Volltext - Institut für Slawistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Thede KAHL (Wien)<br />
nterdiszi linäre Beiträge<br />
zum pannungsfeld ehrhei in<strong>der</strong>heit im<br />
urbanen Raum<br />
Intereth ische Bezie ungen vo<br />
hristen und Muslimen:<br />
ort odoxen<br />
Fragen und Methoden <strong>der</strong> Erforschung interreligiöser<br />
Koexistenz in Sudosteuropa<br />
1. Intention des Beitrags‘<br />
Herausgegeben von Spätestens seit <strong>der</strong> Diskussion um den „Kampf <strong>der</strong> Kulturen“<br />
Astrid Honigsperger<br />
(Huntington 1996) ist die Problematik <strong>der</strong> mterethrnschen Koexistenz<br />
UflU<br />
von Christen und Muslimen von höchster Aktualität und nimmt<br />
Fritz Peter Kirsch<br />
einen wohl nie da gewesenen Platz in den Massemnedien ein. Dabei<br />
dreht sich die Diskussion zumindest in Westeuropa und Amerika in<br />
<strong>der</strong> Regel um relativ junge Symbiosen, bei denen es oft weniger um<br />
die religiöse Zugehörigkeit geht als um die Unterscheidung in<br />
Internationales Zentrum<br />
Einheimische und Zuwan<strong>der</strong>er, da die Anwesenheit <strong>der</strong> Muslime im<br />
flur Europäische Nationalismus- und Min<strong>der</strong>heitenforschung<br />
„Westen“ ein junges Phänomen darstellt. Der Südosten Europas hat<br />
(IZENIJM) durch griechisch-orthodoxen die überwiegende Kirche Zugehörigkeit einerseits und seiner durch Bevölkerung seine fünfhun zur<br />
<strong>der</strong>tjährige Existenz des Osmanischen Reiches an<strong>der</strong>erseits eine völlig<br />
an<strong>der</strong>e Symbiosesituation als das übrige Europa. In <strong>der</strong> westeuro<br />
päischen Geschichtsschreibung meist negativ konnotiert, hat die<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te lange Koexistenz-Erfahflmg auch friedliche Symbiosen<br />
Wien 2005<br />
hervorgebracht.<br />
Angesichts <strong>der</strong> Re-Ethnisierung von Politik im östlichen Europa<br />
kann die Untersuchung von Religionsgemeinschaftefl in unter-<br />
/ _.5i~‘ ? 93‘t‘ 20 Vi i37 ..5 ‘Für hilfreiche Hinweise zur Entwicklung des vorliegenden Beitrags danke ich den<br />
Kolleginnen und Kollegen Dr. Gerassimos Katsaros, Prof. Waitraut Kokot, Prof. Karin<br />
Liebhart, Prof. Cay Lienau, Prof. Gabriele Rasuly-Paleczek, Dr. Maria Six-Hohenbalken,<br />
Prof. Hohn Sundhaussen und Prof. Stefan Troebst.
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schiedlichen Zonen zu differenzierten Einsichten in Aspekte ethnischer<br />
und kultureller Identifikationsprozesse führen. Sie kann auch daröber<br />
aufklären, wie sich Religions- und Kulturbewusstsein, Bewertungen<br />
und Attittiden artikulieren und wie Konflikte aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> partizi<br />
pierenden Mteure beurteilt werden. Derartige Erkenntnisse erweitern<br />
das Wissen über die interethnischen Beziehungen in Europa und<br />
ergeben Möglichkeiten <strong>der</strong> Entwicklung multikultureller Koexistenzmodelle.<br />
Trotz intensiver Beschäftigung mit interethnischen Beziehungen<br />
Südosteuropas an westeuropäischen und amerikanischen <strong>Institut</strong>ionen<br />
herrscht ein Mangel an Experten, die sich über den Schreibtisch hinaus<br />
mit den Verhältnissen in den Län<strong>der</strong>n, ihren Menschen, Kulturen (beson<br />
<strong>der</strong>s Sprachen, Religionen), Lebensformen sehr gut auskennen und ihr<br />
Wissen nicht nur einem kleinen Wissenschaftlerkreis präsentieren.<br />
Feldaufenthalte können dem Forscher zum Teil dieses Wissen vermitteln.<br />
Außerdem kann Feldforschung zur Aufhellung aktueller Situationen eth<br />
nischer und religiöser Konflikte sowie zur wissenschaftlichen<br />
Grundlegung von religiös-politisch unterlegten Konfliktlösungsstrategjen<br />
und damit zum Erkennen und zur Lösung von Konflikten im zusam<br />
menwachsenden Europa beitragen. Da die meisten Untersuchungen<br />
konfliktorientiert angelegt sind, hat sich die bisherige Forschung stark auf<br />
Räume wie Bosnien und Kosovo beschränkt. Hingegen fehlen<br />
Untersuchungen aus den konfessionell gemischten Räumen<br />
Südosteuropas, die von schweren Konflikten weitgehend verschont<br />
geblieben sind.<br />
Ein Anliegen des vorliegenden Beitrages ist es daher, das Augenmerk<br />
<strong>der</strong> multidisziplinären interethnischen Koexistenzforschung auf den<br />
südosteuropäischen Raum zu richten, um vertiefte Einsichten in die komp<br />
lizierten ethnischen Strukturen des Raumes sowie in die Mechanismen<br />
zu ermöglichen, welche die spezifischen Prägungen des Mit- und<br />
Nebeneinan<strong>der</strong> in konfessionell gemischten Regionen bedingen. Dabei<br />
sollen verschiedene Fragen, Methoden und Theorien <strong>der</strong> kulturgeo<br />
graphischen und ethnologischen Feldforschung einer Prüfung<br />
auf Praxistauglichiceit unterzogen werden. Der Beitrag basiert auf<br />
Erfahrungen im Bereich <strong>der</strong> Feldforschung, die im Rahmen verschiedener<br />
Forschungsprojekte2 gemacht werden konnten.<br />
2. Interethnisches und interreligiöses Zusammenleben in<br />
Südosteuropa<br />
Mit <strong>der</strong> Eroberung Südosteuropas durch die Osmanen än<strong>der</strong>ten sich die<br />
Bevölkerungsverhältnisse, die im bis dahin weitgehend byzantinischorthodox<br />
geprägten Südosteuropa geherrscht hatten, grundlegend. Die<br />
Islamisierung einheimischer Bevölkerungsgruppen einerseits (v.a.<br />
Bosnier, die Mehrheit <strong>der</strong> Alb aner, Pomaken3) sowie die Einwan<strong>der</strong>ung<br />
muslimischer Bevölkerungsgruppen an<strong>der</strong>erseits (v.a. Türken, Jürüken4<br />
aus Kleinasien und Tataren5 aus dem Norden) ließen mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
ausgedehnte muslimische und zahlreiche gemischte christlich-muslimi<br />
sche Siedlungsräume entstehen, die sich z.T. bis heute gehalten haben.<br />
2 (a) Einjähriger Feldaufenthalt zu den Aromunen Südosteuropas im Rahmen meiner<br />
Dissertation;<br />
(b) Feldaufenthalte in Griechenland, Rumänien, <strong>der</strong> Türkei und <strong>der</strong> Republik<br />
Makedonien (FYROM) für das Projekt „Typen <strong>der</strong> Selbstidentifikation meglenitischer<br />
Vlachen“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Projektleitung Prof. Cay Lienau);<br />
(c) Studienprojekt <strong>der</strong> Universtät Münster zum Thema „Siedlung und Bevöllcerung in<br />
<strong>der</strong> rumänischen Dobrudscha“ unter meiner Leitung;<br />
(d) Feldaufenthalte zur Untersuchung <strong>der</strong> interethnischen Koexistenz von Muslimen<br />
und Christen in <strong>der</strong> rumänischen Dobrudscha sowie dem griechischen West-Thrakien<br />
(Pretest eines Projektes, für das bislang kein För<strong>der</strong>er gefunden werden konnte);<br />
(e) Sprachaufnahmen für den „Kleinen Balkan-Sprachatlas“ <strong>der</strong> Russischen<br />
Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften in St. Petersburg und <strong>der</strong> Universität Marburg/Lahn<br />
(Gemeinschaftsprojekt <strong>der</strong> Deutschen Forschungsgemeinschaft und <strong>der</strong> Russischen<br />
Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften, Projektleitung Prof. Helmut Schaller)<br />
‘Vermutlich im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t islamisierte Bevölkerung, die v.a. in den Rhodopen und<br />
den in Ostmakedonien angrenzenden Gebirgen lebt und <strong>der</strong>en Sprache (Pomakisch) auch<br />
als Dialekt des Bulgarischen gesehen wird.<br />
~ Zentralanatolien eingewan<strong>der</strong>te Hirtemiomaden, die heute fast gänzlich abgewan<br />
<strong>der</strong>t bzw. assimiliert sind.<br />
‘Die muslimischen Tataren wan<strong>der</strong>ten in drei Wellen in die Dobrudscha ein. Bis heute<br />
haben sich Unterschiede zwischen den tatarischen Gruppen bewahrt, die sich v.a. im<br />
Dialekt zeigen (die Mehrheit spricht Krim-Tatarisch [Icjrjim tili], eine weitere große<br />
Gruppe spricht Noghai {noghai tili], und entlang des Schwarzen Meeres findet man den<br />
Küstendialekt [yaliboyi tilij).
~\<br />
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71<br />
1<br />
~!‘ lt<br />
Die IslamisierUflg ansässiger Bevölkerungsgruppen erfolgte überwiegend<br />
im 16. bis 18. Jahrhun<strong>der</strong>t und hielt bis zum Zerfall des Osmanischen<br />
Reiches an. In osmanischer Zeit scheinen sich im Vergleich zu heute<br />
zumindest die benachbarten ethnischen Gruppen Südosteuropas vielfach<br />
besser gekannt und durchaus miteinan<strong>der</strong> vereinbare Wertsysteme gehabt<br />
zu haben. Vor allem waren sie trotz unterschiedlicher Konfession lange<br />
Zeit durch gemeinsamen Volksglauben (Georgieva 1999, 76f.) miteinan<br />
<strong>der</strong> verbunden.<br />
Bis in die heutige Zeit sind die südosteuropäischen Siedlungsverhäh<br />
nisse immer wie<strong>der</strong> starken Verän<strong>der</strong>ungen unterworfen gewesen. Große<br />
muslimische Bevölkerungsgruppen, die in Südosteuropa über<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg gelebt und ihr Umfeld geprägt haben — so wie viele<br />
Bosnier, Albaner, Pomaken, Türken —‚ sind teils freiwillig, teils<br />
gezwungenermaßen bzw. aus opportunistischen Gründen in jüngerer Zeit<br />
ausgewan<strong>der</strong>t (v.a. in die Türkei, hierzu Apostolov 1996, Zhelyaskova<br />
1998). Manche Gebiete, in denen bis vor kurzem gemischte Siedlungen<br />
existierten, sind durch Abwan<strong>der</strong>ung einheimischer bzw. durch<br />
Ansiedlung an<strong>der</strong>sgläubiger Bevölkerungsgruppen heute konfessionell<br />
weitestgehend einheitlich (so z.B. bis auf Thrakien ganz Griechenland,<br />
das bis 1922 große muslimische Bevölkerungsgruppen beheimatete). Die<br />
Verbreitung <strong>der</strong> muslimischen Bevölkerungsgruppen in Südosteuropa ist<br />
daher seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches zurückgegangen.<br />
Dennoch gibt es in allen Län<strong>der</strong>n des Balkans bedeutende muslimische<br />
Min<strong>der</strong>heiten.<br />
Betrachtet man die Verteilung <strong>der</strong> muslimischen Siedlungsgebiete in<br />
Südosteuropa, kann man Konzentrationen im westlichen und östlichen<br />
Bereich <strong>der</strong> Halbinsel feststellen. Im Westen ist es zum Nebeneinan<strong>der</strong><br />
von Serben, (Slawo-)Makedoniern, Griechen und orthodoxen Albanern<br />
mit Bosniaken, Sancak-Türken und muslimischen Albanern gekommen,<br />
im Osten von Bulgaren, Griechen und Rumänen mit Türken, Tataren,<br />
muslimischen Roma und Pomaken.<br />
Heute weisen die Län<strong>der</strong> Südosteuropas Regionen von außeror<br />
dentlicher ethnischer und sprachlich-kultureller Vielfalt und Komplexität<br />
auf, die einerseits ein politisches Konfliktpotential in sich bergen, an<strong>der</strong><br />
erseits aber auch Beispiele konfliktarmer und solidarischer Koexistenz<br />
unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen bieten. Bei einem Teil <strong>der</strong><br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen handelt es sich um Konflikte, die sich an religiösen<br />
Unterschieden festmachen lassen. Viele Konflikte wurzeln in <strong>der</strong> Zeit<br />
nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Nationalstaaten, als das flur das Osmanische Reich<br />
charakteristische „Prinzip interethnischer Koexistenz“ (Roth 2000, 12)<br />
aufgegeben wurde. Südosteuropa beherbergt in vielerlei Hinsicht prämo<br />
<strong>der</strong>ne Regionen, in• denen Identitätsprozesse vorliegen, die starke<br />
Elemente von Nähe und Differenz, von Kollektivität und Individualität im<br />
Gleichgewicht gehalten haben (Lönnqvist 2000, 136). Viele Räume<br />
Südosteuropas sind multiethnische und mehrsprachige Grenzregionen, die<br />
im Verlauf des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts durch Verschiebungen <strong>der</strong> Staatsgrenzen,<br />
Umsiedlungen und Deportationen einen Wechsel <strong>der</strong> herrschenden<br />
Gruppen erlebt haben. Manche Räume wurden Zielscheibe einer intensi<br />
ven Ent- o<strong>der</strong> Besiedlungspolitik, an<strong>der</strong>e lernten eine Vergeltungspolitik<br />
o<strong>der</strong> gar ethnische „Säuberungen“ kennen. Auch wenn einige Jahre nach<br />
<strong>der</strong> Konsolidierung <strong>der</strong> Staatsgrenzen eine Enttabuisierung dieser<br />
Problematik stattfindet, gibt es nur vereinzelte Zeugnisse darüber, wie die<br />
politischen Verwerfungen individuell erlebt worden sind, wie induzierte<br />
Herrschaftsmechanismen funktionier(t)en und wie <strong>der</strong> Einzelne intereth<br />
nische Beziehungen erlebt, wie er seine Identität über seine Kultur und<br />
Religion zugeschrieben bekommt bzw. sich selbst zuschreibt.<br />
In vielen Aspekten ist <strong>der</strong> Kenntnisstand über interethnische<br />
Beziehungen in den Län<strong>der</strong>n Südosteuropas noch nicht ausreichend.<br />
Vergleichbare Studien liegen z.B. aus Ostmitteleuropa in viel höherer<br />
Zahl vor. Es existieren Arbeiten zu Ausbildung und Schulsystem <strong>der</strong><br />
Min<strong>der</strong>heiten sowie zum Verhältnis <strong>der</strong> Titularnationen zu ihren<br />
Min<strong>der</strong>heiten. Auch die Kenntnisse über die politische Situation und den<br />
Min<strong>der</strong>heitenstatus einzelner orthodoxer bzw. muslimischer Ethnien sind<br />
vergleichsweise als gut zu bezeichnen. Hingegen standen Aspeld~ ihres<br />
Selbst- und Fremdbildes und ihrer Koexistenz insbeson<strong>der</strong>e in gemisch<br />
ten Siedlungen bisher nicht im Zentrum des Forschungsinteresses. Vor<br />
dem Hintergrund damit zusammenhängen<strong>der</strong> raumbezogener politischer<br />
Konflikte sind die Positionen <strong>der</strong> Verfasser nicht selten extremistisch.<br />
Allgemein mangelt es an vermittelnden Positionen, die auf Gefahren <strong>der</strong><br />
Polarisierung hinweisen.
72 73<br />
3. Theorie<br />
Spätestens seit Goffman (1967) und Mead (1968) wird Identität6 sowohl<br />
in ihrer persönlich-individuellen Dimension als auch in ihrer sozialen,<br />
durch Gruppenzugehörigkeit und Fremdzuweisung bestimmten<br />
Dimension begriffen und die Identitätsbildung entsprechend als abhängig<br />
von Selbst- und Fremdwahrnehmung gesehen. Daher sollte versucht wer<br />
den, sich dem Problem sowohl aus <strong>der</strong> Innenperspektive als auch aus <strong>der</strong><br />
Perspektive <strong>der</strong> Kontaktgemeinschaften zu nähern. Im Sinn~ des symbol<br />
ischen Interaktjonismus (Goffman) sind Individuen in determinante<br />
soziale Netzwerke und communities of practice eingebettet. An <strong>der</strong><br />
Existenz eines kollektiven Bewusstseins, eines Wir-Gruppenbe<br />
wusstseins, kann kein Zweifel bestehen, genauso wenig daran, dass<br />
Selbst- und Fremdzuschreibungen und die daraus sich ergebenden „eth<br />
nischen Grenzziehungen“ (Barth 1969) immerzu in Verän<strong>der</strong>ung begriff<br />
en sind. Viele Vertreter ethnischer Gruppen werden in <strong>der</strong> EU<br />
Erweiterung auch die Chance. einer Stärkung <strong>der</strong> eigenen Identität und<br />
Kultur sehen. Ein Zuwachs an kultureller Diversität ist vielerorts schon zu<br />
spüren (Brezovszky et al. 1999, 73), es bildet sich zunehmend eine „Welt<br />
in Stücken“ (Geertz 1996), eine sehr fragmentierte Welt mit steigendem<br />
Individualisierungsprozess. Fragen zu Ethnizität, Identität und intereth<br />
nischen Beziehungen7 sind seit den 1980er Jahren auch ein Interessens<br />
gebiet <strong>der</strong> Kulturgeographie, in <strong>der</strong> sie nicht essentialistisch, son<strong>der</strong>n rela<br />
tional und dynamisch (Knox & Marston 2001, 254) begriffen werden.<br />
Die Erstellung und Interpretation von Biographien bilden einen<br />
Schwerpunkt <strong>der</strong> Identitätsforschung (s. Gedächtnistheorie von Luck<br />
6 Identität ist ein Selbstverständnis <strong>der</strong> Menschen, ein Bewusstsein von bestimmten<br />
Merkmalen, die durch Anerkennung, Nichtanerkennung und Vericennung an<strong>der</strong>er geprägt<br />
werden (Taylor 1993, 13).<br />
Den Terminus interethnische Beziehungen möchte ich nicht im weitgefassten Sinn als<br />
sämtliche Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen o<strong>der</strong> Individuen verstehen, son<strong>der</strong>n<br />
im engeren Sinne verstanden wissen als dynamische Prozesse zwischen ethnischen<br />
Gruppen o<strong>der</strong> Individuen, bei denen Ethnizität von Bedeutung ist (vgl. Zink 1996, 42f.)<br />
sowie als „organisierte Sozialgebilde mit einem aufeinan<strong>der</strong>bezogenen Handeln und be<br />
stimmten, historisch wechselnden Normvorstellungen“ (Weber-Kellermann 1978, 18).<br />
mann 1992 und Biographietheorie von Dausien & Alheit 1985).<br />
Dabei sei in Übereinstimmung mit Haarmarin (1996) <strong>der</strong> prozessuale<br />
Charakter <strong>der</strong> Konstituierung von Identität unterstrichen, <strong>der</strong> sich aus den<br />
Biographien als Lebensabläufe ergibt. In den Prozessen soziolcultureller<br />
und ethuischer Identifikation nimmt Religion einen vorrangigen Platz ein.<br />
Ethnische Identifikation als Reflex von Alteritätserfahrung ist ein<br />
wesentliches Element <strong>der</strong> Konstituierung von individueller Identität und<br />
<strong>der</strong> Partizipation an kollektiver Identität, <strong>der</strong> eigenen Zuordnung zu einer<br />
religiös bestimmten Gemeinschaft ebenso wie <strong>der</strong> Abgrenzung gegenüber<br />
(einer) an<strong>der</strong>en.<br />
Tritt die religiöse Identifikation in einer einheitlichen religiösen<br />
Umgebung in den Hintergrund, so erweist sie sich in Situationen und<br />
Räumen, in denen <strong>der</strong> Umgang mit an<strong>der</strong>en Religionen zum Alltag<br />
gehört, als wesentlich komplexer. Positive wie negative Erfahrungen mit<br />
Herrschaft (sei es als Privilegierung o<strong>der</strong> Diskriminierung <strong>der</strong> eigenen<br />
Religion, als Verweigerung des Rechts, die eigene Religion in <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit überhaupt, nur bei bestimmten Gelegenheiten o<strong>der</strong> unter<br />
Einhaltung unbequemer sozialer Normzwänge auszuüben), Haltungen<br />
an<strong>der</strong>er gegenüber eigenen religiösen Praktiken, aber auch Erfahrungen<br />
des Zugangs zur an<strong>der</strong>en Gemeinschaft — alles dies lässt eine stets neu<br />
konstituierte Textur erkennen, aus <strong>der</strong> sowohl Krisenmomen~‘ beim<br />
Einzelnen als auch Spannungen zwischen religiös determinierten<br />
Gemeinschaften und Erscheinungen von gruppeninterner und gruppenex<br />
terner Solidarität entstehen. Die Gewohnheit, mit Angehörigen einer<br />
an<strong>der</strong>en Religion dieselbe Sprache zu reden, lässt im täglichen Umgang<br />
mit dem an<strong>der</strong>en einerseits das Fremdheitsgefühl geringer sein (insbeson<br />
<strong>der</strong>e bei mehrsprachigen Interakteuren); an<strong>der</strong>erseits kommt es dabei häu<br />
fig zu Abgrenzungen und Ablehnungen des an<strong>der</strong>en, vor allem, wenn dies<br />
an negative persönlich-unmittelbare o<strong>der</strong> vermittelte Erfahrungen<br />
geknüpft ist.<br />
Für die Bestimmung des Min<strong>der</strong>heitenbegriffs müssen sowohl objektive<br />
(Sprache, Herkunft, Gesellschaftsstruktur, gemeinsame Geschichte) als<br />
auch subjektive (Wir-Bewusstsein, staatsbürgerliches Verhalten)<br />
Min<strong>der</strong>heitskategorien bemüht werden (Modelle nach Haarmann 1983,<br />
21-42). Min<strong>der</strong>heiten werden im Multikulturalismus in <strong>der</strong> Regel nicht
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eben dazu ermutigt, sich als separate Nationen mit Selbstverwaltung und<br />
eigenen öffentlichen <strong>Institut</strong>ionen zu begreifen (Kymlicka 1999, 70), und<br />
werden daher oft gehin<strong>der</strong>t, sich entsprechend zu verhalten (Bauböck<br />
1999). Um den pluralistischen o<strong>der</strong> kosmopolitischen Nationalismus von<br />
Min<strong>der</strong>heiten zu verstehen, darf die Rolle <strong>der</strong> Staaten bei <strong>der</strong> Verbreitung<br />
von Nationalkulturen nicht unterschätzt werden. Die Unfähigkeit, den<br />
Min<strong>der</strong>heitennationalismus zu berücksichtigen, ist nicht bloß eine<br />
Bedrohung für bestehende Grenzen, son<strong>der</strong>n auch für die Demokratie<br />
selbst und für die Existenz einer friedlichen Zivilgeseilschaft. Staaten mit<br />
geringem Min<strong>der</strong>heitennationalismus können sich weitgehend erfolgreich<br />
demokratisieren, Län<strong>der</strong> mit starkem Min<strong>der</strong>heitennationalismus machen<br />
eher schwierige Phasen durch. Um die Nationalismen zu verstehen, dient<br />
die Theorie ethnokultureller Beziehungen (Kymlicka 1999, 14), die ins<br />
beson<strong>der</strong>e auch in <strong>der</strong> Debatte Einwan<strong>der</strong>er / Einheimischer hilfreich sein<br />
kann.<br />
Man kann davon ausgehen, dass auch bei weitgehend friedlicher<br />
Koexistenz <strong>der</strong> Ethnien8 dominierende und dominierte Gruppen auszu<br />
machen sind. Selbst- und Fremdbild <strong>der</strong> Gruppen und Individuen sowie<br />
die anzutreffenden Vorurteile, Stereotypen9, Klischees und Mythen<br />
bezüglich an<strong>der</strong>er Gruppen sind die wichtigsten Faktoren für Inklusion,<br />
Exidusion, soziale und räumliche Segregation. Sie manifestieren sich<br />
auch im faktischen Verhalten von Gruppen und Individuen. So ist<br />
anzunehmen, dass die Anzahl <strong>der</strong> Privatkontakte (gemeinsam verbrachte<br />
Feste, Besuche, Musik- und an<strong>der</strong>e Freizeitveranstaltungen) mit den<br />
Angehörigen <strong>der</strong> eigenen Gruppe quantitativ und qualitativ höher ist als<br />
mit Angehörigen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Gruppe(n). Intensivere gemeinsame<br />
Der Terminus Ethnie bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf religiös<br />
definierte Gruppen, da die Religion <strong>der</strong> Balkanvöllcer im Laufe <strong>der</strong> Geschichte (v.a. durch<br />
das osmanische Millet-System) das entscheidende Zuordnungsmerkmal war, das nach <strong>der</strong><br />
Bildung <strong>der</strong> südosteuropäischen Nationalstaaten ethnisch-national überformt wurde.<br />
Stereotypen (verstanden als verfestigte, doch wandelbare Überzeugungen, die stark<br />
emotional geladen sind und meist unkritisch übernommen wurden) besitzen<br />
Komponenten, die Diskriminierungen von Mitglie<strong>der</strong>n sozialer Gruppen zum Ausdruck<br />
kommen lassen können (Roth 1999, 23). Sie lassen sich an Alter, Geschlecht und<br />
Sozialgruppe festmachen, aber auch an den beson<strong>der</strong>s bedeutsamen Merkmalen wie<br />
Religion und Ethnizität.<br />
Gestaltung <strong>der</strong> Freizeit kann zu einer besseren gegenseitigen Kenntnis<br />
und damit zu einem harmonischeren Miteinan<strong>der</strong> führen. Da sich die<br />
unterschiedliche ethnische Struktur auch auf die Art <strong>der</strong> wirtschaftlichen<br />
Tätigkeit und des Zusammenarbeitens auswirken kann, ist die<br />
Beobachtung von gemeinsamen wirtschaftlichen Aktivitäten <strong>der</strong><br />
Religionsgemeinschaften eine lohnende Aufgabe. Den negativen<br />
Einflussgrößen wie z.B. wirtschaftlicher Konkurrenz o<strong>der</strong> unter<br />
schiedlichen Freizeitbedürfnissen kommt beson<strong>der</strong>e Bedeutung zu (vgl.<br />
Kandler 1994/1997), da ein engerer Kontakt zwischen Ethnien nicht<br />
unbedingt zu größerer Harmonie führt (vgl. Esser 1993).<br />
Aufgrund des ungleichen Zugangs zu Mitteln und Ressourcen für die<br />
Menschen verfestigen sich Machtbeziehungen regelmäßig zu<br />
Herrschaftsverhältnissen (Rösener 1997, 12). Macht und Herrschaft sind<br />
keine Gegensätzlichkeiten; Giddens verankert seinen Macht- und<br />
Herrschaftsbegriff fest in <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Strukturation und verknüpft<br />
menschliches Handeln mit den Strukturen sozialer Beziehungen,<br />
Kollektive und <strong>Institut</strong>ionen. Rösener (1997, 39) verknüpft den<br />
Machtbegriff eng mit dem Handeln, da die Verwirklichung <strong>der</strong> durch<br />
Macht erzielten Ereignisse vom Handeln an<strong>der</strong>er abhängt. Bezüglich <strong>der</strong><br />
Ressourcen, auf die <strong>der</strong> Handelnde zurückgreifen kann, können je nach<br />
Art <strong>der</strong> Verfügungsgewalt allokative und autoritative Ressourcen unter<br />
schieden werden, die ihrerseits Komponenten <strong>der</strong> Herrschaftsstruktur<br />
einer Gesellschaft bilden.<br />
Ebenfalls aussagekräftig sind Sprach- und Kulturkenntnisse Einzelner.<br />
Die vollkommene Beherrschung <strong>der</strong> Sprache(n) <strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en<br />
Ethnie(n), gute Kenntnisse über kulturelles und religiöses Leben sowie<br />
ggf. Mischehen (vgl. Jähnichen 1994, 31-56), können erheblich dazu<br />
beitragen, Vorurteile gegeneinan<strong>der</strong> abzubauen und das Zusammenleben<br />
vertrauensvoller und intensiver zu gestalten. Im Hinblick auf<br />
Untersuchungen zur Segregation ist die Frage nach einem<br />
Zusammenhang zwischen Wohnverteilung und Art des Zusammenlebens<br />
konfessionell unterschiedlicher Gruppen von Bedeutung. Dort, wo sich<br />
im Siedlungsbild durch Siedeln in getrennten Siedlungen o<strong>der</strong> Vierteln<br />
(Mahalle) räumliche Segregation zeigt, müssten sich dann auch die<br />
Bevölkerungsgruppen distanzierter zueinan<strong>der</strong> verhalten und eher ge
76<br />
77<br />
trennt nebeneinan<strong>der</strong> leben, während in einer Siedlung, in <strong>der</strong> keine<br />
„ethnische Lokalität“ (Viertelbildung) auszumachen ist, eher von einer<br />
Symbiose gesprochen werden müsste. Vielerorts zeigt sich die getrennte<br />
Lebensweise <strong>der</strong> christlichen und muslimischen Bevölkerung bereits.<br />
Fassen wir mit Blotevogel (2003, 14f) gesellschaftliche Einheit und<br />
Vielfalt als „Konstruktion bestimmter Trägergruppen des Mo<strong>der</strong><br />
nisierungsprozesses“ auf, werden Ethnizität, Herkunft o<strong>der</strong> Geschlecht<br />
zum „unbestreitbaren Fundament von Identität in einer Welt gemacht, in<br />
<strong>der</strong> scheinbar alles verän<strong>der</strong>t werden kann“. Die Abkoppelung von<br />
lokalen Bindungen setzt ein „unheimliches Bedürfnis nach <strong>der</strong><br />
Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden frei“<br />
(Blotevogel 2003, 15). Individualisierung ist als Prozess <strong>der</strong> Auflösung<br />
von typischen Lebensformen für die Industriegesellschaft und <strong>der</strong>en<br />
Ablösung durch neue zu verstehen. Nach Beck (1986, 206, nach<br />
Pfaffenbach 2002, 12f) führte die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> westlichen<br />
Gesellschaften zu einer dreifachen Individualisierung: Herauslösung aus<br />
historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne tradi<br />
tionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (,Freisetzungs<br />
dimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf<br />
Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (,Entzauberungs<br />
dimension‘) und — womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr<br />
Gegenteil verkehrt wird — eine neue Art <strong>der</strong> sozialen Einbindung<br />
(,Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension‘). An die Stelle <strong>der</strong> indus<br />
triegeselischaftlichen „Nonnalbiografien“ mit dem typischen Eingebun<br />
densein in sozial vorgegebene Gruppen- und Funktionszusammenhänge<br />
(z.B. Bildungsgänge, Partnerschaftsformen, Rollenmuster) treten in <strong>der</strong><br />
entstehenden postindustriellen Gesellschaft zunehmend individuell aus<br />
differenzierte, perspektivisch oft auch „ungesicherte“ Lebensentwürfe.<br />
4. Forschungsfragen<br />
Nach einer scharfen Zielformulierung und den Überlegungen zum theo<br />
retischen Rahmen muss die Zusammenstellung <strong>der</strong> Forschungsfragen und<br />
Beobachtungsaufgaben vorbereitet werden. Bei <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong><br />
Schwerpunkte muss berücksichtigt werden, welche Fragen sich vor Ort<br />
gut beobachten lassen und welche einen beson<strong>der</strong>s hohen Indikatorwert<br />
für interethnische Beziehungen haben.<br />
Zentrale Frage <strong>der</strong> Koexistenzforschung ist, welche Formen intereth<br />
nischer Beziehungen zwischen den einzelnen muslimischen und ortho<br />
doxen Ethnien existieren, auf welchen Ebenen kulturelle, soziale und<br />
religiöse Interaktionen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften<br />
stattfinden und in welchen Bereichen die Angehörigen <strong>der</strong> jeweils<br />
an<strong>der</strong>en Gruppe ausgeschlossen werden bzw. sich selber ausschließen.<br />
Eng damit verbunden ist die Frage nach dem gemeinsamen<br />
Identitätsbewusstsein <strong>der</strong> Ethnien bzw. einzelner Angehöriger. Wenn die<br />
beiden Religionsgemeinschaften und die Ethnizität ihrer Mitglie<strong>der</strong> nicht<br />
im Vor<strong>der</strong>grund stehen sollen, son<strong>der</strong>n die Beziehungen zwischen den<br />
Gruppen, muss <strong>der</strong> Akzent auf interaktive Aspekte ethnischer Phänomene<br />
und Aspekte ihrer tatsächlichen Alltagskommunikation gelegt werden.<br />
Es kann nicht Ziel sein, interkulturelle Koexistenz nur auf lokaler Ebene<br />
zu belegen, vielmehr sollte sie auf regionalem, nationalem und<br />
verfassungsmäßigem Niveau aufgezeigt werden und sich daher erstreck<br />
en (a) auf die Erfassung <strong>der</strong> Reflexion über interethnische Beziehungen<br />
und Multiethnizität, sowie über eigene und fremde Ethnie, (b) einen<br />
Vergleich <strong>der</strong> gelebten interethnischen Beziehungen in den Kontaktzonen<br />
mit Klischees und Stereotypen sowie Urteilen über regionale<br />
Beson<strong>der</strong>heiten, (c) das Alltagsbewusstsein und die Erfahrungen mit <strong>der</strong><br />
eigenen Religion bzw. <strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en, (d) einen Vergleich öffentlich<br />
er Verlautbarungen und Bewertungen mit individuellen Erfahrungen,<br />
Erfassung <strong>der</strong> Reflexion über die Medien.<br />
Der folgende Fragekatalog ist als Maximalkatalog zu verstehen, <strong>der</strong> bei<br />
<strong>der</strong> Zusammenstellung <strong>der</strong> Frage- und Beobachtungsliste einer<br />
Forschungsaufgabe mit Feldaufenthalten helfen sollte.<br />
— Selbstbild <strong>der</strong> einzelnen Gruppen und Individuen: „ich über<br />
mich“, „wir über uns“<br />
— Wie beurteilen einzelne Gesprächspartner die Ethnie bzw.<br />
Religionsgemeinschaft, <strong>der</strong> sie sich zuschreiben? Welche Eigenbezeichnungen<br />
verwenden die Gesprächspartner für ihre eigene Gruppe in<br />
Staats- und Muttersprache?
78 79<br />
— Welche Personen werden von dem Gesprächspartner zur gleichen<br />
Gruppe gezählt und welche nicht?<br />
— Wie repräsentieren sich einzelne Angehörige <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft? Wie stellen sie sich als Gruppe dar? Welche Vereine,<br />
Parteien, Kormnunikationsmedjen und an<strong>der</strong>e <strong>Institut</strong>ionen unterstützen<br />
und befürworten sie? Welches Angebot von Aktivitäten, von kulturellem<br />
und freizeitlichem Engagement nehmen die Gesprächspartner wahr?<br />
— Lässt das „wir“ mit dem „hier“ einen direkten Bezug erkennen o<strong>der</strong><br />
steht es abgekoppelt davon, und das „wir“ weist vielmehr einen Bezug mit<br />
„Teilen von Lebensstilelementen“ (Werlen 2003, 44f) auf?<br />
— Gegenseitige Sichtweise: „ich über den/die“, „wir über die“ bzw.<br />
„<strong>der</strong>/die über mich“, „die über uns“<br />
—Wie gut sind die Kenntnisse über die jeweils an<strong>der</strong>en Gruppen? Fallen<br />
fehlende Information o<strong>der</strong> bewusste Falschinformation auf?<br />
— Wie bezeichnen die Gesprächspartner die jeweils an<strong>der</strong>en Gruppen in<br />
Staats- und Muttersprache? Welche Ethnonyme besitzen Geheimwort<br />
funktion o<strong>der</strong> pejorativen Charakter?<br />
— Wie kennzeichnen die Gesprächspartner ihre Haltung zu den an<strong>der</strong>en<br />
Gruppen selbst? Ist ihre Beziehung eher von Interesse o<strong>der</strong> Desinteresse<br />
für die an<strong>der</strong>en Gruppen geprägt, kennen sie die Vorlieben und Sitten <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Gruppen, und wollen sie diese überhaupt (besser) kennen lernen?<br />
Werden die Unterschiede zu den an<strong>der</strong>en eher als „bedrohliche<br />
Fremdheit“ o<strong>der</strong> als „vertraute An<strong>der</strong>sheit“ (Roth 2000, 16) empfunden?<br />
Wie werden sie von den an<strong>der</strong>en gesehen (o<strong>der</strong> glauben sie gesehen zu<br />
werden), was stört sie an dieser Sichtweise?<br />
— Welche Rolle spielt die Religion bei <strong>der</strong> In- und Exldusion von<br />
Gruppen und Individuen? Welche ethnischen und religiösen Symbole<br />
finden Verwendung?<br />
— Welche interetimischen Klischees, Vorurteile und Stereotypen fallen<br />
auf (hierzu Heuberger, Suppan & Vyslonzil 1999 sowie Kahl, Vyslonzil &<br />
Woldan 2004)?<br />
— Werden bestimmten Personen o<strong>der</strong> Ethnien gegenüber xenophobe<br />
Gefühle geäußert und, wenn ja, wie wirkt sich diese Xenophobie auf die<br />
interkulturelle Kommunikation aus (hierzu Menzel 1993; Michalopülu et<br />
al. 1998; Konstantopülu et al. 2000)?<br />
— Art und Qualität <strong>der</strong> interethnischen Beziehungen<br />
— Welche Formen interethnischer Kontakte bestehen überhaupt (loser<br />
Nachbarschaftskontakt, Freundschaften, Interaktionen, gegenseitige Hilfe<br />
und Arbeitsteilung über ethnisch-kulturelle Grenzen hinweg, Besuche,<br />
Handel etc.)?<br />
— Wie lassen sich die Beziehungen typisieren (fragmentierte<br />
Beziehungen, indirekte Beziehungen, gleichgewichtige Beziehungen,<br />
Tauschbeziehungen, ungleiche Machtbeziehungen, stratifizierte<br />
Beziehungen bzw. Resident-Immigrant-Beziehungen, Resident-Frem<strong>der</strong><br />
Beziehungen, Resident-Resident-B eziehungen, Frem<strong>der</strong>-Frem<strong>der</strong>-<br />
Beziehungen etc., s. Roth 2000, 8)? Welcher Typ herrscht vor? Wo spie<br />
len sich die Begegnungen ab?<br />
— Welche Kommunikationsformen dominieren zwischen den Gruppen<br />
(konsensorientierte, erfolgsorientierte sowie norm- und zweckorientierte<br />
Kommunikation, Habermas 1979)?<br />
— Auf welchen Ebenen findet interkulturelle und interreligiöse<br />
Kommunikation statt (hierzu Samovar 1976, Rehbein 1985)? In welcher<br />
Sprache findet Kommunikation statt? Ist Mehrsprachigkeit Ausnahme<br />
o<strong>der</strong> Regel?<br />
— Seit wann und zwischen welchen Gruppen existieren interethnische<br />
Heiraten, welche Religion ist dabei für die Ehepartner und ihre Kin<strong>der</strong><br />
dominierend (s. Pusitz 1996)?<br />
— Haben sich auf früheren territorialen Beziehungen wirtschaftliche und<br />
politische Beziehungen entwickelt, in denen Herrschaft und<br />
Unterdrückung bedeutsam werden? Wer verfügt über Macht und Einfluss<br />
auf gesellschaftliche <strong>Institut</strong>ionen? Kommt es zu Wettbewerb um<br />
Ressourcen und Monopolisierung verschiedener Produktionsmittel?<br />
— Gibt es im politischen Bereich enge Verbindungen? Welche<br />
Strukturen (Recht, Ökonomie), Mechanismen (psychische Entwicklung,<br />
politische Sozialisation) und Akteursgruppen (ethnische Gruppen,<br />
Parteien) sind an <strong>der</strong> Entstehung von interethnischen Problemen beteiligt<br />
und welche davon erhöhen die Gewaltbereitschaft von Seiten eines Teils<br />
<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heitsbevölkerung? Nehmen die beobachteten interreligiösen
80 81<br />
o<strong>der</strong> interkulturellen Unterschiede eher ab o<strong>der</strong> eher zu (hierzu Kaschuba<br />
1995)? Inwiefern sind parallele Machtstrukturen ethnischer Gruppen<br />
akzeptiert und in das politische Gesamtsystem integriert?<br />
— Was lässt sich über die Verteilung von Macht und Hierarchiebildung<br />
beobachten? Wann kommt es zu Ausbeutung, Stratifikation, zu sozialer<br />
Kontrolle, Unterdrückung, Diskriminierung, Zwang, Gewalt, Betrug,<br />
Vertreibung, Kontrolle, Manipulation? Dienen diese Prinzipien <strong>der</strong><br />
Verstärkung von Gruppenzusammenl-ialt o<strong>der</strong> führen sie zu Feindschaften<br />
(hierzu Schlee 2000a)?<br />
— Berichten die Gesprächspartner von Benachteiligungen bzw.<br />
Privilegierungen? Sind die Benachteilungen real o<strong>der</strong> eingebildet? Sind<br />
die von den Gesprächspartnern geäußerten Sachverhalte zu beobachten?<br />
— Wer ist an <strong>der</strong> Verbreitung <strong>der</strong> Vorurteile aktiv beteiligt? Welche Rolle<br />
spielen die Massenmedien dabei?<br />
— Beherbergen die erzählten Geschichten o<strong>der</strong> Mythen ein<br />
Konflikpotential, aus dem nationale Überhöhungen und Chauvinismen<br />
entstehen?<br />
— Alltägliches faktisches Verhalten<br />
Die folgenden vier Aufgabenblöcke stehen vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />
Frage, auf welcher Ebene sich das faktische Verhalten <strong>der</strong> Gruppen<br />
gemeinsam o<strong>der</strong> getrennt vollzieht und wie es zu gemeinsamen<br />
Aktivitäten kommt bzw. eben nicht kommt (z.B. unter Druck ökonomi<br />
scher Notwendigkeiten o<strong>der</strong> durch hierarchische Abhängigkeiten).<br />
Formen des Arbeitens und Wirtschaftens:<br />
— Wann, wo und auf welcher Ebene kommt es zu geschäftlichen<br />
Beziehungen zwischen den Ethnien (sog. „interkulturellen<br />
Geschäftsbeziehungen“, s. Mauritz 1996)? Sind sie eher durch<br />
Abhängigkeiten gekennzeichnet o<strong>der</strong> gestalten sie sich symbiotisch? Wer<br />
arbeitet für wen und in welcher Form?<br />
— Wie tragen die beobachteten Beziehungsmuster zur Existenz und<br />
Persistenz ethnischer Grenzen bei?<br />
— Inwiefern bewirkt steigen<strong>der</strong> materieller Lebensstandard zunehmende<br />
Individualisierung? Haben bisher vorgegebene Kategorien (religiöse und<br />
ethnische Gruppen) an Einfluss auf das individuelle Leben verloren?<br />
Werden an<strong>der</strong>e Kategorien (z.B. Bildung o<strong>der</strong> Mobilität) wichtiger für die<br />
Gestaltung <strong>der</strong> eigenen Biographie (vgl. Pfaffenbach 2002, 13)?<br />
Wohn- und Siedlungssituation:<br />
— Zwischen welchen Gruppen es kommt zu sozialer Segregation?<br />
Welche Effekte hat dies auf die räumliche Segregation (verstanden als<br />
räumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen<br />
Merkmalen nach ethnischer, religiöser, kultureller o<strong>der</strong> schichtspezifisch<br />
er Herkunft)?<br />
— Kann man bestimmte Raumeinheiten <strong>der</strong> Segregation (z.B. Viertel)<br />
belegen? Wird das Wohnen in weitgehend getrennten Vierteln begünstigt<br />
o<strong>der</strong> wachsen ethnisch getrennte Viertel zusammen und mischen sich?<br />
Nutzen religiöse Min<strong>der</strong>heiten den Raum als Zeichen <strong>der</strong><br />
Abgrenzung? Zielen die dominanten Gruppen auf die Segregation o<strong>der</strong><br />
Absorption an<strong>der</strong>er Gruppen (hierzu Herlyn & Harth 1996)?<br />
— Verstärkt o<strong>der</strong> verringert sich die räumliche Segregation? Wie unter<br />
scheidet sich die Siedlungssituation im urbanen vom ruralen Kontext<br />
(dazu Rogers & Vertovic 1995; Hannerz 1980)?<br />
— Welche zentralen Plätze und Einrichtungen gibt es? Von welchen<br />
Gruppen werden sie überwiegend genutzt?<br />
— Wie wird die eigene soziale Position innerhalb <strong>der</strong> Siedlung<br />
eingestuft?<br />
— Lässt sich von räumlicher Segregation auf ethnisch-soziale<br />
Segregation schließen? Kann räumlich durchmischtes Siedeln auch<br />
Ausdruck o<strong>der</strong> Folge geringerer sozialer Segregation sein? Inwiefern<br />
spielen Mobilität und Migration dabei eine Rolle?<br />
— Freizeitaktivitäten<br />
— Sind die im wirtschaftlichen Bereich existierenden Formen des<br />
Neben- o<strong>der</strong> Miteinan<strong>der</strong>s auch im privatem Bereich vorhanden? Kommt<br />
es dort zu mehr o<strong>der</strong> weniger Begegnungen?<br />
— Welche örtlichen Erholungseinrichtungen und -möglichkeiten gibt es<br />
(einschließlich Diskos, Gaststätten, Caf~s)? Kommt es zu gemeinsamen<br />
sportlichen Aktivitäten (zum Aussagewert sportlichen Engagements als<br />
Identitätsmarker s. Panagiotidis 1995, Lienau 1999) o<strong>der</strong> gegenseitigen<br />
Besuchen?
~T1<br />
82<br />
83<br />
— Wie gestaltet sich das Reiseverhalten (Picknick, Verwandtenbesuche,<br />
an<strong>der</strong>e Ausflüge)? Werden z.B. Reiserouten auch durch Besuche bei<br />
Vertretern <strong>der</strong> gleichen Ethnie festgemacht?<br />
— Lokale kulturelle und religiöse Aktivitäten<br />
Wird von den Akteuren <strong>der</strong> jeweiligen Gruppen eine Reaktivierung<br />
ihrer Kultur betrieben? Wenn ja, wie? Wie wird versucht, sie <strong>der</strong> Jugend<br />
zu vermitteln, und wie nimmt diese sie auf?<br />
— Wurde kulturelle Eigenständigkeit bewahrt? Wieweit haben gegen<br />
seitige Beeinflussung, Bereicherung und Verdrängung stattgefunden?<br />
— Ist es zu kulturellen Mehrfachidentitäten und Identitätswechseln<br />
gekommen (Auge in Kaschuba 1995)?<br />
— Gibt es Aktivitäten, die zwar religiös an eine Gruppe gebunden sind,<br />
bei denen es aber dennoch zu gemeinsamen Veranstaltungen kommt? Wie<br />
gestalten sich gesetzliche und religiöse Feiertage, Besuche von Kirchen,<br />
Moscheen und Wallfahrtsorten (s. Barna & Lönnqvist 2000, 130)?<br />
— Wird von den unterschiedlichen Gruppen auf Festen verschiedene<br />
Musik gespielt?<br />
— Seit wann feiert man überwiegend getrennt bzw. gemeinsam? Wie war<br />
dies früher? Wie werden die Verän<strong>der</strong>ungen von den Gesprächspartnern<br />
bewertet?<br />
— Gibt es Bemühungen, religiöse Aktivitäten gemeinsam<br />
durchzuführen? Wenn ja, welche und wie? (In diesem Zusammenhang sei<br />
erwähnt, dass Feiertage und Pflege lokaler Kultur in Südosteuropa einen<br />
größeren Stellenwert als in vielen Regionen Westeuropas haben.)<br />
— Wie findet interkultureller Austausch zwischen den Gruppen statt?<br />
Kommt es zu einem kulturellen „crossing bor<strong>der</strong>s“ (Ickstadt 1997)?<br />
— Inwiefern haben kulturelle Grenzen für die Bildung <strong>der</strong> eigenen<br />
Gruppenzugehörigkeit Bedeutung (hierzu v.a. Osterhammel 1995 sowie<br />
Klentak-Zablocka 1995)?<br />
— Welche Rolle spielen die Religion und ihre <strong>Institut</strong>ionen bei <strong>der</strong><br />
Gestaltung <strong>der</strong> ethnischen Identität und <strong>der</strong> Ethnien? Hat die Religion<br />
identitätswahrende, -stärkende o<strong>der</strong> sogar -stifiende Funktion?<br />
— Von wem werden die <strong>Institut</strong>ionen und Schulen unterhalten? Wie<br />
gestaltet sich <strong>der</strong> Religionsunterricht an gemischten Schulen und an<br />
Schulen mit religiöser Ausrichtung? Welchen Einfluss hatte und hat <strong>der</strong><br />
Staat auf die Ausübung <strong>der</strong> Religion?<br />
— Welche symbolischen Formen hat das religiöse Leben ausgestaltet, die<br />
für das Identitätsbewusstsein von Bedeutung sind (Schenk & Weber<br />
Kellermann 1973, Georgieva 1999, 64f.)?<br />
Über die Deskription hinaus können die folgenden allgemeinen bzw.<br />
theoretisch relevanten Fragen und Problemfel<strong>der</strong> zum Verständnis <strong>der</strong><br />
interethnischen Beziehungen beitragen:<br />
— Wie konstruieren ethnische Gemeinschaften das Bild ihrer Religion,<br />
Kultur und dasjenige ihrer Nachbarn? Woraus setzt sich ein alltägliches<br />
ReligionsbewusstSein zusammen? Welches sind die Anteile unmittelbar<br />
gelebter Erfahrung und aus <strong>der</strong> Umgebung vermittelter und tradierter Vor<br />
stellung? Welche Rolle spielen die durch Schule, Gesellschaft und Politik<br />
vermittelten Ideologien und Erzählungen über soziokulturelle Funktionen<br />
und Werte? Reflektieren sich historische Erzählungen, Mythen?<br />
— Welche Rolle spielt Religion für die soziokulturelle und ethnisch<br />
nationale Identität, welche Stellung nehmen an<strong>der</strong>e identitätsstiftende<br />
Faktoren (Sprache, Äußeres, Geschlecht, Verhaltensweisen etc.) ein?<br />
— Wie werden Personen, die zwischen den Religionsgemeinschaften<br />
vermitteln bzw. Bindeglie<strong>der</strong> darstellen, wie Kin<strong>der</strong> aus interethnischen<br />
Mischehen, wahrgenommen? Wie konstruieren sie selbst ihre Identität<br />
und wie gehen sie mit dem Vorhandensein unterschiedlicher Religionen<br />
innerhalb ihrer Familie und in <strong>der</strong> Öffentlichkeit um?<br />
— Welche Macht haben die Min<strong>der</strong>heiten, was streben sie an (materielle<br />
Vergünstigungen, gesellschaftliche Integration, ideologische Reformen,<br />
Verfassungsän<strong>der</strong>ung, Herauslösung aus dem Staatsgebilde, Selbstver<br />
waltung, eigene politische Einrichtungen)? Welcher Art und von welcher<br />
Dauerhaftigkeit ist <strong>der</strong> Nationalismus <strong>der</strong> jeweiligen Min<strong>der</strong>heiten<br />
(Kymlicka 1999, 5. 37)? Ist das Verhalten <strong>der</strong> Gruppen eher integrativ<br />
o<strong>der</strong> marginalisierend? Wie verhalten sich die Regierungen und die lo<br />
kalen Machthaber? Wird die Religion genauso behandelt wie die Kultur?<br />
— Wie stehen ältere, ärmere und weniger gut ausgebildete Individuen<br />
o<strong>der</strong> Gruppen im Vergleich zu jüngeren mit besserer Ausbildung und<br />
höherem Einkommen in Bezug auf Ressourcen und immaterielle Wert-<br />
Systeme wie Individualität, Selbstverwirklichung (Pfaffenbach 2002, 15)?
84<br />
85<br />
— Gibt es einen Wertewandel bei den unterschiedlichen Gruppen, <strong>der</strong> die<br />
bisherigen Abgrenzungen <strong>der</strong> ethnischen und religiösen Gruppen<br />
erodiert? Verlieren dabei die Gruppen an ihrer identitätsbildenden Kraft?<br />
Erscheinen dann gesellschaftliche Krisen als individuelle Krisen und wer<br />
den dann auch individuell verarbeitet?<br />
5. Methoden<br />
Die folgenden Ausführungen versuchen mögliche Methoden zu<br />
beschreiben, mit denen man sich den vorausgegangenen Fragestellungen<br />
nähern kann. Sie stützen sich auf die zu Beginn genannten<br />
Feldforschungen und streben selbstverständlich keine Vollständigkeit an.<br />
Narrative Gespräche und biographische Forschung<br />
Der biographische Ansatz (Fuchs 1984) ist ein optimaler Zugang für die<br />
Dokumentation <strong>der</strong> Identität sowie <strong>der</strong> hierdurch determinierten Formen<br />
interethnischer Koexistenz. Das Erzählen <strong>der</strong> Lebensgeschichte ist eine<br />
<strong>der</strong> wichtigsten Formen, die eigene Identität darzustellen und sich ihrer zu<br />
versichern (vgl. v. Engelhardt 1990, 197; Schimank 1988, 55). Begreift<br />
man mit Dausien & Alheit (1985, 8) Biographie als wechselseitige<br />
Beziehung von äußerem Lebenslauf unter historisch-gesellschaftlichen<br />
Bedingungen und <strong>der</strong> inneren, psychischen Entwicklung des Subjekts<br />
(Alheit 1992, 24f.), dann können sie als Ausdruck unverwechselbarer<br />
Individualität bei <strong>der</strong> Interpretation helfen, wie historische Prozesse erlebt<br />
und verarbeitet werden. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang Studien<br />
zur Oral History sowie <strong>der</strong> Untersuchung lebensgeschichtlicher Erfahrun<br />
gen (Niethammer 1994). Durch das biographische Interview können indi<br />
viduelle Erinnerung und kulturelles Gedächtnis (Assmann 1992), persön<br />
liche lebensgeschichtliche Erzählung sowie nationale historische Mythen<br />
und Erzählungen dargestellt und miteinan<strong>der</strong> in Bezug gesetzt werden.<br />
Narrative Gespräche können mit einem Teil strukturierter Fragen verse<br />
hen werden nnd mit „offenem Ende“ (Bargatzky 1997, 180-187) statt<br />
finden. Eine „rezeptivpassive Rolle“ (Esser 1975, 5. 79) des Forschers ist<br />
zu empfehlen. Dabei muss durch Pretests herausgefunden werden, ob <strong>der</strong><br />
geeignetste Gesprächstyp eher Schützes (1977) Begriff des „narrativen<br />
Interviews“ o<strong>der</strong> dem „ero-epischen Gespräch“ (fragend-erzählenden<br />
Gespräch) Patschei<strong>der</strong>s (1997) und Girtlers (2001, 147ff.) entspricht. In<br />
jedem Fall sollten beide Gesprächspartner in <strong>der</strong> Rolle des Lernenden<br />
sein, es soll also kein reines „Interview“ stattfinden, das den<br />
Gesprächspartner zu einer reinen Auskunftsperson machen würde. Am<br />
ergibigsten ist eine natürliche Gesprächssituation mit großem Spielraum<br />
für Spontaneität und Assoziation, die nicht durch einen überladenen<br />
Leitfaden leidet (wie dies Hopf 1979, 107 beschreibt). Meinungs<br />
äußerungen <strong>der</strong> Forschenden beeinflussen nicht nnbedingt die Aussagen<br />
des Interviewten, wie es Merton & Kendall (1979, 182) befürchten. Der<br />
Beginn eines biographischen Interviews kann sein, sich den Lebenslauf<br />
* des Gesprächspartners frei erzählen zu lassen, nachdem man ihn davon in<br />
Kenntnis gesetzt hat, was den Forscher beson<strong>der</strong>s interessiert. Die<br />
Lebensgeschichten sollten in <strong>der</strong> Reihenfolge, in <strong>der</strong> sie erlebt wurden,<br />
erzählt werden (biographische Methode nach Fischer-Rosenthal 1995).<br />
Um die Anfälligkeit <strong>der</strong> „Messung“ von Stereotypen, Vorurteilen, Mythen<br />
möglichst gering zu halten, empfiehlt es sich, in den Gesprächen nichtreaktiv<br />
vorzugehen und direkte Fragen zu vermeiden. Auch <strong>der</strong> verbale<br />
Ausdruck nnserer Gesprächspartner ist für diesen Zweck zu untersuchen.<br />
Im Gespräch sollte v.a. auf einfache sprachliche Formen geachtet werden<br />
wie Adjektive, Namen, Wortverbindungen, vergleichende Sätze und<br />
Ausrufe, Redewendungen (soweit sie nicht ihr affektives Potential verlo<br />
ren haben, Roth 1999, 26). So es möglich ist, sollten auch komplexe ver<br />
bale Formen wie Märchen und Sagen, Legenden, Schwänke systematisch<br />
untersucht werden: An Lie<strong>der</strong>n, Anekdoten und illustrativen Geschichten<br />
lassen sich Stereotype mit ethnischem Bezug herauslesen. Auch Varianten<br />
des Stroop-Tests (Wolcott 2Ö0 1) können angewendet werden.<br />
Gruppengespräche<br />
In freien Gruppengesprächen können kontroverse Auffassungen zum<br />
postulierten und tatsächlichen Wir-Gruppen-Verständnis sowie die<br />
Existenz „kollektiver Gruppenidentitäten“ (Schlee 2000b) erfasst werden.<br />
Gruppengespräche können darüber hinaus dazu dienen, einzelne<br />
Gesprächspartner gezielt auszuwählen, die für ausfLihrlichere Einzelgespräche<br />
von Interesse zu sein scheinen. In einem fortgeschrittenen<br />
L
86 87<br />
Stadium <strong>der</strong> Forschungen können Treffen einberufen werden, auf denen<br />
es zu umfangreichen Gruppengesprächen mit den Mitglie<strong>der</strong>n lokaler<br />
Vereine, <strong>Institut</strong>ionen und Finnen, im besten Fall in Kombination mit<br />
mehreren, auch ethnisch unterschiedlichen Gruppierungen, kommt.<br />
Schülerbefragung<br />
Für die Gespräche mit Schülern sind einfache, strukturierte (Werner &<br />
Schoepfle 1988, 314ff.) Fragebögen eher angebracht als narrative o<strong>der</strong><br />
biographische Interviews. In Absprache mit Lehrern und Schulleitern<br />
kann man die Schüler in einer Klasse bei Anwesenheit von Lehrer und<br />
Forscher schriftlich Fragen beantworten lassen — für alle Parteien eine<br />
willkommene Abwechslung im Schulalltag und für die Forscher eine<br />
Möglichkeit, Hypothesen zu verfeinern und neue aufzustellen. Bei den<br />
Schülerinterviews sollten Fragen zu Vorurteilen und Stereotypen in den<br />
Hintergrund treten; eher sollen Aussagen zu ihrem faktischen Verhalten<br />
aufgenommen werden. Für die Entwicklung des entsprechenden Frage<br />
bogens kann man verschiedene Erhebungsmethoden (v.a. Netzwerkana<br />
lyse, Entscheidungsdiagramme und Situationsanalysen) zu Grunde legen.<br />
Expertengespräche<br />
Das Durchführen von Expertengespräche sowie Vorstellungsgespräche<br />
mit Akteuren (Vereinsvorsitzenden, Priestern, Schulleitern, Gemeinde<br />
sekretären, Bürgenneistern etc.) ist insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> ersten Phase zu<br />
empfehlen; sie sollten eine Länge von ein bis zwei Stunden nicht über<br />
schreiten. Unter „Experten“ sollten dabei nicht nur Fachspezialisten ihrer<br />
eigenen Kultur verstanden werden, son<strong>der</strong>n auch Einheimische, die sich<br />
laienhaft mit <strong>der</strong> Geschichte des Ortes o<strong>der</strong> mit bestimmten Aspekten<br />
ihrer Kultur beschäftigt haben. Zumindest in den ländlichen Siedlungen<br />
sollte man Vollständigkeit anstreben, so dass alle einflussreichen und<br />
interessierten Personen über Vorgehen und Intention <strong>der</strong> Forscher<br />
informiert sind und sie, so sie möchten, helfen können. Stellt man diesen<br />
Gesprächstyp an den Beginn eines Feldaufenthaltes, öffnen sich<br />
erfahrungsgemäß Türen zu wichtigen Gesprächspartnern; außerdem kann<br />
man durch solche „öffentlichen SprecherInnen“ den common sense eines<br />
Teiles <strong>der</strong> Gemeinde erfahren.<br />
Auswahl <strong>der</strong> Orte<br />
Wichtigstes Kriterium zur Auswahl zu untersuchen<strong>der</strong> Siedlungen ist<br />
die unterschiedliche Religionszugehörigkeit <strong>der</strong> Einwohner, die sich nur<br />
teilweise aus Volkszählungsdaten ermitteln lassen, weshalb wis<br />
senschaftliche Schätzungen zu Rate gezogen werden müssen. Ferner<br />
muss, je nach Größe <strong>der</strong> Forschergruppe die Zahl <strong>der</strong> Siedlungen über<br />
schaubar bleiben. Um den Einfluss <strong>der</strong> unterschiedlichen Situation in<br />
städtischen und ländlichen Siedlungen zu untersuchen, ist die Auswahl<br />
sowohl von Städten als auch von in <strong>der</strong>en Nähe befmdlichen ländlichen<br />
Siedlungen notwendig, in denen jeweils die gleichen Untersuchungen mit<br />
den gleichen Methoden angewendet werden. Eine Beschränkung auf<br />
städtische o<strong>der</strong> ländliche Siedlungen erscheint nicht sinnvoll, da beide<br />
Siedlungsformen für die interethnischen Beziehungen relevant sind.<br />
Städte haben einen stärker multiethnischen Charakter, und daher besteht<br />
in ihnen eine Vielzahl interethnischer Beziehungen aber auch eine<br />
gewisse Anonymität, während die geringe Einwohnerzahl von ländlichen<br />
Siedlungen kaum Anonymität erlaubt und daher lokalen zwischenmen<br />
schlichen Begegnungen eine viel zentralere Bedeutung zukommt.<br />
Auswahl <strong>der</strong> Gesprächspartner<br />
Vor Beginn <strong>der</strong> Feldforschung muss <strong>der</strong> Suchkreis zu interviewen<strong>der</strong><br />
Personen genau defmiert werden. Die Auswahl <strong>der</strong> Gesprächspartner wird<br />
sich nach <strong>der</strong> theoretischen Bedeutsamkeit für die Fragestellungen rich<br />
ten. Ein beson<strong>der</strong>er Schwerpunkt sollte auf Einzelpersonen gelegt wer<br />
den, die sich als Vermittler zwischen den Gruppen hervortun und die<br />
Wissen, Erfahrung und Autorität für eine solche Aufgabe besitzen (z.B.<br />
mehrsprachige Personen in höherer Position, Älteste, Richter, Lehrer,<br />
Sekretäre, aber auch Kaufleute, Handwerker - Rolle des Geschlechts?).<br />
Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Probanden sollten gemäß <strong>der</strong> „grounded theory“ im<br />
Sinne eines „theoretical sampling“ (Hoffinann-Riem 1980, 436) repräsen<br />
tative Fälle verstärkt gesucht werden, die geeignet erscheinen, die<br />
Fragestellungen zu beantworten.<br />
Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Gesprächspartner muss auf ein annähernd ausge<br />
wogenes Verhältnis bezüglich <strong>der</strong> ethnischen Zugehörigkeit (nach<br />
Sprache, Selbstzuschreibung und Religion) geachtet werden sowie auf
88 89<br />
Unterschiedlichkeit <strong>der</strong> Lebensformgruppen (Alter, Beruf, Geschlecht,<br />
wirtschaftliche Situation, Wohnbedingungen) und <strong>der</strong> Interessens- und<br />
Statusgruppen. Die vom Forscher eingeschätzte Repräsentativität <strong>der</strong><br />
Gesprächspartner hat jedoch Priorität gegenüber einem ausgewogenen<br />
Verhältnis. Es erscheint ohnehin utopisch, ein wirklich ausgewogenes<br />
Verhältnis möglichst vieler denkbarer Gruppen zu erlangen, zumal hierbei<br />
mit Problemen zu rechnen zu sein wird, wenn z.B. in muslimischen<br />
Gruppen auf ein ausgewogenes Verhältnis <strong>der</strong> beiden Geschlechter<br />
geachtet werden soll, sich aber überwiegend männliche Probanden für die<br />
Forschung zur Verfügung stellen. Nicht zuletzt daher sollte eine<br />
Forschungsgruppe aus weiblichen und männlichen Mitarbeitern bestehen.<br />
Außerdem muss man beachten, dass nicht immer diejenigen Personen, die<br />
sich einem bei <strong>der</strong> Kontaktauffiahme anbieten, auch ideale Informanten<br />
sind, da sie oft von <strong>der</strong> Gruppe weniger akzeptierte Mitglie<strong>der</strong> darstellen<br />
und den Forscher zu beeinflussen vermögen (s. auch Girtler 2001, 89 und<br />
111). In solchen Fällen gilt es, bestimmt und diplomatisch darauf zu<br />
beharren, an<strong>der</strong>e Informationspartner vorzuziehen. Es sollten bewusst<br />
nicht überwiegend einige kenntnisreiche Traditionsträger <strong>der</strong> schwindenden<br />
Generation befragt werden und aus <strong>der</strong>en Aussagen soll eben nicht<br />
versucht werden, „eine“ traditionelle Kultur einer Gruppe zu rekonstru<br />
ieren, wenn die Forschungen auf die beobachtete Zeit und Lebensweise<br />
und nicht auf frühere Lebensweisen konzentriert sind. Auch gilt es, <strong>der</strong><br />
Bevöllcemng das Ziel zu erklären. Insbeson<strong>der</strong>e die jüngere Bevöllcerung<br />
wird sich erfahrungsgemäß immer wie<strong>der</strong> Inkompetenz zuschreiben und<br />
stets auf die „mehr wissenden Alten“ verweisen. Wenn die Anliegen klar<br />
gemacht werden, hat man es auch leichter, bei <strong>der</strong> Suche nach Probanden<br />
Hilfe zu erhalten.<br />
1<br />
Teilnahme am kulturellen und religiösen Leben<br />
Um in die untersuchte Gemeinschaft besser vorzudringen und sie<br />
gründlicher zu verstehen, sollte sich die Teilnahme am Leben <strong>der</strong><br />
Gemeinde auf alle Arten lokaler Veranstaltungen ausdehnen. Der Besuch<br />
von kulturellen Ereignissen (zB. beson<strong>der</strong>s Feste und Tanzaufführungen)<br />
ist genauso empfehlenswert wie die Beobachtung politischer Aktivitäten<br />
(Wahltag, Demonstrationen) und die Teilnahme am sozialen Gemeindeleben<br />
(Taufen, Beerdigungen, Beschneidungen etc.). Hierzu können<br />
Kirchen, Moscheen, Friedhöfe, Schulen, Bibliotheken, Gemeindezentren,<br />
Redaktionen, Frauengruppen, Kin<strong>der</strong>gärten und lokale Vereine und<br />
Parteien aufgesucht werden. Nur so können Vertreter von allen vorstell<br />
baren Bevölkerungsgruppen kennen gelernt werden. Ein Schwerpunkt<br />
kann dabei auf <strong>der</strong> Beobachtung religiöser <strong>Institut</strong>ionen liegen, weil dort<br />
die Symbole mit beson<strong>der</strong>er ethnischer und religiöser Bedeutung<br />
(MoscheenlKirchen, Friedhöfe, Denkmäler, Symbolgehalt <strong>der</strong> dörflichen<br />
Landschaft) und <strong>der</strong> symbolische Ausdruck sowie die <strong>Institut</strong>ionalisierung<br />
<strong>der</strong> religiösen und ethnischen Identität untersucht werden können (z.B.<br />
Fallrekonstruktionen nach Flick 2000; analytische Untersuchung eines<br />
Wallfahrtsortes, Inventarisierung <strong>der</strong> dortigen Bil<strong>der</strong> und Symbole). Die<br />
festgestellten religiösen Unterschiede können darauf hin geprüft werden,<br />
ob sie ein „Marker“ sein können, an dem sich Konflikte festmachen und<br />
durch die Segregation des „religös Fremden“ ein konstitutives Moment<br />
von Gesellschaften hinsichtlich <strong>der</strong> Fremdexklusion bilden.<br />
Da in <strong>der</strong> Regel während eines Feldaufenthaltes nur ein Bruchteil des<br />
Jahreszyldus untersucht werden kann und die Aufenthalte zu unter<br />
schiedlichen Jahreszeiten stattfinden, wird es übertrieben sein, eine sys<br />
tematische teilnehmende Beobachtung o<strong>der</strong> eine ausführliche<br />
Bestandsaufhahme kultureller Gegebenheiten anzustreben. Von aktiver<br />
Teilnahme am kulturellen Leben einer untersuchten Religionsgemein<br />
schaft bzw. Ethnie kann nur in den wenigsten Fällen die Rede sein, die<br />
Beobachtung <strong>der</strong> interethnischen Beziehungen bleibt daher überwiegend<br />
nichtteilnehmend-strukturierend (Girtler 2001, 62). Für den Bereich <strong>der</strong><br />
Kategorisierungen lassen sich verschiedene Methoden <strong>der</strong> kognitiven<br />
Domänenanalyse miteinan<strong>der</strong> kombinieren. Im Bereich des Wirtschaftens<br />
und <strong>der</strong> Freizeit helfen detaillierte Zeitbudgetstudien (s. Bernard 1994)<br />
weiter.<br />
Beobachtungen zur musikalischen Identität<br />
Durch die Thematisierung musikalischer Präferenzen können<br />
Einsichten in In- und Exklusionsmechanismen vertieft werden, da die<br />
Identifikation mit <strong>der</strong> eigenen Musik und die Reaktionen auf fremde<br />
Musik (Ablehnung, Begeisterung, Gleichgültigkeit) sehr aussagekräftig
90 91<br />
sein kann (s. Frith 1996, 124-125). Merkt (2000, Einl.) schreibt dazu<br />
„Wenn es so etwas gäbe wie einen Identifizierungsfaktor für kulturelle<br />
Ausdrucksweisen — Musik wäre mit Sicherheit ganz oben auf <strong>der</strong> Skala.<br />
Die Identifikation mit <strong>der</strong> Musik ist sehr hoch — wenn es die eigene ist“<br />
[ich möchte ergänzen: o<strong>der</strong> als solche empfunden wird]. Zur Ermittlung<br />
<strong>der</strong> musikalischen Präferenzen und Kenntnisse <strong>der</strong> einzelnen<br />
Gesprächspartner können Sortiertests vorgenommen werden. Der Erfolg<br />
dieser bisher noch nicht verbreiteten Methode wurde während des DFG<br />
Projektes „Typen <strong>der</strong> Selbstidentifikation meglenitischer Vlachen“ (1999-<br />
2001) erprobt. Optische Sortiertests haben Collier & Collier (1992) im<br />
Rahmen ihrer „Visual Anthropology“ mit Fotos durchgeführt (auch<br />
Weller & Romney 1988 halten Sortiertests für einen wichtigen Bestandteil<br />
<strong>der</strong> Systematic Data Collection; Mischung 1988 führt dies mit<br />
Feldformen und Anbautypenaurch). Ihre Ideen und Methoden lassen sich<br />
auf eine Art „Acustical Anthropology“ übertragen. Im Verlauf <strong>der</strong> Tests<br />
werden musikalische Aufhahmen aus dem Bereich <strong>der</strong> lokalen tradi<br />
tionellen Musik abgespielt, und die Gesprächspartner ordnen diese einzel<br />
nen Bevölkerungsgruppen, Konfessionen und Kulturkreisen zu. Dies<br />
ermöglicht, Lie<strong>der</strong>, Instrumente, Taktarten, Melodien und Gesangweisen<br />
nicht nur durch uns als Forscher „ethnisch“ zuzuordnen und zu klassi<br />
fizieren, son<strong>der</strong>n diese Zuordnung durch die Einwohner vornehmen zu<br />
lassen. So können Entstehung und Vermischung spezifischer Stile, die<br />
durch Koexistenz <strong>der</strong> Ethnien bedingt o<strong>der</strong> geför<strong>der</strong>t wurden, besser<br />
nachvollzogen werden. Die Thematik <strong>der</strong> Musik stellt einen ausgezeich<br />
neten Einstieg dar, sich <strong>der</strong> Koexistenzproblematik zu.nähern, ohne vor<br />
Ort Unwohlsein o<strong>der</strong> Verdachtsmomente wegen politisch problematisch<br />
er Fragen zur Beziehung von Christen und Muslimen zu erregen. Somit<br />
erleichtert sie die „first and most uncomfortable stage of fieldwork“ (Wax<br />
1979 sowie 1986, 279).<br />
Kartierungen und Bestandsaufnahmen<br />
Kartierungen können durchgeführt werden, um Wohnstandorte <strong>der</strong><br />
Etimien zu lokalisieren o<strong>der</strong> die Lage von Landbesitz, Weidehaltung,<br />
Handlungsstandorten darzustellen. In den ländlichen Siedlungen lässt sich<br />
dies meist relativ leicht bewältigen, in den Städten wird man sich damit<br />
begnügen müssen, die Wohnverteilung durch Gewährspersonen zu erfra<br />
gen und stichprobenhaft zu prüfen. Dabei gilt es beson<strong>der</strong>s darauf zu ach<br />
ten, ob sich die festgestellten Strukturen in Auflösung befinden o<strong>der</strong> nicht.<br />
Der Kartierung muss eine Beschreibung <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> Siedlungen und <strong>der</strong><br />
Region, in <strong>der</strong> sie liegen, sowie wichtiger Strukturmerkmale (stadt<br />
nahe/rurale Lage, Infrastruktur, ökonomische Bedingungen, Wirtschafts<br />
zweige, Siedlungstyp, Behausungsformen, Flurformen, Wohnverteilung<br />
nach Ethnien, Landnutzungsformen) vorausgehen. In die Kartierung kön<br />
nen Immobilien- und Landbesitz <strong>der</strong> Gruppen miteinbezogen werden, um<br />
auf eventuelle Benachteiligung und Privilegisierung von Personen<br />
gruppen und Etlmien zu schließen.<br />
Forschertagebuch und Gesprächsprotokolle<br />
Es empfiehlt sich, von Anfang an ein Forschertagebuch zu führen, in<br />
dem täglich stichwortartig Erläuterungen zum Fortgang <strong>der</strong> Forschung<br />
sowie zu den wichtigsten neuen Bekanntschaften nie<strong>der</strong>geschrieben wer<br />
den. Das Tagebuch hält Erfolge und Rückschläge fest und gibt<br />
Emotionalem Platz (Emerson et al. 1995, Emerson 2001).<br />
Noch hilfreicher sind, insbeson<strong>der</strong>e im Hinblick auf die spätere<br />
Transkription, Gesprächsprotokolle, in denen die genaue Gesprächssituation<br />
(Ort, Zeit, Atmosphäre, Raum, Stimme, mögliche Störeinflüsse)<br />
festgehalten wird. Bei <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> sozialen Situationen sollten<br />
die Teilnehmer genannt und beschrieben werden sowie die Durchführung<br />
und Schaffung <strong>der</strong> sozialen Situation und die Normen, welche die Teil<br />
nehmer an <strong>der</strong> Situation determinieren. Jede beschriebene Situation muss<br />
auf Regelmäßigkeit sowie auf evtl. beobachtbare Unterschiede zwischen<br />
Behauptetem und Getanem geprüft werden. Dabei ist es wichtig, auch<br />
Vertrautes, Bekanntes, Banales, Selbstverständliches zu protokollieren<br />
und zu beschreiben, damit dem „Exotischen“ kein zu hoher Stellenwert<br />
beigemessen wird.<br />
Wenn ein Sachverhalt intuitiv erkannt wird (z.B.: „Pomaken neigen<br />
eher zu Mischehen mit Türken als mit Griechen o<strong>der</strong> Roma“), sollte er im<br />
Protokoll als Hypothese formuliert und anschließend durch gezieltes<br />
Befragen und Stichproben bei stets mehreren Probanden belegt o<strong>der</strong><br />
entkräftet werden.
92 93<br />
Das Protokoll kann auch Formulierungen zur situativen Identität<br />
(Gingrich & Fox) Platz geben; es wird genau Buch geführt, in welcher<br />
Situation jemand Eigen- und Fremdzuweisungen vornimmt und welche<br />
Faktoren (Outgroup-Situation, interethnische Kornmunikationssituation,<br />
Gesten, Position des Interviewers etc.) sich auf die Resultate auswirken<br />
könnten.<br />
Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in den<br />
untersuchten Län<strong>der</strong>n<br />
Um die Informationsaufnahme über die Zeit <strong>der</strong> Feldaufenthalte hinaus<br />
zu ermöglichen, sind Mitarbeiter in den betroffenen Län<strong>der</strong>n sehr wichtig.<br />
Um bei <strong>der</strong> Wahl dieser Kollegen niemanden vor Ort zu bevor- o<strong>der</strong> zu<br />
benachteiligen (z.B. durch die Wahl eines Muslims bzw. Christen), emp<br />
fiehlt es sich, wissenschaftlich tätige Personen auszuwählen, die zwar aus<br />
den jeweiligen Län<strong>der</strong>n, nicht jedoch aus den Untersuchungssiedlungen<br />
stammen und die neben <strong>der</strong> Staatssprache noch die Sprache mindestens<br />
einer Min<strong>der</strong>heit beherrschen. Zu einem fortgeschrittenen Stand <strong>der</strong><br />
Forschung kann es sehr ergiebig sein, das Projekt in einem größeren<br />
Rahmen mit Wissenschaftlern, Studenten und interessierten Angehörigen<br />
<strong>der</strong> betreffenden Ethnien zu diskutieren. Lokale Kooperationspartner<br />
empfehlen sich auch, um über den Feldaufenthalt hinaus Kontakte<br />
aufrecht zu erhalten und Dokumente vor Ort sammeln zu können. Zu<br />
guter Letzt möchte ich betonen, dass die Probanden nahezu ein Recht<br />
darauf haben, nach vollendeter Forschung etwas über die Ergebnisse zu<br />
erfahren. Ein Zeichen <strong>der</strong> Erkenntlichkeit für Gastfreundschaft,<br />
Auskunfts.freudigkeit und Geduld sollte daher nicht nur ein wis<br />
senschaftlicher Text in einer nur Fachkollegen zugänglichen Zeitschrift<br />
sein, son<strong>der</strong>n eben auch ein kleiner populärwissenschaftlicher Beitrag, <strong>der</strong><br />
den Probanden sprachlich zugänglich ist!<br />
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