HSV-SCHNACK-Ausgabe2
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44 einsicht<br />
unserer Atlanten verzeichnet. Das<br />
konnte also nichts rechtes sein. Doch<br />
die drei Brüder erschlossen mir noch<br />
einen anderen subkulturellen Kosmos:<br />
den der Mickey Maus-Heft, deren<br />
Kauf verpönt war, da man aus ihnen<br />
kein Latein lernen konnte.<br />
Diese Hefte hatten Mitte der Siebziger<br />
auf einer Seite untertitelte Fotos aktueller<br />
Bundesligaspieler, mit einigen<br />
Daten und einer kurzen Sport-Biographie.<br />
So lernte ich auch Reiner<br />
Geye und Fortuna Düsseldorf kennen.<br />
Meine Fußballdeutschlandkarte bekam<br />
allmählich Konturen, trotz der<br />
nicht zu leugnenden weißen Flecken.<br />
Und dann kam mein persönliches<br />
Erweckungserlebnis, das mich für<br />
immer in den unerbittlichen Bann<br />
des Fußballs ziehen sollte. Auf dem<br />
Rasen vor unserem Haus stehend,<br />
blätterte ich durch eines der ergatterten<br />
Comic-Hefte und entdeckte<br />
meinen ersten <strong>HSV</strong>-Spieler. Ja, ich<br />
entdeckte, es gab einen Hamburger<br />
Sport-Verein. Ich war erschüttert. Das<br />
musste mein Verein sein: aus Hamburg<br />
wie mein Vater, Großvater und<br />
Urgroßvater.<br />
Der abgebildete Spieler hörte jedoch<br />
nicht auf urhamburgische Namen wie<br />
Uwe Seeler, Willi Schulz oder Charly<br />
Dörfel. Er war Torwart. „Ah, natürlich,<br />
Rudi Kargus.“ Nein. Er hörte auf einen<br />
fremd klingenden und mir völlig unerklärlichen<br />
Namen: Arkoc Özcan.<br />
Egal! Das war mein Mann! Das war<br />
mein Mann, in seinem schwarzen<br />
Trikot mit rotem Auslegekragen. Das<br />
war mein Vorbild! Von jetzt ab wollte<br />
ich sein wie Arkoc Özcan, und wie<br />
er das Tor des <strong>HSV</strong> hüten!<br />
Mögen andere Jungs ihr Erweckungserlebnis<br />
durch begeisternde Dribblings,<br />
Blutgrätschen vor der Torlinie,<br />
spektakuläre Tore und Paraden oder<br />
durch die leidenschaftlich leidende<br />
Atmosphäre inmitten von stöhnenden,<br />
fluchenden und jubelnden<br />
60.000 Zuschauern und Schlachtgesänge<br />
erfahren haben. Ich hatte nie<br />
zuvor ein Spiel im Stadion gesehen,<br />
geschweige denn eines des <strong>HSV</strong>.<br />
Bei mir war es das: Mickey Maus, Arkoc<br />
Özcan und ich. Auf dem Rasen. Vor<br />
unserem Haus. An einem Tag mit stechend<br />
heißer Sonne. Im Sommer 1975.<br />
Wie sich herausstellte, sollte ich Arkoc<br />
Özcan auch nie spielen sehen. Denn<br />
er war mittlerweile von Rudi Kargus<br />
verdrängt worden. Rudi Kargus, den<br />
der Nimbus des Elfmetertöters umstrahlte,<br />
weil er vor Urzeiten, nämlich<br />
18 Monate vor meiner Erweckung,<br />
gegen Borussia Mönchengladbach drei<br />
Elfmeter im winterlichen Volksparkstadion<br />
abgewehrt hatte. Ich wechselte<br />
zu Rudi Kargus und doch behielt<br />
der jetzige Ersatztorwart Arkoc Özcan<br />
einen Platz in meinem nunmehr blauweiß-schwarzen<br />
Herzen.<br />
Mein erstes Spiel war <strong>HSV</strong>–FC Schalke<br />
04 am 1. Spieltag 1975/6. Nicht im<br />
Stadion, sondern in der Sportschau<br />
um 17 Uhr 48. Es war eines der drei<br />
Spiele, die damals in der Sportschau<br />
gezeigt wurden. In bester Fußballdramaturgie<br />
gewann der <strong>HSV</strong> nach<br />
0:1 noch 4:1. Das Jubelbild von Manfred<br />
Kaltz, der nach seinem Tor zum<br />
3:1 mit hochgestrecktem rechtem Arm<br />
hinter dem Schalker Tor vorbeiläuft,<br />
war am Montag darauf im KICKER zu<br />
sehen und hat sich mir für alle Zeiten<br />
eingebrannt. Obwohl ich mich zwischenzeitlich<br />
dem örtlichen Fußballverein<br />
angeschlossen hatte, der, ich<br />
sage es ungern, in Grün-Weiß spielte<br />
und einen ähnlich stilisierten Buchstaben,<br />
wie die süddeutsche Konkurrenz<br />
aus Bremen im Wappen führte<br />
und ich im Rudi-Kargus-Trikot von<br />
Pfosten zu Pfosten hechtete, erholten<br />
sich meine schulischen Leistungen<br />
nicht, obwohl der <strong>HSV</strong> seine sportlich<br />
erfolgreichste Phase startete.<br />
Ich kam zur rechten Zeit zum rechten<br />
Verein. Der <strong>HSV</strong> eilte in Liga und Pokalwettbewerben<br />
von Sieg zu Sieg,<br />
von Erfolg zu Erfolg. Da war es wenig<br />
unpassend, dass meine schulischen<br />
Leistungen in den Keller gingen und<br />
ich jeden Vormittag im Abstiegskampf<br />
steckte.<br />
Versetzung nur knapp geschafft, weil<br />
ich im Latein-Unterricht zu oft ins<br />
grammatikalische Abseits lief Na<br />
und Der <strong>HSV</strong> wurde DFB-Pokalsieger<br />
1976 und ich bejubelte noch am Montag<br />
darauf den Sieg mit Kai, meinem<br />
einzigen Co-<strong>HSV</strong>-Fan an der Schule.<br />
Sitzenbleiben Na und Ein Europapokalsieg<br />
gegen den RSC Anderlecht<br />
stand dem entgegen. Es folgten lauter<br />
erste Male: mein erstes <strong>HSV</strong>-Auswärtsspiel,<br />
ein Sieg in der ersten Runde<br />
des DFB-Pokal, beim damals kleinen,<br />
aber erreichbaren FSV Mainz 05 am<br />
Bruchweg. Es war zugleich mein erster<br />
Ein-Mann-Platzsturm, denn in den<br />
verträumten Siebzigern, konnte ich<br />
mich durch die Gitter des Tribünenzauns<br />
zwängen und gelangte so in<br />
die Nähe der <strong>HSV</strong>-Trainerbank. Respektvoll<br />
begab ich mich mitten auf<br />
der Tartanbahn, unweit von Rudi<br />
Gutendorf und Dr. Peter Krohn, in<br />
den Schneidersitz. Es war zugleich<br />
eines der ersten Spiele von Kevin<br />
Keegan im <strong>HSV</strong>-Dress. Ich war also<br />
hautnah dabei, als die Zukunft geformt<br />
wurde, die den meisten heute<br />
als Tradition geläufig ist. Noch mehr<br />
gilt das für den 4. April 1979, als ich<br />
ein Mittwochabend-Spitzenspiel der<br />
Sonderklasse erleben durfte: <strong>HSV</strong><br />
gegen den Spitzenreiter 1. FC Kaiserslautern,<br />
der 3:0 geschlagen wurde<br />
und Kapitän Neues durch Platzverweis<br />
verlor.<br />
So oft ich es von Wiesbaden aus einrichten<br />
konnte, war ich im Volksparkstadion.<br />
Als Maskottchen für Auswärtsspiele<br />
im Rhein-Main-Gebiet<br />
taugte ich hingegen nicht. Entweder<br />
verlor der <strong>HSV</strong>, oder, ich geriet an<br />
Eintracht-Frankfurt-Hooligans. Diesen<br />
Fluch konnte ich zwischenzeitlich<br />
empirisch validieren: als ich im Frühjahr<br />
2000 im Frankfurter Waldstadion<br />
war, verlor der Champions League<br />
Aspirant <strong>HSV</strong>, nach dem Ausfall Cardosos,<br />
gegen die von Felix Magath<br />
trainierten und abstiegsbedrohten<br />
Frankfurter mit 0:3.<br />
Im September 2007 verlor der <strong>HSV</strong><br />
in meiner Anwesenheit in der Frankfurter<br />
Commerzbank-Arena 1:2. In all<br />
den Jahren dazwischen gab es fast<br />
ausnahmslos Siege für den <strong>HSV</strong>. Nein,<br />
als Auswärtsmaskottchen bin ich eine<br />
Fehlbesetzung und wäre ich am letzten<br />
Spieltag 1995/96 in Waldstadion<br />
gegangen, der <strong>HSV</strong> hätte die UE-<br />
FA-Cup-Qualifikation verpasst, die er<br />
sich durch meinen heroischen Verzicht<br />
und ein 4:1 zu sichern vermochte…<br />
Fotos: Witters & Privatarchiv