Neue Szene Augsburg 2015-05
Das Stadtmagazin für Augsburg und Umgebung. Aktuelle Info und Veranstaltungskalender unter www.neue-szene.de
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36 Zoom<br />
Love Me Tinder oder:<br />
App ins Bett?<br />
Wir tingeln nicht mehr des nächtens durch die Bars,<br />
wir „tindern“<br />
Geht es bei Tinder und Co ums Suchen und Finden der Liebe? Oder nur um schnellen<br />
Sex? Was sagt der Erfolg von mobilen Dating-Tools über unsere Gesellschaft<br />
aus - und vor allem: Was macht er aus uns? Von Joshena Dießenbacher<br />
Stefan, 31 Jahre alt, 15 Kilometer entfernt, weißes Hemd, Hornbrille Farbton „Havanna“<br />
(Stil Hans-Jochen Vogel, mit anderen Worten: „Vintage“), Lächeln durchaus<br />
sympathisch, allerdings Tendenz leichtes Übergewicht oder zumindest Präferenz<br />
Rahmsauce. Also weg mit Stefan! Weiter mit: Jörg, 36 Jahre alt, sieben Kilometer<br />
entfernt. Hallo, wollt ihr mich auf den Arm nehmen? Der hat ja wohl größere<br />
Geheimratsecken als Onkel Hubert! Also weg mit Jörg, egal, was er anhat oder<br />
wie er wohl aussieht, wenn er nichts anhat. Es ploppt auf: Jan, 34, vier Kilometer<br />
entfernt, legerer Kapuzenpulli, verschmitztes Grinsen, gepflegte Zähne, o là là,<br />
auch noch ziemlich muskulös allem Anschein nach. Her damit, in die engere Auswahl<br />
mit ihm, und der Nächste, bitte! Wir tingeln nicht mehr des nächtens durch<br />
die Straßen, wir „tindern“.<br />
„It’s showpeoplemeet“<br />
Tinder (Zunder) ist eine mobile Dating-App, die, so sagt es Wikipedia, „das Ziel<br />
hat, ihren Benutzern das Kennenlernen von Menschen in der näheren Umgebung<br />
zu erleichtern“. Oder, so sagt Tinder schlicht über sich: „It’s showpeoplemeet“. So<br />
also lernt man sich im 21. Jahrhundert kennen. In der Tat ist das Ganze ergreifend<br />
simpel: Die App schlägt potentielle Datingpartner vor, ein bis fünf Bilder, und der<br />
Nutzer kann bequem, in der U-Bahn, auf dem Sofa oder auch unterm Tisch im<br />
Seminar, „Menschen gucken“. Wer wissen will, ob sich gleich um die Ecke eine<br />
abenteuersuchende Blondine langweilt, der stellt einfach einen Suchradius von<br />
zwei Kilometern ein. Und wer aus irgendwelchen Gründen eher das Weite sucht,<br />
kann bis zu 160 Kilometer Entfernung einstellen.<br />
Mitmachen ist also relativ leicht und kann jeder, sofern er ein Facebook-Profil<br />
besitzt, auf dessen Bilder und Informationen Tinder zugreift, und sofern er gewillt<br />
ist, den eigenen Standort automatisch übermitteln zu lassen. So sagen wir also<br />
mal wieder: Gute Reise in die USA, meine lieben Daten!<br />
Denn mal ehrlich: Datenschutz? Hört sich gut an, taugt immer noch für wohlfeile<br />
Reden und Skandale, aber wen schert’s wirklich? Etwa 1,4 Milliarden Menschen<br />
auf der Welt nutzen Facebook. Gratis natürlich. So wie Tinder, bislang zumindest.<br />
Denn derzeit startet die App in mehreren Ländern die Bezahlvariante „Tinder<br />
plus“, die ein paar Zusatzfunktionen bietet. So kann man zum Beispiel seinen<br />
Standort ändern und schon mal vorab von zu Hause die Flirtmöglichkeiten am<br />
Urlaubsort checken. Aber Vorsicht! Wer „alt“ ist, muss dafür tiefer in die Tasche<br />
greifen: In Großbritannien etwa zahlt man 3,99 Pfund, wenn man unter 28 ist. Für<br />
den Rest kostet’s 14,99 Pfund (circa 20 Euro).<br />
Irgendwie und irgendwann muss Tinder ja Geld verdienen. Auch die anderen in<br />
Deutschland beliebten Dating-Apps wie Badoo, Lovoo oderFriendScout24,<br />
schon vor Tinder am Markt gewesen, finanzieren<br />
sich über kostenpflichtige Zusatzfunktionen. Lovoo übrigens<br />
wurde in Dresden erfunden - das war im Jahr 2011 eine kleine<br />
deutsche Digital-Startup-Erfolgsgeschichte, wo doch gefühlt<br />
alle großen Dinger aus den USA kommen. Jedoch: Um Lovoo<br />
oder Badoo gab es in den vergangenen Jahren keinen so großen<br />
Medienrummel wie um Tinder jetzt. Vielleicht, weil Tinder die am schnellsten<br />
wachsende Dating-App ist. Oder, weil es die oberflächlichste Dating-App ist, wie<br />
Vergleichsportale befinden. Man könnte einen Zusammenhang vermuten.<br />
Nach rechts wischen: „I like. Nach links wischen:<br />
„Auf Nimmerwiedersehen“.<br />
Entwickelt und getestet wurde Tinder 2012 auf einem Uni-Campus im US-Staat<br />
Kalifornien. Nach Deutschland kam die App vor gut einem Jahr, im Februar 2014<br />
(es gab eine große „Launchparty“ in Berlin) und somit zu Hornbrillen-Stefan, 31, 15<br />
Kilometer entfernt. Und zu weiteren zwei Millionen Nutzern hierzulande (Stand:<br />
Januar <strong>2015</strong>), Tendenz stark steigend. Deutschland sei Tinders stärkster Wachstumsmarkt,<br />
sagte Jonathan Badeen, 33, mehr als 160 Kilometer entfernt, groß,<br />
dunkelhaarig und Tinder-Co-Gründer, dem Spiegel kürzlich in einem Interview -<br />
und, dass er früher Schiss vor Dates hatte (jetzt nicht mehr).<br />
Badeen gilt übrigens als der Erfinder des „SwipeRight“, jenes Wischens auf dem<br />
Smartphone, mit dem man bei Tinder Interesse zeigt. Nach rechts wischen heißt:<br />
„I like, in den Warenkorb“, nach links wischen: „Nope, nein danke und auf Nimmerwiedersehen“.<br />
Wenn ich also Jan, 34, Kapuzenpulli, schlechte Zähne, aus Versehen<br />
wegwische, ist’s rum ums Eck, außer ich bezahle für Tinder plus, dann kann ich<br />
ihn „zurückholen“. Wobei unser großes gemeinsames Glück ja immer noch davon<br />
abhängt, ob er mich überhaupt nach rechts gewischt (oder wahlweise aufs Herz<br />
geklickt) hat. Dann nämlich ist’s ein Match und es darf fröhlich loskommuniziert<br />
werden. Apropos gemeinsames Glück: Ist natürlich Definitionssache. Für manchen<br />
(<strong>Augsburg</strong>er) ist Tinder einfach eine Resterampe für sexuelle Kontakte.<br />
Festzuhalten bleibt: Es ist vor allem das Wischen, diese simple Entweder-oder-<br />
Technik, die es ermöglicht, so viele Optionen zu „checken“. 30 Gesichter in der<br />
Minute muss man erst mal schaffen (man stelle sich nur die armen Menschen<br />
in den Personalabteilungen vor, die können nicht einfach wischen). Und hey, wo<br />
sonst im Leben (außer bei Germanys oder Dschungelcamps next Erniedrigungsshow)<br />
bekommen wir die „Möglichkeit“, so viele andere Menschen zu beurteilen,<br />
und das auch noch anonym? Der „Weggewischte“ hat ja nicht direkt Kenntnis,<br />
wer ihn abgelehnt hat. Tinder ist gewissermaßen eine konsequente Übertragung<br />
digitaler Informations- und Selektionsmechanismen (Facebook-Like oder