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Verrückte Ausgabe

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zweiundvierzig<br />

klarkommen müssen, mit denen ich aber kaum Berührungspunkte<br />

hatte – jetzt sollte ich selbst in diese Lage<br />

versetzt werden und auch noch selber auswählen, welche<br />

Behinderung einen Tag lang mein Leben kontrollieren<br />

sollte. Voller Gedanken stand ich abends vor der<br />

Infotafel: Rollstuhl? Nee, dann kann ich ja gar nichts<br />

mehr alleine machen! Krücken? Das geht doch voll in die<br />

Arme! Gehörlosigkeit? Dann wäre ich völlig aus dieser<br />

Welt raus! Simulierte Armamputation? Ganz ehrlich: lieber<br />

arm dran, als Arm ab! Stumm? Dazu fehlt mir einfach<br />

die Selbstdisziplin! Übrig blieb eine der Brillen zur Simulation<br />

einer Augenkrankheit. Ich entschied mich für das<br />

meiner Meinung nach kleinste Übel: ein Tag mit zehnprozentiger<br />

Sehfähigkeit.<br />

Der Samstag kam und es wurde ernst. Ich schloss meine<br />

Augen, setze die Brille auf, öffnete sie wieder und sah<br />

die Welt aus einer völlig neuen Perspektive. Ich merkte,<br />

wie mein Körper nach kurzer Zeit reagierte und meine<br />

Wahrnehmungen sich auf andere Sinnesorgane verschoben.<br />

Auch um mich herum änderte sich die Stimmung<br />

deutlich, je mehr Leute mit ihrem Handicap versehen<br />

wurden. Ein leicht beklemmendes Gefühl stellte sich ein,<br />

weil Geräusche nicht mehr direkt zugeordnet werden<br />

konnten oder Arme nicht mehr benutzt werden konnten,<br />

um noch einen Schluck Kaffee zu nehmen.<br />

allem defekte Aufzüge<br />

oder Rolltreppen,<br />

denen wir mehrfach<br />

begneten, ein großes<br />

Problem. Die völlig<br />

blinde Anna und ich<br />

als Sehbehinderte<br />

hatten inzwischen<br />

das Blindenleitsystem<br />

für uns entdeckt. Der<br />

gehörlose René hatte<br />

da die wenigsten Probleme<br />

in einen Zug zu<br />

gelangen, auch wenn<br />

wir ihm nicht immer<br />

direkt unseren Plan<br />

verständlich machen<br />

konnten. Abstände<br />

zwischen Zug und<br />

Bahnsteigkante und Herausforderungen wie das Lesen<br />

von Fahrplänen oder das Einsteigen in den richtigen Zug<br />

kamen uns zusätzlich in die Quere. Hinzu kam dann noch<br />

die Fußball-Kultur des Ruhrgebiets – an einem Samstag!<br />

Dementsprechend tummelten sich in Bahnhöfen<br />

und Zügen zahlreiche Fußballfans. Viele davon waren<br />

alles andere als freundlich zu uns und pöbelten uns als<br />

„dumm“ und „behindert“ an.<br />

Es war eigentlich nicht groß verwunderlich, dass keine<br />

der sechs Gruppen es geschafft hatte, die Gruppe um<br />

MR. NIX auf ihrem Weg aufzuhalten. Das war aber auch<br />

nicht weiter tragisch. Für mich stand das Erlebte im Vordergrund.<br />

Dieser Tag hat jeden von uns zum Denken gebracht.<br />

Ich hätte nie geglaubt, dass mich diese Erfahrung<br />

so bewegen würde!<br />

An das Handicap gewöhnt, ging es für uns raus ins wahre<br />

Leben. Mit dem Ziel im Regionalverkehrsnetz des Verkehrsverbunds<br />

Rhein-Ruhr MR. NIX zu finden, begegnete<br />

mir und meiner Gruppe schon die erste Hürde. Bis zum<br />

Hauptbahnhof mussten wir per Linienbus kommen, was<br />

sich als verdammt schwer herausstellte. Wie sollte ich als<br />

fast blinde Person nun Robert in seinem Rollstuhl in diesen<br />

Bus kriegen? Nur dank der Hilfe einiger hilfsbereiter<br />

Passanten haben wir dieses Hindernis gemeistert. Am<br />

Hauptbahnhof angekommen, bekamen wir auch schon<br />

den aktuellen Aufenthaltsort von MR. NIX mitgeteilt und<br />

es ging per Zug weiter.<br />

Je länger wir unterwegs waren, desto mehr stellten wir<br />

fest, wie viel Nachholbedarf es in Sachen Behindertengerechtigkeit<br />

gibt. Für Robert im Rollstuhl waren vor<br />

René, Anna und Robert kannte ich vorher nicht. Dass wir<br />

zusammen in eine Gruppe kamen war purer Zufall. Einen<br />

Tag lang mussten wir vier nun miteinander klar kommen<br />

und uns aufeinander einlassen, uns unterstützen<br />

und gegenseitig vertrauen. Ohne die Hilfe der drei anderen,<br />

wäre ich wohl verzweifelt – und sie genauso. Für<br />

mich eine ganz wertvolle Erfahrung, die ich nicht missen<br />

möchte. Und doch denke ich, für uns als Pfadfinderinnen<br />

und Pfadfinder sollte das eigentlich „nix besonderes“ sein.<br />

Jule Krysmalski & Martin Deckers, Bezirk Niederrhein-Nord<br />

Ein Video mit Eindrücken des<br />

Tages findet ihr auf<br />

http://bit.ly/wt14vid<br />

oder scannt den QR-Code!

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