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Leben mit - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

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Positive Rituale und <strong>Leben</strong>squalität<br />

Michael W. Smull<br />

Rituale sind wichtig und notwendig – einerseits um den<br />

Alltag im Griff zu haben, andererseits um in einer neuen,<br />

veränderten <strong>Leben</strong>ssituation Halt zu finden. Dies<br />

gilt für alle Menschen.<br />

Das Akzeptieren und Aufrechterhalten von Ritualen<br />

sollte deshalb auch bei der individuellen Zukunftsplanung<br />

von Menschen <strong>mit</strong> einer Behinderung mehr<br />

berücksichtigt werden. Vor allem dann, wenn junge<br />

Menschen das Elternhaus verlassen und in eine Wohngruppe<br />

oder ein Wohnheim umziehen, sollte dies beachtet<br />

werden.<br />

Rituale erleichtern den Alltag<br />

Jeden Morgen, wenn Sie in Ihrem Büro<br />

ankommen, brauchen Sie zunächst eine<br />

Tasse Kaffee. Erst nachdem Sie Ihre<br />

Tasse in der Hand halten und ein paar<br />

Sätze <strong>mit</strong> Ihren Kollegen gewechselt haben<br />

über das, was gestern Abend noch<br />

so passiert ist, erst dann sind Sie so<br />

weit, dass Sie <strong>mit</strong> der Arbeit anfangen<br />

können. Klingelt aber schon das Telefon,<br />

bevor Sie Ihre Tasse Kaffee haben,<br />

ärgern Sie sich, weil Sie ja ohne Ihren<br />

Kaffee noch nicht ganz „da sind“.<br />

Und wenn Sie nach der Arbeit heimgehen,<br />

fühlen Sie sich erst richtig zu<br />

Hause, wenn Sie Ihre „Arbeitskleider“<br />

abgelegt und sich umgezogen haben.<br />

Beides sind Beispiele von täglichen Ritualen,<br />

die wir brauchen, um unseren<br />

Alltag zu gliedern, um uns den Übergang<br />

von der einen in die nächste Situation<br />

zu erleichtern.<br />

Wir schenken unseren Routinehandlungen<br />

und Angewohnheiten, die uns im<br />

Alltag begleiten, nur wenig bewusste<br />

Aufmerksamkeit. Und vielleicht deshalb,<br />

weil wir uns der eigenen Rituale<br />

gar nicht so bewusst sind, übersehen<br />

wir leicht, welche Bedeutung sie für die<br />

<strong>Leben</strong>squalität von Menschen <strong>mit</strong> einer<br />

Behinderung haben.<br />

Dabei sind Rituale genauso wichtig<br />

für die <strong>Leben</strong>squalität von Menschen<br />

<strong>mit</strong> Behinderungen wie von jedem anderen<br />

Menschen auch. Eltern behinderter<br />

Kinder haben längst erkannt, dass<br />

z.B. bestimmte Zeremonien, die im <strong>Leben</strong><br />

vieler Menschen eine wichtige Rolle<br />

spielen, genauso wertvoll sind für ihre<br />

Söhne und Töchter. Sie überlegen<br />

z.B., wie sie den Führerscheinerwerb,<br />

dem in Amerika eine enorme Bedeutung<br />

beigemessen wird und der den Übergang<br />

ins Erwachsenenleben darstellt,<br />

angemessen ersetzen können. Sie<br />

schafften es, wichtige Meilensteine im<br />

<strong>Leben</strong> jedes Jugendlichen, wie z.B. die<br />

Konfirmation, Bar Mitzvah oder die<br />

Schulabschlusszeremonie, auch für ihre<br />

Söhne und Töchter zugänglich zu machen.<br />

Auch diejenigen unter uns, die Menschen<br />

<strong>mit</strong> Lerneinschränkungen begleiten,<br />

müssen sich die Bedeutung von Ritualen<br />

bewusst machen und sich um positive<br />

Routinen bemühen, statt sie als lästig<br />

und überflüssig verbieten zu wollen.<br />

Tägliche Rituale<br />

Am Anfang jedes neuen Tages stehen<br />

unsere allmorgendlichen Routinen. Jeder<br />

Mensch hat seine eigene Art und<br />

Weise, sich auf den neuen Tag einzustimmen.<br />

Diese persönlichen Rituale geben<br />

einem Sicherheit. Ein Beispiel dafür<br />

ist das Baden. Jeder von uns hat dabei<br />

seinen eigenen Ablauf. Waschen Sie z.B.<br />

Ihr Gesicht zuerst oder zuletzt? Für diejenigen,<br />

denen beim Baden geholfen<br />

werden muss und die sich vielleicht<br />

nicht selbst äußern können, kann dieser<br />

Ablauf täglich wechseln, abhängig da-<br />

PSYCHOLOGIE<br />

von, welches Personal eingeteilt ist.<br />

Wenn dann eine Mutter anordnet, das<br />

Gesicht ihrer Tochter immer zuletzt zu<br />

waschen, weil sie das so gewöhnt ist,<br />

wird dies vom Personal häufig als ein<br />

Einmischen und überbehütetes Verhalten<br />

empfunden.<br />

Mit John, einem jungen Mann <strong>mit</strong><br />

<strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong>, wird gerade seine persönliche<br />

<strong>Leben</strong>sgestaltung besprochen.<br />

Er erwähnt, dass er morgens nur langsam<br />

aufwacht und dass er da weder helles<br />

Licht noch laute Musik mag und keine<br />

lebhaften Menschen um sich verträgt,<br />

bis er seine erste Tasse Kaffee getrunken<br />

hat. Seine Freundin aber, <strong>mit</strong><br />

der er zusammenwohnt, ist jemand, die<br />

morgens früh aus dem Bett springt und<br />

sofort voll aufdreht. Gemeinsam <strong>mit</strong><br />

dem Assistenten wird nun überlegt, wie<br />

man <strong>mit</strong> einer solchen Situation umgeht.<br />

Es wird ausgemacht, dass die<br />

Freundin das Schlafzimmer, nachdem<br />

sie aufgestanden ist, verlässt und sich<br />

anderswo in der Wohnung aufhält. John<br />

bekommt so die Zeit, in Ruhe aufzustehen.<br />

Es ist möglich, dass beide so ihre<br />

unterschiedlichen morgendlichen Rituale<br />

ausleben, ohne sich gegenseitig in die<br />

Quere zu kommen.<br />

Wenn wir die Routinehandlungen,<br />

die Menschen <strong>mit</strong> Behinderungen brauchen,<br />

um ihren Alltag in den Griff zu bekommen,<br />

unterstützen, müssen wir zuallererst<br />

die Individualität dieser Menschen<br />

akzeptieren. Das begleitende Personal<br />

in Wohnheimen behauptet in der<br />

Regel, dass es das auch macht, aber<br />

häufig erfahren wir, dass Rituale den einen<br />

Tag akzeptiert und unterstützt und<br />

am anderen Tag wieder als unerwünschtes<br />

Verhalten eingestuft werden,<br />

je nachdem, wer gerade Dienst hat.<br />

Aufbauen und Erhalten<br />

von Ritualen<br />

In „Rituals for our Times“ von Imber-<br />

Black und Roberts werden die Art von<br />

Ritualen und die Bedeutung, die sie für<br />

uns alle haben, beschrieben. Die Autoren<br />

legen dar, dass es z.B. in Familien<br />

überall interne Rituale gibt. Sie umfassen<br />

alle wichtigen Momente in unserem<br />

<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> Nr. 40, Mai 2002 27

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