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seitenbühne Nr. 27 - Staatsoper Hannover

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oper<br />

des Spiels findet hier aber gleichsam ihre<br />

Brechung. Rossini zeigt es als Mittel zur<br />

Selbstdarstellung, das bei seinen Figuren<br />

zur Selbstentfremdung führt: »Keine der Figuren<br />

hat etwas wie eine Identität, einen<br />

Kern. Das ist einerseits reizvoll und aufregend.<br />

Solange man keine Identität hat, hat<br />

man ja auch keine zu verlieren. Den Figuren<br />

ermöglicht das, für immer im Moment zu leben,<br />

lustvoll und mit genau jener Kraft und<br />

Absolutheit, die mich im Kasperltheater so<br />

mitgerissen hat. Rossinis Figuren erleben<br />

nie den ernüchternden, biederen Moment<br />

von Realität und Alltag. Diese Menschen<br />

wollen nicht aufhören zu spielen. Sie beginnen<br />

mit einer Explosion von Lüge und von<br />

Verstellung. Nie lernt man die Figuren wirklich<br />

kennen. Man hat das Gefühl, jeder lügt<br />

jeden permanent an. Es gibt kein ande res<br />

Stück, in dem so viele<br />

Angeber vorkommen. Der<br />

Vorhang geht auf und einer<br />

nach dem anderen<br />

kommt auf die Bühne und<br />

erzählt: ›Ich bin der Tollste, ich werde es<br />

schaffen, euch alle zu überrumpeln und das<br />

zu kriegen, was ich will.‹ Das ganze Stück ist<br />

eine Konstruktion von Lügen, Verstellung<br />

und Spiel. Es gibt kein Aussteigen, kein ›zwischen<br />

den Vorstellungen‹, es wird immer<br />

nur gespielt. In dem Moment, wo die erste<br />

Lüge aufhört, kommt man zur nächsten. Es<br />

gibt nichts, wo man ankommen kann.«<br />

Seine Sicht auf das Stück entwickelt Charim<br />

aus dem Zeitgeist Italiens zu Rossinis Zeit.<br />

Und zeigt auf, wie nah uns Rossinis Figuren<br />

auch heute sind: »Obwohl Rossini 1816 mit<br />

der Vertonung von Beaumarchais einen 40<br />

Jahre alten Stoff genommen hat, ist es ganz<br />

offensichtlich seine eigene Zeit, die auf die<br />

Bühne gelangt. Beaumarchais schrieb sein<br />

Schauspiel Le Barbier de Séville 1775, also<br />

noch vor der Französischen Revolution. Rossinis<br />

Barbier beschreibt die Stimmung 30<br />

Jahre nach der Revolution. Das heißt, nach<br />

einer Zeit, in der man geglaubt hat, ›Wir verändern<br />

die Welt‹ – einer Zeit, in der es eine<br />

Vorstellung davon gab, wie eine veränderte,<br />

bessere Welt aussehen sollte. 1816, im Italien<br />

der Restauration, ist nicht mehr viel davon<br />

übrig geblieben. Eine resignative Haltung,<br />

die sich darauf beschränkt, die Dinge<br />

nur noch im Kleinen zu verändern. Im<br />

Kleinen heißt hier: im Privaten und im Hinblick<br />

auf das, was<br />

das beste für einen<br />

selber ist. Die Frage,<br />

die Rossinis Figuren<br />

bewegt, ist: Was ist<br />

mein nächstliegender<br />

Vor teil? Und wie<br />

erreiche ich ihn am<br />

geschicktesten und<br />

am schnellsten? Es<br />

ist eine Welt, die<br />

wahnsinnig eng und<br />

wahnsinnig klein ist,<br />

geprägt von Egozentrik<br />

und Gier. Mich<br />

interessiert das als etwas sehr Menschli<br />

ches – das Stück hält uns den Spiegel vor.<br />

Der Moment des Spiels, des sich Verstellens<br />

ist etwas, was uns im täglichen Leben oft<br />

selbst begegnet: Die Erfahrung, dass wir<br />

nicht ausreichen, so wie wir sind, ist eine<br />

für unsere Zeit typische. Wir schichten unsere<br />

Persönlichkeit zusammen aus einer<br />

Vielzahl von Möglichkeiten, je nach Bedarf<br />

und Kontext. Es geht um die Über ein an derschichtung<br />

von Eigenschaften, die man erwirbt,<br />

um in der Realität durchzukommen<br />

und das hinzukriegen, was man am meisten<br />

will. Das ist genau das, was Rossinis Figuren<br />

tun. Wir sehen in diesem Stück nur Menschen,<br />

die Eigenschaften<br />

aufeinander türmen. Rosina<br />

singt in ihrer berühmten<br />

Arie ›Una voce<br />

poco fa‹ davon, dass sie<br />

lieb sein kann, aber wenn man sie reizt,<br />

auch zur Viper wird. Mit andern Worten<br />

heißt das: ›Es gibt diese beiden Eigenschaften,<br />

daraus bestehe ich und je nach<br />

Bedarf kann ich diese oder jene verwenden.‹<br />

Dass hinter diesen Konstruktionen<br />

etwas Echtes liegt, so etwas wie der Kern<br />

der Figuren – man kann ihn bei Rossini<br />

allenfalls erahnen«.<br />

Wenn man Alexander Charim zuhört, spürt<br />

man nicht nur eine große Liebe zum Theater,<br />

sondern auch eine große Ernsthaftigkeit,<br />

die den Dingen auf den Grund gehen<br />

will. Rossinis Barbier ist eine Buffa in bester<br />

Comedia dell'Arte-Tradition, mit viel Witz,<br />

hohem Tempo und saftigen Pointen. Gleichzeitig<br />

ist es für Charim ein Stück mit ungeheurer<br />

Schärfe: »Ich habe viel darüber nachgedacht,<br />

was eigentlich lustig ist an der<br />

Oper. Für mich sind das die Momente, wenn<br />

eigentlich etwas drunter liegt, was gar nicht<br />

lustig ist. So wie in dem Film Die Marx<br />

Brothers im Krieg, in dem es um fürchter­

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