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volksmund2_titel allein - gabriela neeb. fotografie

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Vom jungen Christian Stückl<br />

zu neuem Leben erweckt:<br />

Die Karfreitagsratschen<br />

Das Wahrzeichen von<br />

Oberammergau: Der Kofel<br />

Jesus, der Judas, die Maria und der Kaiphas.<br />

Kaiphas zu werden war mein zweiter<br />

großer Berufswunsch. Der Hohepriester<br />

war früher einmal die größte Rolle, in<br />

den Jahren 1950 und 1960 hatte sie mein<br />

Großvater inne, nun mein Vater. Ich betrachtete<br />

diese Rolle wie einen Erbbauernhof.<br />

Spätestens 1990 würde ich ihn<br />

selber spielen. So dachte ich mit acht.<br />

Aufwachsend in einer Gaststätte,<br />

der „Rose“, erlebte ich das Passionsspiel<br />

fast 24 Stunden täglich. Nach den Proben<br />

saßen die Spieler am Stammtisch.<br />

Schon damals wurde viel und heftig<br />

über das Wie und Was gestritten. Mitten<br />

unter den Spielern saß ich mit meiner<br />

Limo. Um den Küchenherd herum rezitierten<br />

mein Vater und mein Großvater<br />

(er spielte 1970 den König Herodes) ihre<br />

Texte. Oft hörte ich es aus der Toilette<br />

hallen: „Es ist besser, dass ein Mensch<br />

stirbt, als dass das ganze Volk zugrunde<br />

geht!“ Mein Vater saß dort und lernte<br />

seinen Text.<br />

Mit zwölf Jahren hatte ich bereits<br />

eine kleine Sammlung von Bildbänden<br />

und Textbüchern vergangener Passionsdekaden,<br />

hörte täglich auf meinem kleinen<br />

Plastikplattenspieler die Passionsmusik<br />

des Herrn Rochus Dedler und<br />

löcherte meinen Großvater mit der in<br />

den siebziger Jahren heftig diskutierten<br />

Frage, wie antisemitisch das Passionsspiel<br />

sei. Was antisemitisch bedeutet,<br />

war mir natürlich nicht klar, ich merkte<br />

aber wohl, dass mein Opa diese Frage<br />

nicht mochte.<br />

Mit 13 inszenierte ich dann selbst.<br />

Zur jährlichen Weihnachtsfeier des<br />

Trachtenvereins führte ich ein selbst<br />

zusammengeschustertes Krippenspiel<br />

auf. Das erste Mal besetzte ich nun die<br />

Rolle der Maria und des Jesus. Die Rolle<br />

des Jesus bekam eine Puppe meiner<br />

Schwester. Die Kostüme schneiderte ich<br />

selbst. Um dies tun zu können, musste<br />

ich eine Woche lang die Schule schwänzen<br />

– eine katholische, das Gymnasium<br />

der Benediktiner in Ettal, von dem ich<br />

dann verwiesen wurde. Das Engelsgewand<br />

entwendete ich aus dem Oberammergauer<br />

Kirchenspeicher. Wir hatten<br />

damals einen wunderbaren, alten Mesner,<br />

den „Niggl“ (Nikolaus). Er war es,<br />

der mich in meinen zweiten Lieblingsspielplatz<br />

neben dem Passionstheater<br />

einführte. Er zeigte mir, wie früher einmal<br />

im Hochaltar der Ölberg und die<br />

Auferstehung inszeniert wurden. Mit<br />

einer großartigen Bühnenmaschinerie,<br />

angetrieben von Seilzügen, hatte man<br />

Wolken auseinander gefahren, Palmen<br />

verschoben, einen Engel mit Kelch hereinwackeln<br />

und Jesus in den Himmel<br />

auffahren lassen. Immer wenn Niggl in<br />

der Kirche arbeitete, war auch ich dort.<br />

Bald auch ohne ihn – ich hatte sein<br />

Schlüsselversteck ausgemacht.<br />

Eines Tages fand ich im Kirchenspeicher<br />

große Glaskugeln, in deren Inneren<br />

sich tausende toter Fliegen gesammelt<br />

hatten. Dahinter fand ich ein altes<br />

Gemälde mit einer Darstellung des Leichnams<br />

Jesu, dahinter alte Holzlatten, einen<br />

Rahmen, Vorhänge, Schrauben: das<br />

Heilige Grab. Auch eine alte Holzkiste<br />

mit einer Kurbel fand ich: eine Karfreitagsratsche.<br />

Ich war fasziniert. Sofort lief<br />

ich hinab in die Kirche und lies mir von<br />

Niggl erklären, zu was all diese Herrlichkeiten<br />

zu gebrauchen waren. Und dann<br />

startete ich meine zweite Inszenierung:<br />

Die Karwoche, inszeniert in unserer Kirche.<br />

In der Küche meiner Eltern säuberte<br />

ich die Glaskugeln. Meinem Vater graute<br />

es vor den vielen toten Fliegen. Ich baute<br />

mit einem Freund die Holzrahmen zusammen,<br />

reinigte den toten Christus von<br />

Spinnweben und die Karfreitagsratsche<br />

kopierten wir gleich vier Mal. Ohne den<br />

Pfarrer einzuweihen, verhängten wir am<br />

Karfreitag die Kirchenfenster, füllten die<br />

Glaskugeln mit bunter Eierfarbe, stellten<br />

Kerzen dahinter, bauten das Grab auf<br />

und drapierten ein Leintuch hinein. Und<br />

dann, bei der Feier der Karfreitagsliturgie,<br />

unter den Klängen der Passionsmusik<br />

von Rochus Dedler, schoben wir das<br />

Bild mit dem toten Jesus in das Grab.<br />

Dann der Höhepunkt: Wir liefen in den<br />

Kirchturm, kurbelten mit aller Kraft unsere<br />

Karfreitagsratschen und waren hoch<br />

erfreut, als alle Kirchenbesucher, die aus<br />

dem Gottesdienst kamen, stehen blieben<br />

und völlig überrascht von dem Höllenlärm,<br />

den wir veranstalteten, nach oben<br />

blickten.<br />

Es blieb nicht bei dieser einen Inszenierung<br />

einer Liturgiefeier. Ab diesem<br />

Zeitpunkt war ich inszenierender Hilfsmessner.<br />

Fortan kümmerte ich mich um<br />

die Gestaltung der Osternacht, des<br />

Pfingstfestes, und über alles liebte ich es,<br />

die Fronleichnamsprozession mit meinen<br />

Ideen aufzupeppen. Meine protestantische<br />

Oma freute sich über einen so frommen<br />

Enkel und wollte mich auch in die<br />

evangelische Messe mitnehmen. Einmal<br />

ging ich mit. Wie langweilig, dachte ich<br />

mir! Ein unattraktiv gekleideter Pfarrer,<br />

der viel zu lange und viel zu viel spricht,<br />

kein Weihrauch, keine Mozart- oder<br />

Haydnmessen, keine Fahnen, keine Monstranz.<br />

Nur eine große Ödnis. Von diesem<br />

Augenblick an wusste ich, ich bin katholisch!<br />

Katholisch aus Liebe zur großen<br />

Inszenierung, katholisch aus Liebe zum<br />

Theatralischen. Kurz dachte ich sogar:<br />

Jetzt werde ich Pfarrer, inszenierender<br />

Pfarrer! Doch später kam ich zu meinem<br />

ersten Berufswunsch zurück – Spielleiter.<br />

OBERAMMERGAU 1986<br />

BEWERBUNG ZUM SPIELLEITER<br />

Mit gerade einmal 24 Jahren bewarb ich<br />

mich um die Leitung der Passionsspiele<br />

1990. Mit neun zu acht Stimmen wählte<br />

mich der Gemeinderat zum jüngsten<br />

Spielleiter, den es bis dahin in Oberammergau<br />

gegeben hatte.<br />

In der Zwischenzeit hatte ich viel<br />

übers Theater gelernt. Mit meiner Theatergruppe,<br />

die ich mit etwa 18 Jahren<br />

gegründet hatte, führte ich im Gasthaus<br />

meiner Eltern, im Kino oder im Kurgästehaus<br />

von Oberammergau Stücke von<br />

Molière, Shakespeare und Büchner auf.<br />

Darüber hinaus hatte ich eine Regieassistenz<br />

bei Dieter Dorns „Faust“ hinter mir.<br />

Besonders an diese Inszenierung erinne-<br />

der fachmann fürs katholische · volksmund 2 39

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