volksmund2_titel allein - gabriela neeb. fotografie
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FOTO: GABRIELA NEEB<br />
»DIE JUGEND BEKOMMT EINE<br />
NEUE BEDEUTUNG «<br />
Einser im Zeugnis, Urlaub mit Mama<br />
und Bausparvertrag in der Tasche – wie radikal ist die Jugend noch?<br />
Wir haben den Jugendforscher Prof. Claus J. Tully gefragt.<br />
Volksmund: Warum ist die Jugend nicht<br />
mehr radikal?<br />
Prof. Claus J. Tully: Die Jugend ist radikal,<br />
und zwar grundsätzlich. Die Jugend<br />
will immer etwas anderes, die Jugend<br />
will immer eine Gesellschaft, die ihre<br />
eigene Handschrift trägt. Jugendliche<br />
haben einen anderen Stil, andere Moden,<br />
hören andere Musik und besuchen<br />
andere Theaterstücke als die Älteren. Es<br />
gibt unterschiedliche Geschmacksmuster.<br />
Würden die Jugendlichen nur das<br />
tun, was die Erwachsenen wollen, dann<br />
würde es immer die gleiche Gesellschaft<br />
geben, sie würde sich reproduzieren.<br />
Aber warum wird dann behauptet, dass<br />
die Jugend radikal sein soll und es nicht<br />
ist?<br />
Dieses Urteil kommt vor allem aus der<br />
Ecke der Alt-68’er. Die haben damals<br />
sehr grundsätzlich mit all dem gebrochen,<br />
was die Generation vorher für gut,<br />
wichtig und lebenswert betrachtet hat.<br />
Das ist ein spezifisch deutsches Phänomen,<br />
es hängt zusammen mit dem politischen<br />
Hintergrund der Nachkriegsperiode<br />
und mit der Aufarbeitung der Zeit<br />
des Faschismus. Dieser radikale Bruch,<br />
diese komplette Distanzierung zu allem<br />
was vorher war, ist bei den nachfolgenden<br />
Generationen nicht mehr in dieser<br />
Form aufgetreten.<br />
Seit wann gibt es die Jugend, wie wir sie<br />
heute kennen?<br />
Vor den 1950er Jahren hat es so etwas<br />
wie Jugend nicht gegeben. Früher gab es<br />
junge Erwachsene, also junge Menschen,<br />
die gekleidet waren wie Erwachsene, die<br />
die gleiche Musik hörten wie Erwachsene<br />
und die agierten wie Erwachsene.<br />
Selbst die Phase der Kindheit – das kann<br />
man auf Bildern von höfischen Szenen<br />
gut sehen – ist geleugnet worden, indem<br />
man die Kinder in die Kleider von Erwachsenen<br />
gesteckt und sie zu kleinen<br />
Erwachsenen stilisiert hat. Erst mit dem<br />
Rock’n’Roll kam so etwas wie eine eigenständige<br />
Jugendkultur auf. Da gab es<br />
dann eigene Kleidung, die Jeans, den<br />
Petticoat und all diese Dinge, und das<br />
wurde auch öffentlich wahrgenommen.<br />
Heute ist das ein ganz normales Bild,<br />
dass Jugendliche sich anders kleiden,<br />
andere Musik hören, zum Teil fürchterliche<br />
Musik, wie ich jetzt als Erwachsener<br />
sage.<br />
Sind die Jugendlichen von heute konservativer<br />
als früher?<br />
Nein. Sie sind höchstens wertkonservativ,<br />
in dem Sinne, dass sie einfach pragmatischer<br />
sein müssen, als es vorige Generationen<br />
waren. Die 68’er hatten das<br />
Glück, dass sie die Gesellschaft kritisieren<br />
konnten und trotzdem einen Job<br />
bekamen. Die jetzigen Jugendlichen sind<br />
angepasst und bemühen sich, bekommen<br />
aber trotzdem keinen.<br />
Kann man sich als junger Mensch heute<br />
überhaupt noch von den Älteren abnabeln?<br />
Die Generation vorher hatte es natürlich<br />
leichter. Dazu kommt, dass sich die PhaseAusbildung-Geldverdienen-Verselbständigen<br />
heute ewig in die Länge zieht.<br />
Die Jugendphase franst nach hinten aus,<br />
aus Amerika stammt der Begriff der<br />
„Floundering period“ – eine Phase, in der<br />
man zappelt wie eine Flunder. Der<br />
durchschnittliche Jugendliche geht heute<br />
mit etwa Neunzehneinhalb in die Ausbildung,<br />
ist mit 23 fertig, dann fällt er aus<br />
dem ganzen System raus und macht<br />
vielleicht Praktika oder soziale Dienste,<br />
bis er dann mit etwa 25 einen Job findet.<br />
Ihm fehlt das Einkommen, mit dem er<br />
eine eigenständige Existenz begründen<br />
könnte. Dadurch bleibt er finanziell<br />
letztlich immer von der Familie abhängig,<br />
und es ist für ihn sehr schwer, sich<br />
abzunabeln. Die Familie erlebt zurzeit<br />
eine ziemliche Aufwertung gegenüber<br />
früher, und das hat auch damit zu tun,<br />
dass Abhängigkeiten, von denen man<br />
dachte sie seien historisch überwunden,<br />
doch letztlich länger andauern.<br />
Wie wird sich die Jugend weiterentwickeln?<br />
In Zukunft wird die Gesellschaft viel<br />
mehr als heute auf die Jugendlichen angewiesen<br />
sein. Man wird genau<br />
hinschauen, ob die Jungen willens und<br />
in der Lage sind, die Alten zu finanzieren.<br />
Also bekommt die Jugend eine neue<br />
Bedeutung. Dafür, der Gesellschaft ihre<br />
Handschrift zu verpassen, werden die<br />
Jugendlichen – anders als vor vierzig<br />
Jahren – nicht mehr kämpfen müssen.<br />
Prof. a. V. Dr. habil.<br />
Claus J. Tully forscht<br />
am Deutschen<br />
Jugendinstitut (DJI)<br />
in München. Das DJI<br />
ist das bundesweit<br />
größte außeruniversitäre<br />
Forschungsinstitut in Sachen Kinder,<br />
Jugend und Familie. Mit Prof. Tully<br />
sprachen Kilian Engels und Felix Zeltner.<br />
Das Festival Radikal jung am Münchner<br />
Volkstheater fördert jedes Jahr junge<br />
Theaterregisseure aus ganz Deutschland,<br />
das nächste Mal Ende April 2008.<br />
radikal jung · volksmund 2 31