mädchen <strong>und</strong> Jungen als Folge der<br />

gesellschaftlichen Bedingungen in den neuen B<strong>und</strong>esländern zu untersuchen (vgl.<br />

Hempel 1995a).<br />

52


In einer ähnlich angelegten Untersuchung mit<br />

Gr<strong>und</strong>schulkindern aus Westdeutschland (Raum Flensburg) 10<br />

musste konstatiert werden, dass die Mädchen bereits die<br />

Verpflichtungen der gängigen Mutterrolle akzeptieren <strong>und</strong> die<br />

Jungen sich am Modell des Mannes orientieren, der<br />

selbstverständlich ununterbrochen berufstätig ist <strong>und</strong> dessen<br />

Vaterrolle Kinderbetreuung nicht einschließt (vgl. Glumpler<br />

1993, S.51). In der Potsdamer Studie wünschten sich sowohl<br />

Mädchen als auch Jungen Beruf <strong>und</strong> Kinder. Die Mädchen<br />

dachten keineswegs, die eigene Berufstätigkeit für aufzugeben.<br />

Dass hier Probleme geben könnte, kam ihnen nicht in den Sin.<br />

Typisch bei den Lebensentwürfen der 9-12-jährigen Kinder der<br />

Ost-Studie ist, dass die Vereinbarkeit der eigenen<br />

Berufstätigkeit mit einer Mehrkinderfamilie als völlig problemlos<br />

gesehen <strong>und</strong> beschrieben wird. Auch hier ist weniger der<br />

Umstand bemerkenswert, dass die eigene Berufstätigkeit so<br />

häufig benannt wurde als vielmehr die Selbstverständlichkeit,<br />

mit der Beruf <strong>und</strong> Familie vereinbart wurden. Aufgr<strong>und</strong> der<br />

bisherigen Erfahrungen der Kinder in ihrer eigenen Familie<br />

erscheint den Mädchen <strong>und</strong> Jungen die Vereinbarkeit von<br />

Familie <strong>und</strong> Beruf für die Mütter <strong>und</strong> Väter problemlos gewesen<br />

zu sein. Berufsausübung bei gleichzeitigem Familien- <strong>und</strong><br />

Elternstatus ist für diese Kindergeneration völlig „normal“. Die<br />

Hauptgruppe der Lebensentwürfe bildeten demzufolge sowohl<br />

bei den Mädchen als auch bei den Jungen Entwürfe, die das<br />

„typische“ Lebensmuster von Familien in der DDR widerspiegeln<br />

<strong>und</strong> die durch die Söhne-/ Töchtergeneration akzeptiert wird <strong>und</strong><br />

erstrebenswert erscheint. Die Äußerungen der Kinder zeigen<br />

auch, dass „...in ostdeutschen Familien die gewohnte<br />

Gleichberechtigung der Geschlechter von einst mehr oder<br />

weniger weitergelebt [wird], wie unzureichend sie auch immer<br />

gewesen sein mag“ (Meyer 1994, S. 159). Diese doppelte<br />

Orientierung auf Beruf <strong>und</strong> Familie kann als „typisch“ für das<br />

Lebenskonzept heutiger Frauen in Ost <strong>und</strong> West bezeichnet<br />

werden. Im Hinblick auf die Lebensvorstellungen von Jungen<br />

konnten diese 1994 verfassten Lebensentwürfe als Ausdruck<br />

einer beginnenden Abwendung von patriarchal geprägten<br />

10 Diese Studie gehörte zu einem von der Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Jugend <strong>und</strong> Kultur des<br />

Landes Schleswig-Holstein seit 1989 geförderten Forschungsprojekts zur „Berufsorientierung von<br />

Mädchen <strong>und</strong> jungen Frauen im Raum Flensburg“.<br />

53


Rollenbildern, hin zu Ansätzen partnerschaftlichen Denkens<br />

gedeutet gewertet werden. Bei den Mädchen deuteten sich<br />

Haltungen an, sich später nicht widerstandslos auf eine Position<br />

zurückdrängen zu lassen, die die Vereinbarkeit als Ausnahme<br />

von der Regel versteht.<br />

Ähnliches bestätigen auch die Ergebnisse der direkt als Ost-<br />

West-Vergleichsstudie (in Kassel <strong>und</strong> Jena) angelegten<br />

Untersuchung von Leutzinger-Bohleber <strong>und</strong> Garlichs 11 . Die<br />

westdeutschen Autorinnen waren erstaunt über das Phänomen<br />

des weiblichen Berufstätigkeitswunsches, das aus ostdeutscher<br />

Perspektive „selbstverständlich“ erschien. „Erstaunt hat uns<br />

ebenfalls, daß bei den Jenenser Gr<strong>und</strong>schülern sehr viel häufiger<br />

als bei den Kasselern zukünftige Berufstätigkeiten gezeichnet<br />

werden: 27% der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler der 2. Klassen in<br />

Jena <strong>und</strong> ‚nur‘ 8% der Gleichaltrigen in Kassel wählen dieses<br />

Thema. In den vierten Klassen ist dies ähnlich: 20,8% der<br />

Jenenser <strong>und</strong> nur 8% der Kasseler beschäftigen sich mit ihrem<br />

Beruf. Wie interpretieren diese Beobachtung erst einmal als<br />

Indikator, daß die Jenenser Kinder, weit mehr als die Kasseler,<br />

die aktuelle berufliche Unsicherheit wahrnehmen - bedingt durch<br />

die gesellschaftlichen Umwälzungen - <strong>und</strong> sich daher auch<br />

vermehrt Sorgen um die eigene Zukunft machen. [...]<br />

Möglicherweise sind diese Ängste auch in die Sehnsüchte nach<br />

einem sicheren <strong>und</strong> befriedigenden späteren Berufsleben<br />

eingegangen“ (Leuzinger-Bohleber/ Garlichs 1993, S. 63). Diese<br />

sich bei den Kindern aus Jena widerspiegelnde<br />

Selbstverständlichkeit der Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> Familie,<br />

interpretierten die westdeutschen Wissenschaftlerinnen so: „Bei<br />

den 4. Schuljahren ist auffällig, daß das Thema Familie nur noch<br />

bei den Jenenser Kindern vorkommt. 33,3 % der Kinder zeichnen<br />

ein zukünftiges Familienglück, wobei das fast ausschließlich<br />

Mädchen sind (31,3%). Uns hat überrascht, daß für die 10-<br />

jährigen Jenenser Mädchen die Zukunft so häufig mit<br />

Familienvorstellungen verb<strong>und</strong>en wird, obgleich sich die meisten<br />

11 Für die psychoanalytische West-Ost-Studie von Leuzinger-Bohleber/ Garlichs im Schulfeld zur Zeit<br />

der deutsch-deutschen Vereinigung 1990, in die zwei zweite, zwei vierte <strong>und</strong> eine achte Klasse aus Jena<br />

<strong>und</strong> aus Kassel einbezogen worden waren, wurde u. a. eine zeichnerische Darstellung (eingeleitet durch<br />

eine Traumreise) einer Vision über die „Welt <strong>und</strong> mein Leben als Erwachsener“ angeregt, denen<br />

psychoanalytisch orientierte, halbstandardisierte Einzelinterviews folgten. Schriftlich wurde zudem die<br />

Frage beantwortet: „Was ich werden möchte“. Näheres zur Durchführung <strong>und</strong> Auswertung der<br />

Untersuchung siehe Leuzinger-Bohleber/ Garlichs 1993, S. 25-54.<br />

54


Frauen mit ihrer Berufsrolle identifizieren“ (Leuzinger-Bohleber/<br />

Garlichs 1993, S. 63).<br />

Abschließend soll an dieser Stelle auch ein Blick auf die älteren<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler geworfen werden. Anders als bei den<br />

Gr<strong>und</strong>schüler/innen ist bei älteren Schülerinnen das<br />

Problembewusstsein bereits vorhanden, dass mit der<br />

Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen Vereinbarkeit<br />

nicht mehr selbstverständlich ist. So belegt eine Studie von<br />

Andruschow/ Mersmann aus dem Jahre 1993/1994 den<br />

zunehmenden Einfluss des geschlechterspezifisch segmentierten<br />

Arbeitsmarktes auf die beruflichen Orientierungen 18-jähriger<br />

Schülerinnen nach der Wende. Die Studie verweist aber zugleich<br />

auf den Widerstand der Mädchen gegen die Tendenz, dass die<br />

Vereinbarkeit nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Die<br />

Autorinnen unterstreichen, dass sich die Mädchen aus den neuen<br />

B<strong>und</strong>esländern dabei an den Lebensläufen ihrer Mütter<br />

orientieren <strong>und</strong> wie sie berufstätig sein <strong>und</strong> zugleich Kinder<br />

haben wollen. Allerdings nehmen sie die Vereinbarkeitsleistung<br />

als individuelle Herausforderung an. Sie wollen mit ihren<br />

Partnern gleichberechtigt leben <strong>und</strong> sie fordern dafür staatliche<br />

Unterstützung. Sie leisten erheblichen Widerstand gegen ihre<br />

Reduzierung auf ein Hausfrau- <strong>und</strong> Mutterdasein (vgl.<br />

Andruschow/ Mersmann 1994, S. 47).<br />

Die Befragung von Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler aus 6. <strong>und</strong> 9.<br />

Klassen in Ost <strong>und</strong> West (vgl. Kampshoff/ Thierack 1995) ergab<br />

im Unterschied zu der Studie mit Gr<strong>und</strong>schüler/innen, dass die<br />

Gruppe der Jungen (Ost <strong>und</strong> West) in den Einstellungen zur<br />

Vereinbarkeit von Familie <strong>und</strong> Beruf sehr homogen war. Sie<br />

orientierten sich an den traditionellen Geschlechterrollen für<br />

Frau <strong>und</strong> Mann <strong>und</strong> an der geschlechtsspezifischen<br />

Arbeitsteilung. Deutliche Unterschiede gab es bei der<br />

Jungengruppe bezüglich der Rollenübernahme des<br />

Familienernährers. Die Westjungen beanspruchen die Funktion<br />

der Existenzsicherung, die im traditionellen männlichen<br />

Geschlechtermodell ein Wesensmerkmal ist, <strong>und</strong> legitimieren so<br />

ihre ausschließliche Berufsorientierung. Die Übernahme der<br />

Rolle des Familienernährers wurde von den Ostjungen dagegen<br />

nur einmal erwähnt.<br />

55


Die Gruppe der Mädchen entwickelte in dieser Befragung<br />

verschiedene Haltungen <strong>und</strong> Vorstellungen zur Vereinbarkeit<br />

von Familie <strong>und</strong> Beruf. Sowohl die Ost- als auch die<br />

Westmädchen verknüpften dabei die traditionelle Mutterrolle<br />

mit der Erwerbstätigkeit. Allerdings unterscheiden sich die<br />

Westmädchen von den Ostmädchen in dem Wie der<br />

Vereinbarkeitsleistung. Die Mehrzahl der Ostmädchen neigt<br />

nach Kampshoff/ Thierack dazu, keine Kinderpause über<br />

mehrere Jahre in Anspruch nehmen zu wollen. Die Mehrzahl der<br />

Westmädchen beabsichtigte dies aber. „In diesem<br />

Zusammenhang wird auch deutlich, dass das Leitbild der<br />

erwerbstätigen Mutter in der ehemaligen DDR nicht legitimiert<br />

werden musste. Die Westmädchen stehen im Zwiespalt ihrer<br />

Gefühle zu ihren Kindern, die Liebe <strong>und</strong> Zuneigung brauchen,<br />

<strong>und</strong> ihren eigenen Bedürfnissen nach Anerkennung - unabhängig<br />

von ihren Reproduktionsleistungen“ (Kampshoff/ Thierack 1995,<br />

S. 142). Interessant ist, dass die Mitarbeit des Partners bei der<br />

Kinderbetreuung in erster Linie von Mädchen eingefordert<br />

wurde, die an Mädchenfördermaßnahmen (systematische<br />

Mädchenförderung wird seit vielen Jahren an Gesamtschulen in<br />

Nordrhein-Westfalen durchgeführt, die auch zum Schulprofil<br />

gehört – vgl. dazu Nyssen 1996) beteiligt waren. Insgesamt<br />

zeigten in dieser Untersuchung die Mädchen einen flexibleren<br />

Umgang mit der Problematik an, während die Mehrzahl der<br />

Jungen unabhängig vom jeweiligen politischen System starr an<br />

traditionellen Modellen der Aufgaben- <strong>und</strong> Arbeitsteilung<br />

festhielten.<br />

Die Ergebnisse des B<strong>und</strong>-Länder-Modellversuchs zur<br />

Berufsorientierung für Mädchen <strong>und</strong> Jungen im Land<br />

Brandenburg 1996/1997 zeigen nach sieben Jahren deutscher<br />

Einheit die gleiche Tendenz. Weil die Vereinbarung von Beruf<br />

<strong>und</strong> Familie in der DDR eine Selbstverständlichkeit für Frauen<br />

war, plädieren 96 % der Mädchen <strong>und</strong> 87 % der Jungen dafür,<br />

dass Frauen Familie <strong>und</strong> Beruf vereinbaren können sollen. Auch<br />

die Jungen sind dagegen, dass Frauen ihre beruflichen<br />

Interessen zugunsten einer Partnerschaft aufgeben. Das<br />

Hausfrauenmodell wird von den befragten Jugendlichen<br />

entschieden abgelehnt. Die überwiegende Mehrheit der Jungen<br />

<strong>und</strong> Mädchen will einen gut bezahlten Job, gesellschaftliche<br />

56


Kinderbetreuung <strong>und</strong> flexible Arbeitszeiten. Gleichberechtigung<br />

ist für Mädchen wie Jungen selbstverständlich. Mit großer<br />

Selbstverständlichkeit fordern sie staatliche Unterstützung bei<br />

der Kinderbetreuung. Allerdings sehen sie auch das<br />

gesellschaftliche Dilemma, das sie individuell lösen müssen.<br />

Trotzdem bleibt die gleichzeitige <strong>und</strong> gleichberechtigte Teilhabe<br />

am Beruf in den Lebensentwürfen eine Selbstverständlichkeit.<br />

Wenn Verzicht nötig ist, dann nicht am beruflichen Anspruch,<br />

sondern eher an den familialen Plänen. So wurde bei den hier<br />

befragten Mädchen deutlich, dass die Kinderwünsche reduziert,<br />

verschoben oder sogar ganz aufgegeben werden. Der Beruf hat<br />

bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen Priorität gegenüber der<br />

Familienplanung (vgl. Lemmermöhle 1995; Lemmermöhle/<br />

Nägele 1999, S. 377/378).<br />

Lebensentwürfe <strong>und</strong> Berufswünsche-<br />

Entwicklungen <strong>und</strong> aktuelle Schlaglichter<br />

Erstaunlich ist, dass die Zukunftsvorstellungen der Vor- <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>schulkinder zum eigenen Beruf über Jahrzehnte <strong>und</strong> auch<br />

über Systemgrenzen hinweg relativ konstant erscheinen. Sie sind<br />

zwar vom Zeitgeist beeinflusst, widerspiegeln aber die Fähigkeit<br />

<strong>und</strong> das Bedürfnis, Zukunft in das aktuelle Denken zu<br />

integrieren. Bei aller Vorsicht des Vergleichs verschiedener<br />

Untersuchungen 12 – vor allem auf Gr<strong>und</strong> methodischer<br />

Unterschiede – lassen sich bestimmte konstante Erscheinungen<br />

erkennen, vor allem bezüglich der<br />

• Häufigkeit <strong>und</strong> Vielfalt von Berufsnennungen,<br />

• geschlechtsspezifischen Einengungen hinsichtlich des<br />

stärkeren Personeninteresses bei Mädchen <strong>und</strong> des stärkeren<br />

Sachinteresses bei Jungen,<br />

• Erweiterung/Modernisierung des Spektrums der<br />

Berufswünsche in der Entwicklung.<br />

Schon in einer Erhebung von 1966 konnte von Ursula Lehr eine<br />

Verengung des Spektrums der Berufswünsche von Mädchen<br />

nicht mehr festgestellt werden (vgl. Lehr 1972 S. 230ff.), wie sie<br />

12 Für diesen Vergleich habe ich die Studien von Hetzer 1931, Lehr 1972, Glumpler 1993, Hempel 1997,<br />

Weber-Klaus 1997 herangezogen.<br />

57


noch in den zwanziger Jahren konstatiert worden waren (vgl.<br />

Hetzer 1931).<br />

Im Vergleich der Berufswünsche von 1994 bis heute (hier sind<br />

die Daten von Nordrhein-Westfalen 1966 (Lehr 1972), Schleswig-<br />

Holstein 1990 (Glumpler 1993) <strong>und</strong> Brandenburg 1994 (Hempel<br />

1995) genutzt worden) fällt vor allem auf, dass neben den<br />

allgemein moderneren Berufen die Mädchen häufiger<br />

prestigeträchtigere Berufe als 1966 wählten <strong>und</strong> bei den Jungen<br />

heute der Profisport eine große Rolle spielt. Handwerksberufe<br />

haben kaum noch Konjunktur.<br />

Diese ähnlich angelegten Erhebungen zeigen, dass die Kinder über ein<br />

breites Spektrum von Kenntnissen über Berufe bzw. Berufsbegriffe<br />

verfügen dass sie sich im Gr<strong>und</strong>schulalter noch stark von<br />

Äußerlichkeiten leiten lassen (Kittel <strong>und</strong> Uniformbe-rufe), von<br />

Berufsgruppen, die ihnen täglich in ihrer Lebenswelt begegnen sowie<br />

von Tätigkeiten, die für Kinder von großer Attraktivität sind.<br />

Berufswünsche von Mädchen<br />

(10 Berufe in der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen):<br />

Raum Vechta<br />

2007 13<br />

Tierärztin<br />

Tierforscherin<br />

Lehrerin<br />

Schauspielerin<br />

Frisörin<br />

Tierarzthelferin<br />

Kindergärtnerin<br />

Modedesignerin<br />

Architektin<br />

Sängerin<br />

Brandenburg<br />

1994<br />

Schleswig-<br />

Holstein 1990<br />

Nordrhein-<br />

Westfalen 1966<br />

Tierärztin Kindergärtnerin Lehrerin<br />

Friseuse Ärztin<br />

Verkäuferin<br />

Tierpflegerin Privatdetektivin Friseuse<br />

Ärztin Säuglingsschwester Kinderpflegerin<br />

Verkäuferin Stewardess Haushaltshilfe<br />

Stewardess Verkäuferin Krankenschwester<br />

Kindergärtnerin Sportlehrerin Kindergärtnerin<br />

Kosmetikerin Bankkauffrau Kinderschwester<br />

Kunstmalerin Modedesignerin Schneiderin<br />

Fotografin Pferdewirtin Sekretärin<br />

13 Dieser Reihung liegen Erhebungen aus Forschungsseminaren <strong>und</strong> Examensarbeiten an der Hochschule<br />

Vechta zugr<strong>und</strong>e.<br />

58


Berufswünsche von Jungen<br />

(10 Berufe in der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen):<br />

Raum Vechta<br />

2007<br />

Fußballprofi<br />

Pilot<br />

Landwirt<br />

Informatiker<br />

Arbeiter in<br />

Trockenwerft<br />

Archäologe<br />

Autohändler<br />

Bankkaufmann<br />

Soldat<br />

Brandenburg<br />

1994<br />

Polizist<br />

Rechtsanwalt<br />

Fußballspieler<br />

Lokführer<br />

Tischler<br />

Architekt<br />

Rennfahrer<br />

Basketballspieler<br />

Maurer<br />

Zeichner (Cartoon)<br />

Schleswig-<br />

Holstein 1990<br />

Polizist<br />

Pilot<br />

Fernfahrer<br />

Arzt<br />

B<strong>und</strong>eswehrsoldat<br />

Fußballer<br />

Computerfachman<br />

Architekt<br />

Bankkaufmann<br />

Archäologe<br />

Nordrhein-<br />

Westfalen 1966<br />

Förster<br />

Maurer<br />

Lehrer<br />

Autoschlosser<br />

Anstreicher<br />

Elektriker<br />

Schreiner<br />

Polizei<br />

Ingenieur<br />

Fabrikarbeiter<br />

Immer noch folgen die Kinder auch dem Trend, im Wesentlichen<br />

geschlechtertypische Berufe anzugeben. Deutlich wird insgesamt der<br />

große Einfluss der gesellschaftlichen <strong>und</strong> lebensweltlichen<br />

Rahmenbedingungen, z.B. der hohe Stellenwert des Landwirts auf das<br />

ländliche Umfeld der <strong>Vechtaer</strong> Stichprobe. Während sich 1994 beim<br />

Vergleich des Berufswahlverhaltens der Ost- <strong>und</strong> Weststichprobe bei<br />

den Mädchen z.T. noch signifikante Unterschiede zeigten, lassen sich<br />

solche bedeutsamen Unterschiede heute nicht mehr nachweisen. So<br />

wählten 1994 Mädchen im Westen doppelt so häufig wie Mädchen im<br />

Osten soziale Berufe, Mädchen im Osten dagegen doppelt so häufig<br />

Dienst leistenden Berufe. Technische Berufe wurden von den Mädchen<br />

der Flensburger Studie gar nicht gewünscht, bei den Mädchen der<br />

Potsdamer Studie waren es zu diesem Zeitpunkt noch ca. 7%.<br />

Das scheint auch keine nationale Tendenz zu sein, sondern ist<br />

auch in anderen Ländern zu beobachten, wie das Beispiel der<br />

Kinder aus Kasachstan 14 zeigen soll:<br />

14 Diese Texte sind der unveröffentlichten Examensarbeit von Ina Dregert (2006) entnommen.<br />

59


Übersetzung:<br />

„Ich in der Zukunft: Wenn ich<br />

erwachsen bin, möchte ich eine<br />

Sängerin werden. Ich werde sehr<br />

viel Geld verdienen <strong>und</strong> werde<br />

reich, hübsch <strong>und</strong> klug. Ich<br />

wünsche mir, dass meine Kinder<br />

klug <strong>und</strong> hübsch werden. Sie<br />

werden mir in allen Sachen<br />

behilflich sein. Das Leben wird<br />

sich verändern.“<br />

Übersetzung:<br />

„Ich heiße Wladik. Ich möchte<br />

Ingenieur werden. Ich werde mir<br />

ein Auto kaufen. Kinder in<br />

unserer Straße werden für<br />

Erwachsene <strong>und</strong> ältere<br />

Menschen Plätze frei halten.<br />

Niemand wird sich streiten <strong>und</strong><br />

sich beschimpfen.“<br />

Zwei Mädchen aus der 4. Klasse im Raum Vechta schrieben in<br />

ihrem Lebensentwurf:<br />

„Ich werde Kriminalpolizistin. Ich jage Verbrechern hinterher <strong>und</strong><br />

muss auch manchmal im Büro arbeiten. Dort schaue ich nach,<br />

wer auf der Autobahn oder woanders zu schnell gefahren ist.<br />

Manchmal werde ich auch zu einem Tatort gerufen, wo gerade<br />

eingebrochen wurde. Dann muss ich dort z.B. Fingerabdrücke<br />

abnehmen. Ich finde diesen Beruf spannend. Ich muss aufs<br />

Gymnasium gehen <strong>und</strong> mein Abitur machen. Danach werde ich<br />

studieren. Ich darf keine Angst vor Dieben haben <strong>und</strong> muss<br />

sportlich sein.“<br />

60


„Ich möchte gerne Tierärztin werden. Ich werde Tieren helfen. Sie<br />

wieder ges<strong>und</strong> machen. Ich werde vielleicht auch mal ein Tier in<br />

Po fassen müssen. Den Tieren spritzen geben müssen. Und<br />

vielleicht auch Medizin geben. Ich muss lange zur Schule gehen.<br />

Studieren muss ich auch <strong>und</strong> das Abitur brauch ich auch. Ich<br />

werde viel mit Tieren zu tun haben. Ich muss sehr gut mit Tieren<br />

umgehen können.“ 15<br />

Deutlich wird gerade an diesen beiden aktuellen<br />

Lebensentwürfen, dass eine Auseinandersetzung im Unterricht<br />

mit dem Berufswunsch, die in dieser Klasse erfolgt war, schon<br />

sehr realistische Vorstellungen, auch im Hinblick auf den<br />

Schulbesuch, erkennen lassen.<br />

Im Sachunterricht Kompetenzen<br />

für das eigene Leben erwerben 16<br />

Um ein Bewusstsein für die Möglichkeit der aktiven<br />

Selbstgestaltung des eigenen Lebens <strong>und</strong> einer bewussten<br />

Berufswahl anzubahnen, ist schon in der Gr<strong>und</strong>schule<br />

selbstbestimmtes Lernen unerlässlich. Wenn in unserer Zeit die<br />

Menschen eine abnehmende Bereitschaft zeigen, nur<br />

auszuführen, sich einzuordnen <strong>und</strong> zu verzichten, dann trifft das<br />

auch auf die Kinder zu. Es ist belegt, dass auch<br />

Gr<strong>und</strong>schulkinder ihre Lernprozesse an der Schule<br />

mitbestimmen wollen (vgl. Hempel 2003). Es müssen also<br />

Lernumgebungen im Unterricht geschaffen werden, die diesen<br />

Bedürfnissen Rechnung tragen <strong>und</strong> zugleich Gr<strong>und</strong>lagen für den<br />

Kompetenzerwerb zum lebenslangen Lernen legen. Die hier<br />

diskutierten Möglichkeiten zur Kompetenzförderung durch<br />

Lebensentwürfe in der Gr<strong>und</strong>schule ordnen sich in diesen<br />

Diskurs zum lebenslangen Lernen ein. Gerade der<br />

Sachunterricht setzt auf Unterrichtsmethoden, die forschendentdeckendes<br />

Lernen ermöglichen <strong>und</strong> wählt Inhalte, die den<br />

15 Aus der unveröffentlichten Examensarbeit: Segelken, Kristin (2007): Das eigene Leben planen lernen<br />

als Aufgaben des Sachunterrichts. Vechta.<br />

16<br />

Dieser Abschnitt findet sich ebenfalls so in Hempel 2007c<br />

61


Neigungen <strong>und</strong> Interessen der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in<br />

hohem Maße entsprechen.<br />

So werden gr<strong>und</strong>legende Kompetenzen gefördert, selbst über ein<br />

Thema, eine Problem <strong>und</strong> dessen Lösung nachzudenken.<br />

Forschendes, entdeckendes <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>endes Lernen im<br />

Sachunterricht zu initiieren bedeutet, die Kinder zum Suchen,<br />

Finden <strong>und</strong> Darstellen von Informationen <strong>und</strong> Problemlösungen<br />

zu veranlassen, Impulse zu geben, subjektiv neue Erkenntnisse,<br />

Einsichten <strong>und</strong> Verfahrensweisen zu gewinnen, neue Fragen<br />

aufzuwerfen usw.<br />

Mit dem Lebensentwurfsthema kann die Gr<strong>und</strong>schule das<br />

Finden des „eigenen inneren Kompasses“ unterstützen <strong>und</strong> das<br />

Suchen persönlicher Leitbilder <strong>und</strong> Orientierungen für das<br />

eigene Handeln stärker ins Zentrum der Sachunterrichtsdidaktik<br />

rücken. Die Überlegungen der Mädchen <strong>und</strong> Jungen, wie sie in<br />

ihrem späteren Leben sein wollen, welchen Beruf sie ergreifen<br />

könnten, mit welchen gesellschaftlichen <strong>und</strong> strukturellen<br />

Problemen dabei zu rechnen wäre, was sie selbst einmal Großes<br />

leisten könnten etc. fördert Lernkompetenzen ebenso wie<br />

Einsichten <strong>und</strong> Motive, sich Bildung anzueignen. Die<br />

Überlegungen <strong>und</strong> Forschungsarbeiten zum lebenslangen Lernen<br />

(vgl. Spiel 2006) zeigen, dass solche Lernkompetenzen nicht über<br />

einen kurzen Zeitraum zu erwerben sind. Ihre Bedeutung<br />

besteht darin, auf lange Sicht wirksam zu sein. Interesse am<br />

Lernen ist besonders bedeutsam <strong>und</strong> kann vor allem dann<br />

aufrecht erhalten werden, wenn man sein Lernen selbst steuern<br />

<strong>und</strong> reflektieren kann. Interesse <strong>und</strong> Individualisierung müssen<br />

einen höheren Stellenwert im Unterricht erhalten. Die<br />

Bestandsaufnahme von Spiel (2007, S. 85 ff.) zur aktuellen<br />

Situation zum lebenslangen Lernen erbrachte vor allem den<br />

Bef<strong>und</strong>, dass die Möglichkeiten der schulischer Inhalte <strong>und</strong><br />

Lernformen eingeschränkt sind. Danach kann die Schule nur<br />

begrenzt Basiskompetenzen <strong>und</strong> Werthaltungen fördern, weil die<br />

Kinder die Schule <strong>und</strong> schulische Lerninhalte mit wenig Lust am<br />

Lernen verbinden <strong>und</strong> die Lehrenden zu wenig<br />

Handlungsspielraum für eine entsprechende Förderung unter<br />

den gegebenen (schulischen) Umständen sehen (vgl. ebenda<br />

S.90). Gerade der Sachunterricht aber kann durch seinen<br />

Gegenstand „Lebenswelt“ <strong>und</strong> die vielfältigen – oben<br />

angedeuteten - didaktischen Möglichkeiten (z.B. auch des<br />

62


außerschulischen Lernens) eine gute Basis bieten, solchen<br />

Tendenzen entgegen zu wirken. Die explizite Thematisierung des<br />

eigenen Lebens, der eigenen individuellen Lebensziele in Form<br />

der oben skizzierten Lebens- oder Zukunftsentwürfe könnten<br />

eine gute Basis sein für die Individualisierung von<br />

Sachunterrichtsthemen <strong>und</strong> die systematische Förderung der<br />

individuellen, heute allgemein notwendiger Kompetenzen. Dazu<br />

gehören:<br />

• kritisch werten <strong>und</strong> sich orientieren zu können,<br />

• sich entscheiden zu wollen <strong>und</strong> zu können,<br />

• persönliche Leitbilder zu finden,<br />

• sich selbst zu vertrauen, eigene Stärken wertzuschätzen,<br />

• Orientierungen für das eigene Handeln zu finden,<br />

• über das eigene Leben nachzudenken,<br />

• Erfahrungen mit dem (bisherigen) Leben zu reflektieren,<br />

• sich seiner Wünsche (Berufen, Partner) bewusst zu werden,<br />

• Gefühle zu akzeptieren <strong>und</strong> zu benennen,<br />

• sich Meinungen zu privaten <strong>und</strong> gesellschaftlichen Dingen<br />

bilden können.<br />

Damit werden auch umfassendere Kompetenzen gefördert,<br />

• das eigene Leben <strong>und</strong> Lernen zu reflektieren <strong>und</strong> zu verstehen,<br />

• selbst Entscheidungen treffen zu müssen <strong>und</strong> zu können,<br />

• Folgen des eigenen Handelns im sozialen Kontext auszuloten<br />

<strong>und</strong> zu erfahren.<br />

Das unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit, Aufgaben <strong>und</strong><br />

Unterrichtsformen, die zu persönlichen Entscheidungen<br />

auffordern, gezielter einzusetzen (vgl. auch Daum 2004). Auch<br />

wenn sich die Unterrichtsinhalte im Sachunterricht bereits an<br />

der Lebensgeschichte der Lernenden, dem aktuellen Geschehen<br />

<strong>und</strong> der kindlichen Umwelt orientieren, werden solche<br />

Unterrichtsmethoden wie Projekte, Freie Arbeit oder<br />

Wochenplanunterricht, selten eingesetzt (vgl. Hempel 2003). Die<br />

Kinder bewusst zu unterstützen, das Planen zu lernen, sind noch<br />

nicht so häufig anzutreffen. Sich beim Planen des eigenen Ziel<br />

bewusst zu werden <strong>und</strong> eigene Wege ausprobieren zu dürfen, ist<br />

für den Erwerb der oben genannten Kompetenzen unverzichtbar.<br />

Zu oft wird Kindern in der Schule noch kleinschrittig<br />

vorgeschrieben, was sie zu tun haben, während sie außerhalb der<br />

Schule in vielen Bereichen oft schon ein hohes Maß an<br />

63


Selbständigkeit zeigen können <strong>und</strong> müssen. Die Leitbilder,<br />

Lebensentwürfe <strong>und</strong> Zukunftsvorstellungen der Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen im Blick zu haben <strong>und</strong> von hier aus das<br />

Lernarrangement für den Unterricht in der Gr<strong>und</strong>schule zu<br />

bedenken, ermöglicht die Individualisierung des Lernens zur<br />

Erschließung der Lebenswelt. Es bleibt zu hoffen, dass einmal<br />

der Lernende der Zukunft sich durch das auszeichnen wird, was<br />

er sich aus dieser reichen Umwelt angeeignet hat. Daran sollte er<br />

seine Identität entdecken <strong>und</strong> nicht mehr an der Frage, ob er das<br />

Abitur hat oder nicht (vgl. Lenzen 1997). Aber heute sind die<br />

Bildungswege <strong>und</strong> Bildungsabschlüsse noch von zentraler<br />

Bedeutung. Auch das kann Inhalt der hier diskutierten<br />

Lebensentwürfe sein. Über die eigene Zukunft nachzudenken<br />

heißt nicht nur, das gelebte eigene Leben aufzuklären sondern<br />

auch Wege zu erkennen, sich diese Zukunft selbst zu erschaffen.<br />

Zwei abschließende aktuelle Beispiele verweisen auch auf diese<br />

Möglichkeiten.<br />

Literatur<br />

Andruschow, K./ Mersmann, R. (1994): „Ick globe, die wollten lieber einen<br />

Mann...“. Berufsorientierung <strong>und</strong> Ausbildungssituation der Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen im Land Brandenburg. Potsdam 1994.<br />

Beck, U. (1996): Das „eigene Leben“ in die eigene Hand nehmen. In:<br />

Pädagogik, <strong>Heft</strong> 7-8/1996, S. 40 – 47.<br />

Beck, U. (1997): Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in<br />

der wir leben. München.<br />

Brater, M. (1997): Schule <strong>und</strong> Ausbildung im Zeichen der<br />

Individualisierung. In: Beck, U. (Hrsg.): Kinder der Freiheit. Frankfurt a.<br />

M., S. 149-174.<br />

Daum, E. (2004): Der Sachunterricht des „eigenen Lebens“ –<br />

Gr<strong>und</strong>konzeption <strong>und</strong> empirische Relevanz. In Hempel, M. (Hrsg.) Sich<br />

bilden im Sachunterricht. Bad Heilbrunn, S. 139 – 152.<br />

Dölling, I. (1998): Transformation <strong>und</strong> Biographien:<br />

„Selbstverständlichkeiten“ im biographischen Konzept junger<br />

ostdeutscher Frauen. In: Oechsle, M./ Geissler, B. (Hrsg.): Die ungleiche<br />

Gleichheit. Junge Frauen <strong>und</strong> der Wandel im Geschlechterverhältnis.<br />

Opladen, S. 151-164.<br />

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Ergebnisse der LifE-Studie. In: Fatke/ Merkens (Hrsg.): Bildung über die<br />

Lebenszeit, Opladen, S. 31-56.<br />

64


Geißler, R. (1996): Von der realsozialistischen zur sozialstaatlichen Struktur<br />

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Ungleichheitsgefüge. In: Diewald, M./ Mayer, K.U. (Hrsg.):<br />

Zwischenbilanz der Wiedervereinigung. Opladen, S. 289 - 302.<br />

Glumpler, E. (1993): Kleine Mädchen wollen mehr als die Hälfte -<br />

Berufswünsche von Mädchen <strong>und</strong> Jungen. In: Pfister, G./ Valtin, R.<br />

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66.<br />

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Mädchen <strong>und</strong> Jungen an den Gr<strong>und</strong>schulen des Landes Brandenburg. In:<br />

Hempel, M. (Hrsg.): Verschieden <strong>und</strong> doch gleich. Schule <strong>und</strong><br />

Geschlechterverhältnisse in Ost <strong>und</strong> West. Bad Heilbrunn, 94 – 120.<br />

Hempel, M. (1996): Vom Mythos „Gleichberechtigung“ <strong>und</strong> seinen Folgen -<br />

Schule <strong>und</strong> Geschlechterverhältnisse in der DDR. In: Beiträge zur<br />

feministischen Theorie <strong>und</strong> Praxis 1996, <strong>Heft</strong> 43/44, S.31-38.<br />

Hempel, M. (1997a): Lebensentwürfe von Gr<strong>und</strong>schulkindern - ein<br />

Forschungsthema für den Sachunterricht. In: Marquardt-Mau, B./<br />

Köhnlein, W./ Lauterbach, R. (Hrsg.): Forschung zum Sachunterricht. Bad<br />

Heil-brunn, S. 169-189.<br />

Hempel, M. (1997b): Der Traum vom zukünftigen Leben. Lebensentwürfe<br />

von Mädchen <strong>und</strong> Jungen. In: Sache - Wort - Zahl. <strong>Heft</strong> 7/1997, S. 39 - 45.<br />

Hempel, M. (1998): Lebensentwürfe von Mädchen <strong>und</strong> Jungen in<br />

Ostdeutschland. In: Oechsle, M./ Geissler/B. (Hrsg.): Die ungleiche<br />

Gleichheit. Junge Frauen <strong>und</strong> der Wandel im Geschlechterverhältnis.<br />

Opladen, S. 87-108.<br />

Hempel, M. (1999): Familie <strong>und</strong> Beruf in den Lebensentwürfen ostdeutscher<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen. In: Horstkemper, M./ Kraul, M. (Hrsg.):<br />

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Hempel, M. (2000): Das „eigene Leben“ als Zukunftsthema in der<br />

Gr<strong>und</strong>schule. In: Frohne, I. (Hrsg.): Sinn- <strong>und</strong> Wertorientierung in der<br />

Gr<strong>und</strong>schule. Bad Heilbrunn 2000, S. 141-158.<br />

Hempel, M. (2003): Lernwege im Sachunterricht aus der Sicht von Kindern.<br />

In: Cech, D./ Schwier, H.-J. (Hrsg.): Lernwege <strong>und</strong> Aneignungsformen im<br />

Sachunterricht. Bad Heilbrunn, S. 159-172.<br />

Hempel, M. (2004): Vom Lebensentwurf zur Lebensplanung. In: Richter, D.<br />

(Hrsg.): Gesellschaftliches <strong>und</strong> politisches Lernen im Sachunterricht, Bad<br />

Heilbrunn <strong>und</strong> Braunschweig 2004, 145-162.<br />

Hempel, M. (2007a): Geschlechtsspezifische Differenzen. In: Kahlert, J./<br />

Fölling-Albers, M./ Götz, M./ Hartinger, A./ Reeken, D. von/ Wittkowske,<br />

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372-377.<br />

Hempel, M. (2007 b): Warum verdient Bernd mehr als Lydia.<br />

Geschlechterbewusste Berufsorientierung. In: Unterricht - Arbeit +<br />

Technik, <strong>Heft</strong> 35/2007, S. 14-17.<br />

Hempel, M. (2007c): Lebensentwürfe im Gr<strong>und</strong>schulalter: Anforderungen –<br />

Probleme – Kompetenzen. In: Pfeiffer, S. (Hrsg.): Sachunterricht im 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert. Bestandsaufnahmen – Herausforderungen – Visionen.<br />

65


Oldenburger Vordrucke 564. Oldenburg, Didaktisches Zentrum 2007, S.<br />

49-62.<br />

Hempel, M. (2007d): Lebensentwürfe. Praxisheft Sachunterricht, <strong>Heft</strong> 9.<br />

Hetzer, H. (1931): Der Einfluß von Begabung <strong>und</strong> sozialem Milieu auf die<br />

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Kaiser, A. (2002): Berufsorientierung in der Gr<strong>und</strong>schule. In: Schudy, J.<br />

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Kampshoff, M./ Thierack, A. (1995): Geschlechtsidentität in Ost <strong>und</strong> West -<br />

Ein Werkstattbericht. In: Hempel, M. (Hrsg.): Verschieden <strong>und</strong> doch<br />

gleich. Schule <strong>und</strong> Geschlechterverhältnisse in Ost <strong>und</strong> West. Bad<br />

Heilbrunn, S. 121-145.<br />

Lehr, U. (1972): Berufswünsche 3-10jähriger Kinder. In: Zeitschrift für<br />

Pädagogik, 16 (1972) 2, S. 227- 242.<br />

Lemmermöhle, D. (1995): Jugend Ost: Vorbereitung auf den Übergang von<br />

der Schule in die Arbeitswelt. In: Hempel, M. (Hrsg.): Verschieden <strong>und</strong><br />

doch gleich. Schule <strong>und</strong> Geschlechterverhältnisse in Ost <strong>und</strong> West. Bad<br />

Heilbrunn, S.190 – 2<strong>16.</strong><br />

Lemmermöhle, D. (2004): Arbeit <strong>und</strong> soziale Ungleichheit –<br />

Gesellschaftstheoretische Beiträge. In: Glaser, E./ Klika, D./ Prengel, A.<br />

(Hrsg.): Handbuch Gender <strong>und</strong> Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn,<br />

S. 237-254.<br />

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Jungen <strong>und</strong> Mädchen in Brandenburg zwischen Bildungs- <strong>und</strong><br />

Beschäftigungssystem. Mössingen-Thalheim.<br />

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Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Wissenschaft des Lebenslaufs<br />

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5-22.<br />

Leuzinger-Bohleber, M./ Garlichs, A. (1993): Früherziehung West - Ost.<br />

Weinheim <strong>und</strong> München: Juventa..<br />

Mollenhauer, K. (1970): Erziehung <strong>und</strong> Emanzipation. München.<br />

Meyer, D. (1994): Eltern-Kind-Beziehungen in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

nach der Wende. In: Büchner, P. u.a.: Kindliche Lebenswelten, Bildung<br />

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Band 4. München 1994, S.143-186.<br />

Nohlen, D. (2002): Kultur. In: Nohlen, D./ Schultze, R.-O. (Hrsg.): Lexikon<br />

der Politikwissenschaft. Band 1. München, S. 479 – 481.<br />

Nyssen, E. (1995): Geschlechterverhältnisse <strong>und</strong> innere Schulreform. In:<br />

Hempel, Marlies (Hrsg.): Verschieden <strong>und</strong> doch gleich. Bad Heilbrunn.<br />

Radke, H. (1991): Erwerbsarbeit von Frauen im Gebiet der ehemaligen<br />

DDR. In: Lindecke, C./ Sachs, A. (Hrsg.): Offene Frauenhochschule.<br />

Dokumentation '90 Teil I - Frauen zwischen Ost <strong>und</strong> West, Kassel, S. 1 -<br />

25.<br />

Soostmeyer, M. (1992): Zur Sache Sachunterricht. Frankfurt/Main.<br />

66


Spiel, C. (2006): Gr<strong>und</strong>kompetenzen für lebenslanges Lernen – eine<br />

Herausforderung für Schule <strong>und</strong> Hochschule? In: Fatke, R./ Merkens, H.<br />

(2006 Hrsg.): Bildung über die Lebenszeit. Wiesbaden, S. 85-96.<br />

Weber-Klaus, S. (1997): Berufskonzepte von Mädchen <strong>und</strong> Jungen im<br />

Vorschulalter. Universität Dortm<strong>und</strong>. <strong>Berichte</strong> aus dem IADS, <strong>Heft</strong> 16,<br />

Dortm<strong>und</strong>..<br />

1<br />

Konzepte <strong>und</strong> Ansätze für mädchengerechten<br />

naturwissenschaftlichen Sachunterricht<br />

Astrid Kaiser<br />

Viele Jahre sah es so aus, als würden sich die früheren<br />

Geschlechterdifferenzen in Schulleistungen <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />

allmählich angleichen. Besonders das Defizit der Mädchen in<br />

allgemeinen Schulabschlüssen aus den 1960er Jahren ist von<br />

Jahr zu Jahr vermindert worden. Mittlerweile haben Mädchen<br />

höhere allgemein bildende Schulabschlüsse als Jungen. Doch bei<br />

näherem Hinsehen, ist von gleichen Bildungschancen beider<br />

Geschlechter nicht die Rede. Besonders „PISA hat uns die<br />

Einsicht verschafft, dass sich der Trend abnehmender<br />

Geschlechtsunterschiede, der zu Beginn der neunziger Jahre<br />

konstatiert worden war, offensichtlich nicht dahingehend<br />

fortsetzen wird, dass Fähigkeitsunterschiede zwischen Mädchen<br />

<strong>und</strong> Jungen bedeutungslos werden“ (Hannover 2004, S. 87).<br />

Nach vielen Jahren öffentlicher Gleichstellungsdebatte <strong>und</strong><br />

schulischer Koedukationskritik solle man annehmen, dass das<br />

Thema Geschlechtergerechtigkeit heute nicht mehr akut ist. Dies<br />

ist mitnichten der Fall. Wenn wir Untersuchungen aus den<br />

letzten 10 Jahren betrachten, werden wir feststellen, nicht nur<br />

Jungen haben Probleme mit den Schulleistungen, sondern<br />

insbesondere Mädchen haben im mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Bereich deutliche Probleme des<br />

Zugangs. Beide Geschlechter bilden durch stereotype<br />

Rollenzuweisungen immer noch unterschiedliche<br />

Fähigkeitsbereiche aus, während bestimmte Potentiale<br />

verkümmern.<br />

67


Naturwissenschaften <strong>und</strong> insbesondere Physik <strong>und</strong> Chemie sind<br />

diejenigen schulischen Angebote, die bei Mädchen bislang am<br />

stärksten auf Desinteresse, Distanz oder gar Ablehnung stoßen<br />

(Helwig, 1997; Hoffmann, 1989). Dieser Trend schlägt sich bei<br />

der Kurswahl in der gymnasialen Oberstufe <strong>und</strong> bei der<br />

Studienfachwahl erheblich zuungunsten des weiblichen<br />

Geschlechts nieder (Helwig, 1997; Horstkemper, 2002;<br />

Statistisches B<strong>und</strong>esamt, 2003).<br />

Die Daten des statistischen B<strong>und</strong>esamtes zeigen, dass die Anzahl<br />

der weiblichen Studierenden in den naturwissenschaftlichen<br />

Fächern nahezu gr<strong>und</strong>sätzlich geringer ist als die der<br />

männlichen Studenten. Lediglich das Studienfach Biologie bildet<br />

dabei eine Ausnahme. Die Studiengänge Chemie <strong>und</strong> Physik<br />

tauchen in der Rangliste der 20 am stärksten besetzten<br />

Studienfächer bei den weiblichen Studierenden gar nicht auf.<br />

Dagegen studieren bei den Männern 19 799 Physik <strong>und</strong> 14 041<br />

Chemie <strong>und</strong> belegen somit die Plätze 11 <strong>und</strong> 17 auf der Rangliste<br />

der Studienfächer der Männer.<br />

Auffällig ist zudem die Geschlechterverteilung der Studierenden<br />

im Bereich Informatik, der ebenfalls den Naturwissenschaften<br />

zuzuordnen ist. Während 58 244 männliche Studierende in<br />

diesem Studiengang eingeschrieben sind, stehen ihnen nur 8 701<br />

Studentinnen zur Seite. Genauer gesagt, liegt der Frauenanteil<br />

der Studenten im Studienfach Informatik bei lediglich 13 %<br />

(Statistisches B<strong>und</strong>esamt, 2003, S. 392).<br />

Gleichzeitig erweist sich auf dem Arbeitsmarkt, dass im Bereich<br />

neuer Medien <strong>und</strong> Naturwissenschaft/ Technik innovative<br />

Arbeitsplätze mit hoher Reputation entstehen, während die<br />

Arbeitsmarktsegmente, die stärker von Frauen angestrebt<br />

werden, von materiellen Restriktionen betroffen sind.<br />

Die Daten der geschlechtsspezifischen Berufssegregation 17<br />

belegen die Permanenz der Interessenpolarisierung<br />

(Statistisches B<strong>und</strong>esamt, 2003, S. 389). Die<br />

Ingenieurwissenschaften sowie der Bereich Mathematik,<br />

17 Bei der Berufseinmündung kehrt sich der Trend zu mehr <strong>und</strong> besseren allgemeinen<br />

Abschlüssen bei Mädchen um, hier zeigen sich deutlich bessere Positionen beim<br />

männlichen Geschlecht (vgl. die bildungsstatistische Studie von 2004 der GEW<br />

http://www.gew.de/wissen/wissenspool/texte/bildungsbiographie_juni_04.pdf)<br />

68


Naturwissenschaften vereinen gemeinsam 44,6 % der<br />

männlichen Studenten in ihren Studiengängen, wohingegen nur<br />

20,1 % der weiblichen Studenten in diesen Studienfächern<br />

eingeschrieben sind. Der Großteil der weiblichen Studenten,<br />

genauer gesagt 32,2 %, gehört der Fächergruppe „Sprach- <strong>und</strong><br />

Kulturwissenschaften“ an, womit erneut die scheinbar<br />

geschlechtsbezogene Interessenverschiebung bestätigt wird.<br />

Unterstützt durch die Tatsache, dass nur 13,3 % der<br />

eingeschriebenen männlichen Studenten im Wintersemester<br />

2002/ 2003, b<strong>und</strong>esweit in dieser Fächergruppe vertreten waren.<br />

Aus den Daten des Statistischen B<strong>und</strong>esamtes zu den<br />

Erwerbstätigen im April 2002 18 geht hervor, dass der Anteil der<br />

weiblichen Erwerbstätigen innerhalb der Berufgruppe<br />

„Chemiker/innen, Physiker/innen, Mathematiker/innen“ weniger<br />

als ein Fünftel ausmacht. Ähnliche Anteile ergeben sich auch bei<br />

der Zahlenanalyse der „Chemieberufe“, die noch einmal separat<br />

aufgeführt werden, dort stehen 132 000 männlichen 30 000<br />

weibliche Erwerbstätige gegenüber. Deutlich wird die<br />

Diskrepanz innerhalb der Berufswahl ferner bei der Darstellung<br />

der Ingenieurberufe. In diesem Berufszweig ist nur jeder achte<br />

Erwerbstätige eine Frau (Statistisches B<strong>und</strong>esamt, 2003, S. 110).<br />

Ähnliche Abstufungen lassen sich auch den Daten über die<br />

Geschlechterverteilung bei den an den Hochschulen tätigen<br />

Dozent/innen <strong>und</strong> Assistent/innen im Bereich „Mathematik,<br />

Naturwissenschaften“ entnehmen (Statistisches B<strong>und</strong>esamt,<br />

2003, S, 396). Lediglich jede fünfte Stelle ist in dieser Kategorie<br />

mit einer Frau besetzt.<br />

2<br />

Untersuchungen zur Lage der Mädchen<br />

in der Schule<br />

Die Debatte um Mädchen <strong>und</strong> Schule setzte in den 1960er<br />

Jahren ein. Besonders häufig zitiert wurde damals die Studie von<br />

Helge Pross (1969) zur Bildungsbenachteiligung von Mädchen.<br />

18 Nach Berufsgruppen <strong>und</strong> ausgewählte Berufsordnungen (Ergebnisse des<br />

Mikrozenzus)<br />

69


Sie hatte Ende der 1960er Jahre in die bildungspolitische<br />

Debatte die Kunstfigur des besonders benachteiligten<br />

katholischen Arbeitermädchens vom Lande transportiert.<br />

Auf der Ebene von formalen Abschlüssen <strong>und</strong> Noten haben die<br />

Mädchen in den letzten Jahren im Bildungssystem aufgeholt.<br />

Geschlechterverteilung an niedersächsischen allgemein<br />

bildenden Schulen:<br />

Jahr Hauptschule Gymnasien<br />

Schülerinnen Schüler Schülerinnen Schüler<br />

1985 43,0 % 57,0 % 52,2 % 47,8 %<br />

1997 41,3 % 58,5 % 55,1 % 44,9 %<br />

Quelle: Niedersächsischer Landtag, Drucksache 14/659<br />

Mädchen kommen nicht nur gleich viel wie Jungen auf<br />

weiterführende Schulen, sie schließen auch mit besseren Noten<br />

ab.<br />

An den Schulen für Lernbehinderte ist die Mehrheit männlich,<br />

Jungen wiederholen häufiger die Klasse als Mädchen.<br />

An Realschulen <strong>und</strong> Gymnasien ist wiederum die Mehrheit der<br />

Lernenden weiblich.<br />

Die harten statistischen Fakten zeigen, dass die Erwartung einer<br />

geschlechtergerechten Schule nicht zutreffen. Denn auch nach<br />

vielen Jahrzehnten Genderdebatte gibt es auch gegenwärtig noch<br />

gravierende Differenzen aufzuzeichnen, die zum<br />

Gleichbehandlungsgebot des Gr<strong>und</strong>gesetzes in krassem<br />

Widerspruch zu stehen scheint. Ich belege dies an den vom<br />

Statistischen B<strong>und</strong>esamt 2005 herausgegebenen Daten:<br />

Besuch der folgenden Schulart<br />

b<strong>und</strong>esweit:<br />

Mädchen<br />

Jungen<br />

Hauptschule 473 674 610 626<br />

Gymnasium 19 55,8 % 44,2%<br />

19 Statistischen B<strong>und</strong>esamt 2005, S. 12<br />

70


ohne Hauptschulabschluss in<br />

Niedersachsen<br />

Mit allgemeinem<br />

Hochschulabschluss in<br />

Niedersachsen 20<br />

Verspätete Einschulung in<br />

Niedersachsen 21<br />

3 189 5 587<br />

10 964 7 978<br />

2 793 5 077<br />

Quelle: Statistischen B<strong>und</strong>esamt, 2005, S. 12, S. 122 <strong>und</strong> S. 137<br />

Die Geschlechterfrage ist also trotz langer Emanzipationsdebatte<br />

noch nicht im Sinne eines egalitären Bildungssystems geklärt.<br />

Die Kategorie Geschlecht wirkt sich immer noch deutlich im<br />

Bildungssystem aus.<br />

Auf Seiten der Noten <strong>und</strong> Schulabschlüsse scheinen die Mädchen<br />

deutlich überlegen zu sein. Bezogen auf die Gr<strong>und</strong>schule konnte<br />

dies bereits 1985 belegt werden (Schümer, 1985), für das<br />

Gymnasium war dann in den 1990er Jahren der bessere<br />

Leistungsstand von Mädchen belegbar. Aber auch dieser<br />

Tatbestand zeigt wiederum Mängel in der Gleichbehandlung –<br />

diesmal zuungunsten des männlichen Geschlechtes. Es geht also<br />

nicht darum, Mädchen <strong>und</strong> Jungen durch starre Bilder von<br />

männlich <strong>und</strong> weiblich einzuengen, sondern ihnen noch mehr<br />

Möglichkeiten zu eröffnen, damit kein Kind in der Gr<strong>und</strong>schule<br />

wegen des Geschlechts Begrenzungen in den individuellen<br />

Qualifizierungsmöglichkeiten erfährt. Denn es wird mehrfach in<br />

der Literatur belegt, dass „Mädchen mit androgyner <strong>und</strong><br />

männlicher Geschlechtsrollenidentität ein besseres<br />

Selbstvertrauen als jene mit weiblicher oder <strong>und</strong>ifferenzierter<br />

Geschlechtsrollenidentität“ (Keller, 1998, S. 110) haben. Diese<br />

Bef<strong>und</strong>e, dass weniger stereotype Orientierungen die<br />

Lebenstüchtigkeit fördern, lassen sich auch aus früheren<br />

internationalen Untersuchungen ableiten (vgl. Hagemann-White,<br />

1984).<br />

Für Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer ist die Frage der<br />

Geschlechterdifferenz nicht nur ein didaktisches Problem,<br />

sondern auch eine alltägliche Belastungsfrage, denn die<br />

20 Statistischen B<strong>und</strong>esamt 2005, S. 137<br />

21 Statistischen B<strong>und</strong>esamt 2005, S. 137<br />

71


Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern sind<br />

gerade im Unterrichtsalltag deutlich nach Geschlecht separiert.<br />

„In einer Untersuchung zu Verhaltensauffälligkeiten in über 100<br />

Hamburger Gr<strong>und</strong>schulklassen tritt die Problematik des<br />

Jungenverhaltens besonders deutlich hervor. Die Studie belegt,<br />

dass „... im Schnitt 82% der beobachteten Auffälligkeiten auf<br />

Jungen <strong>und</strong> nur 17,5% auf Mädchen entfallen“ (Thies/ Röhner,<br />

2000, S. 36).<br />

Aufgeschlüsselt nach auffälligen Verhaltensbereichen zeigen sich<br />

die folgenden Geschlechtsunterschiede:<br />

Auffälligkeitsbereich<br />

Jungen<br />

Anteile in %<br />

Mädchen<br />

Anteile in %<br />

Lernen für Belohnung 90 10<br />

Hypermotorik 88,8 11,2<br />

Erregbarkeit, Ungehemmtheit 88,2 11,8<br />

Motorik fein/ grob 86,7 13,3<br />

Regeln nicht einhalten 85,9 14,1<br />

Dominanzverhalten/ Aggression 84,8 15,2<br />

Mangelnde Spielkompetenz,<br />

Kreativität<br />

84,6 15,4<br />

(Quelle: Thies/ Röhner, 2000, S. 36; nach Daten des Arbeitskreises<br />

Schulentwicklung Hamburg 1993)<br />

Die Differenzierung der Geschlechter ist im schulischen wie<br />

außerschulischen Bereich zu beobachten. Besonders die selbst<br />

gewählten Spielwelten von Jungen <strong>und</strong> Mädchen unterscheiden<br />

sich drastisch (Nötzel, 1987, Fuchs, 2001); so bevorzugen Jungen<br />

Spiele mit Bauen, Konstruieren <strong>und</strong> Technik, während Mädchen<br />

Rollenspiele, Regelspiele, Puppenspiele sowie Symbolspiele<br />

bevorzugen <strong>und</strong> Alltagshandlungen in der Familie spielerisch<br />

verarbeiten (Thies/ Röhner, 2000, S. 38). Auch inhaltlich<br />

unterscheiden sich die Spielwelten der Geschlechter im<br />

Gr<strong>und</strong>schulalter: „Während Jungen in abenteuerlichen Welten<br />

<strong>und</strong> Szenarien spielen, wenden sich Mädchen dem Lebendigen,<br />

72


insbesondere Tieren zu <strong>und</strong> erproben Alltagshandeln“ (Thies/<br />

Röhner, 2000, S. 76). Wenn Grenzen der Stereotype<br />

überschritten werden, ist dies eher als Folge wechselseitiger<br />

Anregung zu sehen. So stellten Thies <strong>und</strong> Röhner fest, „dass<br />

immer dann, wenn Mädchen mit jungentypischem Spielzeug<br />

spielen, sie Jungen als ihre Interaktionspartner angeben“ (Thies/<br />

Röhner, 2000, S. 76).<br />

Ein weiterer Beleg für den heimlichen Lehrplan der<br />

Geschlechtererziehung ist die Häufigkeit der Interaktionen. Die<br />

internationalen Untersuchungen (Enders-Dragässer/Fuchs,<br />

1989, Spender, 1985, Skinnigsrud, 1984, Frasch/Wagner, 1982)<br />

von Australien über Indonesien, Europa bis hin zu den USA<br />

zeigen: Mädchen kommen im Unterricht viel weniger zu Wort als<br />

Jungen.<br />

Es gilt bei der unterrichtlichen Aufmerksamkeit durch die<br />

Lehrkräfte die 2/3 zu 1/3 - Regel (vgl. Spender, 1985)<br />

zuungunsten der Mädchen. Dies ist unabhängig davon, ob die<br />

betreffenden Lehrerinnen für sich selbst die Förderung von<br />

Mädchen bewusst anstreben.<br />

Auch Marlies Hempel (1995) ermittelte kurz nach der<br />

Wende an ostdeutschen Gr<strong>und</strong>schulen eine<br />

Interaktionsrelation von 42,27% aufgerufener/ beachteter<br />

Mädchen zu 57,73% aufgerufener/ beachteter Jungen,<br />

obwohl ihre Untersuchung ergab, dass das Klischee von<br />

der höheren Wertigkeit des Männlichen <strong>und</strong> die<br />

Unterschätzung der Leistungen <strong>und</strong> Fähigkeiten des<br />

Weiblichen sich hier nicht mehr in dem Maße zeigte, wie<br />

das in den (west)deutschen <strong>und</strong> US-amerikanischen<br />

Untersuchungen belegt worden war. In dem<br />

Zusammenhang verweist Hempel auch auf die<br />

Längsschnittstudie „Bildungsprozesse <strong>und</strong> psycho-soziale<br />

Entwicklung im Jugendalter“ (Beginn 1990/91) des IPN<br />

73


(vgl. IPN-Blätter 4/94), die zeigte, dass in den neuen<br />

B<strong>und</strong>esländern die Leistungen in Physik bei Mädchen<br />

<strong>und</strong> Jungen gleich waren. In Mathematik <strong>und</strong> Biologie<br />

hatten die Mädchen die Jungen sogar schon überr<strong>und</strong>et.<br />

Mädchen erreichten hier also trotz der motivationalen<br />

Distanz <strong>und</strong> Selbstunterschätzung äquivalente<br />

Fachleistungen (vgl. Hempel 1995).<br />

Die Schere des Patriarchats sitzt aber immer noch tief im<br />

unterrichtlichen Unbewussten. An der Oberfläche des<br />

Geschehens sieht es so aus, als würden die lautstark sich<br />

artikulierenden, weniger disziplinierten <strong>und</strong> sich ständig über<br />

die eigene Unterprivilegierung beschwerenden Jungen deshalb<br />

mehr Beachtung finden. Die Mädchen dagegen werden mit ihrer<br />

sozialen ausgleichenden Kompetenz (vgl. Enders-<br />

Dragässer/Fuchs, 1989) durch geringere Beachtung <strong>und</strong><br />

Förderung durch ihre Lehrkräfte „belohnt“. Diese geringere<br />

Beachtung der Schülerinnen mag ein Faktor dafür sein, dass das<br />

Selbstvertrauen <strong>und</strong> die Attribuierung von guten<br />

Schulleistungen als Folge des eigenen Könnens bei Mädchen<br />

trotz gegenwärtig bis zum Abitur besseren Schulleistungen<br />

geringer sind. In Bereichen ausgeprägter Kompetenzen wie den<br />

Sprachen kann die Schulleistung gegenüber den Jungen dadurch<br />

nicht verringert werden.<br />

In sensiblen Kompetenzbereichen wie den Naturwissenschaften<br />

scheinen sich die Selbstabwertung <strong>und</strong> geringeres<br />

Selbstvertrauen in deutschen Schulen immer noch wirksam zu<br />

sein.<br />

Die Ergebnisdaten aus einer eigenen Untersuchung an<br />

Gr<strong>und</strong>schulen im Raum Kassel sehen folgendermaßen aus:<br />

Gesamtzahl<br />

der<br />

Einzelinterak<br />

tionen<br />

Interaktionen<br />

Lehrkraft zu<br />

Schülerin<br />

Interaktionen<br />

Lehrkraft zu<br />

Schüler<br />

Prozentuales<br />

Verhältnis<br />

3596 43,5% 56,5% 43,5% : 56,5%<br />

74


(Quelle: Kaiser 1994)<br />

Die Interaktionsdiskrepanz dieser Untersuchung entspricht in<br />

der Tendenz den Ergebnissen allen bislang vorliegenden Studien,<br />

ist aber in ihrer quantitativen Ausprägung weniger stark<br />

polarisiert als in anderen Untersuchungen. Die pauschalisierte<br />

Interaktionsrelation muss - ähnlich wie in der Reutlinger Studie,<br />

bei der die Jungen auch in der Kategorie Disziplintadel<br />

„bevorzugt“ von ihren Lehrkräften behandelt wurden (vgl.<br />

Frasch/Wagner, 1982, S. 266) - auf die verschiedenen<br />

Interaktionssituationen bezogen werden. Aus einigen<br />

Untersuchungen ist die Hypothese, unterrichtliche<br />

Interaktionsdiskrepanzen auch methodenbedingt zu sehen, nicht<br />

von der Hand zu weisen, wenn wir uns die Einzelergebnisse pro<br />

Kategorie anschauen. Hierzu zeige ich Ergebnisse einer eigenen<br />

Studie in Indonesien:<br />

TABELLE: Interaktionsrelationen zwischen Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen in Gr<strong>und</strong>schulen der Minangkabau<br />

Kategorie<br />

Mädchen : Jungen,<br />

absolute Relation<br />

Aufruf ohne Melden: 45 : 70 39% : 61%<br />

Mädchen : Jungen,<br />

prozentuale Relation<br />

Drankommen<br />

mit Melden (gewollt):<br />

Hilfestellung/<br />

Impuls/ Lob für:<br />

92 : 95 49% : 51%<br />

49 : 72 40% : 60%<br />

Kategorie<br />

Vorführen/<br />

Tafel:<br />

Mädchen : Jungen,<br />

absolute Relation<br />

41 : 44 48% : 52%<br />

Disziplintadel: 40 : 166 20% : 80%<br />

Schülerinitiierte<br />

Interaktion:<br />

50 : 179 22% : 78%<br />

Mädchen : Jungen,<br />

prozentuale Relation<br />

L. (Lehrkraft) geht 68 : 226 23% : 77%<br />

75


zu Kind:<br />

L. gibt Hilfe: 266 : 348 43% : 57%<br />

Kind geht zu L: 191 : 283 40% : 60%<br />

Quelle: eigene Berechnungen, Kaiser 1996a<br />

Neuere Untersuchungen an der Gr<strong>und</strong>schule wollen aus dekonstruktivistischer<br />

Perspektive eine vorgängige Definition von<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen vermeiden <strong>und</strong> fragen vorrangig nach der<br />

Entstehung der Geschlechtermuster. Erste Ansätze in dieser<br />

Richtung finden wir im von Krappmann <strong>und</strong> Oswald geleiteten<br />

Projekt zu sozialen Interaktionen in der Gr<strong>und</strong>schule<br />

(Krappmann/ Oswald, 1985; Krappmann/ Oswald, 1995). Dort<br />

wurde versucht, die sozialen Interaktionen in Gr<strong>und</strong>schulklassen<br />

durch teilnehmende Beobachtung näher zu erfassen. Die<br />

Ergebnisse zeigten ein durchaus differenziertes Bild von den<br />

verschiedenen Motiven <strong>und</strong> Interaktionsweisen von Mädchen<br />

<strong>und</strong> Jungen, indem vor allem auf die Definitionsmacht der peers<br />

im Interaktionsgeschehen einer Gr<strong>und</strong>schulklasse hingewiesen<br />

wurde. In diesem Kontext ist ein einfaches bipolares Schema<br />

nicht adäquat. 1998 veröffentlichten Breidenstein <strong>und</strong> Kelle eine<br />

an der Laborschule Bielefeld durchgeführte ethnographische<br />

Studie (Breidenstein/ Kelle, 1998). Deren Ergebnisse<br />

dokumentieren, wie innerhalb der peer-culture ebenfalls<br />

spezifische Definitionen von Geschlechterpolarisierung zum<br />

Tragen kommen, wie die Kinder selbst Differenz deutlich<br />

aufbauen, wenn auch in der Konkretion viele Relativierungen<br />

vorher geäußerter pauschaler Geschlechtsmusterdefinitionen<br />

aufgehoben werden.<br />

Die Stereotype der Geschlechter wirken also weiterhin nach. Sie<br />

werden von allen Akteuren in die konkreten<br />

Handlungssituationen eingebracht. Allerdings spielt die<br />

Genderfrage in der alltäglichen pädagogischen Arbeit keine<br />

besondere Rolle. Es gibt kaum Schulen, die diese Frage in ihr<br />

Schulprogramm aufnehmen (vgl. Koch-Priewe, 2002).<br />

Für weitere Forschungsprozesse fordern Heinzel/Prengel (1998)<br />

mehrperspektivische Sichtweisen, die sowohl die universellgesellschaftliche<br />

Perspektive aller Kinder, die<br />

zweigeschlechtliche Perspektive in der Gr<strong>und</strong>schule, die plurale<br />

76


Perspektive, die sich von der starren Bipolarität löst <strong>und</strong><br />

verschiedene Geschlechtermuster betrachtet <strong>und</strong> die individuelle<br />

Perspektive mit dem Fokus auf die große Vielfalt an Mustern<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten im jeweiligen Individuum betrachten.<br />

3<br />

Zum Verhältnis von Mädchen zu<br />

Naturwissenschaften<br />

Wir wissen aus etlichen Untersuchungen, dass Mädchen auch<br />

heute noch eine gewisse Distanz zu naturwissenschaftlichtechnischen<br />

einnehmen. Ihr Interesse ist deutlich anders als das<br />

der Jungen profiliert: Sie interessierten sich etwa im Bereich der<br />

Chemie für Inhalte, „die für sie eine persönliche Bedeutung<br />

haben.<br />

Es sind dies vor allem Inhalte, die etwas mit Chemie im<br />

Haushalt, Reinigung, Ernährung, Schmuck oder<br />

Naturerscheinungen zu tun haben. Jungen präferieren dagegen<br />

Inhalte mit technischem Hintergr<strong>und</strong>: Erdöl, Gebrauchsmetalle<br />

oder Kunststoffe“ (Häußler et al., 1998, S. 122). Mädchen<br />

bevorzugen konkrete <strong>und</strong> lebensnahe Anwendungsbereiche auch<br />

bei physikalischen Inhalten. „Mädchen reagieren bei Inhalten<br />

aus der Physik meistens sensibler als Jungen auf einen Wechsel<br />

des Anwendungsbereichs. So interessieren sich z.B. 80 % der<br />

Mädchen für eine Pumpe, die als künstliches Herz Blut pumpt,<br />

aber nur 40 % für eine Pumpe, die Erdöl aus großer Tiefe an die<br />

Erdoberfläche pumpt. Jungen interessieren sich zu etwa 60 % für<br />

Pumpen, gleich welchen Typs“ (Häußler et al., 1998, S. 122).<br />

Neben den Interessen gibt es noch weitere<br />

Persönlichkeitsdimensionen, über die sich die<br />

Geschlechterdifferenzen im naturwissenschaftlichen Lernen<br />

verstärken. Besonders die Erfolgserwartung ist bei Mädchen<br />

deutlich geringer ausgebildet. „Selbst bei gleichem<br />

Leistungsniveau schätzen Mädchen besonders in männlich<br />

stereotypisierten Domänen ihre Fähigkeiten niedriger ein <strong>und</strong><br />

haben eine geringere Erfolgserwartung (…). Sie attribuieren<br />

Misserfolge stärker auf mangelnde Fähigkeiten (…) <strong>und</strong> zeigen<br />

weniger positive Emotionen nach einem Erfolg (…), während<br />

77


Jungen zuversichtlicher sind <strong>und</strong> Erfolge stärker auf<br />

Fähigkeiten attribuieren (…). Die suboptimalen<br />

Attributionsmuster der Mädchen (…) werden dabei für eine<br />

ungünstige Leistungsentwicklung verantwortlich gemacht“<br />

(Rustemeyer, 2000, 113f.). Diese Selbsteinschätzung von<br />

Mädchen, dass sie glauben, die eigene Anstrengung sei<br />

entscheidend für Erfolge, zieht sich durch viele Untersuchungen.<br />

So belegt Wienekamp-Suhr: „Für die Begründung ihrer Erfolge<br />

im Chemieunterricht gaben 47,3 % der Mädchen besonders<br />

Anstrengung bzw. intensives Lernen für das Fach an, bei den<br />

Jungen wurde diese Antwort nur von 25,6 % gegeben.<br />

Letztere führten die Erfolge im Chemieunterricht zu 25,5 % auf<br />

ihre Begabung zurück. Sie gaben die Antwort: Ich kann mir<br />

chemisches Wissen leicht merken. Im Gegensatz dazu besaßen<br />

nur 12,1 % der Mädchen die Selbstsicherheit, diese Begründung<br />

anzukreuzen, obwohl man vermuten muss, dass sicherlich mehr<br />

Mädchen aufgr<strong>und</strong> ihrer Leistungen Anlass hätten, diese<br />

Antwort anzukreuzen. Bei Misserfolgen gaben 16,7 % der Jungen<br />

Pech bei den Arbeiten an, 49,3 % meinten, dass sie sich zu wenig<br />

angestrengt bzw. zu wenig für das Fach getan hätten. Die<br />

Begründung für Misserfolge lag bei den Mädchen nur zu 9,1 %<br />

beim Pech, aber sie meinten mit 49,1 %, dass sie sich bei<br />

Misserfolgen zu wenig angestrengt bzw. zu wenig für das Fach<br />

getan hätten“ (Wienekamp-Suhr, 1992, S. 94). Derartige<br />

Unterschiede verschwinden nicht etwa im Laufe der Schulzeit,<br />

sondern nehmen sogar zu. „Die TIMSS-II-Daten zeigen, dass in<br />

der Sek<strong>und</strong>arstufe I die Geschlechterunterschiede im<br />

Allgemeinen größer werden. Der Gesamtunterschied – über alle<br />

Länder hinweg betrachtet – beträgt 17 Punkte“ (Prechtl, 2006, S.<br />

21). Auch in den Schulleistungen bleiben die Mädchen insgesamt<br />

in Naturwissenschaften noch hinter den Jungen zurück, auch<br />

wenn sie sonst schon beträchtlich bei der früheren<br />

Bildungsbenachteiligung aufgeholt haben <strong>und</strong> weit bessere<br />

Schulnoten <strong>und</strong> allgemein bildende Schulabschlüsse insgesamt<br />

erreichen als Jungen (Prechtl, 2006, S. 19). „In den Bereichen<br />

Mathematik <strong>und</strong> Naturwissenschaften sind nach wie vor die<br />

Mädchen benachteiligt. Innerhalb der Naturwissenschaften ist<br />

dabei die relative Schwäche in Physik <strong>und</strong> Chemie besonders<br />

ausgeprägt“ (Stanat & Kunter, 2001, S. 267). „Für den<br />

mathematischen <strong>und</strong> den naturwissenschaftlichen Unterricht<br />

78


elegen auch aktuelle Übersichten tendenzielle Leistungsvorteile<br />

zugunsten der Jungen“ (Prechtl 2006, 19).<br />

Auch in der IGLU-Studie lässt sich nachweisen, dass Mädchen<br />

weniger häufig als Jungen schon in der Gr<strong>und</strong>schule höhere<br />

Kompetenzstufen erreichen:<br />

Stufen naturwissenschaftlicher<br />

Kompetenz (Gr<strong>und</strong>schule)<br />

Stufe V (>637)<br />

Naturwissenschaftliches<br />

Denken<br />

Stufe IV (523-637)<br />

Beginnendes<br />

naturwissenschaftliches<br />

Verständnis<br />

Stufe III (469-522)<br />

Anwenden<br />

naturwissenschaftlicher<br />

Begriffe<br />

Stufe II (401-468)<br />

Anwenden alltagsnaher<br />

Begriffe<br />

Stufe I (323-400)<br />

Einfache<br />

Wissensproduktion<br />

(


sich im internationalen Vergleich erstaunliche Unterschiede<br />

sehen. So weisen in dieser höheren Altersstufe die deutschen<br />

Mädchen noch auffälliger schlechtere Leistungen in Mathematik<br />

<strong>und</strong> Naturwissenschaften auf.<br />

Der Unterschied in Mathematik ist statistisch signifikant. Doch<br />

offensichtlich ist dies nicht mit den Genen, Hormonen oder<br />

sonstigen biologischen Faktoren zu erklären, denn in anderen<br />

Ländern, die an dieser internationalen OECD-Studie<br />

teilgenommen haben, ist dies nicht der Fall. Besonders in<br />

Neuseeland, Island, Finnland <strong>und</strong> der Russischen Föderation<br />

waren die Mädchen z. T. signifikant besser in den Leistungen als<br />

Jungen (vgl. Jahnke-Klein, 2007, S. 88). Wenn offensichtlich in<br />

anderen Ländern andere Geschlechterrelationen in den<br />

Schulleistungen zu finden sind, heißt dies auch, dass diese durch<br />

bestimmte äußere Bedingungen beeinflusst worden sind. Damit<br />

ist auch deutlich, dass veränderte Bedingungen auch in<br />

Deutschland eine andere Kompetenzentwicklung bei Mädchen<br />

hervorrufen können.<br />

4<br />

Bedingungen, die das naturwissenschaftliche<br />

Lernen von Mädchen in der Schule<br />

beeinträchtigen können<br />

Es scheint so zu sein, als sei ein wichtiger Weg zu gleichen<br />

Bildungschancen für beide Geschlechter über die besonderen<br />

inhaltlichen Schwerpunkte zu gehen. Denn „auch bei TIMSS-II<br />

waren die Geschlechterdifferenzen zugunsten der Jungen<br />

besonders ausgeprägt, wenn Aufgaben aus den Bereichen<br />

Erdk<strong>und</strong>e, Physik <strong>und</strong> Chemie gestellt wurden.<br />

Gleiche Leistungen zeigten Mädchen <strong>und</strong> Jungen, wenn ihnen<br />

Aufgaben mit Inhalten zur Biologie oder Umweltthemen<br />

vorgelegt wurden“ (Prechtl, 2006, S. 21).<br />

Deshalb ist es gegenwärtig sinnvoll, am Interesse an<br />

ökologischen Inhalten der Mädchen anzuknüpfen, um an<br />

Beispielen von Umweltproblemen in durchaus anspruchsvolle<br />

Bereiche der Naturwissenschaften einzuführen.<br />

80


Der wesentliche Vorteil dieses Ansatzes liegt auch darin, dass<br />

hier „normaler“ Unterricht für alle Kinder angeboten wird <strong>und</strong><br />

die Mädchen nicht als gesondert zu fördernde Gruppe behandelt<br />

werden. Derartige Etikettierung kann gerade zur Verstärkung<br />

führen: „Die Fokussierung auf Mädchen<br />

(Förderungsmaßnahmen), wie sie in der Mehrzahl der<br />

Modellversuche vorgenommen worden ist, ist jedoch aus<br />

zweierlei Gründen als problematisch anzusehen: einerseits<br />

bedeutet sie Vernachlässigung der Jungen <strong>und</strong> damit<br />

andererseits Anpassung von Mädchen an eine männliche Norm,<br />

die als allgemein gesetzt wird“ (Nyssen, 2004, S. 399).<br />

In derartigen Unterrichtsbeispielen ergibt sich ein Ansatz<br />

inklusiver Mädchenförderung in Naturwissenschaften. Dabei<br />

wird keine Besonderung der Mädchen vorgenommen. Vielmehr<br />

ist dies integriert in einen sinnvollen Unterricht für alle.<br />

Neben der Gestaltung der Inhalte scheint auch auf der<br />

psychologischen Ebene viel Potenzial zu liegen, Mädchen zu<br />

fördern. Dazu gibt es einen interessanten Widerspruch in den<br />

internationalen Vergleichsstudien. Nach diesen Ergebnissen<br />

haben Mädchen im Problemlösen auch in Deutschland höhere<br />

Kompetenz (= Indikator für das kognitive Potenzial) im<br />

mathematisch- naturwissenschaftlichen Bereich. Dieses<br />

Potenzial steht im Widerspruch zu den geringeren Leistungen.<br />

D.h. das Potenzial wird nicht für die Schulleistung genutzt, es ist<br />

vor allem ein Problem des Zugangs für Mädchen (Vgl. Jahnke-<br />

Klein, 2007, S. 88). Diese Diskrepanz zeigt, dass Mädchen<br />

könnten, wenn sie nicht durch psychische Sperren an der<br />

Umsetzung ihrer potentiell angelegten Fähigkeiten gehindert<br />

werden.<br />

Als psychologische Faktoren, die sich negativ auf die Leistungen<br />

von Mädchen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich<br />

auswirken können, nennt Jahnke-Klein in Zusammenfassung<br />

vieler einzelner Untersuchungen:<br />

• Rollenverhalten<br />

• Selbstkonzept<br />

• Interesse<br />

• Angst<br />

• Selbstvertrauen<br />

81


• Attribuierung bei Erfolg anders<br />

• Wirksame Stereotype als männliche Domäne<br />

• Differente Erwartungshaltungen der Lehrpersonen<br />

(Vgl. Jahnke-Klein, 2007, S. 89 ff).<br />

Weiterhin weist Jahnke-Klein darauf hin, dass auch der<br />

Unterrichtsstil im mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />

Unterricht Mädchen in besonderer Weise beeinträchtigt. Sie hält<br />

in Anknüpfung an vor allem mathematikdidaktische<br />

Untersuchungen den fragend- entwickelnden Unterrichtsstil für<br />

ungünstig, um Mädchen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten in den<br />

Leistungen wie Jungen zu gewähren.<br />

Nach Klieme <strong>und</strong> Baumert ist es typisch für den deutschen<br />

Mathematik-, aber auch weitgehend für den Physikunterricht,<br />

eng geführte fragend– entwickelnde Gespräche zu nutzen. Diese<br />

Struktur lässt der Schülerin/dem Schüler jedoch nur begrenzt<br />

Raum, für verständnisintensives Lernen (2001, S. 5).<br />

Dem entspricht Jahnke-Kleins empirisch belegtes Plädoyer für<br />

sinnstiftenden Mathematikunterricht (Jahnke-Klein, 2001), das<br />

einem curricularen Konzept im Kontext entspricht. Jahnke-Klein<br />

hat zudem auf den Mathematikunterricht bezogen nachgewiesen,<br />

dass Mädchen <strong>und</strong> Jungen über unterschiedliche Strategien des<br />

Umgangs verfügen. Mädchen suchen stärker die Sicherheit im<br />

Verstehen, während Jungen – unabhängig von ihrer<br />

tatsächlichen Leistungsfähigkeit riskante mathematische<br />

Anforderungen bevorzugen.<br />

Gerade die stereotype Sozialisierung <strong>und</strong> damit Polarisierung<br />

schränkt Mädchen (<strong>und</strong> auch Jungen) dabei ein, die<br />

gesellschaftlich definierten Grenzen an Denk- <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen zu überschreiten. Pädagogische<br />

Einflussnahme auf die Geschlechtermuster stößt an<br />

Machbarkeitsgrenzen. Denn Schule steht nicht außerhalb der<br />

Gesellschaft, sondern ist ein Teil von ihr. Von daher wirken in<br />

der Schule die allgemeinen gesellschaftlichen Symbole der<br />

Geschlechterbilder durchgreifend.<br />

Pädagogisch veränderndes Handeln ist nur in diesem Rahmen<br />

möglich <strong>und</strong> kann lediglich eine Differenzierung innerhalb der<br />

gegebenen Handlungsmuster erreichen. Deshalb können auch<br />

keine veränderten Persönlichkeitsleitbilder durch pädagogische<br />

82


Willensanstrengung erzielt werden. So kann es auch kein<br />

pädagogisches Ziel sein, androgyne Persönlichkeiten fördern zu<br />

wollen. Dies würde die Kräfte von Schule als Teil dieser<br />

Gesellschaft sprengen. Eine Anpassung der Mädchen an das<br />

Muster der Jungen würde wiederum am ethischen Ziel, eine<br />

Symmetrie anstelle einer Hierarchie zwischen den Geschlechtern<br />

herzustellen, vorbei gehen. Bei Anerkennung dieser<br />

Rahmenbegrenzungen sollte aber erreicht werden, dass Mädchen<br />

nicht in ihrer Entwicklung durch starre Geschlechterstereotypen<br />

eingeschränkt werden.<br />

Sigrid Metz-Göckel (1988) drückt dies mit dem Begriff der<br />

„Geschlechtspotentiale“ aus, mit dem sie ausdrückt, dass die<br />

Menschen beider Geschlechter verschiedene Möglichkeiten<br />

haben, breitere Fähigkeiten zu entwickeln als die engen<br />

Stereotypgrenzen vorschreiben. Es kommt also nur darauf an,<br />

die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung für beide<br />

Geschlechter zu erweitern ohne sie dabei in den jeweilig<br />

defizitären Rollen festzuschreiben. Hier ist also ganz deutlich ein<br />

Kompetenzansatz gefragt, bei dem die Fähigkeiten beider<br />

Geschlechter durch Unterrichtsimpulse entwickelt <strong>und</strong> nicht<br />

beschnitten werden, wie es in der gesellschaftlichen<br />

Alltagspraxis oft geschieht. Anknüpfend an diese Gedanken<br />

wurden im Niedersächsischen Schulversuch „Soziale Integration<br />

in einer jungen- <strong>und</strong> mädchengerechten Gr<strong>und</strong>schule“ (Kaiser u.<br />

a., 2003) vielfältige Praxisanregungen entwickelt <strong>und</strong> erprobt.<br />

5<br />

Utopie einer geschlechtergerechten Schule:<br />

Veränderte Inhalte <strong>und</strong> Methoden<br />

Alison Phipps 22 schließt gegenwärtig an der Universität<br />

Cambridge/UK eine internationale Vergleichsstudie über alle<br />

weltweit entwickelten didaktischen Konzeptionen zur Förderung<br />

von Mädchen im Bereich science ab. Sie unterscheidet dabei 5<br />

Gr<strong>und</strong>muster an Zugangsweisen (approaches):<br />

22<br />

Diese Studie ist zur Zeit noch nicht veröffentlicht, die Kategorien entstammen<br />

einem Interview der Antragstellerin mit Alison PHIPPS in Cambridge vom Oktober<br />

2003<br />

83


1) Kontextansatz: Naturwissenschaftliche Inhalte in<br />

sinnvollen Kontexten anbieten, phänomenologischer<br />

Ansatz, kein Formelunterricht<br />

2) Kursansatz (Alltagsmaterialansatz): Methodisch mit<br />

Materialien aus der Alltagswelt experimentieren,<br />

einfache Experimente anstelle komplizierter<br />

Apparaturen<br />

3) Homogenisierungsansatz: Gruppierung nach<br />

Geschlecht (partiell, kurzzeitig, themenspezifisch oder<br />

dauerhaft)<br />

4) Modellansatz: Integration von naturwissenschaftlich<br />

kompetenten Frauen als Identifikationsobjekte in den<br />

Unterricht<br />

1) Kontextansatz<br />

Im Rahmen einer Längsschnittstudie (Kraul, Horstkemper,<br />

1999) wurden deutliche Interessenunterschiede zwischen<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen der Jahrgänge fünf bis zehn für das<br />

Unterrichtfach Physik festgestellt. Gleichzeitig konnte aufgezeigt<br />

werden, dass die Unterrichtsqualität steigt, wenn sich die<br />

Lehrkräfte an den Interessen der Mädchen orientierten <strong>und</strong><br />

damit weniger aus der Systematik des Faches, sonder stärker<br />

Bezug nehmend auf die Lebenswelt die didaktischen Vorgänge<br />

strukturierten. Beide Geschlechter erzielten bessere Leistungen<br />

<strong>und</strong> entwickelten ein stärkeres Interesse gegenüber<br />

physikalischen Sachverhalten <strong>und</strong> Problemlagen (Horstkemper,<br />

2002).<br />

Nach der Interessensstudie von Hoffmann (1989) sind vor allem<br />

die folgenden Kriterien für die inhaltliche Strukturierung des<br />

Unterrichts von großer Bedeutung. Dies heißt vor allem, dass<br />

Naturwissenschaften in gesellschaftliche <strong>und</strong> ökologische<br />

Kontexte eingeb<strong>und</strong>en werden. Erweitert wird der<br />

Kriterienkatalog im von Wyatt entwickelten Ansatz „Science for<br />

girls“ (1996), der auf das von der Society for Canadian Women in<br />

Science and Technology (SCWIST) entwickelten Konzept<br />

“Science for Girls and other intelligent Beings” zurückgeht:<br />

• Anwendungsbezug (Kontext)<br />

• Alltagsbezug (Materialbeschaffenheit für Experimente)<br />

84


• Kommunikative Lernformen<br />

• Sinnvolle Bezüge (eingeb<strong>und</strong>en in Projekte oder Themen)<br />

• Anschaulichkeit - Ausgehen von konkreten Phänomen<br />

• Handlungsbezug - Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler entdecken<br />

handelnd naturwissenschaftliche Problem.<br />

Dieser Kontextansatz würde bedeuten, dass die Curricula <strong>und</strong><br />

Lehrbücher auf die besonderen Interessen der Mädchen bezogen<br />

umgeschrieben werden. Dies widerspricht nicht der<br />

Gleichberechtigung beider Geschlechter. Während der<br />

Physikdidaktiker Martin Wagenschein (1965, S. 350) noch aus<br />

seinem Erfahrungswissen folgerte: "Ich habe im<br />

Koedukationsunterricht immer die Erfahrung gemacht: Wenn<br />

man sich nach den Mädchen richtet, ist es auch für die Jungen<br />

richtig, umgekehrt aber nicht", gibt es mittlerweile viele<br />

empirische Belege, dass Mädchen einen besseren Zugang zu<br />

Naturwissenschaften <strong>und</strong> Technik auch durch veränderte<br />

Inhaltskontexte erwerben können.<br />

Generell zeigen die Ergebnisse des Kieler BLK-Modellversuchs<br />

„An den Interessen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen orientierter<br />

Physikunterricht“ (Hoffmann 1993), dass der Ansatz,<br />

mädchengerechte Curricula zu implementieren, gleichzeitig auch<br />

eine besondere Interessenssteigerung von Jungen bewirkt.<br />

Insofern kann generell gesagt werden, dass der didaktische<br />

Fokus auf Mädchen im Kontextansatz gleichzeitig eine<br />

gemeinsame Förderung von Mädchen <strong>und</strong> Jungen impliziert.<br />

Um den Unterricht mädchengerecht zu gestalten, sollten die<br />

Versuche <strong>und</strong> Fragestellungen folgenden Kriterien genügen:<br />

1. eine interessante Fragestellung<br />

2. eine so alltagsnahe Problematik, dass die Mädchen selbst<br />

Erklärungen suchen <strong>und</strong> vergleichen können<br />

3. eine Toleranz gegenüber Fehlvorstellungen im Vergleich zur<br />

Wissenschaft, dafür ein Ausgehen von Alltagsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> konstruktives Vorgehen<br />

4. allmählicher Aufbau von tragfähigem Wissen, das geeignet ist,<br />

Sinn in naturwissenschaftlichen Fragen zu finden.<br />

So gestalteter Unterricht kann schrittweise in Projektunterricht<br />

übergehen.<br />

85


2) Kursansatz mit Alltagsmaterialien<br />

Für diesen Ansatz sprechen die Untersuchungen Jahnke-Kleins<br />

im 9. Schuljahr von Gymnasien. Auf naturwissenschaftlichen<br />

Unterricht übertragen hieße dies, dass Mädchen stärker von<br />

kursartigen mädchengerechten Konzepten profitieren. Wyatt<br />

(1996), die einen derartigen Kurs für Mädchen entwickelt hat,<br />

betont darüber hinaus, dass es zur Motivierung der Mädchen<br />

sehr wichtig ist, mit Alltagsmaterialien zu arbeiten. Dies ist<br />

mittlerweile in vielen Lernwerkstätten Standard, dass die<br />

Versuche nachhaltiger für Mädchen sind, wenn mit einfachen<br />

Materialien experimentiert wird <strong>und</strong> nicht mit teuren<br />

technischen Apparaturen.<br />

In Wyatts Ansatz (1996) sind folgende methodische Prinzipien im<br />

Sinne des Alltagsmaterialansatzes konzeptionell eingegangen:<br />

• die Motivation für die Versuche entstammt dem Alltag:<br />

Fußspuren entschlüsseln, Kleidung finden, Tiere beobachten,<br />

Tüten erfinden <strong>und</strong> basteln, Kochen, Zeit sparen beim<br />

Silberputzen, Zaubertricks vorführen etc.<br />

• die Versuche sind nicht mit teuren <strong>und</strong> für Mädchen<br />

abschreckenden Apparaturen durchzuführen, sondern mit<br />

einfachen Mitteln wie Witz, Bleistift, Papier, Backpulver,<br />

Alufolie, Steinen, Zitrone, einer Blechdose <strong>und</strong> anderen<br />

• die Versuche sind einfach <strong>und</strong> phantastisch, so dass sie zum<br />

Machen unmittelbar animieren<br />

• die Sprache entstammt dem Alltag von Mädchen <strong>und</strong> spricht<br />

sie an<br />

• keine Laboratmosphäre<br />

• diese Prinzipien machen naturwissenschaftlichen Unterricht –<br />

besonders auf der Seite der Vorbereitung des Unterrichts –<br />

deutlich einfacher, weil nicht teuere Apparaturen verlangt<br />

werden, sondern Dinge, die in Küche, Hauhalt oder Schule<br />

ohnehin vorhanden sind.<br />

• wesentlich gerade beim Ansatz mit Alltagsmaterialien ist,<br />

dass Mädchen dabei besonders ihre Sprachkompetenz zur<br />

Lösung der naturwissenschaftlichen Problemsituation<br />

einbringen können. Bildung entsteht erst, wenn verschiedene<br />

86


Vorstellungen ausgetauscht werden, so ist das bloße<br />

Experimentieren noch nicht bildungswirksam. Aber mit dem<br />

Einbringen der Sprache, haben Mädchen auch eher Zugang zu<br />

den Inhalten.<br />

• in einem derartigen Unterricht gibt es vielfältige<br />

Sprechanlässe:<br />

• es können Ideen geäußert werden,<br />

• es gilt, viele Erfahrungen <strong>und</strong> Alltagswissen einzubringen,<br />

damit die Problemstellung plastisch wird<br />

• Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler werden immer wieder angeregt,<br />

Fragen zu stellen,<br />

• Gruppenarbeit fördert es, dass Beobachtungen mitgeteilt<br />

werden<br />

• vor Beginn der Versuche sollen alle erst einmal Vermutungen<br />

anstellen<br />

• es gilt, die Ergebnisse gemeinsam zu diskutieren<br />

• alle sollen dabei zu argumentieren lernen<br />

• die Planungen der eigenen Versuche müssen beschrieben<br />

werden.<br />

Die mündliche Kommunikation geht nahtlos in<br />

schriftsprachlichen Ausdruck über, indem Beobachtungen<br />

protokolliert, Ergebnisse präsentiert, Versuchsabläufe skizziert<br />

<strong>und</strong> Vergleiche grafisch dargestellt werden.<br />

3) Homogenisierungsansatz<br />

Baumert (1992) äußerte sich noch skeptisch hinsichtlich der<br />

Effekte nicht-koedukativer Schulen <strong>und</strong> betonte die<br />

unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen reiner<br />

Mädchenschulen. Doch spätere Untersuchungen, die innerhalb<br />

koedukativer Schulen homogene Klassen oder Gruppen<br />

untersuchten, kamen zu anderen Ergebnissen. Der<br />

Homogenisierungsansatz nach Geschlecht in den<br />

Naturwissenschaften wurde zuerst im Kieler BLK-Modellversuch<br />

(Hoffmann, 1993) erprobt. Homogene Halbgruppen bei<br />

veränderten Curricula erwiesen sich als besonders produktiv, um<br />

dem Abfall des Interesses für Naturwissenschaften bei Mädchen<br />

gegen Ende der Sek<strong>und</strong>arstufe entgegen zu wirken. Der<br />

niedersächsische Schulversuch (Kaiser u. a., 2003) hat schon im<br />

ersten Schuljahr eine Mädchenst<strong>und</strong>e <strong>und</strong> eine Jungenst<strong>und</strong>e<br />

87


pro Woche zum sozialen Lernen durchgeführt. Der Versuch<br />

insgesamt hat gezeigt, dass schulische Interventionen nicht die<br />

generellen differenten Sozialisationsprozesse unmittelbar zu<br />

beeinflussen vermögen, Freizeitinteressen, Spielvorlieben <strong>und</strong><br />

Zukunftsvorstellungen bilden sich gemäß der allgemeinen<br />

gesellschaftlichen Differenz heraus (Kaiser u. a., 2003).<br />

Allerdings konnte in den Mädchenst<strong>und</strong>en beobachtet werden,<br />

dass Mädchen Verhaltensweisen einübten, die nicht dem<br />

typischen weiblichen Muster entsprechen. Gerade als Übungsfeld<br />

für das Grenzensetzen von Mädchen scheinen Mädchenst<strong>und</strong>en<br />

besonders gut geeignet zu sein. In vielen Protokollszenen von<br />

Mädchenst<strong>und</strong>en konnten wir feststellen, dass Mädchen dabei<br />

sowohl klar die Konflikte benennen wie auch die positiven<br />

Wünsche artikulieren konnten, ohne dass nun die Jungen zum<br />

einzigen Problem erklärt wurden, sondern dass auch das<br />

Schwimmen oder andere schulische Ereignisse gleichermaßen als<br />

mitteilenswertes Problem angesehen wurden. Für die<br />

Mädchenst<strong>und</strong>en wurde im Schulversuch empfohlen, reihum als<br />

Begrüßungsritual den eigenen Namen laut auszurufen <strong>und</strong> dabei<br />

durch körpersprachliche Unterstützung wie Aufstampfen mit<br />

dem Fuß der eigenen Stärke Nachdruck zu verleihen.<br />

Ein weiteres besonderes Merkmal der Mädchenst<strong>und</strong>en ist neben<br />

dem Anfangsritual das szenische Ritual, das den St<strong>und</strong>en auch<br />

Erfahrungsqualität verleihen soll. Duftlampe, Kerze,<br />

Gesprächsstein <strong>und</strong> Samtdecke wurden als ein mögliches<br />

Ensemble für das Arrangement der Mädchenkreismitte den<br />

Versuchsschulen vorgeschlagen.<br />

Mädchenst<strong>und</strong>en sollten im Schulversuch einer inneren Struktur<br />

folgen. Für den niedersächsischen Schulversuch wurde an<br />

Gr<strong>und</strong>schulen die folgende Reihenfolge der Phasen einer<br />

Mädchenst<strong>und</strong>e entwickelt:<br />

1) Begrüßungsrituale<br />

2) Gemeinsame stärkende Atemübung<br />

3) Interaktionsübung<br />

4) Gesprächskreis zu einem aktuellen Konflikt (z.B. Umgang von<br />

Fre<strong>und</strong>innen miteinander)<br />

5) Interaktionsübungen zum Thema der St<strong>und</strong>e<br />

6) Gespräch, ein konkretes Problem zum Konflikt zu lösen<br />

7) Abschlussrituale<br />

88


8) Weitergabe des Mädchenbuches.<br />

Inhaltlich wurde für die Mädchenst<strong>und</strong>en versucht, symbolische<br />

Zugangsweisen zu ermöglichen, um ein Gegengewicht zu bloß<br />

kognitiv strukturierten Lernformen zu setzen. Symbolisches<br />

Lernen – wie es etwa in Interaktionsübungen, Fantasiereisen,<br />

szenischen Spielen möglich ist – setzt auf einer komplexeren<br />

Lernebene an. Die Hypothese hinter diesem Ansatz ist, dass die<br />

Geschlechterbilder in der Gesellschaft ebenfalls durch komplexe<br />

symbolisch vermittelte Muster in die Persönlichkeitsstrukturen<br />

schon kleiner Kinder eingeprägt werden <strong>und</strong> daher durch<br />

einfache kognitive Reflexion nicht so schnell auflösbar sind.<br />

So gut wie alle Kinder fanden die Mädchenst<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

Jungenst<strong>und</strong>en besonders positiv (Kaiser, 2001). Diese<br />

verändern aber nicht die Identität der Geschlechter, sie können<br />

dennoch Kompetenzgewinn fördern. Unsere Beobachtungen<br />

zeigten, dass gerade in den Jungenst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Mädchenst<strong>und</strong>en<br />

mehr die Stereotype überschreitende Aussagen zu finden waren<br />

als im regulären Unterricht. Denn Kinder brauchen Zeit, um<br />

über das eigene Bild, was ein Mädchen <strong>und</strong> was ein Junge ist,<br />

nachzudenken, um für sich selbst neue Wege <strong>und</strong> Ziele zu<br />

erkennen. Dazu sind im Rahmen der koedukativen Schule<br />

spezielle Mädchen- <strong>und</strong> Jungenst<strong>und</strong>en sehr wichtig. Damit<br />

kann dem Bild, dass die Mädchen sich selbst als brav <strong>und</strong> schön<br />

sehen <strong>und</strong> die Jungen als große Könner, möglicherweise<br />

entgegengewirkt werden.<br />

Das Konzept der Mädchenst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Jungenst<strong>und</strong>en (Kaiser,<br />

2001) im Schulversuch traf auf hohe Akzeptanz bei den Mädchen<br />

<strong>und</strong> Jungen, die allerdings nur geringe partielle<br />

Geschlechtertrennung befürworteten, aber generell im<br />

koedukativen Klassenverband unterrichtet werden wollten.<br />

Die Supervision <strong>und</strong> Fortbildung der Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer im<br />

Schulversuch wurde von diesen als Ansatz, um die<br />

Geschlechterperspektive immer deutlicher zu erkennen<br />

wahrgenommen. Sie nannten es: „Wir sehen jetzt mit der<br />

Schulversuchsbrille“. Und genau auf diesen Perspektivwechsel<br />

zum permanenten Einbezug der Geschlechterperspektive kommt<br />

es an.<br />

In anderen Projekten wurde die zeitweilige<br />

Geschlechtertrennung vor allem im naturwissenschaftlich-<br />

89


technischen Unterricht vorgenommen <strong>und</strong> als positiv für die<br />

Förderung von Interesse <strong>und</strong> Kompetenz im<br />

naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich untersucht<br />

(Hofmann, 1993; Nyssen, 1996; Kessels, 2002). Kessels bestätigt<br />

auch die Ergebnisse des niedersächsischen Schulversuchs, dass<br />

homogene Gruppierung eher beiträgt, Stereotype zu minimieren<br />

„In den koedukativen Gruppen verhielten sich die Mädchen nach<br />

eigenen Angaben deutlich geschlechttypisierter, in dem sie sich<br />

von dem ‚Jungenfach’ Physik distanzierten, ihre Fähigkeiten für<br />

gering hielten <strong>und</strong> wenig motiviert waren. Auf das<br />

physikbezogene Selbstkonzept <strong>und</strong> die Motivation der Jungen<br />

hatte die Gruppenkonstellation dagegen keine Auswirkung“<br />

(Kessels, 2002, S. 224). Alle diese unterschiedlich angelegten<br />

Projekte in der Sek<strong>und</strong>arstufe I belegen, dass in der Tat die<br />

geschlechtshomogene Gruppierung sich positiv auf die<br />

Kompetenzentwicklung der Mädchen ausgewirkt hat.<br />

Kreienbaum/ Urbaniak (2006) schlagen sogar vor, die „’Zufällige<br />

methodische Trennung’ als schulorganisatorisches Konzept“<br />

(ebd., 147) zu wählen. Danach lernen die Kinder nach dem<br />

Zufallsprinzip in einem Fach separiert nach Geschlecht in den<br />

übrigen Fächern gemeinsam. Das jeweilige Fach mit der<br />

Geschlechtertrennung wechselt nach einem Schulhalbjahr. Nach<br />

Auskunft der Autorinnen habe sich in Evaluationen dieses<br />

Konzept eine sehr positive Resonanz gezeigt.<br />

4) Modellansatz<br />

Das Modelllernen ist in der Geschlechterfrage von großer<br />

Bedeutung. Kinder <strong>und</strong> Jugendliche lernen, was männlich<br />

<strong>und</strong> weiblich sein soll, durch die erwachsenen Vorbilder<br />

in ihrer Umwelt. Mädchen brauchen Vorbilder von<br />

Frauen, die es geschafft haben, sich mit Technik <strong>und</strong><br />

Naturwissenschaften zu beschäftigen. Eine Abgeordnete<br />

bzw. Physikerin als Gäste in der Schule können schon<br />

gute Vorbilder bieten. Hier gilt es, nicht nur Lehrerinnen<br />

für naturwissenschaftlichen Unterricht zu gewinnen. Dies<br />

90


ist angesichts der Dominanz von männlichen<br />

Studierenden in diesen Fächern schwierig. Wichtiger ist<br />

es, weibliche Modelle vorzustellen. Wyatt (1996)<br />

beschreibt für jede naturwissenschaftliche Subdisziplin<br />

berühmte Forscherinnen, die durch Zeichnungen den<br />

Schülerinnen persönlich nahe gebracht werden. In<br />

Geschichten <strong>und</strong> Bildern werden echte weibliche Modelle<br />

vorgestellt, Wissenschaftlerinnen, die tatsächlich als<br />

Jaguarforscherinnen oder Sternentdeckerinnen<br />

Berühmtheit gewonnen haben <strong>und</strong> den Mädchen zeigen:<br />

Frauen können es in diesen Gebieten weit bringen <strong>und</strong><br />

spannende Aufgaben bekommen. Wir haben dazu aus<br />

allen naturwissenschaftlichen Disziplinen (auch Geologie,<br />

Paläontologie, Physik, Meteorologie, Umweltwissenschaft,<br />

Genetik <strong>und</strong> Astronomie) bekannte Wissenschaftlerinnen<br />

in Bild <strong>und</strong> Text vorgestellt.<br />

Weitere Möglichkeiten bestehen darin, Biografien berühmter<br />

Frauen in den Naturwissenschaften im Bereich der Schule zu<br />

dokumentieren oder sie im Schulleben durch Jahrestage oder<br />

andere rituelle Formen zu würdigen. Auch das Einladen externer<br />

Expertinnen in die Schule – von der Chemielaborantin bis zur<br />

Erfinderin – hilft den Schülerinnen, positive weibliche Modelle<br />

zu kennen <strong>und</strong> sich möglichst mit diesen zu identifizieren.<br />

Kreienbaum/ Urbaniak (2006) schlagen als Variante des<br />

Modelllernens die „einbeziehende Erziehung vor (ebd., S. 149f).<br />

Damit ist ein wechselseitiger Prozess der Identifikation <strong>und</strong><br />

Selbstreflexion gemeint. „Das Curriculum sollte für die<br />

Lernenden sowohl ein Spiegel als auch ein Fenster sein. …Die<br />

Lernenden sollen in der Lage sein, dadurch in unterschiedliche<br />

Welten zu sehen <strong>und</strong> gleichzeitig die Spiegelungen ihrer eigenen<br />

ethnischen Gruppe, ihres, Geschlechts, ihrer sozialen Schicht in<br />

91


den Lerngegenständen zu entdecken. Einbeziehende Erziehung<br />

ist ein Konzept des Lernens von innen nach außen“ (ebd., S. 149).<br />

Praktisch heißt dies, dass die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler sich<br />

intensiv in einem „dramatischen Monolog“ (ebd., S. 150) in die<br />

andere Person hineinfinden. Dabei sollen sie sich sowohl in eine<br />

männliche wie in eine weibliche Rolle hinein begeben.<br />

Wichtig bei diesen Modellansätzen ist es, dass Alternativen<br />

sichtbar <strong>und</strong> erfahrbar werden, um die tradierten<br />

Geschlechterstereotypien zu unterbrechen. Denn bei der<br />

Veränderung der Geschlechtermuster kommt es vor allem darauf<br />

an,<br />

• anders zu denken<br />

• anders zu sehen<br />

• <strong>und</strong> anders wahrzunehmen.<br />

Diese veränderten Perspektiven machen es möglich, die<br />

verborgenen Geschlechterperspektiven kritisch aufzudecken, die<br />

eigene Praxis zu reflektieren <strong>und</strong> geschlechterbewusste<br />

Pädagogik zu entwickeln. Dazu sind allerdings viele Formen der<br />

Gruppenreflexion, des wechselseitigen Beobachtens erforderlich.<br />

Denn in der Regel reproduzieren sich die herrschenden<br />

Geschlechterverhältnisse. Um Alternativen aufzubauen, bedarf<br />

es gezielter Anstrengungen.<br />

5) Kompensatorischer Ansatz<br />

Dieser Ansatz ist eher als Sammelkategorie verschiedener<br />

einzelner Ideen aufzufassen. Es werden einzelne empirische<br />

Ergebnisse über Differenzen der Geschlechter herangezogen <strong>und</strong><br />

daraus methodische Folgerungen gezogen. So heißt es bei Barke:<br />

„Mädchen weisen gegenüber Jungen der gleichen Altersstufe<br />

Defizite im Raumvorstellungsvermögen auf. Um diese wichtige<br />

Fähigkeit zu fördern <strong>und</strong> Defizite zu verkleinern, kann im<br />

Chemieunterricht mit räumlichen Modellen zur Struktur der<br />

Materie gearbeitet werden. (…)“ (Barke 1992, 437).<br />

In späteren Untersuchungen (Barke & Harsch 2001) wird<br />

allerdings deutlich, dass das bloße Angebot von Visualisierungen<br />

von Mädchen nicht ähnlich wie bei Jungen angenommen wird:<br />

92


„Setzt man voraus, dass der Unterricht in dieser Klassenstufe<br />

naturwissenschaftliche Inhalte anbietet, die etwa durch<br />

dreidimensionale Modelle oder Zeichnungen räumlicher<br />

Gegenstände das Raumvorstellungsvermögen ansprechen, dann<br />

scheinen Jungen diese Fähigkeit sofort umzusetzen <strong>und</strong> ihre<br />

kognitive Struktur entsprechend zu verändern. Die Mädchen-<br />

Stichprobe zeigt diesen Anstieg nicht, obwohl derselbe Unterricht<br />

für sie stattgef<strong>und</strong>en hat“ (Barke & Harsch 2001, 273). Die<br />

Geschlechterdifferenzen scheinen sich also vor allem durch<br />

bestimmte Persönlichkeitsvariablen wie Interessen herzustellen.<br />

Besonders auf Interessen bezogen, wird in anderen Projekten<br />

versucht, die naturwissenschaftlichen Probleme an Inhalten im<br />

Unterricht aufzuziehen, die Mädchen besonders interessieren<br />

(vgl. Häußler et al. 1998, 122). Dieser Ansatz scheint mehr die<br />

Persönlichkeit <strong>und</strong> die Wahrnehmungsmuster von Mädchen<br />

anzusprechen <strong>und</strong> könnte eher Wirksamkeit entfalten.<br />

Denn Mädchen <strong>und</strong> Jungen unterscheiden sich „im Hinblick auf<br />

verschiedene Schulfächer deutlich in ihrem emotionalen Erleben<br />

– <strong>und</strong> zwar auf der Persönlichkeitsebene wie auch in einzelnen<br />

Unterrichtsst<strong>und</strong>en“ (Gläser-Zikuda & Fuß 2003).<br />

6<br />

Schlussfolgerungen<br />

Bislang ist noch nicht empirisch belegt, welcher dieser Wege als<br />

besonders produktiv gelten kann. Wahrscheinlich ist es sinnvoll,<br />

eine Kombination verschiedener Ansätze zu praktizieren, denn<br />

die stereotypisierenden gesellschaftlichen Strukturen wirken als<br />

System, von daher kann nur „auf breiter Front“ den<br />

überkommenen <strong>und</strong> überholten Mustern von Geschlechterbildern<br />

entgegnet werden. Dies geht allerdings nur, wenn die Mädchen<br />

nicht als defizitär betrachtet werden. Denn das geringe Interesse<br />

von Mädchen an naturwissenschaftlichen Fragen wird innerhalb<br />

der neueren pädagogischen Diskussionen theoretisch nicht mehr<br />

im Sinne des Defizit-Ansatzes interpretiert, nach dem die<br />

Mängel bei den Mädchen gesehen wurden, sondern im Sinne des<br />

sozialisationstheoretischen Differenzansatzes. Dabei wird nach<br />

Faktoren <strong>und</strong> Bedingungen der differenten Lerninteressen <strong>und</strong><br />

93


Motivationsstrukturen für Naturwissenschaftlichen Unterricht<br />

gefragt. Wichtig ist es, dass in allen Vorhaben <strong>und</strong> Projekten zur<br />

Geschlechtergerechtigkeit Mädchen in ihren Kompetenzen<br />

positiv angesprochen werden. Allerdings muss einschränkend<br />

hinzu gefügt werden, dass die generelle Fixierung allein auf die<br />

Geschlechterdimension nicht hinreichend die empirische<br />

Differenzierung der Gesamtheit der Lernenden erfasst. Denn es<br />

muss differenziert werden nach der sozialen <strong>und</strong> ethnischen<br />

Herkunft der Mädchen. Nach wie vor erweist sich die<br />

Schichtzugehörigkeit als die entscheidende Variable für den<br />

formalen Schulerfolg. Sie ist prägender als die<br />

Geschlechtszugehörigkeit <strong>und</strong> differenziert die Gesamtheit der<br />

Mädchen in viele Gruppen mit sehr unterschiedlichen<br />

Lernchancen (…)“ (Nyssen 2004, 393f.). So gesehen ist die<br />

Geschlechterfrage ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein<br />

auf dem Weg zu einer Pädagogik für heterogene<br />

Lernvoraussetzungen.<br />

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Koedukation im Sportunterricht -<br />

Zwischen Gleichheit <strong>und</strong> Differenz<br />

Petra Wolters<br />

Koedukation - ist dazu nicht schon alles gesagt <strong>und</strong> jedes Pro<strong>und</strong><br />

Contra-Argument hinlänglich diskutiert worden? Im<br />

folgenden Beitrag soll es um die Frage gehen, mit welchen<br />

Zielvorstellungen <strong>und</strong> Strategien Problemen der Koedukation<br />

begegnet werden kann. Soll Gleichheit der Geschlechter<br />

angestrebt werden, weil gleiche Rechte am ehesten dann zu<br />

realisieren sind, wenn die Beteiligten "gleich" sind? Oder ist es<br />

Erfolg versprechender, gerade auf die Differenz zu setzen,<br />

Unterschiede zu wahren, ohne dass dies identisch mit Hierarchie<br />

ist?<br />

Ich wähle drei Zugänge zu dem Thema. Zunächst die Alltags-<br />

Perspektive: Welche Erfahrungen <strong>und</strong> Strategien zum Umgang<br />

mit Koedukation haben Sportlehrerinnen <strong>und</strong> Sportlehrer?<br />

Zweitens die sportpädagogische Sichtweise: Hier werden<br />

ausgewählte Ansätze dargestellt, an denen die verschiedenen<br />

Idealvorstellungen von Gleichheit <strong>und</strong> Differenz deutlich werden.<br />

Drittens wird auf zwei Theoriebestandteile aus der Soziologie<br />

eingegangen, weil sie sowohl erlauben, die Praxis der<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer einzuordnen als auch die Ansprüche<br />

sportpädagogischer Leitideen zur Koedukation einzuschätzen.<br />

Alltagsperspektive<br />

Gemeinsam mit Studierenden der Universität Hamburg (1) habe<br />

ich im Wintersemester 1999/2000 Leitfaden- Interviews mit zehn<br />

Sportlehrerinnen <strong>und</strong> Sportlehrern durchgeführt. Vier Frauen<br />

<strong>und</strong> sechs Männer, die zwischen 7 <strong>und</strong> 29 Jahren<br />

97


Berufserfahrung aufwiesen <strong>und</strong> in verschiedenen Schulstufen<br />

<strong>und</strong> Schulformen unterrichteten, gaben uns Auskunft darüber,<br />

wie sie zur Koedukation im Sportunterricht stehen <strong>und</strong> wie sie<br />

handeln, wenn Probleme zwischen Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

auftreten.<br />

Zustimmung zur Koedukation<br />

Alle Befragten unterrichteten zu dem Zeitpunkt des Interviews<br />

in gemischt-geschlechtlichen Klassen Sport, wie es in Hamburg<br />

die Regel ist. Für sie ist Koedukation also selbstverständlich. Sie<br />

nehmen den gemeinsamen Unterricht, der durch die Institution<br />

vorgegeben ist, jedoch nicht nur einfach hin, sondern bejahen ihn<br />

auch. Beispielhaft kann man Frau A zitieren: „Ich weiß nicht,<br />

wie es anders laufen sollte C...) <strong>und</strong> bin absolut dagegen, dass<br />

man das teilt." Generell äußerte nur eine Lehrerin Bedenken<br />

gegen den gemeinsamen Unterricht von Mädchen <strong>und</strong> Jungen,<br />

<strong>und</strong> zwar für den Zeitraum der Mittelstufe. Wenn überhaupt die<br />

Idee der Trennung aufkam, dann bei allen anderen Lehrkräften<br />

als Teilzeittrennung, etwa für bestimmte Inhalte oder wenn die<br />

Interessen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen zu stark voneinander<br />

abweichen. Für ideal hielten mehrere Befragte, in der Mittelstufe<br />

ein flexibles Modell einzurichten, nämlich dass eine Sportst<strong>und</strong>e<br />

pro Woche koedukativ stattfinden, während die andere in<br />

gleichgeschlechtlichen Gruppen erteilt werden solle.<br />

Schwanken zwischen Gleichheits- <strong>und</strong><br />

Differenzidee<br />

Besonders interessant für die oben genannte Fragestellung sind<br />

diejenigen Aussagen, die die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer über das<br />

Verhältnis der Geschlechter machen. Da finden sich von einer<br />

Art "political correctness" getragene Bekenntnisse zur Gleichheit<br />

der Geschlechter ebenso wie eindeutige Zuweisungen von<br />

unterschiedlichen Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten zu einem<br />

bestimmten Geschlecht. Herr F hält Z. B. beide Geschlechter gar<br />

98


nicht mehr für so verschieden <strong>und</strong> meint, dieser Zustand gehe<br />

auf gesellschaftliche Veränderungen zurück:<br />

"Ich glaube auch, (..) dass das mit der Emanzipationsbewegung<br />

zusammenhängt. (..) Ich kann da keine Unterschiede mehr<br />

feststellen, auch im Tennis ist das ja so, ob man Steffi-Graf- oder<br />

Boris-Becker-Fan ist, ist eigentlich egal. Es sind beide sehr gut<br />

eigentlich. Also das ist bei den Mädchen <strong>und</strong> Jungs auch."<br />

Frau B dagegen scheint noch, ein traditionelles Verständnis<br />

davon zu haben, welche Sportarten sich für Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

eignen:<br />

"Die Voraussetzungen der Jungen vom Körperlichen her sind ja<br />

auch anders als bei den Mädchen. Ich würde mit den Mädchen<br />

jetzt nicht unbedingt im Sommer Kugelstoßen machen. Das ist für<br />

mich keine Sportart für Mädchen."<br />

Auch innerhalb ein <strong>und</strong> desselben Interviews kommen<br />

Widersprüche zwischen beiden Positionen vor. Auf die direkte<br />

Frage nach den Unterschieden von Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

reagieren die Befragten meist sehr zurückhaltend <strong>und</strong><br />

relativierend:<br />

"Natürlich gibt es Mädchen, die, die sich besonders aufspielen,<br />

<strong>und</strong> es gibt auch Jungen, die sich besonders auf spielen. Aber ich<br />

würde das nicht verallgemeinern wollen. Es gibt kumpelhafte<br />

Mädchen, die sich im Sportunterricht wie jungen, wie man so<br />

schön sagt, wie jungen verhalten. Und es gibt Mädchen, die sich<br />

wie Mädchen, die sich mädchenhaft verhalten, also möglichst<br />

nicht schwitzen wollen. Und es gibt Jungen, die sich mädchenhaft<br />

verhalten, ja. " (Herr B)<br />

An anderen Stellen findet man jedoch Aussagen, die<br />

offensichtlich nicht der Kontrolle der sozialen Erwünschtheit<br />

unterliegen. So etwa Herr E:<br />

"Also, ich hab' jetzt z. B. gerade einen Kurs, wo nur Mädchen<br />

sind, (..) <strong>und</strong> einen Jungen, aber der fällt nicht auf, weil der auch<br />

von Volleyball keine Ahnung hat. "<br />

Eine andere Lehrerin betont, sie halte gemeinsamen<br />

Sportunterricht von Mädchen <strong>und</strong> Jungen deswegen für<br />

wünschenswert, weil beide Geschlechter voneinander lernen<br />

könnten. Allerdings zählt sie danach - was kaum als Zufall<br />

99


interpretiert werden kann - nur Beispiele auf, in denen die<br />

Mädchen etwas von den Jungen lernen können.<br />

Strategien zum Umgang mit Problemen<br />

im Unterricht<br />

Im Folgenden stelle ich die wichtigsten Strategien dar, die<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer in ihrem Alltag entwickelt haben <strong>und</strong><br />

die anschließend kritisch betrachtet werden sollen, z. B.<br />

inwieweit sie auf Gleichheit oder Differenz zielen.<br />

"Neutrale" Inhalte<br />

Mehrfach wird Badminton als Beispiel für einen sportlichen<br />

Inhalt genannt, bei dem Jungen <strong>und</strong> Mädchen sehr gut<br />

miteinander kooperieren könnten. Andere Inhalte werden so<br />

aufbereitet, dass sie nicht mehr dem internationalen Regelwerk<br />

entsprechen, um den Vorsprung durch außerschulische<br />

Erfahrungen bis zu einem gewissen Grade zu verringern.<br />

Mehrere Befragte äußerten auch, dass Sportarten, die<br />

überwiegend nur von einem Geschlecht betrieben würden,<br />

Probleme im koedukativen Unterricht verursachten. Wenn<br />

konkurrierende Interessen vorhanden seien, steuern<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer manchmal auf einen Kompromiss zu.<br />

"Also - natürlich gibt es das, dass Jungen Fußball spielen <strong>und</strong><br />

sagen, sie wollen zum Aufwärmen Fußball spielen <strong>und</strong> die<br />

Mädchen sagen, nein wir wollen kein Fußball spielen, wir wollen<br />

Völkerball spielen. (..) Und dann einigen wir uns auf -<br />

Basketball." (Herr B)<br />

Beteiligungspflicht<br />

Damit nicht jedes Mal neue Konflikte entstehen, wenn<br />

bestimmte Inhalte auf dem Programm stehen, die als „Mädchen-“<br />

oder „Jungensportarten“ gelten, machen Lehrkräfte die aktive<br />

Beteiligung zur allgemeinen Regel. Jungen sollen auch dann<br />

100


teilnehmen, wenn es um Tanz oder Turnen geht, während<br />

Mädchen sich dem Fußball nicht entziehen dürfen. So sagt Frau<br />

D, sie lege Wert darauf, "dass es von Anfang an für alle klar <strong>und</strong><br />

selbstverständlich ist, die Mädchen machen mit Fußball <strong>und</strong><br />

genauso machen die Jungs Gymnastik mit."<br />

Sanktionierung durch Noten<br />

"Ich habe beispielsweise einen Schüler; der hat nur deshalb keine<br />

Eins in Sport bekommen, weil er für meine Begriffe zu unsozial<br />

war" (Herr A).<br />

Sportzensuren werden von den befragten Lehrerinnen <strong>und</strong><br />

Lehrern des Öfteren als Mittel genannt, um unerwünschtes<br />

Verhalten zu sanktionieren. Das bezieht sich zwar nicht nur auf<br />

Verhaltensweisen zwischen Mädchen <strong>und</strong> Jungen, da aber in den<br />

Beispielen nur Jungen genannt wurden, über die eine solche<br />

Sanktion verhängt wurde, spielt diese Strategie durchaus eine<br />

Rolle bei dem Thema "Gleichheit <strong>und</strong> Differenz". Im Prinzip zielt<br />

diese Strategie darauf ab, Unterschiede im Sozialverhalten zu<br />

verringern.<br />

Verfahren der Gruppenbildung<br />

Potenziell sind Gruppen- <strong>und</strong> Mannschaftsbildung sensible<br />

Vorgänge im Sportunterricht, die das soziale Gefälle in einer<br />

Klasse widerspiegeln. Da sich die befragten Lehrkräfte dessen<br />

bewusst sind, nennen sie bestimmte Verfahren, mit denen sie<br />

Wahlen umgehen oder sozial verträglicher gestalten.<br />

"Sobald man die Schüler selber wählen lässt, wird zum einen<br />

nach Leistung gewählt <strong>und</strong> ein bisschen auch nach Sympathie.<br />

Aber es sind eigentlich immer die gleichen, die auf der Strecke<br />

bleiben. Deswegen sollte man das in der Regel vermeiden. Ich<br />

lass' eigentlich die Schüler so gut wie nie selbst wählen" (Herr A).<br />

Herr A teilt deswegen selbst "gerechte" Mannschaften ein, es sei<br />

denn, er ist sich sicher, dass die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler selbst<br />

dazu in der Lage sind. Andere Regelungen bestehen darin, dass<br />

genau festgelegt wird, dass bei Mannschaftswahlen ein Junge<br />

immer ein Mädchen <strong>und</strong> ein Mädchen immer einen Jungen<br />

101


wählen muss. Dadurch soll verhindert werden, dass die Mädchen<br />

bis zum Ende des Wahlvorganges übrig bleiben.<br />

Punktuelle Unterstützung der Mädchen<br />

Gelegentlich nehmen sich die Lehrkräfte besonders der Mädchen<br />

an, indem sie sie auffordern, ihre Interessen zu äußern, oder<br />

indem sie ihnen gezielt mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.<br />

Dass sie jedoch regelmäßig <strong>und</strong> durchgängig so handeln, lässt<br />

sich aus keinem der Interviews erkennen. Beispiel:<br />

"So, jetzt waren immer die Jungen dran, jetzt kommen auch mal<br />

die Mädchen" (Herr D).<br />

Manchmal werden auch die Jungen aus der Halle geschickt, um<br />

draußen Fußball <strong>und</strong> Basketball zu spielen, damit sich die<br />

Lehrkraft in Ruhe den Mädchen zuwenden kann.<br />

Vielfalt der Inhalte<br />

Die Lehrkräfte versuchen, den Wünschen sowohl der Jungen als<br />

auch der Mädchen gerecht zu werden. Manche Lehrerinnen <strong>und</strong><br />

Lehrer sammeln am Beginn eines Schulhalbjahres Wunschzettel<br />

ein, auf denen Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler ihre Inhaltswünsche<br />

für den Sportunterricht angeben können. Zum anderen bieten sie<br />

von sich aus eine möglichst breite Palette von Sport- <strong>und</strong><br />

Bewegungsmöglichkeiten an. Auch innerhalb einer Sportst<strong>und</strong>e<br />

werden etwa verschiedene Stationen angeboten, aus denen die<br />

Einzelnen dann auswählen dürfen.<br />

Zeitweilige Trennung<br />

Auf diese Lösung greifen die Lehrkräfte besonders bei den<br />

Sportspielen zurück oder, wie oben erwähnt, wenn sie sich<br />

einmal gezielt um die Interessen der Mädchen kümmern wollen.<br />

Wenn sich organisatorisch die Gelegenheit ergibt, werden auch<br />

einmal die Jungen <strong>und</strong> die Mädchen von Parallelklassen<br />

102


zusammen un-terrichtet, ein Verfahren, was jedoch nur<br />

unregelmäßig zum Zuge kommt:<br />

"Wir machen das mit Absprache mit anderen Kollegen bisweilen<br />

so, dass wir; wenn zwei Klassen parallel Unterricht haben (..),<br />

dass wir dann mal tauschen. Ein Kollege betreut die Mädchen<br />

beider Klassen, der andere Kollege betreut die Jungen beider<br />

Klassen, <strong>und</strong> dann werden auch durchaus unterschiedliche<br />

Themen angeboten." (Herr A).<br />

Getrennte Bewertung<br />

Für alle Befragten war es klar, dass die Leistungen von Jungen<br />

<strong>und</strong> Mädchen unterschiedlich bewertet werden. Für dieselbe<br />

Leistung erhalten also Jungen eine andere Note als Mädchen.<br />

Indem von vornherein unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe<br />

angelegt werden, wird offensichtlich ein direkter Vergleich von<br />

Mädchen mit Jungen vermieden. Man könnte diese<br />

selbstverständliche Ungleichbehandlung als vorbeugende<br />

Maßnahme gegen Konflikte verstehen. Trotz aller Beteuerungen,<br />

dass es den typischen Jungen oder das typische Mädchen heute<br />

gar nicht mehr gebe, scheinen die körperlichen Unterschiede als<br />

gegeben angesehen zu werden.<br />

Sonderregeln<br />

Sonderregeln sollen das gemeinsame Spielen von Schülern <strong>und</strong><br />

Schülerinnen ermöglichen. Beispielsweise darf eine Mannschaft,<br />

nur dann auf den Basketballkorb werfen, wenn alle<br />

Mannschaftsmitglieder vorher einmal Ballkontakt hatten. Diese<br />

Regel kann man noch als geschlechtsneutral betrachten (obwohl<br />

sie meist dazu gedacht ist, die Mädchen in das Spiel<br />

einzubeziehen). Andere Regeln werden ausdrücklich auf das<br />

Geschlecht bezogen, etwa "Nur Mädchen dürfen auf das Tor<br />

werfen/ schießen" oder "Jungen dürfen beim Fußball nur drei<br />

Schritte mit dem Ball laufen". Indem entweder die Mädchen<br />

einen bevorzugten Status erhalten oder die Jungen mit einem<br />

Handikap belegt werden, soll innerhalb des Spiels zwar<br />

Gleichheit erzeugt werden. Die Regeln können jedoch genau<br />

103


gegenteilig wirken, weil sie die Differenz - geradezu die<br />

Schutzbedürftigkeit der Mädchen herausstellen, wie schon<br />

Kugelmann (1996, 285) kritisierte. Um das<br />

Geschlechterverhältnis zu verändern, sind solche Regeln kaum<br />

geeignet.<br />

Akzeptieren der Dominanz der Jungen<br />

Diese - vermutlich oft nicht bewusste - Strategie korrespondiert<br />

mit der punktuellen Unterstützung der Mädchen. Generell ist<br />

den Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern selbst klar, dass ihr<br />

Sportunterricht eher den Jungen als den Mädchen gerecht wird.<br />

Gerade für die Mittelstufe stimmen die Befragten überein, dass<br />

Mädchen weniger ihre Interessen wahrnehmen können.<br />

"Ich könnte mit den Mädchen in der siebten Klasse ganz toll noch<br />

turnen. Da hätte ich ganz große Lust zu oder Gymnastik machen<br />

mit Musik <strong>und</strong> so was alles. Das ist für die Jungen aber albern.<br />

Da brauche ich auch nicht mit anzufangen" (Frau A)<br />

Man kann die einzelnen Strategien nun danach einordnen, ob sie<br />

auf Gleichheit oder Differenz abzielen. Während neutrale<br />

Inhalte, Beteiligungspflicht, Sanktionierung durch Noten,<br />

Verfahren der Gruppeneinteilung <strong>und</strong> punktuelle Unterstützung<br />

der Mädchen von den Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern darauf gerichtet<br />

sind, im Unterricht Gleichheit herzustellen, stehen die<br />

Strategien der Vielfalt der Inhalte, der zeitweiligen Trennung,<br />

der getrennten Bewertung, Sonderregeln <strong>und</strong> des Akzeptierens<br />

der Dominanz der Jungen für das Gegenteil. Allerdings täuscht<br />

diese Einteilung darüber hinweg, dass die Strategien, die<br />

Gleichheit erzeugen sollen, das Gegenteil bewirken können (das<br />

gilt etwa für die Sonderregeln).<br />

Die verschiedenen Strategien lassen sich auch nicht einzelnen<br />

Personen zuordnen. Man kann aus den Interviewdaten keine<br />

Lehrertypen konstruieren, bei denen der eine etwa nur<br />

Strategien der Gleichheit, die andere nur Strategien der<br />

Differenz anwendete. Vielmehr scheint in der Praxis ein<br />

alltagstaugliches, situatives Gemisch von Strategien zu<br />

entstehen.<br />

104


Sportpädagogische Perspektive<br />

Das Problem der gleichberechtigten Teilhabe oder der<br />

Chancengleichheit beider Geschlechter im gemeinsamen<br />

Sporttreiben beschäftigt die: Sportpädagogik schon seit<br />

längerem. Ich möchte hier aus der Vielzahl der<br />

Lösungsvorschläge nur drei heraus- greifen: das Prinzip der<br />

Mädchenparteilichkeit (vgl. Scheffel/ Thies 1990; Scheffel 1996;<br />

Kugelmann 1991; 1992), den Ansatz der Jungenarbeit (vgl.<br />

Schmerbitz/ Seidensticker 1994, bes. 206-209; 1997) <strong>und</strong> den<br />

Entwurf zur Förderung individueller Potenziale (vgl. Gieß-Stüber<br />

2000).<br />

Ich stelle sie kurz unter der leitenden Frage dar, welche Position<br />

sie zu Gleichheit <strong>und</strong> Differenz der Geschlechter beziehen.<br />

Mädchenparteilichkeit<br />

Scheffel (1996, 56) kommt in ihrer Untersuchung zum<br />

koedukativen Sportunterricht zu dem Schluss, dass der<br />

gemeinsame Unterricht von Mädchen <strong>und</strong> Jungen, wie er zurzeit<br />

durchgeführt wird, die Geschlechterhierarchie eher bestätigt.<br />

"Trotz intensiver Bemühungen, in einem intentional<br />

koedukativen Sportunterricht die polaren Geschlechterrollen zu<br />

überwinden <strong>und</strong> Mädchen <strong>und</strong> Jungen ein umfassendes<br />

Bewegungs- <strong>und</strong> Sozialverhalten zu ermöglichen, reproduziert<br />

der koedukative Sportunterricht das polare, hierarchische<br />

Geschlechterverhältnis eher als dass er es abbaut." Da Scheffel<br />

eine durchgängige Benachteiligung der Mädchen feststellt,<br />

entwirft sie Ziele der Mädchenparteilichkeit.<br />

Mädchen sollen<br />

- physische <strong>und</strong> psychische Stärke entwickeln<br />

- Raum einnehmen <strong>und</strong> behaupten - sich von fremden<br />

Wertmaßstäben lösen<br />

- positiven Zugang zum eigenen Kör- per finden<br />

- das als "männlich" <strong>und</strong> "weiblich" definierte Sportbild<br />

entgrenzen <strong>und</strong> grenzüberschreitende Bewegungserfahrungen<br />

machen<br />

- eigene Interessen entwickeln, äußern <strong>und</strong> durchsetzen<br />

105


- sexistische <strong>und</strong> gewalttätige Übergriffe identifizieren <strong>und</strong><br />

ihnen Einhalt gebieten (vgl. Scheffel 1996, 222).<br />

Betrachtet man die Liste der Ziele, dann wird klar, dass<br />

Mädchen Eigenschaften erwerben sollen, die gemeinhin mit<br />

Jungen <strong>und</strong> Männern assoziiert werden. Sie sollen sich<br />

sozusagen komplementäre Fähigkeiten aneignen, die ihnen<br />

offensichtlich nach Scheffel abgehen. Zwar sind die Ziele alle<br />

positiv formuliert, aber es verbirgt sich doch die Idee dahinter,<br />

dass Defizite ausgeglichen werden sollen. Sportunterricht<br />

bekäme eine kompensatorische Funktion. Tendenziell werden<br />

Mädchen als einheitliche Gruppe gedacht, wobei das Problem der<br />

Geschlechterhierarchie allerdings auf der Ebene der Individuen<br />

angegangen werden soll. Wenn sich die Individuen ändern, so die<br />

Annahme, dann ändern sich auch die Geschlechterverhältnisse.<br />

Jungenarbeit<br />

Schmerbitz <strong>und</strong> Seidensticker (1997) stellen ein Konzept von<br />

Jungenarbeit vor, wie es an der Laborschule in Bielefeld<br />

entwickelt wurde. Als Ziele für Jungenarbeit formulieren sie:<br />

- Selbstwertgefühl stärken - Sensibilität <strong>und</strong> Nachdenklichkeit<br />

stärken<br />

- Sensibilität anderen gegenüber entwickeln <strong>und</strong> entsprechend<br />

handeln<br />

- ein verändertes Verständnis vom eigenen Körper entwickeln<br />

- ein verändertes Verständnis von Sport <strong>und</strong> Bewegung<br />

erwerben<br />

- Fre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> Gemeinschaftsgefühl<br />

- Kommunikations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit<br />

- Ursachen von Aggression <strong>und</strong> Gewalt erkennen <strong>und</strong><br />

reflektieren lernen (vgl. Schmerbitz <strong>und</strong> Seidensticker 1997,<br />

30-32).<br />

Zwar betonen Schmerbitz <strong>und</strong> Seidensticker (1997, 30),<br />

Jungenarbeit müsse "an den männlichen Äußerungen, Interessen<br />

<strong>und</strong> Stärken anknüpfen" <strong>und</strong> solle nicht nur als Abbau<br />

defizitärer oder störender Verhaltensweisen konzipiert werden,<br />

aber wenn man sich die Liste der Ziele genauer betrachtet, steht<br />

sie komplementär zu den Zielen für Mädchen. Wie bei Scheffel<br />

kann man aus dem vorliegenden Zielkatalog einen latenten<br />

106


Defizitgedanken herauslesen. Jungen besitzen offensichtlich" von<br />

sich aus" nicht genug Sensibilität - also hat der Sportunterricht<br />

die Aufgabe, den Mangel auszugleichen. Pointiert gesagt sollen<br />

also die Mädchen Stärke entwickeln, sich von fremden<br />

Wertmaßstäben läsen <strong>und</strong> ihre Interessen durchsetzen lernen,<br />

während die Jungen Sensibilität, Empathie <strong>und</strong><br />

Gemeinschaftsgefühl erwerben sollen.<br />

Offenbar ergänzen sich beide Konzepte: Das eine Geschlecht soll<br />

die Eigenschaften <strong>und</strong> Fähigkeiten des jeweils anderen<br />

übernehmen. Beide Geschlechter nähern sich dadurch<br />

aneinander an, die Unterschiede werden geringer. Prengel (1995,<br />

125) bezeichnet eine solche Ausrichtung als<br />

"Androgynitätspädagogik", die im Gegensatz zur historisch<br />

älteren Gleichstellungspädagogik "den in den Lebensweisen<br />

beider Geschlechter dominierenden Verhaltensmöglichkeiten<br />

Wert" zuerkennt. Dabei werden - von der Kon-struktion her - die<br />

komplementären Verhaltensweisen, Einstellungen <strong>und</strong><br />

Eigenschaften, die traditionell für die Geschlechter bestimmend<br />

sind, in jede einzelne Person hinein verlagert. Die harten<br />

Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit werden dann dadurch<br />

aufgehoben, dass eine spiegelbildliche Gleichartigkeit der<br />

Geschlechter angestrebt. wird (vgl. Prengel1995, 125).<br />

Förderung individueller Potenziale<br />

Eine andere Herangehensweise vertritt Gieß-Stüber (2000). Sie<br />

teilt mit Scheffel <strong>und</strong> Schmerbitz/ Seidensticker das Ziel, dass<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen, Männer <strong>und</strong> Frauen gleichberechtigt am<br />

gesellschaftlichen Bereich Sport <strong>und</strong> Bewegungskultur teilhaben<br />

sollen. Aber ihre Vorstellungen sind nicht davon geprägt, dass<br />

die Geschlechter sich in ihrem "Wesen" aufeinander zu<br />

entwickeln sollten, sondern dass Differenzen bestehen bleiben,<br />

ohne dass daraus Hierarchie abgeleitet wird. Es geht nicht<br />

darum, Unterschiede verschwinden zu lassen, sondern eine<br />

andere Bewertung von Unterschieden einzuführen. Dazu gehört<br />

auch zu reflektieren, dass Unterschiede konstruiert werden, dass<br />

sie nicht "an sich" oder "objektiv" existieren, sondern immer erst<br />

im Akt des Vergleichens erzeugt werden (vgl. Prengel1995, 31).<br />

Wer was mit welchem Maßstab überhaupt zum Unterschied<br />

107


macht, ist die entscheidende Frage. Prengel (1995, 47) plädiert<br />

dafür, Differenzen anzuerkennen <strong>und</strong> Gleichheit als<br />

Gleichwertigkeit des Differierenden zu verstehen. Damit ist nicht<br />

gemeint, "Weiblichkeit" oder "Männlichkeit" festzuschreiben, als<br />

quasi naturgegeben hinzunehmen - wie in früheren<br />

Differenztheorien -, vielmehr richtet sich der von Prengel (1995,<br />

122) wieder eingeführte Begriff der Verschiedenheit "sowohl<br />

gegen die Verdrängung <strong>und</strong> Entwertung von Lebenserfahrungen<br />

als auch gegen ihre ontologisierenden <strong>und</strong> idealisierenden<br />

Fortschreibungen."<br />

Vor diesem allgemeinpädagogischen Hintergr<strong>und</strong> vertritt Gieß-<br />

Stüber (2000, 268-272) folgende Thesen:<br />

- Von latenten Potenzialen zu manifesten Kompetenzen<br />

- Von der Abwertung zur intersubjektiven Anerkennung<br />

- Von der Typisierung zur Pädagogik der Vielfalt<br />

- Vom Sicherheitsdenken zum Umgang mit Unsicherheit<br />

- Von der Idee "Für alle Dasselbe" zu dem Motto "Jedem das<br />

Seine/Jeder das Ihre"<br />

- Vom Leistungsvergleich zum Leistungsfortschritt.<br />

Anders als diejenigen, die sich für Androgynitätspädagogik<br />

einsetzen, versteht Gieß-Stüber die Mädchen <strong>und</strong> Jungen,<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen nicht als relativ einheitliche Gruppe. Ihr<br />

Ausgangspunkt ist eine wünschenswerte Vielfalt <strong>und</strong><br />

Differenzen zwischen Einzelnen. Das macht das pädagogische<br />

<strong>und</strong> didaktische Handeln mit Sicherheit nicht leichter, erscheint<br />

mir aber insgesamt ein Weg zu sein, der sich von Klischees <strong>und</strong><br />

unnötigen Zuschreibungen entfernt. Denn wer mit dem Ziel der<br />

Mädchenparteilichkeit oder Jungenarbeit antritt, kommt ohne<br />

verallgemeinernde Annahmen über das jeweilige Geschlecht<br />

nicht aus.<br />

Mit der ersten These wendet sich Gieß-Stüber (2000, 268)<br />

dagegen, die Lernenden mit einem Defizitblick zu betrachten;<br />

vielmehr sollen individuelle Möglichkeiten besser ausgeschöpft<br />

werden. Die zweite <strong>und</strong> dritte These hängen eng zusammen mit<br />

der "Pädagogik der Vielfalt" von Prengel (1995), die darunter<br />

eine "Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen<br />

gleichberechtigten Verschiedenen" (ebd. 62) versteht. Will man -<br />

nach der vierten These - trotz der Differenz weg von der<br />

einseitigen Zuschreibung von bestimmten Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

108


Eigenschaften an ein bestimmtes Geschlecht, muss man lernen,<br />

mit Ambivalenzen <strong>und</strong> Brüchen umzugehen. Die Lehrkraft sollte<br />

die Lernenden anregen, mit Offenheit statt mit Rückzug auf<br />

Ungewohntes <strong>und</strong> Verunsicherndes zu reagieren (vgl. Gieß-<br />

Stüber 2000, 270). Mit dem fünften Prinzip wendet sich Gieß-<br />

Stüber (2000, 271) gegen eine formale Gleichbehandlung von<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen, die eher Unterschiede stabilisiert, weil<br />

eben die Voraussetzungen andere sind. Stattdessen muss Lernen<br />

verstärkt individualisiert werden; eine Forderung, die sich auch<br />

in der sechsten These ausdrückt.<br />

Wenn man die Aussagen der Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer auf dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> der hier ausgewählten sportpädagogischen Ansätze<br />

zur Koedukation interpretiert, dann muss man zu dem Ergebnis<br />

kommen, dass die Lehrkräfte sich nicht konsequent verhalten.<br />

Weder verfolgen sie trotz "politisch korrekter" Beteuerungen die<br />

Gleichheitsidee mit ganzem Einsatz noch lassen sie sich<br />

vollständig von einem Differenzgedanken leiten. Ihre Strategien<br />

zum Umgang mit Problemen koedukativen Sportunterrichts sind<br />

ein Gemisch aus beidem, das im Alltag dafür sorgt, dass "der<br />

Unterricht läuft". Oftmals wirken die Versuche,<br />

Gleichberechtigung herzustellen, halbherzig, indem die<br />

Machtstellung der Jungen nur gelegentlich "angekratzt" wird.<br />

Müssten Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer sich also in ihrer Aus- <strong>und</strong><br />

Fortbildung verstärkt mit Zielen für einen koedukativen<br />

Sportunterricht auseinander setzen? Sportpädagogische<br />

Konzepte <strong>und</strong> Empfehlungen den "Praktikern" näher zu bringen,<br />

wäre ein Weg. Mehr Klarheit über die Ziele sollte dann mehr<br />

Klarheit bei den Strategien hervorrufen. Wäre es hilfreich, sich<br />

für eine der beiden Möglichkeiten, Gleich-heits- oder<br />

Differenzstrategien, zu entscheiden? Könnte damit Koedukation<br />

besser verwirklicht werden? Ob die Widersprüche der Praxis nur<br />

mit intentionalen, pädagogisch durchdachten Strategien zu lesen<br />

sind, kann man bezweifeln. Um diesen Zweifel besser zu<br />

begründen, beziehe ich Bourdieus Konzepte der "Praxis" <strong>und</strong> des<br />

"Habitus" mit ein.<br />

Soziologische Perspektive<br />

Praxis<br />

109


"Man muss der Praxis eine Logik zu erkennen, die anders ist als<br />

die Logik der Logik" (Bourdieu 1999, 157). Bourdieu wendet sich<br />

dagegen, aus der handlungsentlasteten Position der<br />

Wissenschaft Praxis als etwas Minderwertiges zu betrachten, das<br />

leider nie an die Ansprüche der Logik <strong>und</strong> Rationalität<br />

heranreichen könne. Bourdieu (1999, 127) beschreibt soziale<br />

Praxis als "Natur gewordene gesellschaftliche Notwendigkeit",<br />

die über das einzelne Subjekt hinaus- reiche. Sie erscheint<br />

denjenigen, die in dieser Praxis handeln, als sinnvoll. Mit dem<br />

Alltagsverstand <strong>und</strong> der Selbstverständlichkeit des Mottos "So<br />

macht man das eben!" wird die Praxis gerechtfertigt. Praxis<br />

zeichne sich eben dadurch aus, dass sie die Frage nach<br />

Begründung <strong>und</strong> Daseinsgr<strong>und</strong> gar nicht zulässt. Gleichzeitig<br />

lehnt Bourdieu rationalistische Handlungstheorien ab, die<br />

unterstellen, dass soziale Akteure vornehmlich nach<br />

individuellen, bewussten <strong>und</strong> vor- gefassten Zielen handeln.<br />

"Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr<br />

Tun mehr Sinn, als sie selber wissen" (Bourdieu 1999, 127).<br />

Bezieht man die sehr allgemeinen Aussagen Bourdieus zur<br />

Praxis auf die Praxis des koedukativen Sportunterrichts, dann<br />

ist einmal nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass fast alle Lehrkräfte die<br />

Koedukation befürworten, ganz einfach weil sie als Praxis schön<br />

etabliert ist <strong>und</strong> als "natürlich" erlebt wird, obwohl sie<br />

gesellschaftlich erzeugt ist. Zudem wird auch klar, dass die<br />

Befragten in ihren Antworten mehr preisgeben, als ihnen<br />

bewusst sein kann. Ihnen selbst ist beim Handeln im Unterricht<br />

vermutlich nicht aufgefallen, dass sie zwischen "political<br />

correctness" <strong>und</strong> Klischees, zwischen Gleichheits- <strong>und</strong><br />

Differenzidee hin <strong>und</strong> her schwanken. (Dasselbe gilt im Übrigen<br />

auch für die Verfasserin dieses Textes, wenn sie sich nicht in der<br />

privilegierten Situation der Wissenschaftlerin befindet, die über<br />

Praxis forscht, sondern in ihr handeln muss.) Die Ziele, die von<br />

sportpädagogischen Ansätzen formuliert werden, setzen aber auf<br />

einen rationalen Handlungstypus. Wenn man die "richtigen"<br />

Ziele setzt, muss danach nur noch das konsequente Handeln, das<br />

Umsetzen in die Praxis folgen.<br />

Weiterhin sind nicht nur Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in die soziale<br />

Praxis des Sportunterrichts <strong>und</strong> den darin gegebenen<br />

Möglichkeiten für beide Geschlechter verstrickt, sondern ebenso<br />

110


die Lehrkräfte. Sie stehen in dieser Hinsicht also nicht außerhalb<br />

des Geschehens oder "über" den Schülern <strong>und</strong> Schülerinnen. Sie<br />

mögen mehr Erfahrung, Wissen <strong>und</strong> Können haben, mehr im<br />

Vorhinein über den Ablauf der St<strong>und</strong>e wissen, aber auch sie sind<br />

Bestandteil einer alltäglichen Praxis.<br />

Habitus<br />

Mit Habitus bezeichnet Bourdieu (1999, 98/99) eine dauerhafte<br />

Disposition, die Wahrnehmen, Denken <strong>und</strong> Handeln in einer<br />

sozialen Praxis leitet <strong>und</strong> zugleich eben diese Praxis<br />

hervorbringt. Zwar setzt der Habitus bestimmte Grenzen oder<br />

schränkt die Möglichkeiten des Handelns ein, aber innerhalb<br />

dieser Grenzen sind unendliche Variationen möglich. Insofern<br />

ähnelt der Habitus der Sprache: Hat man erst Grammatik <strong>und</strong><br />

Wortschatz erworben, so kann man unendlich viele Sätze<br />

erzeugen; Sinn ergeben allerdings nur solche, die innerhalb der<br />

Sprachregeln liegen. "Unsinnig" erscheinende Praktiken werden<br />

daher ohne genauere Prüfung verworfen, wenn sie mit dem<br />

Habitus unvereinbar sind. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen<br />

Experimenten werden dabei die ersten Erfahrungen viel zu hoch<br />

gewichtet, so dass spätere Erfahrungen nur schwerlich den<br />

Habitus beeinflussen können (vgl. Bourdieu 1999, 101).<br />

Der Habitus entstehe durch eine Art "stiller Pädagogik" (ebd.<br />

128), indem so unscheinbare Imperative zu scheinbar<br />

unbedeutenden Einzelheiten der Haltung (wie etwa "Halte dich<br />

gerade!") dem kulturell Willkürlichen zur Geltung verhelfen. Für<br />

das Individuum heißt das, dass der Habitus eine zur Tugend<br />

gemachte Not <strong>und</strong> vergessene Geschichte ist, die weitgehend dem<br />

Bewusstsein <strong>und</strong> der Erklärung entzogen ist. "Was der Leib<br />

gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares<br />

Wissen, sondern das ist man" (Bourdieu 1999, 135).'So werden<br />

die gr<strong>und</strong>legenden Strukturen einer gesellschaftlichen Gruppe in<br />

den Leib eingeschrieben (ebd.132).<br />

Für die Sportpädagogik <strong>und</strong> die Frage der Koedukation hat das<br />

Habituskonzept eine hohe Bedeutung, weil der Leib als wesentlicher<br />

"Träger" des Habitus in den Blick gerät. Einerseits kann<br />

man daraus folgern, dass gerade der Sportunterricht gute<br />

111


Chancen hat, auf den Habitus einzuwirken, weil er sich nicht wie<br />

die anderen schulischen Fächer vorrangig auf rationale<br />

Vermittlungsweisen beschränkt, sondern an leiblichen<br />

Erfahrungen orientiert ist. Andererseits muss man die Grenzen<br />

des Sportunterrichts anerkennen, wenn man bedenkt, wie fest<br />

verwurzelt der Habitus ist <strong>und</strong> wie stark die Ersterfahrungen<br />

sind, die lange vor der Schulzeit liegen.<br />

Zudem könnten Bourdieus Konzepte der Praxis <strong>und</strong> des Habitus<br />

heran- gezogen werden, um die widersprüchlich erscheinenden<br />

Aussagen der Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer besser zu verstehen. Ihre<br />

Praxis des koedukativen Sportunterrichts gehorcht einer eigenen<br />

Logik, die sowohl Strategien der Gleichheit als auch die der<br />

Differenz zulässt. "Politisch korrekte" Aussagen <strong>und</strong> bewusste<br />

pädagogische Intentionen stehen neben solchen, die eher dem<br />

nicht bewussten Habitus geschuldet sind.<br />

Ausblick<br />

Sowohl in der Alltags- als auch in der sportpädagogischen<br />

Perspektive sind zwei Richtungen zu unterscheiden, nämlich<br />

einmal das Ziel der Gleichberechtigung durch die Annäherung<br />

der Geschlechter <strong>und</strong> damit der Verringerung der Differenzen<br />

anzustreben, zum anderen Differenzen bestehen zu lassen. Sich<br />

der zwei Richtungen bewusst zu werden, könnte für<br />

Sportlehrerinnen <strong>und</strong> -lehrer ein Gewinn sein, auch wenn hier<br />

selbstverständlich keine schlichte Empfehlung für eine der<br />

beiden ausgesprochen werden kann.<br />

Die soziologische Perspektive mit dem Praxis- <strong>und</strong><br />

Habituskonzept Bourdieus dient, einerseits dazu, allzu<br />

idealistische Vorstellungen über die Möglichkeiten des<br />

Sportunterrichts zu relativieren <strong>und</strong> zudem zu betonen, dass<br />

auch Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer Habitusformen erworben haben.<br />

Andererseits kann man mit Bourdieu davon ausgehen, dass<br />

gerade der Ansatz am Leiblichen mehr Chancen zur<br />

Veränderung des Habitus bietet als eine rein rationale<br />

Zugangsweise.<br />

Mit dem Habituskonzept lassen sich die widersprüchlichen<br />

Äußerungen der Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer deuten: Ihre bewussten<br />

112


pädagogischen Intentionen <strong>und</strong> "politisch korrekten" Aussagen<br />

konkurrieren mit ihrem Habitus, den sie als "vergessene<br />

Geschichte <strong>und</strong> zur Tugend gemachte Not" erworben haben.<br />

Diese These wäre genauer zu untersuchen, indem man z. B.<br />

zusätzlich zu den Interviews Unterrichtsbeobachtungen<br />

durchführt. Zudem wäre interessant, ob sich "Kohorteneffekte"<br />

feststellen lassen, d.h. ob die Einstellung zur Koedukation <strong>und</strong><br />

Strategien des Umgangs abhängig vom Alter der Lehrerinnen<br />

<strong>und</strong> Lehrer sind. Wenn man annimmt, dass der Habitus die<br />

Umsetzung von pädagogisch wünschenswerten Ideen in der<br />

Koedukation behindert, wäre weiter zu fragen, wie<br />

Sportlehreraus- <strong>und</strong> -fortbildung darauf reagieren könnte.<br />

Anmerkungen<br />

(1) Ich danke Annika Völz, Julia Heins, Michael Passehl, Torsten<br />

Fischer, Maike Müller-Heidtkamp, Jessica Ruhbaum, Hanna<br />

Skerhut, Carl Kevin Ahrens, Antje Gerlach <strong>und</strong> Stefan<br />

Froschauer für die Durchführung <strong>und</strong> Verschriftung der<br />

Interviews.<br />

Literatur<br />

Bourdieu, P. (1999): Sozialer Sinn. Frankfurt a. M.<br />

Gieß-Stüber, P. (2000): Gleichberechtigte Partizipation im Sport? Butzbach-<br />

Griedel.<br />

Kugelmann, C. (1991): Mädchen im Sportunterricht heute - Frauen in<br />

Bewegung morgen. In: Sportpädagogik, 15, (4), 17- 25.<br />

Kugelmann, C. (1996): Mädchenparteilich für mehr Miteinander. In:<br />

Sportpädagogik, 16 (1), 54-56.<br />

Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen.<br />

Scheffel, H. (1996): MädchenSport <strong>und</strong> Koedukation. Butzbach-Griedel.<br />

Scheffel, H./ Thies, W. (1990): Parteilichkeit im koedukativen<br />

Sportunterricht: Schritte zur Selbstbestimmung von Mädchen. In:<br />

Enders- Dragässer, U./ Fuchs, C. (Hrsg.): Frauensache Schule. Frankfurt<br />

a. M., 353-368.<br />

Schmerbitz, H./ Seidensticker, W. (1994): Zur Problematik der Interaktion<br />

von Jungen <strong>und</strong> Mädchen im koedukativen Sportunterricht an der<br />

Laborschule - Analysen, Ergebnisse, Perspektiven. In: Pühse, U. (Hrsg.):<br />

Soziales Handeln im Sport <strong>und</strong> Sportunterricht. Schorndorf, 190-209.<br />

Schmerbitz, H./ Seidensticker, W. (1997): Sportunterricht <strong>und</strong> Jungenarbeit.<br />

In: Sportpädagogik, 21 (6),25-37.<br />

113


Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen als Beitrag<br />

zu einer geschlechterbewussten Pädagogik –<br />

Erfahrungen aus der Laborschule Bielefeld 23<br />

Christine Biermann<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Jungenarbeit auf der Basis einer<br />

geschlechterbewussten Pädagogik ist nicht im<br />

kompensatorischen Sinn zu verstehen, um vermeintliche Defizite<br />

der Geschlechter auszugleichen. Es geht nicht darum, Mädchen<br />

auf „männliches Niveau“ bringen zu wollen bzw. Jungen<br />

„weibliche Eigenschaften“ anzutrainieren. Es geht um das<br />

Hinterfragen <strong>und</strong> die Neubesetzung tradierter Normen, um die<br />

selbstbewusste Aufwertung weiblicher Leistungen <strong>und</strong><br />

Zugangsweisen <strong>und</strong> um die Entwicklung aller männlichen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Stärken. In geschlechtshomogenen Gruppen<br />

können Mädchen <strong>und</strong> Jungen oft besser feststellen, welche<br />

Stärken <strong>und</strong> Schwächen sie haben. Sie können ihren eigenen<br />

Gefühlen, Interessen <strong>und</strong> Bedürfnissen besser „auf die Spur<br />

kommen“ <strong>und</strong> im Spiel alternative Rollen ausprobieren. Solch<br />

einen Ort für Experimente bieten die Mädchen- <strong>und</strong><br />

Jungenkonferenzen.<br />

Sie sind aber nur ein Baustein im Rahmen eines Konzeptes einer<br />

geschlechterbewussten Pädagogik, das die Laborschule 24 schon<br />

Anfang der 1990ziger Jahre entwickelt <strong>und</strong> erprobt hat.<br />

23 Die Basis für diesen Artikel bildet ein Aufsatz von Christine Biermann/ Brigitte Lintzen/ Marlene<br />

Schütte: Kritische Koedukation trägt Früchte: Die Entwicklung des Konzepts einer<br />

geschlechterbewussten Pädagogik. In: Susanne Thurn/ Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.): Laborschule –<br />

Modell für die Schule der Zukunft. Bad Heilbrunn/ Obb. 2005, S. 129-142.<br />

114


Eine kleine Geschichte des Themas „Geschlecht“ in der<br />

Laborschule<br />

Als die Laborschule Anfang der siebziger Jahre entstand,<br />

nahmen die Vordenker/innen das Koedukationsprinzip, das zu<br />

diesem Zeitpunkt in der Regelschule noch lange nicht für alle<br />

Fächer selbstverständlich war, (z. B. wurde der Sportunterricht<br />

noch weitgehend geschlechtergetrennt unterrichtet),<br />

durchgehend in ihre Planungen auf. Die Koedukation wurde in<br />

den nächsten Jahren insgesamt als selbstverständlich <strong>und</strong><br />

unproblematisch angesehen. Ein Blick auf die Kategorie<br />

„Geschlecht“ fand zunächst – Ende der 70er Jahre – außerhalb<br />

des Unterrichts statt. Es ging um Quotenfragen (mehr Frauen in<br />

die Schulleitung!), es ging um gleichberechtigte Sprache in<br />

Konferenzen <strong>und</strong> in Mitteilungen. Es ging insgesamt um ein<br />

gewachsenes Bewusstsein über den Umgang von Frauen <strong>und</strong><br />

Männern in der Schule.<br />

Der nächste Schritt – ein paar Jahre später – war die verstärkte<br />

Thematisierung von Frauenleben im Unterricht. 25 Als Anfang<br />

der achtziger Jahre in der B<strong>und</strong>esrepublik die<br />

Koedukationsdebatte neu entflammte – <strong>und</strong> erste deutsche<br />

Untersuchungen vorlagen 26 –, erkannten einige Lehrer/innen der<br />

Laborschule in den Ergebnissen – der höheren Aufmerksamkeit<br />

für Jungen im Unterricht seitens der Lehrkräfte, der Dominanz<br />

der Jungen ihren Mitschülerinnen gegenüber – viele<br />

Unterrichtssituationen in „ihrem Reformprojekt“ wieder. Sie<br />

reagierten sowohl mit dem bewussteren Umgang von<br />

koedukativen Elementen 27 als auch mit Mädchenkursen z. B. im<br />

24 Die Laborschule ist Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen. Nähere Informationen sind im<br />

Internet unter www.laborschule.de zu finden.<br />

25 Susanne Thurn: „… <strong>und</strong> was hat das mit mir zu tun?“ Geschichtsdidaktische Positionen. Reihe<br />

Geschichtswisenschaft; Bd. 24. Pfaffenweiler 1993.<br />

26 Heidi Frasch/ Angelika Wagner: „Auf Jungen achtet man einfach mehr.“ In: Ilse Brehmer (Hrsg.):<br />

Sexismus in der Schule. Der heimliche Lehrplan der Frauendiskriminierung. Weinheim/Basel 1982, S.<br />

260ff.; Uta Enders-Dragässer/ Claudia Fuchs: Interaktion der Geschlechter. Sexismusstrukturen in<br />

der Schule. Weiheim/Basel u.a. 1989.<br />

27 Christine Biermann: Koedukation bewusst gemacht. In: Gr<strong>und</strong>schule 2, 18. Jg. 1985, S. 34-37; Heidi<br />

Scheffel/ Gisela Wäschle: Körper – Raum für Mädchen <strong>und</strong> Jungen. In: Friedrich Jahresheft VII:<br />

Feminin – Maskulin 1989, S. 140-143.<br />

115


Sportunterricht. 28 Schlussfolgerungen anderer Schulen mit dem<br />

Ziel, Mathematik-, Informatik-, Physik-, Chemieinhalte u.a. in<br />

bestimmten Jahrgängen nach Geschlechtern zu trennen, wurden<br />

in der Laborschule zu keinem Zeitpunkt gezogen. Denn in den<br />

meisten sowohl kritisch- koedukativen wie<br />

geschlechtsspezifischen Ansätzen der Laborschule stecken<br />

weniger rein organisatorische Aspekte, vielmehr geht es um<br />

einen differenzierten Umgang mit Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern.<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkurse schärften den Blick für die Vielfalt<br />

der Verhaltensweisen der Geschlechter, Mädchenkurse zogen<br />

Jungenkurse nach sich, neu konzipierte Unterrichtseinheiten<br />

nach kritisch- koedukativen Gesichtspunkten wurden <strong>und</strong><br />

werden immer wieder durchdacht, die Geschlechter neu „gemixt“<br />

oder getrennt.<br />

Anfang der 90er Jahre richtete die Laborschule im Rahmen ihrer<br />

Wissenschaftlichen Einrichtung den Arbeitsschwerpunkt<br />

„Mädchen <strong>und</strong> Jungen in der Schule“ ein. Etliche Projekte von<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern sind seitdem in der Laborschule<br />

durchgeführt worden. 29 Arbeiteten die Mitglieder der<br />

Forschungsprojekte zunächst mehr nur auf ihre spezifische<br />

Fragestellung, auf ihr Fach, bestimmte Jahrgänge bzw. spezielle<br />

Klientel bezogen, ergab sich nach einigen Jahren aus diesen<br />

Bausteinen ein Gesamtbild.<br />

Das Gesamtkonzept einer<br />

geschlechterbewussten Pädagogik<br />

Es entstand ein Konzept, das den aktuellen Anforderungen eines<br />

„gender mainstreaming-gerechten“ Schulprogramms erfüllt:<br />

• Es setzt auf Kommunikation, Transparenz <strong>und</strong> Partizipation<br />

aller Beteiligten an Schule: Lernende, Lehrende <strong>und</strong> Eltern.<br />

• Es nimmt die immer noch deutlich zweigeschlechtlich<br />

geprägte Gesellschaft <strong>und</strong> damit auch Schule zum Ausgang<br />

<strong>und</strong> Anlass, um zu klären, ob beide Geschlechter – Mädchen<br />

28 Heidi Scheffel: MädchenSport <strong>und</strong> Koedukation. Aspekte einer feministischen SportPraxis. Butzbach-<br />

Griedel 1996.<br />

29 Diese Projekte sind näher beschrieben in Christine Biermann u. a.: Kritische Koedukation, S. 130-<br />

131.<br />

116


<strong>und</strong> Jungen wie Männer <strong>und</strong> Frauen – in verschiedenen<br />

Handlungsebenen wie Unterricht, alltägliche Interaktion,<br />

Institution 30 berücksichtigt werden.<br />

• Es richtet aber auch deutlich den Blick auf die einzelne<br />

Person: Wie agiert sie im Interaktionsfeld Schule, wie ist ihr<br />

Selbstbild, ihr Selbstvertrauen beschaffen, stehen ihr<br />

genügend Freiräume <strong>und</strong> Erprobungsfelder zur Verfügung,<br />

um sich jenseits von Geschlechterstereotypien zu entwickeln.<br />

• Es zielt mit seinem Haus- <strong>und</strong> Familienarbeitscurriculum <strong>und</strong><br />

seiner umfassenden Berufs- <strong>und</strong> Lebensplanung auf eine<br />

gleichberechtigte Teilhabe aller an der Erwerbs- <strong>und</strong><br />

Reproduktionsarbeit.<br />

Jungen- <strong>und</strong> Mädchenkonferenzen<br />

Geschlechterbewusste<br />

Sexualerziehung<br />

Lebens- <strong>und</strong><br />

Berufsplanung<br />

Geschlechterbewusste Pädagogik<br />

an der Laborschule Bielefeld<br />

Inhalte <strong>und</strong><br />

Methoden<br />

einzelner<br />

Fächer /<br />

Erfahrungsbereiche<br />

Haus- <strong>und</strong> Familienarbeitscurriculum<br />

Angebotskurse für<br />

Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />

© Christine Biermann<br />

30 Landesinstitut für Schule <strong>und</strong> Weiterbildung (Hrsg.): Neue Wege zur Gestaltung der koedukativen<br />

Schule. Reflexive Koedukation als Element der Schulentwicklung. Dokumentation der Fachtagung<br />

12. <strong>und</strong> 13. März 1997. Soest 1998, S. 132ff..<br />

117


Mädchenräume – Jungenräume<br />

Einige Bausteine werden bewusst koedukativ durchgeführt,<br />

andere Bausteine setzen auf die Trennung der Geschlechter.<br />

Sehr viele Mädchen <strong>und</strong> Jungen können sich kaum eine andere<br />

Form als die des gemeinsamen Lernens vorstellen, aber vor<br />

allem Mädchen im Pubertätsalter finden durchaus Geschmack<br />

an der Vorstellung, bestimmte Dinge ohne Jungen zu tun. Sport<br />

steht dabei an der Spitze ihrer Wünsche, was auf die Bedeutung<br />

körpernaher Erfahrungsfelder verweist, auf die wir im Folgenden<br />

noch zu sprechen kommen werden. Zum Thema Sexualität<br />

äußern Jungen wie Mädchen das Bedürfnis, über sensible Fragen<br />

oder Probleme lieber „unter sich“ reden zu wollen.<br />

Da in beiden genannten Bereichen Geschlechteraspekte eine<br />

zentrale Rolle spielen, sollten solche Bedürfnisse in Schule <strong>und</strong><br />

Unterricht auch aufgegriffen werden; denn eine zeitweilige<br />

Trennung von Jungen <strong>und</strong> Mädchen kann durchaus sinnvoll<br />

sein. Die Bildungskommission NRW 31 hat solche Erfahrungen<br />

aufgenommen <strong>und</strong> wenn auch etwas klischeehaft mit Beispielen<br />

versehen:<br />

„Wo der Wunsch <strong>und</strong> der Bedarf besteht, mit den Geschlechtern<br />

verb<strong>und</strong>ene Zwänge zu reduzieren, bieten getrennte Gruppen die<br />

Möglichkeit, solche Zwänge zu thematisieren <strong>und</strong> zu bearbeiten.<br />

Das Erproben untypischer Verhaltensweisen, wie zum Beispiel<br />

Kraft <strong>und</strong> Härte bei Mädchen, Ängste <strong>und</strong> Weichheit bei Jungen,<br />

gehört ebenfalls hierzu.“ Dabei ist die Trennung an sich nicht die<br />

Lösung, aber sie bietet Chancen. Diese können in der Möglichkeit<br />

liegen, Lernsituationen anzubieten, in denen Jungen wie<br />

Mädchen Gegenerfahrungen machen können, um anschließend<br />

Geschlechterverhältnisse umsichtig <strong>und</strong> kritisch reflektieren zu<br />

können. Die Bildungskommission unterstreicht das wichtige Ziel<br />

der Schule, ein „positives Verständnis von männlicher <strong>und</strong><br />

weiblicher Identität zu erreichen, das tatsächliche<br />

Chancengleichheit im privaten wie im öffentlichen Leben<br />

ermöglicht“. 32<br />

31 Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission<br />

„Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-<br />

Westfalen. Neuwied/Kriftel/Berlin 1995, S. 129f.<br />

32 Ebenda, S. 131.<br />

118


Wie Schule Mädchen <strong>und</strong> Jungen bei dieser Aufgabe<br />

unterstützen kann, indem sie Mädchen- <strong>und</strong> Jungenräume<br />

eröffnet, kann besonders am Beispiel der Mädchen- <strong>und</strong><br />

Jungenkonferenzen gezeigt werden.<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen<br />

Geschlechtsgetrennte Gesprächskreise gehören zu einem<br />

zentralen Anliegen auch der Mädchen <strong>und</strong> Jungen, um<br />

„intensiver <strong>und</strong> bewusster mit sich selbst <strong>und</strong> mit ihrem<br />

Verhältnis zueinander umzugehen <strong>und</strong> untereinander <strong>und</strong><br />

miteinander zu reden <strong>und</strong> zu handeln“. 33 So entstanden –<br />

während einer Klassenfahrt – die von den Jungen <strong>und</strong> Mädchen<br />

selbst benannten Konferenzen als eine wichtige Bereicherung der<br />

ohnehin schon zum schulischen Alltag gehörenden, intensiven<br />

Gesprächskultur, in der das Reden über Ärger <strong>und</strong> Freude,<br />

Ängste <strong>und</strong> Erwartungen, Ansprüche <strong>und</strong> Forderungen<br />

selbstverständlich ist. So finden in der Eingangsstufe<br />

Versammlungen statt, an der alle Mädchen <strong>und</strong> Jungen der<br />

gesamten Fläche (bis zu 50 Kinder) gemeinsam singen <strong>und</strong><br />

spielen, Projekte besprechen <strong>und</strong> sich über das Miteinander<br />

austauschen. In der Sek<strong>und</strong>arstufe I gibt es, neben den täglichen<br />

Kurzversammlungen, wöchentliche Betreuungsst<strong>und</strong>en, in der<br />

die gesamte Gruppe nicht nur über Organisatorisches <strong>und</strong><br />

Inhaltliches redet, sondern auch über Probleme untereinander<br />

<strong>und</strong> deren Lösungsmöglichkeiten. Es sind also viele Orte im<br />

Schulleben finden, an denen die Schüler/innen lernen können,<br />

anderen zuzuhören, Betroffenheit zu äußern, Gefühle zu<br />

beschreiben <strong>und</strong> sie bei sich selbst <strong>und</strong> bei anderen zu<br />

akzeptieren. Allerdings haben Jungen wie Mädchen häufig<br />

unterschiedliche Meinungen, Wahrnehmungen, Interessen,<br />

Wünsche <strong>und</strong> Gefühle. Bestimmte Mädchen <strong>und</strong> Jungen trauen<br />

sich in der gesamten Gruppe häufig nicht, etwas zu sagen.<br />

In den Mädchenkonferenzen „können wir unter uns Probleme<br />

besprechen, die wir uns in der Gesamtgruppe nicht trauen, oder<br />

33 Annelie Wachendorff/ Marlene Schütte/ Christoph Heuser/ Christine Biermann: Wie Reden stark<br />

macht <strong>und</strong> Handeln verändert. Emanzipatorische Mädchen- <strong>und</strong> Jungenarbeit an der Laborschule. In:<br />

Will Lütgert (Hrsg.): Einsichten. <strong>Berichte</strong> aus der Bielefelder Laborschule. IMPULS<br />

(Publikationsreihe der Laborschule) Bd. 21. Bielefeld 1992, S. 48-68.<br />

119


ungestört über Jungen reden“, so die Meinung eines Mädchens.<br />

„Ich finde Jungenkonferenzen gut, weil wir über Ärger unter uns<br />

Jungen reden können, man ernst genommen wird <strong>und</strong> wir in<br />

kleinen Gruppen besser nachdenken können“, so ein Junge.<br />

Inzwischen finden in vielen Stammgruppen von der Primarstufe<br />

bis zu den höheren Jahrgängen der Sek<strong>und</strong>arstufe I einmal pro<br />

Monat Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen mit einer klaren<br />

Gesprächsstruktur statt.<br />

Ablauf von<br />

Mädchen- <strong>und</strong><br />

Jungenkonferenzen<br />

Einstieg/<br />

Einstimmung<br />

Gespräch/ Thema<br />

Praktische Übung<br />

Ausblick<br />

Es werden zunächst aktuelle Fragen besprochen, Situationen<br />

geschildert, Streitigkeiten erzählt, dies wird von den Mädchen<br />

<strong>und</strong> Jungen selbst eingebracht oder aber von den Lehrer/innen.<br />

Oft geht es darum, Veränderungen innerhalb der Mädchen- bzw.<br />

Jungengruppen sowie im Verhältnis zwischen Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen zur Sprache zu bringen, diese Veränderungen zu<br />

reflektieren <strong>und</strong> soweit zu bearbeiten, dass die Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen sich im Alltag bewusster verhalten können. Reden allein<br />

reicht aber nicht aus, um Veränderungen zu erzielen. Es müssen<br />

auch Umsetzungen erfolgen, damit sichtbar wird, dass die<br />

thematisierten Bereiche auch veränderbar sind. Eine eigene<br />

Halle beim Pausensport für die Mädchen einmal in der Woche<br />

gehörten ebenso zu den „Errungenschaften“ wie die<br />

Zusammenstellung von Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkleingruppen<br />

innerhalb der Unterrichtseinheit „Liebe, Fre<strong>und</strong>schaft,<br />

Sexualität“. Natürlich können nicht immer alle Konflikte gelöst<br />

werden. Die Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen bieten aber<br />

immer wieder die Möglichkeit, geschlechtsbezogene<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Situationen zu reflektieren <strong>und</strong><br />

Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen <strong>und</strong> zu diskutieren.<br />

120


Viele Aspekte einer „Geschlechterwerdung“ können außerdem<br />

auf dem Programm stehen:<br />

Die Frage der Zusammenführung der Mädchen- <strong>und</strong><br />

Jungenarbeit darf nicht vernachlässigt werden. Das bedeutet<br />

nicht, dass sich Mädchen <strong>und</strong> Jungen wechselseitig über jeden<br />

Inhalt <strong>und</strong> die im Einzelnen gemachten Erfahrungen berichten<br />

sollen. Aber es muss immer wieder überlegt werden, wie der<br />

Austausch über die in den geschlechtshomogenen Gruppen<br />

gemachten Erfahrungen gestaltet <strong>und</strong> die Arbeit für alle in der<br />

Schule fruchtbar gemacht werden kann.<br />

Inhaltliche Beispiele für Mädchenkonferenzen<br />

Sich kennen lernen /<br />

Vertrauen entwickeln<br />

Sich wertschätzen<br />

Selbstbild / Fremdbild<br />

Pubertät / Sexualität/<br />

Missbrauchs-<br />

/Gewaltprävention<br />

Grenzsetzungen<br />

Rollenspiele zu<br />

● Eine Fre<strong>und</strong>in (Schwester,<br />

Oma, Bruder, Opa) stellt<br />

mich vor<br />

● Warme Dusche<br />

● Massagen<br />

● Meine/Deine drei besten<br />

Eigenschaften<br />

● Schattenriss „Mein Körper“ –<br />

an diesen Stellen darf mich<br />

Mutter, Vater, Fre<strong>und</strong>in...<br />

berühren<br />

● Flirtkurs<br />

● Schreikreis – die Stimme<br />

macht mich stark<br />

● Gangübungen – so gehe ich<br />

aufrecht <strong>und</strong> selbstbewusst<br />

● Gewalt – im Park, im<br />

Bekanntenkreis<br />

● Gruppenverhalten / -druck<br />

● Anmache im Bus<br />

121


Beispiel für die Durchführung einer Jungenkonferenz 34<br />

Ort: Ein ruhiger Raum; Dauer der Konferenz: 90 Minuten;<br />

Teilnehmer: ein Lehrer <strong>und</strong> 14 Schüler eines 6. Schuljahres.<br />

TOP 1: Wie bei allen Treffen startet der Lehrer die<br />

Jungenkonferenz mit der Frage: Was möchtet ihr erzählen, was<br />

ihr nicht in der gemischten Gruppe erzählen wollt? Dieses Mal<br />

sind es <strong>Berichte</strong> über den Stress mit einigen älteren Jungen. Sie<br />

konkurrieren mit den Sechstklässlern um einen kleinen Platz auf<br />

dem Außengelände, auf dem alle Fußballspielen wollen. Nach<br />

einigen Beschreibungen scheint deutlich zu sein, dass die<br />

jüngeren Schüler immer den Kürzeren ziehen <strong>und</strong> dass sie weder<br />

mit Bitten noch Reden weiter kommen. Der Lehrer verspricht,<br />

mit in die nächste Pause zu kommen <strong>und</strong> zu vermitteln.<br />

Nach dem vielen Reden tut eine kleine Auflockerungsübung gut:<br />

Heute handelt es sich um das Spiel „Böse Hand“, das vor allem<br />

die Konzentrations- <strong>und</strong> Kooperationsbereitschaft der Jungen<br />

erfordert <strong>und</strong> fördert. Alle Jungen sitzen in einem engen<br />

Stuhlkreis zusammen. Zu Beginn legen sie ihre Hände auf die<br />

eigenen Knie. Der Lehrer, der selbstverständlich auch mitmacht,<br />

fordert nun alle Jungen auf, ihre Hände jeweils auf die Knie der<br />

Nachbarn zu legen. Einige Jungen zieren sich am Anfang, die<br />

anderen zu berühren. Es werden ein paar Sprüche übers<br />

„Schwulsein“ gemacht. Schließlich liegt aber jede linke Hand auf<br />

dem rechten Knie des linken Nachbarn <strong>und</strong> jede rechte Hand auf<br />

dem linken Knie des rechten Nachbarn. Der Lehrer erklärt nun<br />

die Spielregeln: Eine Hand fängt an, auf das Knie des Nachbarn<br />

zu klopfen.<br />

Die nächste Hand klopft weiter <strong>und</strong> so geht das Spielchen immer<br />

weiter. Einige verschlafen ihren Einsatz oder bewegen ihre Hand<br />

zu früh. In beiden Fällen wird das natürlich „bestraft“. Die<br />

„Strafe“ besteht darin, dass die böse Hand auf dem Rücken<br />

verschränkt werden muss. Nach <strong>und</strong> nach reduziert sich die<br />

Anzahl der Hände. Irgendwann ist die Luft raus, das Spiel wird<br />

vom Lehrer beendet. Es wird noch kurz über das Spiel, seine<br />

Ziele <strong>und</strong> seine konkrete Durchführung reflektiert.<br />

34 Auszug aus einem Aufsatz von Biermann/ Boldt 2007, S. 126-128<br />

122


TOP: 2: Heute ist – bereits beim letzten Mal angekündigt – das<br />

inhaltliche Thema der Konferenz: „Meine persönlichen Stärken“.<br />

Alle Jungen sitzen im Kreis. Zunächst wird nach Freiwilligen<br />

gefragt, die ihre persönlichen Stärken benennen wollen. Regel<br />

ist, dass die Äußerungen von niemandem kommentiert werden<br />

dürfen. Es finden sich drei Jungen, die vor allen Dingen über<br />

ihre sportlichen Stärken berichten. Der Lehrer fragt nach, ob sie<br />

nicht noch andere Stärken an sich entdecken würden. Ein Junge<br />

erzählt, dass er oft mit seinem kleinen Bruder spielt <strong>und</strong> auch<br />

mit zwei kleinen Cousinen. Sein Vater habe ihm mal gesagt, dass<br />

er gut mit kleinen Kindern umgehen könnte. Jetzt wird die<br />

„Schatzkiste“ in die Mitte gestellt. In der Schatzkiste befinden<br />

sich auf Kärtchen circa 200 verschiedene einzelne Sätze („Ich bin<br />

ausgeglichen“ ... „Ich bin voller Energie“ ... „Ich kann gut Fußball<br />

spielen“ ... „Ich kann mit einer Bohrmaschine umgehen“ ... „Ich<br />

kann meine Meinung vertreten“ ... „Ich kann gut malen“ ...), von<br />

denen sich jeder Junge sechs verschiedene aussuchen soll. Bevor<br />

die Suche beginnt, verabreden sich die Jungen mit jeweils einer<br />

anderen Person, mit der sie zusammen über die Schätze (ihre<br />

Stärken) sprechen möchten.<br />

Zwei solcher Treffen sollen durchgeführt werden, sie dauern<br />

jeweils circa 5 Minuten, so dass sich jeder Junge mit jeweils zwei<br />

anderen Jungen über seine Stärken unterhalten kann. Man sieht<br />

im Raum kleine Partnergrüppchen, die sich wieder auflösen <strong>und</strong><br />

sich neu zusammensetzen. Die Inhalte der Gespräche – das<br />

wissen die Jungen - werden nicht automatisch in der Großgruppe<br />

„veröffentlicht“. Zum Schluss versammeln sich die Jungen alle<br />

wieder im Kreis. Wieder nach dem Prinzip der Freiwilligkeit,<br />

können sie nun, angeregt durch dieses Spiel eine ihrer Stärken<br />

vor der gesamten Gruppe beschreiben. Zugleich haben sie die<br />

Gelegenheit, eine persönliche Eigenschaft, eine Tätigkeit, eine<br />

Verhaltensweise zu benennen, bei der sie das Gefühl haben, sich<br />

noch verbessern zu können. Auf diese Weise wird das Thema<br />

„Meine persönlichen Stärken“ um das Thema „Meine<br />

persönlichen Schwächen, an denen ich arbeiten möchte“<br />

erweitert. Waren es zunächst drei Jungen, die sich zutrauten,<br />

ihre Stärken zu benennen, so sind jetzt sechs dazu gekommen.<br />

Nach wie vor fällt es einigen Jungen schwer über sich zu reden.<br />

Das Thema kann deshalb gut in einigen Monaten wiederholt<br />

werden.<br />

123


TOP 3: Den Abschluss der Jungenkonferenz bildet heute der<br />

Rückblick auf die Doppelst<strong>und</strong>e. Gemeinsam wird darüber<br />

gesprochen, was den Jungen an der St<strong>und</strong>e gefallen oder auch<br />

nicht gefallen hat. Die meisten fanden den TOP 1 mit der<br />

möglichen Lösung ihres Fußballproblems <strong>und</strong> das Spiel sehr gut.<br />

Das Gespräch über die Stärken hat den meisten nicht so gut<br />

gefallen, die „Schatzkiste“ schon mehr. Abschließend wird das<br />

Thema der nächsten Jungenkonferenz besprochen. Seit längerem<br />

wollen die Jungen noch einmal das Raufen nach Regeln<br />

wiederholen.<br />

Ein Rückblick auf die Erfahrungen<br />

Im Rückblick auf die „Geschichte“ des Themas Geschlecht an der<br />

Laborschule wird deutlich, dass unser Konzept auf vielen<br />

Theorien <strong>und</strong> Modellen basiert, wir teils unbewusst, teils<br />

bewusst danach gearbeitet haben bzw. noch arbeiten:<br />

• Bei den getrennten Angeboten für Mädchen <strong>und</strong> Jungen wie z.<br />

B. bei den Mädchen- <strong>und</strong> Jungenkonferenzen ist die<br />

Ausgangslage die Differenz zwischen zwei! Geschlechtern.<br />

Aber gerade in der homogenen Zusammensetzung wird über<br />

die individuelle Vielfalt <strong>und</strong> über das Entstehen dieser<br />

Zweigeschlechtlichkeit, über die fortwährende<br />

Wiederherstellung – die Re-Konstruktion – dieser hierarchisch<br />

geordneten Zweigeschlechtlichkeit, an der alle beteiligt sind,<br />

reflektiert.<br />

• Bewusstes koedukatives Arbeiten soll das Miteinander aller<br />

fördern; monoedukative Angebote im Sinne einer parteilichen<br />

Arbeit unterstützen die Mädchen <strong>und</strong> Jungen individuelle<br />

Interessen aufzuspüren, eigene Stärken zu erfahren <strong>und</strong><br />

daraus Selbstvertrauen zu gewinnen.<br />

Wir stellen in der Nachschau auf unser Konzept fest, dass die<br />

genannten Theorien <strong>und</strong> Modelle sehr wohl nebeneinander<br />

existieren, ja sich ergänzen können.<br />

Themen können an Aktualität <strong>und</strong> Bedeutung verlieren. Nach<br />

einigen Jahren muss eine Schule hinterfragen, ob für sie ein<br />

Thema noch wichtig ist. Das Thema „Geschlecht“ hat heute –<br />

anders als noch vor 10 Jahren – eine andere Ausrichtung.<br />

124


Feminismus, Benachteiligung, Patriarchat etc. sind Begriffe, mit<br />

denen die Mädchen <strong>und</strong> Jungen <strong>und</strong> auch die jüngeren<br />

Kolleg/innen nur wenig anfangen können, ja auch nicht<br />

„belästigt“ werden wollen. Sie halten sich für „voll“<br />

gleichberechtigt <strong>und</strong> glauben alles – unabhängig von ihrem<br />

Geschlecht – individuell steuern zu können. Fazit könnte also<br />

sein, dass, um mit Beck 35 zu sprechen, Geschlecht als Kategorie<br />

nur noch eine unwesentliche, gesellschaftlich zu<br />

vernachlässigende Bedeutung zukommt. Wir widersprechen<br />

dieser Auffassung <strong>und</strong> folgen damit z. B. den<br />

Untersuchungsergebnissen von Born <strong>und</strong> ihrem Fazit, dass „die<br />

Zeit, in der Geschlecht nicht mehr als den Lebenslauf<br />

dominierende Kategorie wirkt, ... kaum absehbar (erscheint). Sie<br />

zur Entschlüsselung des Lebenslaufes zu vernachlässigen, bzw.<br />

die Diskussion um die Organisation gesellschaftlicher Arbeit<br />

ohne Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses zu führen,<br />

wird weiterhin als Fehler soziologischer Forschung betrachtet<br />

werden müssen.“ 36 Ein großer Teil dieses Lebenslaufes der<br />

Lernenden wie Lehrenden findet in der Schule statt. Und zur<br />

Aufgabe von Schule sollte es gehören, Geschlecht als<br />

Strukturkategorie im Sinne einer sozialen Konstruktion 37<br />

aufzudecken <strong>und</strong> nach diesen Erkenntnissen zu handeln.<br />

Literatur<br />

Beck, U.: In: DIE ZEIT Nr. 15 vom 06.04.2000.<br />

Becker-Schmidt, R./ Knapp, G.-A. (Hrsg.): Das Geschlechterverhältnis als<br />

Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M./ New York:<br />

Campus 1995.<br />

Biermann, C.: Koedukation bewusst gemacht. In: Gr<strong>und</strong>schule 2, 18. Jg.<br />

1985, S. 34-37.<br />

Biermann, C./ Lintzen, B./ Schütte, M.: Kritische Koedukation trägt<br />

Früchte: Die Entwicklung des Konzepts einer geschlechterbewussten<br />

Pädagogik. In: Thurn, S./ Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Laborschule – Modell<br />

für die Schule der Zukunft. Bad Heilbrunn/Obb. 2005, S. 129-142.<br />

35 Ulrich Beck: In: DIE ZEIT Nr. 15 vom 06.04.2000.<br />

36 Claudia Born: Modernisierungsgap <strong>und</strong> Wandel. Angleichung geschlechtsspezifischer<br />

Lebensführungen? In: Born, Claudia/Krüger, Helga (Hrsg.): Individualisierung <strong>und</strong> Verflechtung.<br />

Geschlecht <strong>und</strong> Generation im deutschen Lebenslaufregime. Weinheim <strong>und</strong> München 2001, S. 48.<br />

37 Regina Becker-Schmidt/ Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.): Das Geschlechterverhältnis<br />

als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M./New York: Campus 1995.<br />

125


Biermann, C./ Boldt, U.: Mit Jungen in der Schule arbeiten. Erscheint im<br />

Schülerheft des Friedrich-Verlages 2007, S. 126-128.<br />

Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft.<br />

Denkschrift der Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“<br />

beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen.<br />

Neuwied/Kriftel/Berlin 1995, S. 129f.<br />

Born, C.: Modernisierungsgap <strong>und</strong> Wandel. Angleichung geschlechtsspezifischer<br />

Lebensführungen? In: Born, C./ Krüger, H. (Hrsg.): Individualisierung <strong>und</strong><br />

Verflechtung. Geschlecht <strong>und</strong> Generation im deutschen Lebenslaufregime. Weinheim<br />

<strong>und</strong> München 2001.<br />

Enders-Dragässe, U./ Fuchs, C.: Interaktion der Geschlechter. Sexismusstrukturen in der<br />

Schule. Weinheim/Basel 1989.<br />

Frasch, H./ Wagner, A.: „Auf Jungen achtet man einfach mehr.“ In:<br />

Brehmer, I. (Hrsg.): Sexismus in der Schule. Der heimliche Lehrplan der<br />

Frauendiskriminierung. Weinheim/Basel 1982, S. 260ff..<br />

Landesinstitut für Schule <strong>und</strong> Weiterbildung (Hrsg.): Neue Wege zur<br />

Gestaltung der koedukativen Schule. Reflexive Koedukation als Element<br />

der Schulentwicklung. Dokumentation der Fachtagung 12. <strong>und</strong> 13. März<br />

1997. Soest 1998, S. 132ff..<br />

Scheffel, H./ Wäschle, G.: Körper – Raum für Mädchen <strong>und</strong> Jungen. In:<br />

Friedrich Jahresheft VII: Feminin – Maskulin 1989, S. 140-143.<br />

Scheffel, H.: MädchenSport <strong>und</strong> Koedukation. Aspekte einer feministischen SportPraxis.<br />

Butzbach-Griedel 1996.<br />

Thurn, S.: „… <strong>und</strong> was hat das mit mir zu tun?“ Geschichtsdidaktische<br />

Positionen. Reihe Geschichtswissenschaft; Bd. 24. Pfaffenweiler 1993<br />

Wachendorff, A./ Schütte, M./ Heuser, C./ Biermann, C.: Wie Reden stark<br />

macht <strong>und</strong> Handeln verändert. Emanzipatorische Mädchen- <strong>und</strong><br />

Jungenarbeit an der Laborschule. In: Lütgert, W. (Hrsg.): Einsichten.<br />

<strong>Berichte</strong> aus der Bielefelder Laborschule. IMPULS (Publikationsreihe der<br />

Laborschule) Bd. 21. Bielefeld 1992, S. 48-68.<br />

Weitere Literatur aus den Laborschulprojekten zur geschlechterbewussten<br />

Pädagogik<br />

Biermann, C.: Haushalts(s)pass für Jungen <strong>und</strong> Mädchen. Ein Projekt in<br />

der Primarstufe der Laborschule Bielefeld. In: Brehmer, I. (Hrsg.) Schule<br />

im Patriarchat – Schule fürs Patriarchat? Weinheim <strong>und</strong> Basel 1991, S.<br />

125-135.<br />

Biermann, C.: Mädchenstärkung – ein Lernziel. In: Ministerium für die<br />

Gleichstellung von Frau <strong>und</strong> Mann des Landes Nordrhein-Westfalen.<br />

Dokumente <strong>und</strong> <strong>Berichte</strong> 34. Düsseldorf 1995, S. 30-33<br />

Biermann, C./ Heuser, C.: Haus- <strong>und</strong> Familienarbeit als schulisches<br />

Lernfeld. Kritisch-koedukative Arbeit an der Laborschule Bielefeld. In:<br />

Tagungsband der GATWU-Fachtagung „Arbeitsplatz – Betrieb –<br />

Arbeitsplatz Haushalt.“ Hohengehren 1994, S. 167-180<br />

126


Biermann, C./ Schütte, M.: Verknallt <strong>und</strong> so weiter. Liebe, Fre<strong>und</strong>schaft,<br />

Sexualität im fächerübergreifenden Unterricht der Jahrgänge 5 <strong>und</strong> 6.<br />

Wuppertal 1996.<br />

Breidenstein, G./ Kelle, H.: Jungen <strong>und</strong> Mädchen in Gruppen: Die<br />

interaktive Herstellung sozialer Unterschiede. In: Lenzen, K.-D./<br />

Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Gleichheit <strong>und</strong> Differenz. Erfahrungen mit<br />

integrativer Pädagogik. IMPULS (Publikationsreihe der Laborschule) Bd.<br />

28. Bielefeld 1996, S. 52-63.<br />

Heuser, C./ Wachendorff, A.: Die Zukunft entwerfen. Lebensplanung als<br />

Thema schulischer Bildungsprozesse. In: Die Deutsche Schule 89/1997, 2,<br />

S. 183-202.<br />

Heuser, C./ Wachendorff, A.: Geld oder Leben?! Ein integratives<br />

Unterrichtsprojekt. In: LernChancen 18/2000, S. 4f.<br />

Lintzen, B./ Middendorf-Greife: Die Frau in ihrem Körper. Körperorientierte<br />

Selbsterfahrung für Mädchen während der Pubertät. Ein<br />

Forschungsprojekt der Laborschule Bielefeld. Baltmannsweiler 1998.<br />

Ministerium für die Gleichstellung von Frau <strong>und</strong> Mann in NRW: Was<br />

Sandkastenrocker von Heulsusen lernen können. Ein<br />

handlungsorientiertes Projekt zur Erweiterung sozialer Kompetenz von<br />

Jungen <strong>und</strong> Mädchen. Düsseldorf 1996.<br />

Schmerbitz, H./ Schulz, G./ Seidensticker, W.: Mädchen <strong>und</strong> Jungen im<br />

Sportunterricht. Interaktionsanalyse <strong>und</strong> Curriculumentwurf. IMPULS<br />

(Publikationsreihe der Laborschule) Bd. 23. Bielefeld 1993.<br />

Schmerbitz, H./ Seidensticker, W.: Körperbezogene Jungenarbeit in der<br />

Schule – Genese <strong>und</strong> Praxis eines pädagogischen Anliegens. Beitrag zu<br />

Sportpädagogik 1/2000a, S. 18-22.<br />

Autorinnen<br />

Dr. Christine Biermann<br />

Didaktische Leiterin der Laborschule des Landes NRW an der Universität<br />

Bielefeld<br />

Laborschule der Universität Bielefeld<br />

Postfach 100131<br />

33501 Bielefeld<br />

Tel.: 0521-1062421<br />

email: Christine.Biermann@uni-bielefeld.de<br />

Prof. Dr. Monika Finsterwald<br />

Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Bildungspsychologie <strong>und</strong> Evaluation im Projekt<br />

TALK (Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Evaluation eines Trainingsprogramms zum<br />

Aufbau von LehrerInnenkompetenzen zur Förderung von Lebenslangem Lernen in<br />

der Schule).<br />

Universität Wien<br />

127


Fakultät für Psychologie/ Institut: Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie<br />

<strong>und</strong> Evaluation<br />

Universitätsstraße 7<br />

1010 Wien<br />

email: monika.finsterwald@univie.ac.at<br />

Prof. Dr. Marlies Hempel<br />

Professorin für Didaktik des Sachunterrichts an der Hochschule Vechta.<br />

Institut für Didaktik der Naturwissenschaften der Mathematik <strong>und</strong> des<br />

Sachunterrichts (IfD)<br />

Hochschule Vechta<br />

Driverstr. 22<br />

49377 Vechta<br />

email: marlies-hempel@uni-vechta.de<br />

Prof. Dr. Astrid Kaiser<br />

Professorin für Didaktik des Sachunterrichts an der Carl-von-Ossietzky-<br />

Universität Oldenburg, Direktorin des Instituts für Pädagogik.<br />

Universität Oldenburg<br />

Institut für Pädagogik<br />

Postfach 2503<br />

26111 Oldenburg<br />

email: astrid.kaiser@uni-oldenburg.de<br />

Prof. Dr. Marita Kampshoff<br />

Vertreterin des Lehrstuhls Gr<strong>und</strong>schulpädagogik <strong>und</strong> –didaktik an der<br />

Universität Passau<br />

Lehrstuhl Gr<strong>und</strong>schulpädagogik <strong>und</strong> –didaktik<br />

Philosophische Fakultät<br />

Universität Passau<br />

94030 Passau<br />

email: marita.kampshoff@uni-passau.de<br />

Prof. Dr. Petra Wolters<br />

Professorin für Sport <strong>und</strong> Erziehung/ Fachdidaktik sowie Sport <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

an der Hochschule Vechta<br />

Institut für Soziale Arbeit, Angewandte Psychologie <strong>und</strong> Sportwissenschaften<br />

(ISPS)<br />

Hochschule Vechta<br />

Driverstr. 22<br />

49377 Vechta<br />

email: petra.wolters@uni-vechta.de<br />

128


Hochschule Vechta<br />

Institut für Didaktik der Naturwissenschaften,<br />

der Mathematik <strong>und</strong> des Sachunterrichts<br />

VECHTAER<br />

FACHDIDAKTISCHE FORSCHUNGEN<br />

UND BERICHTE<br />

1. Geographie – Sachunterricht – Mathematik<br />

Fachdidaktische Perspektiven<br />

2. Zugänge zur Mathematik:<br />

Lernprozesse – Verfahren – Einstellungen<br />

3. Lernprozesse mit Dynamischer Geometrie-<br />

Software<br />

2,00 € (Studierende 1,00 € )<br />

2,00 € (Studierende 1,00 € )<br />

2,00 € (Studierende 1,00 € )<br />

4. Lernen im Sachunterricht 4,00 € (Studierende 2,50 € )<br />

5. Mathematikunterricht im Rahmen von<br />

Einstellungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />

4,00 € (Studierende 2,50 € )<br />

6. Studientage an der Hochschule Vechta 4,00 € (Studierende 2,50 € )<br />

7. Wiesenvogelschutz in Norddeutschland <strong>und</strong> den<br />

Niederlanden (Nachdruck)<br />

4,50 € (Studierende 3,50 € )<br />

8. Impulse für den Geometrieunterricht 4,00 € (Studierende 2,50 € )<br />

9. Fachdidaktische Analysen <strong>und</strong> Konzepte zur<br />

Bodenbiologie<br />

5,00 € (Studierende 3,50 € )<br />

10. Konstruktionen der Pflanzen 12,00 € (Studierende 10,00 € )<br />

11. Allgemeine Biologiedidaktik — Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />

Perspektive<br />

5,00 € (Studierende 3,00 € )<br />

12. „Theorema Pythagoricum“ 5,00 € (Studierende 3,00 € )<br />

13. Ökologie <strong>und</strong> Schutz von Wiesenvögeln in<br />

Mitteleuropa — Abstracts<br />

14. Zur Anwendung der Kasuistik in <strong>fachdidaktische</strong>n<br />

Lehr-Lernprozessen<br />

5,00 € (Studierende 3,00 € )<br />

3,00 € (Studierende 2,00 € )<br />

15. Studienhilfe Biologiedidaktik 10,00 € (Studierende 8,00 € )<br />

Die bisher in dieser Schriftenreihe erschienenen <strong>Heft</strong>e sind in den Sekretariaten des IfD,<br />

Raum A 115 <strong>und</strong> X 21 erhältlich.<br />

129

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