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"Wenn mir ein Patient nicht mehr aus dem Kopf geht…"<br />

SEBASTIAN KRUTZENBICHLER, Bad Berleburg<br />

Vortrag <strong>Stuttgart</strong> 26. März 2011<br />

Meint zunächst, ich beschäftige mich gedanklich immer wie<strong>der</strong> mit einem<br />

bestimmten Patienten und das mehr, als ich an an<strong>der</strong>e denke. Ich lasse<br />

diesen Menschen mit und in meinen Gedanken nicht mehr los, ich habe<br />

ihn stärker besetzt als meine sonstigen Patienten, obwohl ich das vielleicht<br />

gar nicht möchte. Und es meint zunächst nicht, daß mein Patient sich in<br />

meinem Kopf, in meinen Gedanken breit macht, mein Denken okkupiert,<br />

auch wenn mir das so erscheint.<br />

Mein großes analytisches Vorbild, <strong>der</strong> Literaturnobelpreisträger MARIO<br />

VARGAS LLOSA sagt dazu im „Lob <strong>der</strong> Stiefmutter“: „So verhält es sich<br />

immer, obwohl Phantasie und Wirklichkeit ein und das selbe Herz besitzen,<br />

sind ihre Gesichter wie Tag und Nacht, wie Feuer und Wasser“.<br />

„Wenn mir ein Patient nicht mehr aus dem Kopf geht, weil ich so<br />

sehr an mir zweifle“, mag darauf verweisen, wie sehr ich mich in <strong>der</strong><br />

Begegnung mit diesem Patienten zutiefst in meiner professionellen<br />

Kompetenz verunsichert fühle. Ich bezweifle, ob ich ihm mit dem, was ich<br />

ihm geben kann, gerecht werde und stelle mir die Frage:„Bin ich gut<br />

genug?“<br />

Dieser Selbstzweifel stellte sich bei mir unmittelbar ein, nachdem mir ein<br />

Patient in vollstationärer Behandlung mitteilte, er sei von seinem Analytiker,<br />

einem mir bekannten, sehr berühmten Kollegen in die Klinik überwiesen<br />

worden, weil dieser ihn nicht mehr habe „halten“ können. Dies<br />

löste eine tiefe Erschütterung meiner Selbstwahrnehmung als Psychotherapeut<br />

aus und veranlasste mich meinen damaligen Vorgesetzten um<br />

einen Therapeutenwechsel zu bitten. Er lehnte dies mit <strong>der</strong> Begründung<br />

ab, daß die Verantwortung für die Behandlung dieses suizidalen Patienten<br />

doch nicht alleine auf meinen Schultern lasten würde, ich durch Supervision<br />

und Team die Unterstützung hätte, die dem überweisenden Kollegen<br />

offensichtlich nicht zur Verfügung stand - er hatte recht!<br />

„Wenn mir ein Patient nicht mehr aus dem Kopf geht, weil ich<br />

mich so ärgere“ fokussiert eine emotionale Verwicklung meinerseits:<br />

Vielleicht bin ich über mich selbst verärgert, weil ich es nicht schaffe<br />

diesen Menschen zu erreichen, wie ich es möchte o<strong>der</strong> wie ich denke es zu<br />

sollen, vergesse möglicherweise Termine mit ihm. O<strong>der</strong> ich ärgere mich<br />

über meinen Patienten, da er mir ständig vermittelt, daß ich nicht wirksam<br />

bei ihm werden kann, <strong>der</strong> mir zu verstehen gibt, daß ich ihn we<strong>der</strong> richtig<br />

verstehe, noch ihm wirklich helfen kann, während ich nach jedem Termin<br />

fix und fertig bin, schlechte Laune habe, meine Familie und meine<br />

Intervisionsgruppe angifte, in <strong>der</strong> allmählichen Gewissheit, ich scheitere<br />

o<strong>der</strong> mein Patient lässt mich scheitern.<br />

1


So, wie jener Patient, <strong>der</strong> schon das Erstgespräch vor meiner Eingangsfrage<br />

damit einleitete, mich lächelnd wie folgt zu beschreiben:<br />

„Aha, kurzes Haar, aber Mittelscheitel, Brille, Intellektueller, vermutlich<br />

früher ein langhaariger Achtundsechziger mit Bart; schlank, aber nicht<br />

dünn, Freizeitsport; schwarze Schuhe, dunkle Hose, grauer Pulli, dunkles<br />

Jackett – eine graue Maus!“<br />

Er, <strong>der</strong> stets unpünktlich war, sich dabei lobte, es gerade noch geschafft<br />

zu haben, <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> den Hühner- und Entendreck seiner Stiefel<br />

auf dem Teppich meines Behandlungszimmers hinterließ und auf meine<br />

Frage, was ihm wohl das Wichtige an seiner Therapie sei, antwortete, daß<br />

wichtigste sei ihm, dass er jeweils vor und nach <strong>der</strong> Therapiestunde Zeit<br />

habe mit Genuss Hörspielfolgen in seinem Autoradio zu hören.<br />

„Wenn mir ein Patient nicht mehr aus dem Kopf geht, weil ich so<br />

großer Sorge bin“, ob ich ihn wohl in <strong>der</strong> therapeutischen Beziehung, in<br />

unserer Beziehung halten kann, ihm unsere Beziehung wichtig genug ist,<br />

um auf Selbstzerstörung o<strong>der</strong> Schädigung an<strong>der</strong>er zu verzichten?<br />

Wie weit geht meine Verantwortung für meinen Patienten, um Schaden<br />

von ihm o<strong>der</strong> durch ihn abzuwenden? Muss ich Maßnahmen einleiten, die<br />

mein Patient vielleicht gar nicht will und zerstöre ich damit unsere Beziehung?<br />

O<strong>der</strong> habe ich große Sorge um mich, weil ich befürchte durch die<br />

Behandlung dieses Patienten selbst Schaden zu erleiden?<br />

In manchen Behandlungen allerdings wechseln sich Ärger, Zweifel, Sorge,<br />

aber auch Wut und „hingezogen fühlen“ in einer überflutenden Intensität<br />

ab. Dann haben wir es meist mit Patienten zu tun, die nicht in <strong>der</strong> Lage<br />

sind, uns mit einer im Alltag notwendigen libidinösen Minimalzuwendung<br />

zu bedenken, uns in unserer eigenen Person ausreichend zu berücksichtigen,<br />

Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen, da sie in ihren<br />

frühen Beziehungen traumatisiert wurden. Wenn ich mit diesen Patienten<br />

in Beziehung bin, retten mich meine Erfahrungen als Gutachter für die<br />

Zentrale Adoptionsvermittlung des Senates von Berlin.<br />

Ich hatte Kin<strong>der</strong> zu begutachten, die in Heimen untergebracht waren o<strong>der</strong><br />

in ihren Ursprungsfamilien lebten, wo sie zumeist lang anhaltend vernachlässigt,<br />

schwerst körperlich misshandelt und sexuell missbraucht worden<br />

waren. Nun sollten sie zur Adoption „freigegeben“ werden, o<strong>der</strong> waren<br />

dies bereits.<br />

Zu sehen, zu hören und zu lesen, was den meisten von ihnen in <strong>der</strong> kurzen<br />

Zeitspanne ihres bis dahin erlittenen Lebens angetan o<strong>der</strong> vorenthalten<br />

wurde, war erschütternd. Und mein vorherrschendes Gefühl diesen<br />

Kin<strong>der</strong>n gegenüber war das, was einer meiner späteren Lehrer, Franz<br />

Heigl, als unerlässliche innere Haltung in <strong>der</strong> Behandlung schwerer<br />

Persönlichkeitsstörungen beschreibt, nämlich ERBARMEN.<br />

Einige <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> begegneten mir mit größtem Misstrauen, zuckten bei<br />

schnelleren Körperbewegungen, lautem Lachen o<strong>der</strong> Zurufen meinerseits<br />

zusammen und verkrochen sich sofort. An<strong>der</strong>e mit grenzenloser Offenheit,<br />

so, als ob wir uns schon ein Leben lang kennen würden - negativ konnotiert,<br />

könnte man dieses Verhalten auch als distanzlos beschreiben.<br />

2


Manche ignorierten mich völlig und anhaltend, aber nicht, weil sie autistisch<br />

gewesen wären - Kin<strong>der</strong> in dieser Verfassung lernte ich auch kennen.<br />

Am meisten verunsicherten und irritierten mich Mädchen, die sich schon<br />

beim ersten Treffen auf eine Weise an mich wandten, die ein für diese<br />

Kin<strong>der</strong> vertrautes und zerstörerisches Beziehungsmuster sofort in Szene<br />

setzte: ein zur Sexualisierung deformiertes Angebot des natürlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses<br />

eines kleinen Mädchens an den erwachsenen Mann,<br />

von dem es gewohnt war, daß er sich am Kind sexuell erregen und befriedigen<br />

will. So manches Mal wäre ich am liebsten einfach davongelaufen.<br />

Ich war fassungslos über die Freude <strong>der</strong> meisten dieser Kin<strong>der</strong>, an Wochenenden<br />

ihre leiblichen Eltern wie<strong>der</strong>zusehen und über ihren Zustand, in<br />

dem sie wie<strong>der</strong> ins Heim zurückkamen - erneut zutiefst in ihrer Hoffnung<br />

getäuscht auf einen guten Besuch bei guten Eltern, bei denen sie bleiben<br />

wollten.<br />

Es gab Kin<strong>der</strong>, <strong>der</strong>en wun<strong>der</strong>bar verklärte Schil<strong>der</strong>ung jener Wochenendbesuche<br />

die bittere Realität geradezu greifbar machte, vor allem dann,<br />

wenn die erneuten Wunden wie<strong>der</strong> einmal auch körperliche waren. Es war<br />

harte Sisyphusarbeit für die Pädagogen, die Kin<strong>der</strong> jeweils dort wie<strong>der</strong><br />

aufzufangen, wo die böse Realität die gute Hoffnung zerstört hatte.<br />

An<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong> hingegen lehnten Besuche <strong>der</strong> Eltern ab, weigerten sich,<br />

auch nur ein Stück Kleidung aus <strong>der</strong> Ursprungsfamilie zu tragen, wie <strong>der</strong><br />

dreieinhalbjährige David, <strong>der</strong> ins Kin<strong>der</strong>heim eingeliefert wurde, nachdem<br />

seine Mutter, die ihre eigene Kindheit überwiegend in Heimen, später auf<br />

Trebe verbrachte, misshandelt und missbraucht wurde, ihn wie<strong>der</strong> einmal<br />

so besinnungslos schlug, dass erst sein Blut an ihren Händen sie wie<strong>der</strong><br />

zur Besinnung brachte.<br />

Zu meinen Aufgaben gehörte es u. a. auch, die zukünftigen Adoptiveltern<br />

allgemein auf die Adoption und speziell auf „ihr“ Kind vorzubereiten und<br />

zum Teil die Familie in <strong>der</strong> ersten Zeit <strong>der</strong> Hoffnungen und <strong>der</strong> guten Absichten<br />

zu begleiten. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie ernüchternd<br />

und bedrückend es für manche guten Adoptiveltern und für mich war,<br />

nach einer kurzen Zeit des Honeymoon feststellen zu müssen, daß die<br />

Kin<strong>der</strong> ihre neuen Eltern je mehr provozierten, je liebevoller und wohlwollen<strong>der</strong><br />

diese sich verhielten. Schlugen Adoptiveltern dann aus Verzweiflung<br />

einmal zu, kehrte - für eine kurze Weile - plötzlich Entspannung ein.<br />

Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Beziehungen wurde das zentrale Lebensthema <strong>der</strong><br />

meisten Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen immer wie<strong>der</strong><br />

reinszeniert: Das Böse zerstört das Gute.<br />

Nur, jetzt kam das destruktive Element als vorherrschende verinnerlichte<br />

Beziehungserfahrung vom Opfer, vom Kind. Es bedurfte jeweils Jahre konstanter<br />

Erfahrung für diese Kin<strong>der</strong>, dass bei ihren neuen Eltern das Gute<br />

und das Böse zusammengehören, zusammengehören darf und insgesamt<br />

das Böse das Gute nicht zerstören kann. Manches Mal waren die Bemühungen<br />

<strong>der</strong> Adoptiveltern allerdings anhaltend schmerzhaft und Freude<br />

über gemeinsam erlebte gute Zeiten äußerst selten, wie bei den Adoptiveltern<br />

von David, die mich 16 Jahre nach <strong>der</strong> Adoption aufsuchten. Er ist<br />

zwischenzeitlich mehrfach straffällig geworden, drogenabhängig, lief<br />

3


ständig für ihn völlig wildfremden Menschen nach, versuchte dreimal das<br />

elterliche Haus in Brand zu setzen und zerschlug ständig sämtliche Spiegel<br />

im Haus mit <strong>der</strong> immer gleichen Frage an seine Adoptivmutter: „Warum<br />

bin ich nur so hässlich?“ - er, ein ausgesprochen schöner dunkelhäutiger<br />

junger Mann.<br />

Denn er war viel zu erfahren in <strong>der</strong> wahren Welt, um anzunehmen, dass<br />

unter dem, was er in den Spiegeln sah, ein Herz aus Gold versteckt war.<br />

Viel eher steckte da etwas Verzerrtes, Mutiertes, entstanden durch ein<br />

Leben, das weniger gnädig gewesen war als das einer durchschnittlichen<br />

streunenden Katze.<br />

Diese bewusst herbeigeholten Erinnerungen an David und an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong><br />

machen mir meine Arbeit mit Erwachsenen mit schweren Persönlichkeitsstörungen<br />

erst möglich. Die Lebens- und Leidensgeschichten mir immer<br />

wie<strong>der</strong> zu vergegenwärtigen ist für mich notwendig, um die gegenwärtigen<br />

Beziehungsgestaltungen dieser Menschen erstens verstehen und die<br />

gefühlsmäßigen Verwicklungen in <strong>der</strong> Beziehung mit ihnen ertragen zu<br />

können. Ertragen können deshalb, weil diese Menschen uns auf eine an<strong>der</strong>e<br />

Art for<strong>der</strong>n, als Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen,<br />

Symptomneurosen o<strong>der</strong> Psychosen.<br />

„Wenn mir ein Patient nicht mehr aus dem Kopf geht, weil ich<br />

mich so hingezogen fühle“, beschreibt ein Phänomen, das mich völlig<br />

unabhängig von Geschlechterkonstellation, psychotherapeutischer Ausrichtung<br />

und Setting, ob ambulant, teilstationär o<strong>der</strong> stationär tangieren<br />

kann und meist Zustände von „weil ich so sehr an mir zweifle“ und „weil<br />

ich in so großer Sorge bin“ einschließt o<strong>der</strong> nach sich zieht.<br />

Einerseits macht es keine an<strong>der</strong>e gefühlsmäßige Verstrickung in <strong>der</strong> therapeutischen<br />

Beziehung zu einem Patienten so schwer, sich Unterstützung<br />

mit Hilfe einer Supervision, einer Intervisionsgruppe o<strong>der</strong> einem Qualitätszirkel<br />

zu besorgen. An<strong>der</strong>erseits hat gerade diese spezielle Art von emotionaler<br />

Verwicklung zur Einführung unserer Profession geführt, treibt<br />

unsere Profession bis heute mäan<strong>der</strong>n umher und liegt dem zugrunde,<br />

was wir heute so selbstverständlich als Übertragung und Gegenübertragung<br />

bezeichnen.<br />

Um dies besser verstehen und eine klare innere Haltung dazu einnehmen<br />

zu können, lade ich Sie nun zu einem kurzen historischen Parforce-Ritt <strong>der</strong><br />

psychotherapeutischen Profession ein.<br />

Dort, am Entstehungsort von Psychotherapie und <strong>Psychoanalyse</strong> wartet<br />

jedoch zunächst nicht Sigmund Freud, son<strong>der</strong>n eine Frau, <strong>der</strong>en Leid,<br />

geronnen in den Versen ihres Gedichtes, geschrieben lange nach ihrer<br />

Behandlung, jeden Leser berühren:<br />

„Mir ward die Liebe nicht –<br />

Drum leb’ ich wie die Pflanze,<br />

Im Keller ohne Licht.<br />

4


Mir ward die Liebe nicht –<br />

Drum tön’ ich wie die Geige,<br />

Der man den Bogen bricht.<br />

Mir ward die Liebe nicht –<br />

Drum wühl’ ich mich in Arbeit<br />

Und leb’ mich wund in Pflicht.<br />

Mir ward die Liebe nicht –<br />

Drum denk’ ich gern des Todes,<br />

Als freundliches Gesicht."<br />

(Bertha Pappenheim, zit. nach Appignanesi/Forrester 1994, S. 113)<br />

Das meinte Freud wohl, als er schrieb: "Niemals sind wir ungeschützter<br />

gegen das Leiden, als wenn wir lieben. Niemals hilfloser unglücklich, als<br />

wenn wir das geliebte Objekt o<strong>der</strong> seine Liebe verloren haben (S. Freud<br />

1930, GW XIV, S. 441).<br />

"Mir ward die Liebe nicht-<br />

Drum denk ich gern des Todes,<br />

Als freundliches Gesicht."<br />

Dieses Gedicht ist das Resümee des zunächst unbewusst gebliebenen Zusammenspieles<br />

<strong>der</strong> dramatischen Lebensgeschichten des Arztes Josef<br />

Breuer und seiner Patientin Bertha Pappenheim, das in seiner aktuellen<br />

Inszenierung traumatisches Geschehen zur Wie<strong>der</strong>holung zwingt und die<br />

erste "psychoanalytische" o<strong>der</strong> "psychotherapeutische" Behandlung scheitern<br />

lässt.<br />

Wenn wir Sigmund Freud Glauben schenken, hat die Angst vor <strong>der</strong> Liebe<br />

in dieser therapeutischen Beziehung „die Entwicklung <strong>der</strong> psychoanalytischen<br />

Therapie um ihr erstes Jahrzehnt verzögert“ (S. Freud 1915, GW X,<br />

S. 307).<br />

Freud schreibt darüber seiner Braut Martha Bernays, die mit Bertha Pappenheim<br />

befreundet und <strong>der</strong>en Vater <strong>der</strong> Vormund von Freuds Braut war:<br />

„Auch Breuer hat eine sehr hohe Meinung von ihr und gab ihre Behandlung<br />

auf, weil seine glückliche Ehe dadurch in Gefahr geriet. Seine arme<br />

Frau konnte es nicht ertragen, dass er sich so ausschließlich einer Frau<br />

widmete, über die er offensichtlich mit großem Interesse sprach. Sie war<br />

gewiss nur eifersüchtig wegen <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen, die durch eine an<strong>der</strong>e<br />

Frau an ihren Gatten gestellt wurden. Ihre Eifersucht äußerte sich nicht<br />

auf eine gehässige, quälende Weise, son<strong>der</strong>n durch stilles Erkennen. Sie<br />

wurde krank, verlor ihre Lebenslust, bis er es bemerkte und den Grund<br />

dafür entdeckte. Dies genügte ihm natürlich, sich von seiner ärztlichen<br />

Tätigkeit bei B.P. zurückzuziehen. Kannst Du schweigen, Martchen?"<br />

(Forrester 1986, zit. Nach Israels 1999, S. 159).<br />

5


Josef Breuer kommentiert diese ihn selbst traumatisierende Behandlung<br />

von Bertha Pappenheim Jahre danach in einem Brief an Auguste Forel:<br />

„So habe ich damals viel gelernt; viele wissenschaftlich wertvolle Dinge;<br />

aber auch […] dass es für den Arzt unmöglich ist […] einen solchen Fall zu<br />

behandeln, ohne dass seine Praxis und sein Privatleben vollkommen<br />

ruiniert werden. Damals habe ich mir gelobt, mich nie wie<strong>der</strong> einem<br />

solchen Gottesurteil auszusetzen“ (Brief vom 21. November 1907, in<br />

Haynal 1989, S. 38).<br />

An dieser Stelle erfindet Sigmund Freud mit dem Psychotherapeuten und<br />

Psychoanalytiker einen Akteur <strong>der</strong> Liebe, den es bis dahin so noch nicht<br />

gab, <strong>der</strong> sich bis heute selbst immer wie<strong>der</strong> neu konturieren muss und<br />

sich sein eigenes Vorbild ist; denn in je<strong>der</strong> psychotherapeutischen<br />

Behandlung wie<strong>der</strong>holt sich die Geschichte von <strong>Psychoanalyse</strong> und<br />

Psychotherapie.<br />

Dieser Liebe, wie sie sich nur im Rahmen dessen entwickeln kann, was wir<br />

Psychotherapie und <strong>Psychoanalyse</strong> nennen, gab Sigmund Freud den Namen<br />

"Übertragungsliebe" und beschreibt sie als Essenz, als Kern des therapeutischen<br />

Prozesses:<br />

"Jede psychoanalytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu<br />

befreien, die in einem Symptom einen kümmerlichen Kompromißausweg<br />

gefunden hat" (Freud 1907, GW VII, S. 118); er betont dabei "Wir gebrauchen<br />

das Wort "Sexualität" in dem selben umfassenden Sinne, wie die<br />

deutsche Sprache das Wort "lieben"!" (S. Freud 1910, GW VIII, S. 120).<br />

Man atmet mit diesen Worten regelrecht den Schwefelgeruch des Leibhaftigen<br />

ein, <strong>der</strong> dieser verdrängten Liebe anhaftet, das Sexuelle o<strong>der</strong> verdrängte<br />

Sexuelle, das sich einfach nicht von <strong>der</strong> Liebe separieren lässt,<br />

das Generationen von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten zur<br />

Flucht an vermeintlich rettende Ufer von rekonstruktiven Deutungen,<br />

präödipalen Reduktionen, zur Verflüchtigung des Sexuellen und einer<br />

Pathologisierung <strong>der</strong> Liebe treibt. An<strong>der</strong>erseits - und dennoch hiermit im<br />

Zusammenhang - führt gerade die Zurückweisung dieses (un)erwünschten<br />

Gastes im Behandlungsraum des Psychotherapeuten häufiger zu<br />

unheilvollen Entgleisungen, als wir das wi<strong>der</strong>willig wahrhaben wollen.<br />

Zunächst jedoch, wodurch kommt es so häufig und unvermeidlich zu<br />

dieser Art von Verwicklung?<br />

Menschen, die in ihren früheren und frühesten Beziehungen tiefgreifend<br />

gekränkt, missachtet und verwundet wurden, <strong>der</strong>en seelischen<br />

Verletzungen nicht heilen konnten o<strong>der</strong> ständig Wie<strong>der</strong>holungen erfahren<br />

und die darüber krank werden, wenden sich mit einem festen Glauben an<br />

eine heilsame Beziehung an uns und versuchen dabei unbewusst ihre<br />

frühen Beziehungsmuster zu wie<strong>der</strong>holen.<br />

6


Was aber generiert diesen zunächst unerschütterlich-vertrauensvollen<br />

Glauben <strong>der</strong> Patienten an uns?<br />

Diese Frage führt uns zurück in die Stadt <strong>der</strong> fröhlichen Apokalypse, dem<br />

Wien des auslaufenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. In <strong>der</strong> Versuchsstation des<br />

befürchteten und angekündigten Weltuntergangs befasste sich Sigmund<br />

Freud mit dem Enthusiasmus seiner ersten Experimentaljahre „leidenschaftlich,<br />

hingebungsvoll mit <strong>der</strong> Heilung Neurotiker (stundenlang auf<br />

dem Boden liegend, wenn nötig, neben einer Person in hysterischer Krise).<br />

Er muss aber durch gewisse Erfahrungen erstens erschüttert, zweitens ernüchtert<br />

worden sein, ungefähr so, wie Breuer beim Rückfall seiner Patientin<br />

und durch das Problem <strong>der</strong> vor ihm wie ein Abgrund sich öffnenden<br />

Gegenübertragung“ (S. Ferenczi 1932, S. 142). Gemeint ist wohl zuvor<strong>der</strong>st<br />

Freuds „Primadonna“ (S. Freud 1986, S. 243) und „Lehrmeisterin“<br />

(ebd.), Baroness Anna von Lieben, eine <strong>der</strong> prominentesten Frauen Wiens,<br />

die fünf Gehminuten von Freud entfernt lebt, von mehreren Ärzten, unter<br />

an<strong>der</strong>em Charcot, erfolglos behandelt, darüber morphinsüchtig geworden<br />

und bei Freud ungefähr sechs Jahre bis zu zwei Sitzungen täglich in Therapie<br />

war, von ihm zum berühmten Hypnotiseur Bernheim nach Nancy mitgenommen<br />

wurde.<br />

Sie wird von Freud geschil<strong>der</strong>t als eine „Person von ganz ungewöhnlicher<br />

insbeson<strong>der</strong>e künstlerischer Begabung, <strong>der</strong>en hochentwickelter Sinn für<br />

Form sich in vollendet schönen Gedichten kundgab“ (S. Freud 1895, GW I,<br />

S. 201).<br />

Von an<strong>der</strong>en wird sie weniger liebevoll charakterisiert:<br />

„Sie lebte von Kaviar und Champagner, hatte – als ein Nachtmensch –<br />

einen Schachspieler beschäftigt, <strong>der</strong> sich nachts vor ihrem Zimmer bereithalten<br />

musste, und ließ zuweilen ihre Kin<strong>der</strong> aus dem Bett holen, damit<br />

sie ihr Gesellschaft leisteten, während sie sie sonst häufig gar nicht beachtete“<br />

(Appignanesi/Forrester 1994, S. 124).<br />

Lange Zeit nach <strong>der</strong> Therapie bringt sie in ihrem Gedicht „Krankengeschichte“<br />

das zum Ausdruck, worin sie das Agens <strong>der</strong> „von Freud und ihr<br />

gemeinsam erfundene[n] Therapie sieht:<br />

„Jugend, die zu früh begraben,<br />

muss noch einmal Leben haben,<br />

einmal noch den Odem trinken,<br />

um für immer zu versinken“<br />

(Anna von Lieben 1902; zit. Nach Appignanesi/Forrester 1994, S. 128).<br />

Erschüttert haben Freud die Erfahrungen, ständig Objekt des erotischen<br />

Verlangens, <strong>der</strong> Liebesgefühle seiner Patientinnen an jenen Stellen geworden<br />

zu sein, an denen sich Störungen in <strong>der</strong> Klärung erotischer Gedankengänge<br />

einstellten. Ernüchtert durch die Regelhaftigkeit dieses Vorgan-<br />

7


ges entwickelte er die Vorstellung, daß die Gefühle und Wünsche seiner<br />

Patientinnen wahr und falsch zugleich sein könnten und entdeckte damit<br />

die Übertragung. Denn einerseits galten die Liebesgefühle ihm, dem<br />

anwesenden Mann, an<strong>der</strong>erseits seien es "falsche Verknüpfungen", die<br />

den Beziehungswunsch mit ihm statt mit einer an<strong>der</strong>en Person <strong>der</strong><br />

Vergangenheit <strong>der</strong> Patientinnen in Verbindung brachte (J. Körner 1989, S.<br />

210).<br />

In seinen "Studien über Hysterie" betont Freud, daß diese "Affektzustände<br />

mit einer bestimmten Erwartung an das Gegenüber einhergehen: mit einer<br />

hoffnungsvollen, autoritätsgläubigen und schließlich verliebten Einstellung.<br />

Wie die Kin<strong>der</strong> sind die Hysterischen nur geliebten Personen gegenüber<br />

zugänglich. Freud verbindet die Gläubigkeit hier mit <strong>der</strong> Arzt-Patient-<br />

Beziehung und hebt ihren Wert für die psychotheraoeutische Behandlung<br />

hervor [...]" (H. Will 2006, S. 103). Er bekräftigt an an<strong>der</strong>er Stelle: "Bei<br />

<strong>der</strong> Heilung von Neurosen bemächtige man sich des Stückes flottieren<strong>der</strong><br />

Libido <strong>der</strong> Patientin und übertrage dieses auf seine eigene Person; mit<br />

dieser Übertragung leiste man dann die Übersetzungsarbeit aus dem<br />

Unbewußten ins Bewußte. Die Heilung geschehe also durch unbewußte<br />

Liebe [...] Der Patient glaubt, so wie das Kind, nur <strong>der</strong> Person, die er liebt"<br />

(Nunberg/Fe<strong>der</strong>n 1976-81, Bd. I, S. 57 f.).<br />

Liebesgefühle sind es also, die unsere Patienten in gläubige Erwartung<br />

versetzen, die sie veranlassen, an die heilsame Wirkung <strong>der</strong> psychotherapeutischen<br />

Beziehung zu glauben; und <strong>der</strong> Glaube, so stellt Freud fest, ist<br />

ein Abkömmling <strong>der</strong> Liebe: "So weit seine Übertragung von positivem<br />

Zeichen ist, bekleidet sie den Arzt mit Autorität, setzt sie sich im Glauben<br />

an seine Mitteilungen und Auffassungen um [...] Der Glaube wie<strong>der</strong>holt<br />

dabei seine eigene Entstehungsgeschichte. Er ist ein Abkömmling <strong>der</strong><br />

Liebe und hat zuerst <strong>der</strong> Argumente nicht bedurft" (Freud 1916/1917, S.<br />

463).<br />

Die Liebe unserer Patienten, die Übertragungsliebe, ist also immer schon<br />

eine Liebe vor dem ersten Blick!<br />

An dieser markanten Stelle innegehalten erschließt sich uns nun die Dimension<br />

<strong>der</strong> Liebesgefühle in Psychotherapie und <strong>Psychoanalyse</strong> als zentrales<br />

Agens des therapeutischen Prozesses und als wichtiges diagnostisches<br />

Instrumentarium unserer Profession, das uns sowohl Einblick in die<br />

Beziehungszusammenhänge <strong>der</strong> teifgreifenden Verwundungen in den frühen<br />

Begegnungen erlaubt und Aufschluß über die aktuelle Beziehungsgestaltung<br />

des erwachsenen Patienten gibt; denn die psychotherapeutische<br />

Situation ist we<strong>der</strong> eine bloße Reproduktion <strong>der</strong> aktuellen Lebenssituation<br />

noch <strong>der</strong> Kindheit.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten: Im Verlauf <strong>der</strong> Übertragungsbeziehung entfaltet sich<br />

eine neue und ungewöhnliche Liebesgeschichte, punktiert von fragmentarischen<br />

Geständnissen, die immer schwierig und angstbeladen sind weil<br />

dieses Eingeständnis <strong>der</strong> Liebe verbunden ist mit elementarer Abhängigkeitsscham<br />

und <strong>der</strong> Angst, daß die eigenen Liebesgefühle erneut keinen<br />

8


Wi<strong>der</strong>hall im An<strong>der</strong>en finden. Dies umso mehr, als die Liebesgefühle dem<br />

Psychotherapeuten und Psychoanalytiker gegenüber oft von stärkerer<br />

Intimität und Intensität sind, als es die in <strong>der</strong> Vergangenheit meist versteckt<br />

und geschminkt geäusserten jemals waren.<br />

Dies bestimmt den beziehungsräumlichen Ort des Psychotherapeuten.<br />

Der beziehungsräumliche Ort unserer Patienten beginnt erst an <strong>der</strong> Stelle<br />

sichtbar zu werden, an <strong>der</strong> die Angst des Psychotherapeuten und Psychoanalytikers<br />

vor <strong>der</strong> Versuchung sich in seiner Bereitschaft verliert, phantasmatisch<br />

das zu sein, was ihm angetragen ist, <strong>der</strong> Liebhaber seiner Patienten<br />

zu sein, "ohne Hemmung etwas zu denken, was das Inzesttabu<br />

<strong>der</strong> Menschheit zu denken - und erst recht zu tun - verboten hat" (Grunert<br />

1989, S. 224). Jedoch, zu denken, diese Imagination beschränke sich darauf,<br />

die Phantasien und Wünsche <strong>der</strong> Patienten in sich aufzunehmen, gewähren<br />

zu lassen und sie als gedankliche Wirklichkeit zuu erwi<strong>der</strong>n, reduziert<br />

das Subjekt zu einem Objekt, zu einer Maschine, die reagiert, wenn<br />

sie gereizt wird. Hier besteht die Gefahr, daß sich das einschleicht, was<br />

Michael Ermann als Wi<strong>der</strong>stand gegen die Gegenübertragung beschreibt:<br />

"Je tiefer aber die Regression, und je intensiver sich die Dynamik des Behandlungsprozesses<br />

verdichtet, um so intensiver werden auch archaische<br />

Gegenübertragungsinhalte - und dadurch entsprechend intensive Wi<strong>der</strong>stände<br />

im Analytiker, welche sie abwehren" (M. Ermann 1987, S. 106).<br />

Denn es ist natürlich das Begehren, Psychoanalytiker und Psychotherapeut<br />

zu sein - das Begehren, <strong>der</strong> Begehrte zu sein - was unsere Patienten dazu<br />

verführt, den Psychotherapeuten zu lieben und sein Begehren zu begehren.<br />

Die Bereitschaft des Psychotherapeuten und des Psychoanalytikers, sich<br />

zum Patienten "so sehr hingezogen zu fühlen", seine Übertragungsliebe,<br />

konstituiert die therapeutische Beziehung also immer schon vor <strong>der</strong> ersten<br />

Begegnung!<br />

Allerdings versteht Freud das, was er Übertragung nennt, nicht als gemeinsam<br />

Geschaffenes, als rätselhaft bleibendes Zusammenspiel von Unbewußtem<br />

zu Unbewußtem. Er versucht vielmehr mit <strong>der</strong> zum technischen<br />

Terminus „Übertragung“ geratenen Abwehr von Liebesgefühlen das Anrüchige,<br />

o<strong>der</strong> gar Skandalöse, das <strong>der</strong> Beziehung zwischen Arzt und seiner<br />

Patientin in den Augen <strong>der</strong> Gesellschaft anhaftet, zu entschärfen, zu desexualisieren<br />

und zu neutralisieren. Verschleiert wird das, was <strong>der</strong> Übertragung<br />

<strong>der</strong> Patientin und <strong>der</strong> Übertragung des Arztes zugrunde liegt: das<br />

Spiel <strong>der</strong> Liebe in <strong>der</strong> psychotherapeutischen Beziehung.<br />

Jedoch sind Theorie und Metapsychologie keineswegs ein zuverlässiger<br />

Schutz gegen die Macht und Verführung, „die <strong>der</strong> Arzt versucht sein kann<br />

über seinen Patienten auszuüben, o<strong>der</strong> gegen die Versuchungen, denen er<br />

ausgesetzt ist“ (Chertok 1983, S. 14), auch Freud nicht, worauf Ernst<br />

Falze<strong>der</strong> hinweist:<br />

9


„Vor allem Freuds Warnungen vor den Gefahren von Gegenübertragungsliebe<br />

scheinen seinen Gefühlen Frau Hirschfeld gegenüber beeinflusst zu<br />

sein. Anhand ihres Falles kann man sehen, dass er mit diesem Phänomen<br />

nicht nur als Anfänger (wie er an mehreren Stellen andeutete) und durch<br />

Erfahrungen seiner engsten Freunde und Schüler konfrontiert war, son<strong>der</strong>n<br />

noch relativ spät in seiner eigenen Praxis“ (Falze<strong>der</strong> 1995, S. 91),<br />

o<strong>der</strong> aber Freud selbst in einem Brief an Ferenczi zur Behandlung von Loe<br />

Kann:<br />

„Ich habe diese Loe außerordentlich lieb gewonnen und bei ihr ein sehr<br />

warmes Gefühl mit voller Sexualhemmung wie selten vorher (dank dem<br />

Alter wahrscheinlich) zustande gebracht“ (Freud/Ferenczi Briefwechsel<br />

1/2, S. 235f.).<br />

Der Fund <strong>der</strong> Tagebuchaufzeichnungen <strong>der</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> <strong>der</strong> Schweizer<br />

Ärztin Anna G. bei Freud im Jahre 1921, herausgegeben von Anna Koellreuter<br />

(2009) aus Zürich unter dem Titel: „Wie benimmt sich <strong>der</strong> Prof.<br />

Freud eigentlich?“, ist ein Lehrstück <strong>der</strong> „klassischen Technik“ Freuds, die<br />

Übertragungsliebe – vergeblich – in den Deutungsgriff zu bekommen. Für<br />

André Haynal ist diese Analyse ein „Meilenstein einer Epoche, die später<br />

als klassisch galt. Durch sie können wir die Grundideen und Beschränkungen<br />

dieser Epoche studieren und klar erkennen“ (A. Haynal 2009, S.<br />

242).<br />

Ohne seine Analysandin gesehen, gesprochen zu haben und zu kennen, ist<br />

die Behandlung vom 1. April 1921 an mit 6 Sitzungen pro Woche bis exakt<br />

14. Juli festgelegt, da er am nächsten Tag in Urlaub fährt. Er hält sich an<br />

die von Anna Freud ihrem Vater verordnete neurosefreie Ruhepause.<br />

Ich zitiere Anna Freud: „Lass Dich nicht von Patienten quälen und lass nur<br />

alle Millionärinnen ruhig verrückt bleiben, sie haben doch sonst keine<br />

Beschäftigung“ (P. Gay 1987, S. 492).<br />

Freud for<strong>der</strong>t seine Analysandin im Laufe <strong>der</strong> Stunden auf, sich außerhalb<br />

<strong>der</strong> therapeutischen Beziehung zu ihm abstinent zu verhalten: „Dulden<br />

und entbehren Sie, so dass alles desto deutlicher in <strong>der</strong> Stunde zum Vorschein<br />

kommt“ (A. Koellreuter 2009, S. 45). Er schürt die Übertragungsliebe<br />

seiner Patientin und es kommt, wie es kommen muß: Sie gesteht<br />

Freud „ich habe Sie schon sehr gern“ (ebd.) und kann sich vorstellen, dass<br />

eine junge Frau „jemanden älteren heiraten kann“ (ebd.), was Freud<br />

veranlasst zu entgegnen:<br />

„Das ist nun die Übertragung <strong>der</strong> alten Liebe und Verliebtheit, die Sie zum<br />

Vater hatten, auf mich. Auch alle die schmerzl. Enttäuschungen, Eifersucht<br />

etc. wird dann kommen“ (ebd.).<br />

Er weist durch seine rein rekonstruktive Übertragungsintervention, instrumentell,<br />

automatisiert und direktiv, wie sie ist, das, was er selbst provoziert,<br />

das Liebesrezidiv seiner Patientin, zurück und lenkt mit dieser Übertragungsabwehr<br />

die ihm geltenden Liebesgefühle auf eine Person <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

um, im Sinne von: Die Rede ist zwar an mich gerichtet, aber<br />

nicht an mich adressiert!<br />

10


Freud erreicht mit seinem rekonstruktiven Deutungsversuch seine Patientin<br />

nicht. Schon in <strong>der</strong> folgenden Sitzung wie<strong>der</strong>holt und bekräftigt sie auf<br />

unmissverständliche Weise ihre Liebeserklärung als erwachsene Frau an<br />

ihn, den erwachsenen Mann mit den Worten: "Ich habe Sie so unbeschreiblich<br />

gern, wie ich noch gar niemand geliebt habe, kommt es mir so<br />

vor" (A. Koellreuter 2009, S. 54).<br />

Freud betritt mit seiner Antwort prompt erneut die Bühne seines ausschließlich<br />

rekonstruktiven Regressionsmodells, in dem er sagt:<br />

„[...] diese Liebe zum Vater war so ungeheuer, dass alles Spätere ein<br />

schwacher Abglanz war. Von <strong>der</strong> Intensität <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>liebe macht man<br />

sich keinen Begriff, sie ist ja nur potential vorhanden, wird nicht zur Tat“<br />

(ebd.).<br />

Diese Zurückweisung führt zum Rückzug <strong>der</strong> Patientin aus <strong>der</strong> aktuellen<br />

Beziehung und zur Rücknahme <strong>der</strong> libidinösen Besetzung des Therapeuten,<br />

nicht zu verwechseln mit einer Befreiung von infantilen Fixierungen<br />

und <strong>der</strong> Überwindung des Lustprinzips mit ungehin<strong>der</strong>ter Liebesfähigkeit<br />

nach <strong>der</strong> Behandlung, wie Freud dies in seiner Arbeit "Bemerkungen über<br />

die Übertragungsliebe" (1915) konzipiert.<br />

August Ruhs übersetzt Freuds Verstrickung in die Übertragungsliebe seiner<br />

Patientin Anna G. mit den Worten: „Wenn ich ihre erotischen Gefühle<br />

mir gegenüber möglichst rasch als Übertragung deute, so tue ich es, um<br />

ihnen die Liebe zu verleiden, vor <strong>der</strong> ich ebenso Angst habe wie vor meinen<br />

eigenen Liebesregungen und vor <strong>der</strong>en Folgen ich mich in beiden Fälle<br />

schützen muss“ (A. Ruhs 2009, S. 203).<br />

Rekonstruktive Übertragungsdeutung als Angstabwehr des Analytikers im<br />

Prozess, verdrängte Liebe zu befreien um nicht die Kontrolle über die eigenen<br />

Gefühle zu verlieren; denn <strong>der</strong> Psychotherapeut ist natürlich ebenso<br />

wenig Herr im eigenen Haus, wie seine Patientin Herrin im eigenen Hause<br />

ist.<br />

Im Briefwechsel zwischen Freud und Jung aus den Zeiten ihres Honeymoon<br />

ist das mit den Worten beschrieben:<br />

"Verleumdet und von <strong>der</strong> Liebe, mit <strong>der</strong> wir operieren, versengt zu werden,<br />

das sind unsere Berufsgefahren, <strong>der</strong>entwegen wir den Beruf wirklich<br />

nicht aufgeben werden" (Freud/Jung 1984, S. 102) [...] "Ich selbst bin<br />

zwar nicht ganz so hereingefallen, aber ich war einige Male sehr nahe daran<br />

und hatte ein narrow escape. Ich glaube [...] das Dezennium Verspätung<br />

gegen Sie, mit dem ich zur PA kam, haben mich vor den nämlichen<br />

Erlebnissen bewahrt. Es schadet aber nichts. Es wächst einem so die nötige<br />

harte Haut, man wird <strong>der</strong> "Gegenübertragung" Herr, in die man doch<br />

jedes Mal versetzt wird und lernt seine eigenen Affekte verschieben und<br />

zweckmäßig platzieren" (ebd., S. 112).<br />

Die analytischen Liebesbeziehungen zwischen Carl Gustav Jung und Sabina<br />

Spielrein, zwischen Sandor Ferenczi und Gizella Palos und an<strong>der</strong>en führen<br />

letztendlich zu den "technischen Schriften", wobei Freud seinen Aufsatz<br />

"Bemerklungen über die Übertragungsliebe" (Freud 1915) "für den<br />

besten und brauchbarsten" (Freud/Abraham 1965, S. 204) hält.<br />

11


Gefahr erkannt, Gesetz erlassen, Gefahr gebannt?<br />

Keineswegs! Die "Bemerkungen über die Übertragungsliebe“ werden<br />

Jahrzehnte we<strong>der</strong> aufgegriffen noch diskutiert. Einerseits geraten Freuds<br />

Ratschläge für eine Spiegel-Chirurgen-Neutralitäts-Anonymitäts-Technik,<br />

die Ferenczi als Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Analytiker vor <strong>der</strong> eigenen Übertragung<br />

versteht, zur psychoanalytischen Standardnorm. Die institutionalisierte<br />

wissenschaftliche <strong>Psychoanalyse</strong> vermeidet geradezu die Bearbeitung des<br />

sich gegenseitig bedingenden Wi<strong>der</strong>spruchsverhältnisses von Übertragung<br />

und Gegenübertragung. Das theoretische Interesse verlagert sich für<br />

lange Zeit auf die negative Übertragung als eine Form <strong>der</strong> Abwehr <strong>der</strong><br />

Übertragungsliebe, allerdings ohne dies diskursorisch aufzunehmen.<br />

Und so führt eine kollektive Angstabwehr dessen, was es vor und hinter<br />

<strong>der</strong> Couch zu befreien gilt, zu einem absurden Unternehmen: Verdrängte<br />

Liebe soll befreit werden, indem ein schafsgesichtiger Blechaffe Liebe um<br />

sich selbst kreisen lässt; <strong>der</strong> Analytiker streift morgens vor Praxisbeginn<br />

seinen Trauring (J. Cremerius 1984, S. 777) ab, zieht einen weißen Kittel<br />

über, bevor er sich in seine bewusst kahl und unpersönlich gehaltenen<br />

Behandlungsräume begibt, empfängt dort mit <strong>der</strong> Mimik eines Blechaffen<br />

(Stone 1973, S. 47) seine Patienten, unsicher, ob er ihnen die Hand zur<br />

Begrüßung reichen darf, beschränkt seinen Sprechkontakt auf ein Minimum<br />

und enthält sich guter Wünsche für eine erfolgreiche Operation<br />

seines Patienten, da dies als un-analytisch deklariert wird.<br />

Richard Sterba, <strong>der</strong> unter dem Eindruck heftiger Liebesgefühle <strong>der</strong> Patienten<br />

sein defensives technisches Konzept <strong>der</strong> „therapeutischen Ich-Spaltung“<br />

entwickelt, das von Helene Deutsch und Paul Fe<strong>der</strong>n massiv kritisiert<br />

wird, sich aber dennoch durchsetzt, bietet ein repräsentatives Beispiel<br />

<strong>der</strong> libidophobischen Haltung <strong>der</strong> Analytiker jener Jahre:<br />

Ein junger Patient kommt zu ihm, da er unter einer „Befangenheitsneurose“,<br />

einer Erythrophobie, leidet. Es „war unschwer ein starker homosexueller<br />

Triebdrang hinter dem manifesten Benehmen zu erkennen (R.<br />

Sterba 1982, S. 36), <strong>der</strong> zu Beginn des zweiten Monats <strong>der</strong> Behandlung<br />

als „homosexuelle Übertragung in fast explosiver Weise manifest“ (ebd.,<br />

S. 37) wird. Die „Explosion“ geht folgen<strong>der</strong>maßen von statten: Der junge<br />

Mann übergibt Sterba ein Geschenk, ein „Ölgemälde, das einen nackten<br />

Satyr darstellte, <strong>der</strong> eine fliehende nackte Nymphe verfolgte“ (ebd.).<br />

Darüber wird in <strong>der</strong> Behandlungsstunde selbst kein Wort gesprochen;<br />

danach allerdings ruft Sterba sofort seinen Kontrollanalytiker Jokl an und<br />

bittet ihn um Rat.<br />

Dessen Antwort lautet: „Rücksichtslos analysieren“ (ebd.), was Sterba<br />

befolgt: „Als <strong>der</strong> Patient das nächste Mal kam, begann ich ihm die homosexuelle<br />

Bedeutung des Geschehens zu erklären. Der Patient hörte eine<br />

Weile schweigend zu, dann stand er auf, nahm das Bild, das noch dort<br />

stand, wo er es hingestellt hatte, und verließ wortlos das Zimmer. Ich<br />

habe nie wie<strong>der</strong> von ihm gehört. Ich musste erkennen, dass die Befolgung<br />

des technischen Rates meines Kontrolleurs, meinen ersten analytischen<br />

Versuch zu einem schmählichen Ende verurteilt hatte“ (ebd.).<br />

12


Zugleich und an<strong>der</strong>erseits wird das Gesetz „Die Kur muss in <strong>der</strong> Abstinenz<br />

durchgeführt werden“ in katastrophalen Ausmaßen gebrochen und in stillschweigen<strong>der</strong><br />

Übereinkunft „die Regression in <strong>der</strong> analytischen Behandlung<br />

zum gefährlichen Symptom erklärt“ (Balint 1968, S. 163).<br />

Eine Protagonistin jenes Ufers des Rubikons, ihr persönliches Scheitern an<br />

<strong>der</strong> Übertragungsliebe und die Auswirkungen auf ihre Theorie- und Technikentwürfe<br />

ist Karen Horney, verheiratet mit Erich Fromm, <strong>der</strong> in erster<br />

Ehe mit seiner Analytikerin Frieda Reichmann verheiratet war. Karen<br />

Horney ist dafür bekannt, dass sie mit Patienten, Lehranalysanden und<br />

Kontrollanalysanden sexuelle Beziehungen unterhält. Keine ihrer theoretischen<br />

Arbeiten enthüllt ihre „Spaltung zwischen sinnlichen und zärtlichen,<br />

grob sexuellen und idealisierenden Liebesbeziehungen mit einer ausgeprägten<br />

Neigung zur „Reihenbildung“ (Lütkehaus 1998, S. 1238) mehr, als<br />

„Die Überbewertung <strong>der</strong> Liebe“ (K. Horney 1934).<br />

Diese sich scheinbar ausschließende Gegensätzlichkeit von strengster, unnahbarer<br />

Abstinenz als vom Über-Ich bestimmte Standardhaltung des<br />

Analytikers einerseits und sexuellen Beziehungen mit Analysanden an<strong>der</strong>erseits<br />

in jenen Jahren sind lediglich zwei Seiten ein und <strong>der</strong>selben Medaille.<br />

Denn die Angst vor den Liebeswünschen <strong>der</strong> Analysandin und das<br />

Verleugnen des eigenen Begehrens, was beides durch eine per Dekret<br />

erlassene Haltung in Schach gehalten werden muss, provozieren Entgleisungen<br />

geradezu.<br />

Es sind in erster Linie Analytikerinnen, die am jahrzehntelangen Liebes-<br />

Dornröschenschlaf <strong>der</strong> psychoanalytischen Gemeinschaft rütteln.<br />

Helene Deutsch (Okkulte Vorgänge während <strong>der</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> 1926),<br />

Fanny Hann-Kende (Zur Übertragung und Gegenübertragung in <strong>der</strong> <strong>Psychoanalyse</strong><br />

1936), o<strong>der</strong> Paula Heimann, die sich gegen eindringliche<br />

Warnungen zu ihrem Vortrag „Bemerkungen zur Gegenübertragung“ veranlasst<br />

sieht, weil sie in Kontrollanalysen immer wie<strong>der</strong> feststellt, dass<br />

Ausbildungskandidaten erschrocken und schuldbewusst sind, wenn sie<br />

plötzlich Gefühle für ihre Patienten empfinden und „diese Gefühle durch<br />

Verdrängung und verschiedene Verleugnungstechniken abwehren zum<br />

Schaden ihrer Arbeit […]. Sie neigten auch dazu, Bemerkungen über die<br />

positive Übertragung mit den damit verbundenen sexuellen Phantasien zu<br />

übersehen o<strong>der</strong> zu übergehen und willkürlich Zeichen <strong>der</strong> negativen Übertragung<br />

herauszugreifen, weil sie hierdurch das Ziel <strong>der</strong> „kühlen Distanziertheit“<br />

sicherer zu erreichen glaubten“ (Heimann 1964, S. 483), was<br />

Lucia Tower mit <strong>der</strong> Feststellung bestätigt: „Nahezu je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> über Gegenübertragung<br />

schreibt, stellt gleichlautend fest, dass keine Form <strong>der</strong><br />

erotischen Reaktionen gegenüber einem Patienten toleriert werden kann.<br />

Das würde bedeuten, dass die Verführungen in diesem Bereich groß und<br />

vielleicht allgegenwärtig sind […]. An<strong>der</strong>e Gegenübertragungsmanifestationen<br />

werden nicht routinemäßig verurteilt. Ich schließe darum hieraus,<br />

dass erotische Reaktionen jeden Analytiker bis zu einem gewissen Grad<br />

beunruhigen“ (Tower 1956, S. 250 – eigene Übersetzung).<br />

13


In den 80er Jahren sind es erneut zuvor<strong>der</strong>st Analytikerinnen, die auf eine<br />

doppelte kollektive Abwehrhaltung <strong>der</strong> psychoanalytischen Gemeinschaft<br />

hinweisen, nämlich auf eine Desexualisierung und Triebentleerung <strong>der</strong><br />

Übertragungsliebe einerseits und eine Sexualisierung und damit verbunden<br />

Pathologisierung <strong>der</strong> Übertragungsliebe an<strong>der</strong>erseits.<br />

Ethel S. Person z. B. räumt in einem Interview mit <strong>der</strong> New York Times<br />

ein: „Es ist möglich, dass viele Analytiker, ich selbst eingeschlossen, sich<br />

sicherer fühlten, wenn sie von erotischer Übertragung statt von Liebe<br />

sprachen, da die Existenz <strong>der</strong> Übertragung ein beobachtbares Phänomen<br />

darstellt, etwas, was wir aus erster Hand beobachten können, ohne relativ<br />

in sie verwickelt zu sein“ (Person 1988 – eigene Übersetzung) - welch<br />

ein Irrtum!<br />

Yecheskiel Cohen führt in seiner Arbeit „Die Angst zu lieben“ (1994) diese<br />

Scheu <strong>der</strong> Psychoanalytiker sich in ihren Behandlungen mit <strong>der</strong> Liebe zu<br />

befassen, sich in sie verwickeln zu lassen und sich stattdessen auf Aggression<br />

und Hass zu zentrieren auf die Befürchtung zurück, sich dem Vorwurf<br />

eigener Liebesbedürftigkeit auszusetzen und <strong>der</strong> Tatsache, dass die Liebe<br />

auch den Analytiker verletzlich mache. - wie wahr!<br />

Seit den 90er-Jahren werden Übertragungsliebe, Verführung, Begehren<br />

und Sexualität im psychotherapeutischen Prozess zunehmend salonfähig<br />

und in Veröffentlichungen zur Sprache gebracht. Die meisten Autoren<br />

argumentieren jedoch defensiv und deklarieren die Übertragungsliebe<br />

weiterhin als Wi<strong>der</strong>standsphänomen. Es ist, als wollten sie nicht verstehen,<br />

dass sich die Liebe jeglichem metapsychologischen Würgegriff entzieht<br />

und sich durch keinerlei Technik in Schach halten lässt. Der ständig<br />

sich wie<strong>der</strong>holende Versuch, auf zum Teil groteske Art und Weise einen<br />

qualitativen Unterschied zwischen Liebe und Übertragungsliebe zu konstruieren,<br />

provoziert mehr anhaltende Verwirrung im Umgang mit <strong>der</strong><br />

Liebe in psychoanalytischer Theorie und klinischer Praxis, als es Klarheit<br />

brächte.<br />

So gibt die Internationale Psychoanalytische Vereinigung 1993 den Aufsatzband<br />

„On Freuds „Observations on Transference-Love“ heraus, in dem<br />

10 Beiträge internationaler Autoren Freuds Arbeit zur Übertragungsliebe<br />

von 1915 aus heutiger Sicht reflektieren und die traditionell große Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Übertragungsliebe für die <strong>Psychoanalyse</strong> betonen sollen. Es ist<br />

zwar zu begrüßen, dass sich die IPV veranlasst sieht, sich dem immer<br />

aktuellen Thema Übertragungsliebe zuzuwenden, die Beiträge halten jedoch<br />

nicht, was <strong>der</strong> Titel verspricht. In dieser organisierten Inspirationslosigkeit<br />

wird schon im Umschlagtext die Übertragungsliebe auf erotische<br />

Übertragung und <strong>der</strong>en Gefährlichkeit für die psychoanalytische Behandlung<br />

reduziert.<br />

Die große Ausnahme bildet Jorge Canestri’s Aufsatz „A cry of fire: Some<br />

Consi<strong>der</strong>ations on Transference Love. Canestri fragt: „Können wir mit<br />

Sicherheit feststellen, dass die Übertragungsliebe, die sich im Verlauf <strong>der</strong><br />

Behandlung aus vielfältigen Leidenschaften zusammensetzt, we<strong>der</strong> real<br />

noch echt ist? Sicher nicht. Es ist wichtig zu betonen, dass <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand<br />

Gebrauch von <strong>der</strong> Liebe macht, aber er erschafft die Liebe nicht. Er be-<br />

14


dient sich ihrer. Die Beteuerung, dass die von Patienten erklärte und<br />

gefor<strong>der</strong>te Liebe eine Neuauflage vergangener Lieben sei, ist ein schwaches<br />

Argument. Freud hat sich zu Recht gefragt, welche Liebe keine Reproduktion<br />

infantiler Situationen o<strong>der</strong> infantiler Objektwahl darstellt.<br />

Übertragungsliebe ist dann echte Liebe“ (J. Canestri 1993, S. 151 – eigene<br />

Übersetzung).<br />

Die PSYCHE lädt 1994 zu einem Gang „Im Garten <strong>der</strong> Lüste“ ein, wobei<br />

man nach <strong>der</strong> wenig lustvollen Lektüre dieses Doppelbandes sich wirklich<br />

unsicher ist, ob man zum Thema Übertragungsliebe nun reife Früchte o<strong>der</strong><br />

Dörrobst geerntet hat.<br />

David Mann (1999) versteht die Enthaltsamkeit englischer Autoren zur<br />

Übertragungsliebe so:<br />

„Da es unwahrscheinlich ist, dass Patienten schlicht aus geographischen<br />

Gründen unterschiedliches Material präsentieren, müssen wir annehmen,<br />

dass hier auch kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. So hat die britische<br />

Schule mit großem Elan die Aggressivität erforscht, am Erotischen aber<br />

offenbar weniger Interesse gezeigt. Vielleicht spiegelt diese Haltung jenes<br />

größere Unbehagen gegenüber sexuellen Dingen wi<strong>der</strong>, das <strong>der</strong> englische<br />

Dramatiker Brian Rix in seiner Farce „No sex please, we’re British“ so vortrefflich<br />

charakterisiert hat“ (D. Mann 1999, S. 51f.).<br />

Zwischenzeitlich nimmt <strong>der</strong> Diskurs über die Liebe im psychotherapeutischen<br />

Prozess erheblich zu, was Franz Wellendorf 2006 in seinem Eröffnungsreferat<br />

zur Jahrestagung <strong>der</strong> Deutschen Psychoanalytischen<br />

Gesellschaft zu folgen<strong>der</strong> Standbildbetrachtung veranlasst:<br />

„Im Grundsätzlichen besteht Einigung: Es gibt heute keine psychoanalytische<br />

Position, die die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> Liebe und <strong>der</strong> Übertragung<br />

in <strong>der</strong> Kur bestreiten würde. Was sie aber sind und welche Bedeutung<br />

ihnen in <strong>der</strong> Kur zukommt, wird in verschiedenen psychoanalytischen<br />

Gruppen unterschiedlich verstanden“ (F. Wellendorf 2007, S. 23).<br />

Er bezeichnet die Übertragung und damit auch die Übertragungsliebe als<br />

„Schlachtfeld“ für Kontroversen innerhalb <strong>der</strong> psychoanalytischen Gemeinschaft,<br />

auf dem, wie es scheint, ein Kampf um eine nicht geringe Verantwortlichkeit<br />

ausgetragen wird: „Debattiert wird die Frage, ob die Übertragung<br />

spontan entsteht, o<strong>der</strong> dadurch provoziert wird, dass <strong>der</strong> Analytiker<br />

implizit zu ihr einlädt, indem er das Setting vorschlägt und sich in<br />

einer Position platziert, die beim Patienten eine Liebesreaktion induziert“<br />

(A. Green 2005, S. 11, zit. n. F. Wellendorf 2007, S. 23 f.). Infrage<br />

gestellt wird demnach nicht mehr, dass sich in je<strong>der</strong> psychoanalytischen<br />

Behandlung eine Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik einstellt, die<br />

„im Kern ein wie auch immer verzerrtes Liebesgeschehen ist“ (F.<br />

Wellendorf 2007, S. 42).<br />

Allerdings besteht nach wie vor eine beträchtliche Divergenz <strong>der</strong> Argumentationslinien<br />

in den verschiedenen Gruppierungen, ohne dies als<br />

Nachteil zu werten, kann es doch zu einer Klarifizierung <strong>der</strong> eigenen<br />

inneren Haltung zur Übertragungsliebe im psychotherapeutischen Prozess<br />

beitragen.<br />

15


Ein extremer Pol auf dem Kontinuum <strong>der</strong> Übertragungsliebe wird nach wie<br />

vor von <strong>der</strong> libidophoben Gruppe von Autoren besetzt, die unter Missverstehen<br />

von Freuds Konzeption die Übertragungsliebe als Wi<strong>der</strong>standsphänomen<br />

deklarieren und als solches behandeln. Sie bezeichnen die Übertragungsliebe<br />

nicht mehr als das, was es ist, Liebe, son<strong>der</strong>n beschreiben<br />

sie als erotische, erotisierte o<strong>der</strong> sexualisierte Übertragung bis hin zu Ivri<br />

Kumin’s „erotic horror“ (1986), als Schreckgespenst erotischer und triebhafter<br />

Wünsche im Analysanden und im Analytiker: No love please, we’re<br />

american analysts!<br />

Eine scheinbar fortschrittliche Gruppe behält den Begriff <strong>der</strong> Übertragungsliebe<br />

bei, betreibt jedoch die Entsexualisierung <strong>der</strong> Liebe bis hin zur<br />

Auflösung <strong>der</strong> Körperlichkeit, was in Jessica Benjamin’s Konzept <strong>der</strong><br />

„Engelübertragung“ kulminiert; die an <strong>der</strong> relationalen <strong>Psychoanalyse</strong><br />

orientierte Kollegin verabschiedet sich von <strong>der</strong> Triebtheorie mit den Worten:<br />

"Die Vorstellung von <strong>der</strong> Übertragungsliebe als Ort des Kampfes<br />

zwischen Analytiker und Patient gegen die Triebe, in dem <strong>der</strong> Analytiker<br />

nur den idealisierten Wissenden und Mächtigen repräsentiert, erscheint<br />

antiquiert." (1993, S. 124, zitiert nach A. Koellreuter 2010).<br />

Einem schicksalhaften Prozess gleich fällt <strong>der</strong> Schwefelgeruch des Leibhaftigen<br />

aus den Anfängen <strong>der</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> dem Weihrauch <strong>der</strong> Engelübertragung<br />

zum Opfer und kann nun endlich zu einer unbefleckten psychoanalytischen<br />

Empfängnis führen.<br />

Seit geraumer Zeit formiert sich international eine Position, die <strong>der</strong> Übertragungsliebe<br />

zwar den Charakter echter Liebe zuerkennt. Was auf den<br />

ersten Blick vielversprechend erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung<br />

als Warnruf vor einer angeblich „dunklen Seite <strong>der</strong> Liebe“,<br />

womit die Übertragungsliebe letztendlich doch wie<strong>der</strong> als Wi<strong>der</strong>standsphänomen<br />

definiert wird – Man könnte diese Konzeption auch als "Darth<br />

Va<strong>der</strong> ES waiting for you!" beschreiben.<br />

Einen Gegenpol zum „erotic horror“ nimmt die Haltung des „self-disclosure“<br />

ein; die Mitteilung von Liebesgefühlen des Analytikers dem Patienten<br />

gegenüber dann, wenn es dem therapeutischen Prozess dient!<br />

Siegfried Bettighofer kommt in seiner Untersuchung „Sexualität zwischen<br />

Verdrängen und Agieren“ (2001), in <strong>der</strong> er eine „mo<strong>der</strong>ne <strong>Psychoanalyse</strong>“<br />

mit Ansätzen erlebnisaktiver, handlungsorientierter, systemischer und<br />

körpertherapeutischer Art ortet, zu dem Schluss: „Das bedeutet, dass<br />

Übertragungsliebe eine ganz normale Liebe ist. Natürlich beinhaltet sie<br />

auch neurotische Anteile wie jede Liebesbeziehung im Alltag auch. Es gibt<br />

keinen Unterschied zwischen Übertragungsliebe und Alltagsliebe“ (S. Bettighofer<br />

2001, S. 112).<br />

Hansjörg Pfannschmidt (2001) versucht ebenfalls die <strong>der</strong> Verdrängung anheim<br />

gefallenen Themen von Liebe und Sexualität wie<strong>der</strong> dort einzusetzen,<br />

wo ihr Platz ist, nämlich im Zentrum des analytischen Geschehens,<br />

lehnt jedoch begründet und aus eigener Erfahrung die Integration körper-<br />

16


therapeutischer Elemente in die psychoanalytische Behandlung ab. Er versteht<br />

zudem Aggression, Hass, Verachtung und Entwertung durch den<br />

Analysanden als Abwehr <strong>der</strong> Übertragungsliebe.<br />

In seiner Arbeit ""Gebrauch <strong>der</strong> Lüste" in <strong>der</strong> Analysestunde. O<strong>der</strong>: Warum<br />

es so schwer zu sein scheint, <strong>Psychoanalyse</strong> und Erotik unter einen<br />

Hut zu bekommen", versucht Hansjörg Pfannschmidt in Erweiterung des<br />

Begriffs vom "Übergangsraum" Winnicott's die Vorstellung eines erotischsexuellen<br />

Spielraumes zu entwickeln, "in dem eine Form <strong>der</strong> Abstinenz<br />

möglich wird, die den Wi<strong>der</strong>spruch von Ersatzbefriedigung und Triebverzicht<br />

aufhebt" (H. Pfannschmidt 1998, S. 365), indem <strong>der</strong> Analytiker<br />

"einen Raum für Liebe und Begehren bereitstellt, indem jede Regung und<br />

jede emotionale, d. h. körperlich erlebte und damit für das Körpergefühl<br />

wirksame Berührung angenehmer, beängstigen<strong>der</strong>, bedrohlicher,<br />

ekelhafter, erregen<strong>der</strong> und abartiger Art erlebt, vermittelt und von allem<br />

ausgesprochen werden kann [an<strong>der</strong>erseits gelte dies nur] unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />

dass und solange sie nicht physisch umgesetzt wird, denn die physische<br />

Berührung manipuliert massiv den körperlichen Fantasieraum des<br />

Patienten und zwar <strong>der</strong>gestalt, dass sich eine Körperfantasie nicht mehr<br />

frei und ungestört entfalten kann, son<strong>der</strong>n durch das Erleben des Körpergefühles<br />

des Analytikers überdeckt wird.<br />

Ich behaupte, dass das Nicht-Physisch-Realisieren <strong>der</strong> erotischen Berührung<br />

in <strong>der</strong> Analyse das körperliche Erleben <strong>der</strong> Sexualität und damit <strong>der</strong><br />

Körperlichkeit selbst ermöglicht. Umgekehrt gilt, dass die Reduzierung des<br />

Erlebens <strong>der</strong> Sexualität und <strong>der</strong> Erotik die Körperlichkeit reduziert. Wenn<br />

wir diese Körperlichkeit in <strong>der</strong> Analyse zulassen, wird sehr schnell spürbar,<br />

dass es sich bei dieser Art <strong>der</strong> Abstinenz nicht um Verzicht, son<strong>der</strong>n im<br />

Gegenteil um eine ganz spezifische Art <strong>der</strong> Erfüllung handelt“ (H. Pfannschmidt<br />

2001, S. 148).<br />

In <strong>der</strong> Einführung zur Tagung <strong>der</strong> Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung<br />

2008 zum Thema „Gefährdete Begegnung. Psychoanalytische Arbeit<br />

im Spannungsfeld von Abstinenz und Intimität“ wird die Gegenübertragungsliebe<br />

als wichtige Fähigkeit des Analytikers erklärt: „Was könnte ich<br />

von meinen Patienten verstehen, wenn ich sie nicht liebte? Die Gegenübertragungsliebe<br />

ist meine Fähigkeit, mich in ihre Lage zu versetzen, zu<br />

träumen, zu leiden, als wäre ich sie, flüchtige Momente <strong>der</strong> Identifizierung,<br />

provisorische Verschmelzung. Vergesse ich, dass ich von Anbeginn<br />

an in die Liebe – und damit auch in den Hass – verstrickt bin, mache ich<br />

zwangsläufig keine Analyse“ (Schlesinger-Kipp/Ved<strong>der</strong> 2008, S. 8).<br />

Im Anschluss daran wird das Pendant <strong>der</strong> Gegenübertragungsliebe des<br />

Analytikers, nämlich die Übertragungsliebe des Patienten allerdings zum<br />

Wi<strong>der</strong>stand erklärt: „Dies wird häufig zusammen mit dem letzten Gedankenschluss<br />

Freuds zur Übertragungsliebe gern vergessen: Sie ist ein<br />

Wi<strong>der</strong>stand“ (ebd., S. 9). Dieses Missverstehen von Freuds Ausführungen<br />

zur Übertragungsliebe überrascht nun nicht mehr, ist jedoch beachtenswert;<br />

betont Freud doch, dass Übertragungsliebe Liebe ist und kein Wi<strong>der</strong>stand,<br />

son<strong>der</strong>n dass sich <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Liebe bedient! Und das ist ein<br />

17


wesentlicher Unterschied! – Abgesehen davon, dass die Gegenübertragungsliebe,<br />

die besser Übertragungsliebe des Analytikers genannt werden<br />

sollte, als wichtige Fähigkeit beschrieben wird, warum die Übertragungsliebe<br />

des Patienten dann als Wi<strong>der</strong>stand? Und wenn die Übertragungsliebe<br />

des Patienten Wi<strong>der</strong>stand wäre, warum dann nicht auch die Gegenübertragungsliebe<br />

des Analytikers o<strong>der</strong> Psychotherapeuten?<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, falls Ihnen, dem wach gebliebenen<br />

harten Kern während meiner Ausführungen Zweifel gekommen sein<br />

sollten, was ich sehr hoffe, denken Sie bitte daran: „In dubio pro libido!“<br />

Ich hoffe deutlich gemacht zuhaben:<br />

"Wenn mir ein Patient nicht mehr aus dem Kopf geht, weil ich mich so<br />

sehr hingezogen fühle", dann ist Übertragungsliebe im Spiel.<br />

Diese Übertragungsliebe im psychotherapeutischen Prozeß ist Liebe, und<br />

Liebe ist immer auch, jedoch nicht nur, Übertragung. Dies gilt es anzuerkennen<br />

und im Schutz des Abstinenzgebotes geschehen zu lassen, was<br />

die Frage <strong>der</strong> inneren Haltung betrifft, die dem Psychotherapeuten und<br />

Psychoanalytiker eigen ist, noch bevor die Liebesgefühle auf <strong>der</strong> einen<br />

o<strong>der</strong> auf beiden Seiten eine Eingrenzung erfor<strong>der</strong>n und kann dennoch erst<br />

gefunden werden, wenn diese einzigartige Begegnung stattfindet, die wir<br />

Psychotherapie o<strong>der</strong> Psychoanalye nennen. Diese Haltung macht sich je<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> Psychotherapie o<strong>der</strong> <strong>Psychoanalyse</strong> praktiziert als Grundeinstellung<br />

in verschiedener Weise zu eigen und hat ihren Platz in einer psychoanalytisch-psychotherapeutischen<br />

Ethik gefunden.<br />

Für die INEMURI-Fraktion unter Ihnen beende ich meinen Vortrag mit<br />

einem Wort meines Kollegen Mathias Hirsch: "Liebe in <strong>der</strong> Analyse und<br />

Therapie ist durchaus eine reale affektive Beziehungsqualität. Nicht die<br />

Existenz <strong>der</strong> Liebe zwischen Analytiker und Analysand ist gefährlich o<strong>der</strong><br />

antitherapuetisch, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> nicht-professionelle Umgang mit ihr - sie<br />

nämlich entwe<strong>der</strong> zu unterdrücken und zu verleugnen o<strong>der</strong> in die Realität<br />

hinein auszuagieren." (Hirsch 1997, S. 120)<br />

Literaturempfehlung:<br />

Krutzenbichler/Essers (2010) Psychosozial-Verlag<br />

Übertragungsliebe. Psychoanalytische Erkundungen zu einem brisanten<br />

Phänomen.<br />

Dort finden Sie auch weitere Literaturhinweise.<br />

© Sebastian Krutzenbichler, Diplom-Psychologe, Bad Berleburg<br />

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