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Distanz

Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 01/2012

Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 01/2012

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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC<br />

Ausgabe 01/2012<br />

<strong>Distanz</strong><br />

<strong>Distanz</strong><br />

1


DISTANZ<br />

WIE VIEL BRAUCHEN WIR? WIE VIEL ERTRAGEN WIR?<br />

<strong>Distanz</strong><br />

(von lat.: distare –<br />

abstehen, entfernt sein):<br />

1.<br />

räumlicher, zeitlicher<br />

oder innerer Abstand<br />

2.<br />

zurückzulegende Strecke, Gesamtzeit<br />

der angesetzten Runden (Sport)<br />

3.<br />

Reserviertheit, abwartende<br />

Zurückhaltung<br />

300 km/h<br />

Der Deutsche<br />

Alexander Neumeister zählt zu den<br />

renommiertesten Industriedesignern weltweit.<br />

Neben dem Transrapid und dem ICE<br />

zählt der japanische Shinkansen 500 Nozomi<br />

(dt.: „die Hoffnung“) zu seinen bekanntesten<br />

Entwürfen. Dieser Hochgeschwindigkeitszug<br />

erreicht eine Maximalgeschwindigkeit von<br />

300 km/h. 64 Fahrmotoren übernehmen<br />

den Antrieb. Aktuell verkehrt der Nozomi,<br />

der für 1324 Sitze ausgelegt ist, zwischen<br />

Tokio und dem im Süden Japans<br />

liegenden Hakata. Für die<br />

1069 Kilometer braucht er<br />

vier Stunden<br />

und 49 Minuten.<br />

Mobilität<br />

(von lat.: mobilitas – Beweglichkeit)<br />

bezeichnet die Eigenschaft, bewegt<br />

werden zu können, also passive<br />

Bewegungsfähigkeit. Die Fähigkeit,<br />

sich aktiv zu bewegen, heißt hingegen Motilität.<br />

Das Gegenteil von aktiver Bewegungsfähigkeit<br />

ist Sessilität: Sessile Tiere sitzen an<br />

ihrem Aufenthaltsort fest, zum Beispiel<br />

Korallen und Schwämme. Auch<br />

manche Parasiten werden, sobald sie<br />

einen Wirt gefunden haben,<br />

sessil, etwa die Walläuse<br />

auf der Haut von<br />

Walen.<br />

Fahrerloses Auto<br />

Unabhängigkeit<br />

„Wenn ich unterwegs bin,<br />

achte ich im Allgemeinen besonders<br />

darauf, dass ich selbst bestimmen<br />

kann, mit wem ich unterwegs bin.“<br />

Die Mobilitätsstudie 2011 des<br />

ÖAMTC zeigt, dass 83% der<br />

österreichischen Bevölkerung<br />

folgender Aussage „voll und<br />

ganz zustimmen“ und<br />

„zustimmen“.<br />

Ultralangstrecke<br />

Manche Vogelarten können es<br />

mit Langstreckenflugzeugen locker<br />

aufnehmen: Die Pfuhlschnepfe kann<br />

nonstop von Alaska nach<br />

Neuseeland fliegen – 11.500 Kilometer.<br />

Zum Vergleich: Der zurzeit längste<br />

Linienflug mit 16.600 Kilometern<br />

findet zwischen Singapur<br />

und New York<br />

statt.<br />

Mit 1. März 2012 hat Nevada als erster<br />

US-Bundesstaat selbstfahrende Autos<br />

auf seinen Straßen erlaubt und diese<br />

folgendermaßen definiert:<br />

Autonomous vehicle means a motor vehicle that<br />

uses artificial intelligence, sensors and global<br />

positioning system coordinates to drive itself without<br />

the active intervention of a human operator.“<br />

Unter einem „selbstfahrenden Auto“ wird ein<br />

motorisiertes Fahrzeug verstanden, das<br />

künstliche Intelligenz, Sensoren und<br />

GPS-Koordinaten nutzt, um<br />

selbstständig und ohne aktiven<br />

menschlichen Eingriff<br />

zu fahren.<br />

Impressum und Offenlegung<br />

Nichtpendler<br />

27% der Erwerbsbevölkerung<br />

in Österreich werden als Nichtpendler<br />

bezeichnet. Sie wohnen und arbeiten<br />

entweder im gleichen Haus oder auf<br />

dem gleichen Grundstück. Oder sie<br />

arbeiten auf einem anderen Grundstück<br />

in der gleichen Wohngemeinde.<br />

„Binnenpendler“, zum Beispiel<br />

zwischen verschiedenen<br />

Stadtteilen, zählen ebenso<br />

zu den Nichtpendlern.<br />

Pendler<br />

Sonderform der Wanderung,<br />

die nicht mit einer Verlegung des<br />

Wohnorts verbunden ist.<br />

In Österreich pendeln 63 % der<br />

Erwerbsbevölkerung – 1% pendelt<br />

ins Ausland, 14% pendeln zw.<br />

Bundesländern, 23% pendeln<br />

zw. politischen Bezirken des<br />

Bundeslandes, 25% pendeln<br />

zw. Gemeinden eines<br />

politischen Bezirks.<br />

Medieninhaber und Herausgeber<br />

Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC)<br />

Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0<br />

www.oeamtc.at<br />

ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301<br />

Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter<br />

Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.<br />

Der ÖAMTC wird vertreten durch den Präsidenten Dkfm. Werner Kraus<br />

und den Generalsekretär DI Oliver Schmerold.<br />

Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh<br />

Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),<br />

Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)<br />

Chefin vom Dienst Silvia Wasserbacher, BA<br />

MitarbeiterInnen dieser Ausgabe<br />

Dipl.-Bw. Maren Baaz, Mag. Eva Hübner, Mag. (FH) Christian Huter,<br />

Mag. Claudia Kesche, Nicole Kolisch, Bakk., Mag. Konstantin Kouloukakos,<br />

Leo Ludwig, Mag. Uwe Mauch, Dr. Daniela Müller, Dr. Ruth Reitmeier,<br />

Katrin Stehrer, BSc, DI Anna Várdai<br />

Grafik Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation<br />

Korrektorat Christina Preiner, vice-verba<br />

Fotografie Lukas Ilgner, Christoph Wisser<br />

Covermodels apeconnection.com (Michael Mölschl, Pamela Obiniana)<br />

Druck Hartpress<br />

Download www.querspur.at<br />

Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.


4<br />

7<br />

15<br />

20<br />

26<br />

27<br />

28<br />

Heute<br />

Allein in der Masse.<br />

Abstand ist in den öffentlichen<br />

Verkehrsmittel essentiell –<br />

von Daniela Müller<br />

Mobilitätstypen.<br />

Wer bewegt sich wie und warum?<br />

Wie bewegen wir uns?<br />

Womit sind wir unterwegs und wie<br />

lange brauchen wir?<br />

Homo Mobilis. Wir reisen<br />

schneller, weiter, effizienter als je<br />

zuvor. Ungeklärt bleibt die Frage: Zur<br />

Last oder Lust? – von Nicole Kolisch<br />

Tierische Rekorde.<br />

Wer bewegt sich wie und warum?<br />

Die Vermessung der Welt.<br />

Warum beim Warten auf die<br />

Straßenbahn aus vier plötzlich<br />

sechs Minuten werden können –<br />

von Nicole Kolisch<br />

Wegemuster durch die Stadt.<br />

Sichtbare Strecken zeigen unterschiedliche<br />

Nutzungsprofile –<br />

von Ruth Reitmeier<br />

20<br />

12<br />

8<br />

12<br />

Zukunft<br />

Auto mit Hirn. In den Autos der<br />

Zukunft darf der Lenker schlafen,<br />

nachdenken und arbeiten –<br />

von Leo Ludwig<br />

Die Aufholjagd der U-Bahnen.<br />

Alexander Neumeister entwirft Züge<br />

und U-Bahnen mit viel Raumgefühl –<br />

von Ruth Reitmeier<br />

16<br />

16<br />

18<br />

24<br />

Per Faltrad in die Zukunft.<br />

Uwe Mauch pendelt (ohne Auto)<br />

zwischen Wien und Zagreb –<br />

eine Reportage<br />

Startups. Spannende Ideen<br />

zum Thema <strong>Distanz</strong> und intermodale<br />

Mobilität – von Katrin Stehrer<br />

Autostoppen 3.0.<br />

Mitfahrbörsen werden intelligent –<br />

von Daniela Müller<br />

18<br />

<strong>Distanz</strong><br />

3


4<br />

Foto: Wikipedia, Daniel Schwen


Allein in<br />

der Masse<br />

ABSTAND IST IN ÖFFENTLICHEN VERKEHRSMITTELN ESSENTIELL.<br />

DIE KÜNFTIGE HERAUSFORDERUNG HEISST, INDIVIDUELLES REISEN<br />

IN DER MASSE ZU ERMÖGLICHEN.<br />

Von Daniela Müller<br />

Nicht jeder Kenianer ist ein guter Läufer.<br />

Aber viele. Mobilität in Afrika bedeutet Körpereinsatz,<br />

vor allem, wenn Eltern kein Geld<br />

für den Schulbus haben und der Schulweg<br />

zehn Kilometer und mehr beträgt. Gehen oder<br />

Laufen ist Notwendigkeit zum Überleben. Für<br />

die kenianischen Marathonläufer in zweifacher<br />

Hinsicht: Die Gewinnprämien sichern<br />

ihnen und ihren Familien ein gutes Leben.<br />

Das wirtschaftliche Überleben zwingt auch<br />

viele Wanderarbeiter in China und Millionen<br />

Menschen in Indien zu langen Pendelstrecken,<br />

meist mit dem Zug, „Holzklasse“ mit Fenstern<br />

ohne Glasscheiben. Die Pendler sitzen nicht<br />

selten bis zu 40 Stunden im Zug, um der Arbeit<br />

nachzufahren, die in den Metropolen<br />

Chinas oder Indiens auf sie wartet. Was für<br />

den mitreisenden Touristen anstrengend ist,<br />

wird für so manchen kontaktfreudigen Inder<br />

zur Netzwerkveranstaltung. Während sich<br />

die obere Gesellschaftsschicht in die 1. Klasse<br />

zurückzieht, wird in der „Holzklasse“ geplaudert,<br />

getratscht und nach der Reise sind für<br />

Manche neue Bekannte oder potenzielle<br />

Geschäftspartner gefunden.<br />

„Beweglichkeit war schon immer die Haupttriebkraft<br />

von Menschen“, erklärt Andreas Knie,<br />

Soziologe und Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum<br />

Berlin und der TU Berlin. Seit<br />

den 1960-er Jahren habe sich in Deutschland<br />

die Pendelleistung verdoppelt und nehmen<br />

weiterhin leicht zu, wenn sich auch mit der<br />

Tele arbeit eine leichte Gegentendenz zeige. Die<br />

Zumutbarkeit sieht Knie bei einer Stunde pro<br />

Strecke erreicht: Bei längeren Strecken würden<br />

psychische und Herzkreislauferkrankungen<br />

steigen, beobachtbar seien zudem stärkere<br />

Zerrüttungstendenzen in den Familien.<br />

BEI WENIGER ALS 64 ZENTI-<br />

METERN ABSTAND SCHLÄGT<br />

DAS MENSCHLICHE GEHIRN<br />

ALARM<br />

Doch Kontakte suchen beim Pendeln die wenigsten.<br />

Untersuchungen haben gezeigt, dass<br />

in den meisten Kulturen soziale Kontakte in<br />

öffentlichen Verkehrsmitteln vermieden werden.<br />

Im California Institute of Technology hat<br />

man herausgefunden, dass bei weniger als 64<br />

Zentimetern Abstand zwischen Menschen das<br />

Areal im Gehirn, das für Wut und Angst zuständig<br />

ist, Alarm schlägt. In den asiatischen<br />

Ländern lassen die Menschen trotzdem mehr<br />

räumliche Nähe zu. Auch weil ihnen in Anbetracht<br />

der oft restlos überfüllten Züge und<br />

Busse nichts anderes übrig bleibt. Da kommt es<br />

schon vor, dass, am Haltegriff festgeklammert,<br />

die Fahrzeit für Powernapping, den leistungssteigernden<br />

Kurzschlaf, genutzt wird.<br />

„Diejenigen, die routinemäßig in öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln unterwegs sind, individua-<br />

<strong>Distanz</strong><br />

5


Foto: erysipel/pixelio<br />

Smartphone vor Auto.<br />

Die intensivsten Nutzer von öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

sind junge Menschen. Für sieben von zehn<br />

sind Bus, Bahn, Straßen- oder U-Bahn unverzichtbar<br />

geworden. In Deutschland besitzen laut einer<br />

Timescout-Untersuchung drei Viertel der 20- bis<br />

29-jährigen Deutschen zwar einen Führerschein,<br />

die Hälfte davon fährt jedoch kaum Auto.<br />

Smartphone und MP3 Player haben in dieser Gruppe<br />

einen höheren Stellenwert als die eigenen vier Räder.<br />

lisieren ihre Fahrtstrecke. Entweder sie lesen<br />

oder sie verstöpseln sich. Das ist mit graduellen<br />

Unterschieden auf der ganzen Welt so“, erklärt<br />

Mobilitätsforscher Knie. Obwohl es in Pariser<br />

Vorortezügen erfolgreiche Versuche gab, in<br />

einzelnen Abteilen Weiterbildungsprogramme<br />

oder Sprachkurse abzuhalten, wählten laut<br />

Knie europäische Pendler die Abgrenzung zu<br />

anderen Fahrgästen mittels Zeitung, Zeitschrift,<br />

Buch und immer stärker mit digitalen Medien.<br />

Als Zeitvertreib, jedoch auch um unterwegs zu<br />

arbeiten. Ist dann Reisen noch die Haupttätigkeit?<br />

Oder schon Nebensache?<br />

„IN DER ERSTEN KLASSE<br />

WIRD KAUM NOCH JEMAND<br />

LAUT TELEFONIEREN“<br />

Die Grenzen sind schwimmend. Designer sehen<br />

Autos schon länger als rollende Smartphones.<br />

Nun ziehen auch öffentliche Verkehrsbetreiber<br />

nach, die stärker nach Technologien wie Internet<br />

oder Mobilfunk-Netz nachfragen, beobachtet<br />

Siemens Rail Systems, weltweit tätiger<br />

Hersteller von Eisenbahnen, Metros, Straßenund<br />

Stadtbahnen. Fahrgäste würden mehr als<br />

früher erwarten, im Zug arbeiten zu können.<br />

Zusätzlich zeigt sich laut Siemens Rail Systems<br />

auch ein klarer Zukunftstrend beim Design<br />

der Wagons: Diese orientierten sich stärker als<br />

noch vor wenigen Jahren an unterschiedlichen<br />

Zielgruppen – etwa mit Ruhezonen, in denen<br />

Handys tabu seien, eigenen Arbeitszonen oder<br />

Mutter-Kind-Abteilen. In diesem Zusammenhang<br />

berichtet Mobilitätsforscher Knie von<br />

einer deutlich beobachtbaren Zivilisierung bei<br />

den Kommunikationsformen: „In Zügen der<br />

1. Klasse wird man in Deutschland heute kaum<br />

mehr erleben, dass jemand laut telefoniert.“<br />

Individualisiertes Reisen in der Masse. Wird<br />

dieses Gefühl in Zukunft stärker erzeugt,<br />

steigen mehr Menschen vom Auto auf öffentliche<br />

Verkehrsmittel um. Davon ist Christine<br />

Chaloupka-Risser vom Mobilitäts- und Verkehrsforschungsinstitut<br />

Factum überzeugt:<br />

„Dann verlassen Autofahrer ihren geschützten,<br />

komfortablen, und vor allem individuell eingerichteten<br />

Raum, in dem sie das Gefühl hatten,<br />

sicher und pünktlich anzukommen, auch<br />

wenn das in der Realität nicht stimmte.“ Psychologie<br />

und Gestaltung seien für einen Umstieg<br />

genauso wichtig wie der Kostenfaktor.<br />

Bei Siemens Rail Systems geht man dazu über,<br />

alles, was im Fahrgastraum nicht unbedingt<br />

gebraucht wird, herauszunehmen und unterflur<br />

zu verstauen. Wichtig im öffentlichen<br />

Verkehr sei zudem, ob und wie die Passagiere<br />

über die Fahrt informiert würden, meint<br />

Christine Chaloupka-Risser. „Die Fahrgäste<br />

wollen sehen oder hören, wo Störungen oder<br />

Verspätungen sind und nicht am Bahnsteig<br />

stehen gelassen werden.“ Dazu gehörten etwa<br />

die Bekanntgabe von Verbindungs- und Umsteigmöglichkeiten<br />

oder, im Falle von Verspätungen,<br />

die Information, ob die Anschlüsse<br />

gesichert seien oder welche Alternativen es<br />

gebe.<br />

Doch auch psychologische Faktoren würden<br />

an Bedeutung gewinnen, meint Chaloupka-<br />

Risser. Etwa Stress am Bahnhof zu vermeiden,<br />

zu schauen, wie man die Fahrgäste bequem<br />

weiterbringen kann oder jemandem, der sich<br />

nicht auskennt, gut zu leiten. Sauberkeit und<br />

Helligkeit seien in den Wagons ebenso wichtig<br />

wie auf den Bahnsteigen. Auch Personal, das<br />

nach dem Rechten schaue, erhöhe das individuelle<br />

Sicherheitsgefühl bei den Fahrgästen.<br />

Fortbewegung sichert, im Norden wie im<br />

Süden, das wirtschaftliche Überleben. Völlig<br />

verlassen will sich dabei aber letztendlich<br />

niemand fühlen, ob in Afrika, Indien oder<br />

Europa. <br />

6


MOBILITÄTSTYPEN<br />

WER BEWEGT SICH WIE UND WOMIT?<br />

DIE ÖSTERREICHERINNEN UND ÖSTERREICHER FOLGEN<br />

SECHS UNTERSCHIEDLICHEN MUSTERN.<br />

Quelle: Mobilitätsstudie 2011 des ÖAMTC<br />

DATEN & FAKTEN<br />

16 %<br />

DIE FAMILIEN AUF ACHSE<br />

Ob Eltern, die ihre Kinder morgens in die Schule<br />

bringen, anschließend zur Arbeit fahren und danach<br />

noch den Einkauf erledigen oder ArbeitnehmerInnen,<br />

die zur Arbeit pendeln: Bedingt durch das<br />

große Pensum an Wegen und mangels öffentlicher<br />

Alternativen ist für Pendler in Dörfern und Kleinstädten<br />

klar: „Ich bin aufs Auto angewiesen“.<br />

DIE NETZMOBILEN<br />

Vor allem junge Akademikerinnen in Städten<br />

repräsentieren diesen Typ. Diese nutzen den<br />

gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr und<br />

sehen Kosten und Umwelteffekte eines eigenen<br />

Autos kritisch. So kommen Sie zu dem Entschluss:<br />

„Im Alltag brauche ich kein Auto.“<br />

11 % 10 %<br />

DIE AUTOFANS<br />

Hier geht es nicht um Zweckmäßigkeit, sondern<br />

um Status und Spaß: Das Auto repräsentiert die<br />

Stellung, bewundernde Blicke der Nachbarn sind<br />

erwünscht. Kosten spielen eine Nebenrolle.<br />

„Mein Auto ist für mich alles“, lautet das<br />

Statement der meist ländlichen und männlichen<br />

Autofans.<br />

DIE TRADITIONALISTEN<br />

Gesellschaftlich aktiv zu bleiben ist ihnen<br />

wichtig und das Auto dabei unentbehrliche<br />

Unterstützung: „Ohne mein Auto bleibe ich<br />

über“, lautet das Credo dieser Gruppe, die<br />

vorwiegend aus Senioren auf dem Land besteht<br />

und sich mit Fahrgemeinschaften und öffentlichem<br />

Nahverkehr wenig anfreunden kann.<br />

DIE SITUATIVEN ENTSCHEIDER<br />

Die städtische Generation 55 plus repräsentiert<br />

diesen Typus. Nicht mehr der schnellste Weg,<br />

sondern selbstbestimmt und sicher Ziele erreichen<br />

ist das Motto, zumal auch der tägliche Weg zur<br />

Arbeit schon teilweise wegfällt. Die Einstellung<br />

dieser Gruppe ist „Ich muss nicht (mehr)<br />

überall mit dem Auto hin.“<br />

26 % 20 %<br />

<strong>Distanz</strong><br />

DIE JUNGEN KALKULIERER<br />

Diese tummeln sich vor allem in Wien oder am Land.<br />

Sie stehen vor der Herausforderung, morgens<br />

pünktlich am Ausbildungs- oder Studienplatz sein<br />

zu müssen, ohne ein Auto zu besitzen. Ihr Budget<br />

ist knapp. Deswegen ist Mitfahren für sie attraktiv.<br />

Ihr Motto: „Ich bin noch für alles offen,<br />

ein eigenes Auto wäre aber der Hit.“<br />

15 %<br />

7


8<br />

Foto: AutoNOMOS


Auto<br />

mit Hirn<br />

IN DEN SELBSTFAHRENDEN AUTOS DER ZUKUNFT WIRD MAN SCHLAFEN,<br />

NACHDENKEN UND ARBEITEN KÖNNEN. WAS LEONARDO DA VINCI VOR<br />

500 JAHREN ERTRÄUMTE, WIRD ENDLICH WIRKLICHKEIT.<br />

Von Leo Ludwig<br />

DIE WELT IN 20 JAHREN<br />

Bis heute weiß man nicht, ob es 1495 oder<br />

1478 war: Das Multitalent Leonardo da Vinci<br />

zeichnete eine heute noch verfügbare Skizze<br />

für ein „Carro semovente“: ein selbst fahrender<br />

Karren mit drei Rädern und einem überdimensionierten<br />

Uhrwerk zum Aufziehen als<br />

Antrieb. Das Ungetüm konnte sogar selbst<br />

lenken, allerdings nur geradeaus oder nach<br />

rechts. Folgerichtig hatte der große Künstler<br />

keinen Fahrersitz eingezeichnet.<br />

Die Idee vom Roboter-Auto ist also alt. Sehr<br />

alt. Wortwörtlich übersetzt heißt sogar Automobil<br />

„selbst fahrend“. Doch wirklich zum<br />

Greifen nah ist die radikale Verwirklichung<br />

des Autos mit Hirn erst seit kurzem durch<br />

die großen Fortschritte in der Digitalisierung<br />

und Sensortechnik. Ohne viel darüber zu<br />

reden, arbeiten alle namhaften Autohersteller,<br />

VW, BMW, Audi, Toyota, viele Zulieferer<br />

sowie Forschergruppen fieberhaft an der<br />

Weiterentwicklung der Assistenzsysteme, die<br />

mittlerweile standardmäßig in Autos eingebaut<br />

werden (siehe Box Seite 11). In der extremsten<br />

Version wird der menschliche Fahrer<br />

überflüssig und zum Mitfahrer degradiert.<br />

Oder, je nach Sicht, aufgewertet, weil dann die<br />

Passagiere die Fahrzeit zur Unterhaltung, für<br />

Videokonferenzen, Arbeit am Computer oder<br />

einfach nur zum Schlafen nützen können,<br />

während sie ans Ziel kutschiert werden.<br />

Die Technik für autonome Fahrzeuge, die<br />

eigenständig lenken, bremsen und beschleunigen<br />

können, sei inzwischen ausgereift, bestätigt<br />

Raul Rojas, wissenschaftlicher Leiter des<br />

Projekts AutoNOMOS der Freien Universität<br />

Berlin. Schon heute seien solche im geschlossenen<br />

Gelände in Einsatz, etwa in Fabriken<br />

und auf Flughäfen: In Heathrow chauffiert<br />

auf bestimmten Routen ein fahrerloser Bus<br />

die Passagiere.<br />

„IN 10–15 JAHREN WERDEN<br />

FAHRERLOSE AUTOS AUF<br />

AUTOBAHNEN UNTERWEGS<br />

SEIN“<br />

In 10 bis 15 Jahren, erklärt der Professor,<br />

würden fahrerlose Autos serienmäßig auf<br />

Autobahnen unterwegs sein. Testweise gibt<br />

es sie schon jetzt zu sehen, insbesondere in<br />

Kalifornien: Google hat sieben selbstfahrende<br />

Autos im Testbetrieb, die in der Bay Area<br />

bereits mehr als 230.000 Kilometer zurückgelegt<br />

haben. Mit Geschwindigkeiten von bis zu<br />

120 Stundenkilometern auf dicht befahrenden<br />

Highways, inklusive Spurwechsel und Überholmanövern.<br />

Und, bis auf einen Auffahrunfall,<br />

unfallfrei.<br />

<strong>Distanz</strong><br />

9


Foto: MadeinGermany<br />

Fotos: Steve Jurvetson<br />

In Deutschland und den USA haben selbstfahrende<br />

Autos schon viele Tausend Kilometer zurückgelegt.<br />

Noch sitzt aus Kontrollgründen ein Mensch hinter dem Lenkrad.<br />

Er wird jedoch bereits vom Computer selbständig chauffiert.<br />

Auch eines der Forschungsautos von Rojas,<br />

„MadeInGermany“, legte im Herbst 2011 eine<br />

tadellose Testfahrt durch 80 Kilometer Berliner<br />

Stadtverkehr hin; 46 Ampeln inklusive.<br />

Keine einzige hat der umgebaute VW Passat<br />

bei Rot durchfahren.<br />

Dabei unterscheiden sich die Wunderdinger<br />

äußerlich, bis auf einen kleinen Aufbau am<br />

Dach, nicht von normalen Autos. Das Innenleben<br />

aber hat es in sich: Laser-Scanner, Mini-<br />

Kameras und Radarsysteme, verteilt auf Frontund<br />

Rückseite, Dach sowie Rückspiegel, tasten<br />

permanent die Umwelt ab und schaffen eine<br />

360-Grad-Sicht, die das Computerhirn im Inneren<br />

des Fahrzeugs verarbeitet und als Basis<br />

für seine Fahrentscheidungen nimmt. Zusätzlich<br />

weiß es dank exakter GPS-Positionierung<br />

immer genau, wo sich das Auto befindet.<br />

DIE SCHRECKSEKUNDE ENT-<br />

FÄLLT, DER BREMSWEG IST<br />

DAHER UM VIELES KÜRZER<br />

Roboter-Autos können mehr sehen und fühlen<br />

als Menschen. Deshalb glaubt Sebastian<br />

Thrun, Stanford-Professor, VW-Partner und<br />

Mastermind hinter der Google-Flotte, an<br />

eine drastische Reduktion der Unfallzahlen,<br />

sobald die intelligenten Vehikel die Straßen<br />

erobern. Das Messen von <strong>Distanz</strong>en und das<br />

Interpretieren der entdeckten Widerstände<br />

sind Kernfunktionen, auf die es ankommt.<br />

Wo befinden sich andere Fahrzeuge? Fußgänger?<br />

Straßenmarkierungen? Was steht<br />

auf Verkehrszeichen? Dazu kommt die<br />

Schnelligkeit: Computer kennen keine<br />

Schrecksekunde. Ein normales Auto sollte<br />

bei 120 Kilometern pro Stunde mindestens<br />

60 Meter Abstand zum nächsten Auto halten,<br />

damit der Fahrer rechtzeitig bremsen kann.<br />

Computer-gelenkte einen Bruchteil dieses Abstands.<br />

Autobahnen könnten dann gefahrlos<br />

von zwei bis drei Mal so vielen Fahrzeugen<br />

befahren werden wie heute, sagen Experten.<br />

Auch Parkplätze könnten dichter gefüllt werden,<br />

da Roboter-Autos ihren Weg bis in die kleinste<br />

Parklücke finden. Automatische Einparksysteme,<br />

wie sie bereits serienmäßig Anwendung<br />

finden, benötigen vorne und hinten nur 30<br />

Zentimeter Abstand, um zu manövrieren.<br />

Werden die Roboter den Menschen also dazu<br />

verleiten, eine weitere Verkehrsexplosion<br />

zuzulassen? Nein, im Gegenteil: In Städten<br />

wie Berlin, wo gut ausgebaute öffentliche Verkehrsmittel<br />

vorhanden seien, werde künftig<br />

nur noch ein Zehntel des heutigen Autobestands<br />

nötig sein, vermutet Professor Rojas.<br />

Viele Garagen und Parkplätze würden überflüssig:<br />

„Wir werden keine eigenen Autos mehr<br />

besitzen, sondern bei Bedarf mittels Smartphone<br />

ein fahrerloses Taxi bestellen. Dieses<br />

wird es in unterschiedlichen Klassen geben: In<br />

der höheren Klasse fährt man alleine, in der<br />

niedrigeren steigen andere Fahrgäste zu.“ Auf<br />

diese Weise könnte jedes einzelne Fahrzeug<br />

längere <strong>Distanz</strong>en zurücklegen als die weniger<br />

intelligenten „Stehzeuge“ heute.<br />

10


Das Auto denkt, der Mensch lenkt<br />

Im Moment hat der Mensch das Steuer noch fest im Griff. Doch eine<br />

Fülle an unterschiedlichen Assistenzsystemen nimmt ihm Denkarbeit<br />

ab: vom Abstandsregler, der sich im nervtötenden Stop-and-Go-Verkehr<br />

bewährt, bis hin zum Notbremsassistenten, der das Fahrzeug automatisch<br />

bremst, wenn andere Fahrzeuge, Fußgänger oder Radfahrer<br />

zu nahe kommen. Selbst Müdigkeitsassistenten gibt es, die die Fitness<br />

des Fahrers registrieren. Ist diese bereits gering, kann der Fahrer den<br />

temporären Autopiloten einschalten. Ob er auf der Spur bleibt, zeigt ihm<br />

der Spurhalteassistent an, ob er überholen kann, der Spurwechselassistent.<br />

Ach ja, und für das Einparken gibt es auch eine Hilfe: Man kann<br />

aussteigen, der eingebaute Butler erledigt das ganz allein. Technisch ist<br />

der Schritt zum vollautomatischen Fahren nur noch klein.<br />

Das exakte Messen von <strong>Distanz</strong>en und das Interpretieren<br />

der entdeckten Widerstände sind Kernfunktionen, die ein<br />

lenkender Computer beherrschen muss.<br />

Wann diese Revolution in den staugeplagten<br />

Ballungsräumen ankommt, ist allerdings ungewiss:<br />

In 20, 30 oder 40 Jahren? Das hängt<br />

davon ab, wie rasch eine vom Freiheits- und<br />

Individualsymbol Auto geprägte Gesellschaft<br />

benötigt, um im wahrsten Sinn des Wortes<br />

das Steuer aus der Hand zu geben. Derzeit<br />

kostet die Versicherung eines einzigen fahrerlosen<br />

Autos noch rund 100 Millionen Euro.<br />

Erfahrungswerte über die Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

von Schäden sowie Standardisierungen<br />

fehlen. Wer ist schuld, wenn ein<br />

Computer „durchdreht“?<br />

DIE SICHERHEIT VON<br />

ROBOTER-AUTOS WIRD<br />

WESENTLICH HÖHER SEIN<br />

ALS JENE DER HEUTIGEN<br />

AUTOS, SONST WERDEN<br />

SIE NICHT AKZEPTIERT<br />

Selbst euphorischen Forschern ist bewusst,<br />

dass die Sicherheit der selbstfahrenden Autos<br />

in den nächsten Jahren noch einmal kräftig<br />

hinaufgeschraubt werden muss, um breite gesellschaftliche<br />

Akzeptanz für den Einsatz im<br />

komplexen Stadtverkehr zu finden. Letztlich<br />

wird von ihnen wesentlich mehr Sicherheit<br />

verlangt werden als von heutigen Autos. Und<br />

ein Notfallschalter: Der Mensch muss die Automatik<br />

jederzeit beenden können.<br />

Das schließt jedoch rasche, sprunghafte Entwicklungen<br />

in Nischenmärkten nicht aus,<br />

wie zum Beispiel den Einsatz von fahrerlosen<br />

Metrobussen in den jungen Großstädten<br />

Chinas und Indiens. Diese könnten auf reservierten<br />

Spuren fahren und auf diese Weise<br />

U-Bahn-Netze ersetzen, deren Aufbau ein<br />

Vielfaches teurer wäre. Modellversuche dazu<br />

gibt es bereits in den USA und Frankreich.<br />

Die wirklich großen Brocken, die noch zu<br />

erledigen sind, sind jedoch rechtlicher Natur:<br />

Noch sind fahrerlose Autos generell verboten.<br />

Das ist mit ein Grund, warum in allen Testfahrten<br />

Forscher als Co-Piloten mitfahren<br />

müssen. Die Diskussion, wie der rechtliche<br />

Rahmen für Computer-gesteuerte Autos aussehen<br />

könnte, hat in internationalen Gremien<br />

wie der UNO gerade erst begonnen.<br />

IN DEN USA MÜSSEN INTELLI-<br />

GENTE AUTOS EINE FÜHRER-<br />

SCHEINPRÜFUNG ABLEGEN<br />

Ob viel Zeit dafür bleibt, ist fraglich: In den<br />

USA hat der Bundesstaat Nevada mit 1. März<br />

2012 eine Rahmengesetzgebung erlassen, um<br />

künftig auch Führerscheine für Computer<br />

oder Roboter auszustellen. Angeblich auf Betreiben<br />

Googles hin. Kalifornien und Florida<br />

wollen nachziehen.<br />

Gleiches Recht für alle: So wie Menschen<br />

müssen auch Computer Prüfungen ablegen,<br />

bevor sie lenken dürfen. Das erste Roboter-<br />

Auto vielleicht ausgenommen: Leonardo da<br />

Vincis selbst fahrender Karren war nicht für<br />

die Straße, sondern fürs Theater gedacht. <br />

<strong>Distanz</strong><br />

11


DIE AUFHOLJAGD<br />

DER U-BAHNEN<br />

ALEXANDER NEUMEISTER ENTWIRFT ZÜGE UND U-BAHNEN,<br />

IN TOKIO GENAUSO WIE IN SAO PAULO UND MÜNCHEN.<br />

QUERSPUR SPRACH MIT IHM ÜBER EXTREMLÖSUNGEN<br />

UND ZUKUNFTSTRENDS.<br />

Das Gespräch führte Ruth Reitmeier<br />

Fahren Sie gerne U-Bahn?<br />

Ja, natürlich, ich wohne in München<br />

in der Nähe einer U-Bahnstation und<br />

fahre regelmäßig mit der U-Bahn.<br />

Doch ich habe festgestellt, dass es<br />

manchmal fast genauso schnell geht,<br />

wenn man zu Fuß unterwegs ist.<br />

Sie arbeiten allerdings auch in Millionen-Metropolen<br />

wie Tokio, Sao Paulo,<br />

Beijing, wo weder der Fußmarsch noch<br />

der Pkw realistische Alternativen zum<br />

öffentlichen Verkehr sind.<br />

Wenn man München etwa mit Tokio<br />

vergleicht, wo wir die Linie 13 zusammen<br />

mit Hitachi gestaltet haben, ist<br />

die Realität natürlich eine ganz andere.<br />

Um dort einen wichtigen Termin zu<br />

halten, gibt es zu öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

keine Alternative. Oder<br />

etwa Sao Paulo, wo wir zurzeit an<br />

der Linha 4 arbeiten. In dieser Stadt<br />

herrscht bereits früh morgens Stau,<br />

weshalb der U-Bahnbau jetzt mit Intensität<br />

vorangetrieben wird.<br />

In vielen europäischen Städten<br />

hingegen hat man noch eine echte Wahl<br />

zwischen Individual- und öffentlichem<br />

Verkehr. Welche sind die wesentlichen<br />

Unterschiede?<br />

Im eigenen Pkw habe ich eine kontrollierte<br />

Umgebung, nämlich die von mir<br />

gewünschte, besetzt mit Personen, die<br />

ich ausgewählt habe. In der U-Bahn<br />

habe ich diese Kontrolle über meine<br />

Umgebung freilich nicht, dort teile ich<br />

den Raum mit wahllosen Mitreisenden.<br />

Hinzu kommt, dass Passagiere öffentlicher<br />

Verkehrsmittel mit extrem unterschiedlichen<br />

Reise situationen rechnen<br />

müssen. Gerade deshalb steht der Designer<br />

vor der Aufgabe, eine möglichst<br />

attraktive Umgebung zu gestalten.<br />

DESIGN BEEINFLUSST,<br />

WO MENSCHEN IN DEN<br />

ZUG EINSTEIGEN<br />

Ein konkretes Beispiel?<br />

Hier in München haben wir bereits<br />

Ende der 90er-Jahre beim U-Bahn-<br />

Design etwas Spezielles versucht. Einen<br />

neuartigen Grundriss, der auf den Erfahrungen<br />

der Münchner Verkehrsbetriebe<br />

basierte. Man hatte festgestellt,<br />

dass sich die Fahrgäste am Anfang oder<br />

am Ende der Plattform sammeln –<br />

eben dort, wo die Stations-Zugänge<br />

sind –, und die Mitte der Plattform<br />

weitgehend leer blieb. Wir haben damals<br />

das Problem mit einem neuartigen<br />

Grundriss gelöst. Die Plätze<br />

vorne und hinten wurden für Kurzreisende<br />

geplant, mit vielen Stehplätzen<br />

und an den Seitenwänden montierten<br />

Sitzen. Die Mitte des Zugs wurde mit<br />

komfortabler Vis-à-vis-Bestuhlung gestaltet.<br />

Das heißt, die Leute, die länger<br />

unterwegs waren und es dabei bequemer<br />

haben wollten, gingen automatisch<br />

in die Mitte der Plattform. Durch diesen<br />

Design-Trick wurde zugleich die<br />

Verteilung der Passagiere gesteuert.<br />

Bei Durchsicht Ihrer Arbeiten sticht<br />

diese Mischform des Sitzplatz-Angebots<br />

heraus. Doch in vielen großen<br />

Städten, wie etwa in New York, gibt es<br />

ausschließ lich Längsbestuhlung.<br />

Warum eigentlich? Passen so mehr<br />

Menschen in den Zug?<br />

Ja, diese Anordnung bietet einfach<br />

mehr Kapazität. In Tokio gab es sogar<br />

eine Linie, bei der die Seitensitze automatisch<br />

hochgeklappt werden konnten.<br />

In den Hauptverkehrszeiten gab es<br />

dann eben nur noch Stehplätze. Das ist<br />

freilich eine Extremlösung. Doch wer<br />

Tokioter Verkehrsspitzen erlebt hat,<br />

wird verstehen, wie sie entstanden ist.<br />

Noch ein paar Kunstgriffe?<br />

Neben dem Layout geht es im U-Bahn-<br />

Design immer auch um den Versuch<br />

trotz der Enge den Eindruck von Weite<br />

zu schaffen. Und da gibt es tatsächlich<br />

ein paar Tricks. Einer der wichtigsten<br />

ist, die Haltestangen in einem großzügigen<br />

Bogen an die Seitenwand zu<br />

leiten. Dadurch vermeidet man den<br />

Stangenwald. Denn betritt der Passagier<br />

den Zug und sieht als erstes eine<br />

vertikale Stange vor sich, hat er sofort<br />

das Gefühl: „Das wird eng“. Kann der<br />

Fahrgast den Blick aber schweifen lassen,<br />

empfindet er den Raum als großzügig,<br />

obwohl sich an der Raumgröße<br />

ja nichts geändert hat. Eine wichtige<br />

Rolle spielt auch die Beleuchtung, die<br />

ich immer möglichst dicht an die Seitenwände<br />

lege. Denn das Auge geht<br />

magisch an die hellen Stellen, und helle<br />

12


Foto: N+P Industrial Design GmbH<br />

Er hat eine schöne Stimme und Humor.<br />

Wie viele Kreative, die ein erfülltes Berufsleben<br />

führen, wirkt er deutlich jünger als<br />

er tatsäch lich ist. Der deutsche Designer<br />

Alexander Neumeister, Ei gentümer von<br />

N+P Industrial Design GmbH mit Sitz in<br />

München, ist 70.<br />

Es war jedenfalls weder die Holz- noch die<br />

Modell-Eisenbahn, die den jungen „Alex“<br />

zum Design führten. Der Groschen fiel bei<br />

einem Vortrag zur Berufsorientierung, dem<br />

er als Gymnasiast im letzten Schuljahr beiwohnte.<br />

Da war ihm sofort klar, dass das<br />

Berufsbild des Designers seine Interessen<br />

für Technik und Gestaltung optimal vereinte.<br />

Nach dem Diplom an der Hochschule für<br />

Gestal tung in Ulm führte ihn ein Stipendium<br />

nach Japan. „Das war ein bahnbrechendes<br />

Erlebnis für meine wei tere Laufbahn. Ich<br />

bewundere diese Kultur, die über Jahrhunderte<br />

eine Qualität an Design geschaffen<br />

hat. Sie wurde für mich zum Vorbild“, betont<br />

er.<br />

Konsequenterweise ist die Kreation des<br />

Shinkansen Nozomi 500, der lange Zeit als<br />

schnellster Zug der Welt durch Japan düste,<br />

des Designers persönliches Karriere-Highlight.<br />

1999 wurde Neumeister dafür – als<br />

erster Ausländer – mit dem Kaiserlichen<br />

Erfinderpreis des japanischen Institute for<br />

Invention and Innovation ausgezeichnet.<br />

Neumeister ist Vater zweier Töchter, lebt<br />

seit 1970 in München und verbringt nunmehr<br />

etwa die Hälfte des Jahres in Brasilien,<br />

zumal er seit 2011 mit einer Brasilianerin<br />

verheiratet ist. Der Designer plant, sich noch<br />

heuer aus dem Business zurückzuziehen<br />

und will N+P, an „P“, seinen Partner, übergeben.<br />

www.neumeisterdesign.de<br />

Wände vergrößern den Raum optisch.<br />

Und bei der neuen Münchner U-Bahn<br />

gibt es zudem sehr große Seitenfenster.<br />

Große Fenster für die Fahrt<br />

im U-Bahntunnel?<br />

Berechtigte Frage, die großen Fenster<br />

bringen wenig im Tunnel, aber sobald<br />

der Zug in die Station einfährt, bekommt<br />

der Innenraum dadurch eine<br />

größere Dimension.<br />

Gibt es Ihrer Erfahrung nach kulturelle<br />

Unterschiede oder ist es letztlich eine<br />

Frage der real gegebenen Möglichkeiten,<br />

wie viel Nähe man zu anderen Menschen<br />

erträgt?<br />

WER ENG ZUSAMMEN-<br />

GEDRÜCKT WIRD,<br />

VERSCHAFFT SICH<br />

FLUCHTMÖGLICHKEITEN<br />

Zweifellos spielt die Kultur eine Rolle.<br />

Andererseits muss man wissen, dass<br />

sich Menschen, die eng zusammengedrückt<br />

sind, Fluchtmöglichkeiten verschaffen.<br />

Ich finde das immer wieder<br />

faszinierend etwa in Tokio, wie dort<br />

dieser Blätterwald an Werbung, der an<br />

der Decke hängt, für die in Stoßzeiten<br />

dicht gedrängten Reisenden zur oft<br />

einzigen Fluchtmöglichkeit wird.<br />

Doch selbst in halb leeren Zügen suchen<br />

Menschen Rückzugsmöglichkeiten hinter<br />

der Zeitung, mithilfe des Handys.<br />

Genau! Da kommen wir zu einem<br />

Thema, das mir zu denken gib. Der<br />

Trend zur Selbstbeschäftigungsmaschine<br />

hat uns auch in der U-Bahn<br />

längst erreicht. Ich persönlich finde<br />

es eine traurige Entwicklung, wenn<br />

die Menschen gar nicht wahrnehmen,<br />

dass sie Sitznachbarn haben, mit denen<br />

man vielleicht reden könnte. Es ist<br />

schon kurios, dass man während der<br />

Fahrt vielleicht übers Internet Kontakt<br />

zu jemandem hat, der mehrere hundert<br />

Kilometer entfernt ist, aber dabei<br />

nicht registriert, neben wem man sitzt.<br />

<strong>Distanz</strong><br />

13


Neumeisters „Linha 4“ in Sao Paulo, die erste Metro mit<br />

fahrerlosem, vollautomatischem Betrieb in ganz Lateinamerika.<br />

Die Metro in Sao Paulo von innen: Die Herausforderung liegt darin,<br />

trotz der Enge das Gefühl der Weite zu schaffen.<br />

Transparenz und Schwebesitze in München: Neumeister<br />

designte auch die neue C2-Reihe, die ab 2013 zum Einsatz kommt.<br />

Für den Nozomi 500 (bis 300 km/h) bekam der Deutsche als erster<br />

Ausländer den Erfinderpreis des japanischen Kaiserhauses.<br />

Gegen Zufallsbekanntschaften schotten<br />

wir uns zunehmend ab.<br />

Ist das vielleicht eine Gegenreaktion auf<br />

den eingangs besprochen Kontrollverlust<br />

in öffentlichen Verkehrsmitteln?<br />

Mag sein, mir scheint es auch eine Entwicklung<br />

zu sein, die auch sehr viel mit<br />

der nordeuropäischen Art des Zusammenlebens<br />

zu tun hat. Man kommt<br />

einfach nicht so locker in Kontakt.<br />

Das wird einem bewusst, wenn man in<br />

anderen Ländern beobachtet, wie leicht<br />

Gespräche entstehen können.<br />

Wohin entwickelt sich das Design<br />

von Zügen und U-Bahnzügen?<br />

Zug-Interieurs, also Reiseumgebungen<br />

für den öffentlichen Verkehr, hinkten<br />

lange Zeit hinterher. Es gab die Plüsch-<br />

Varianten oder aber die Züge waren<br />

quasi Vandalismus-resistent. Parallel<br />

dazu hatte sich jedoch die Gestaltung<br />

vieler anderer Verkehrsmittel extrem<br />

weiterentwickelt. Beeinflusst von Flugzeug-Interieurs,<br />

dem Pkw, aber auch<br />

von kleinen Cafés oder Geschäften,<br />

entstand eine völlig andere Vorstellung<br />

von einer angemessenen Reiseumgebung.<br />

Daher ging es beim Zug-Design<br />

zunächst darum, wieder auf ein Niveau<br />

zu kommen, das in anderen<br />

öffentlichen Räumen Standard war.<br />

DIE FAHRGÄSTE<br />

ERWARTEN SICH<br />

PERFEKTION WIE<br />

IM AUTO<br />

Und wie geht es weiter?<br />

Der gehobene Mittelklassewagen bleibt<br />

zweifellos ein Orientierungspunkt für<br />

die Zukunft. Das gilt auch für Passagierflugzeuge.<br />

Diese Verkehrsmittel<br />

haben Einfluss darauf, was man von<br />

einer gehobenen Reiseklasse erwartet.<br />

Die Züge müssen hier mithalten.<br />

Welche Trends erkennen Sie beim<br />

Außen-Design von Zügen?<br />

Was ich über den Innenraum gesagt<br />

habe, gilt im Wesentlichen auch für<br />

den Außenbereich, wobei hier ebenfalls<br />

der Pkw Vorstellungen von einem<br />

angemessenen Produkt geschaffen hat.<br />

Dieser Beurteilungsmaßstab darf auf<br />

keinen Fall unterschätzt werden. Es<br />

gibt immer wieder Besprechungen mit<br />

Konstrukteuren, die irgendwo sichtbare<br />

Scharniere oder Verschraubungen<br />

verwenden wollen anstatt sich die Mühe<br />

zu machen, alles unsichtbar zu befestigen.<br />

Wenn ich dann frage, ob sie das<br />

bei Ihrem Auto auch akzeptieren würden,<br />

lautet die Antwort fast immer<br />

„Niemals“. Zudem erlauben Aluminium-Bauweise<br />

und Kunststoff-Technologien<br />

einen Grad an Perfektion<br />

auch bei Kleinserien-Produkten, die<br />

früher undenkbar war. <br />

14


WIE BEWEGEN WIR UNS?<br />

Welche Verkehrsmittel werden für Fahrten zur Arbeits- oder Ausbildungsstelle benutzt?<br />

Angaben in Prozent %<br />

DATEN & FAKTEN<br />

Öffentliche Verkehrsmittel<br />

zu Fuß<br />

Fahrrad<br />

Individualverkehr<br />

91<br />

4 5<br />

45<br />

7 10<br />

38<br />

16<br />

5<br />

12<br />

67<br />

28<br />

66<br />

1<br />

5<br />

Quelle: Europäische Kommission, Meinungsumfrage zur Qualität in europäischen Städten, Mai 2010<br />

Nikosia (Zypern)<br />

30<br />

Wie viel Zeit wird pro Tag benötigt, um zur Arbeits- oder Ausbildungsstelle zu gelangen?<br />

Angaben in Prozent %<br />

In Graz<br />

liegt das Mittel bei<br />

15 Minuten pro Strecke,<br />

das sind 112,5 Stunden<br />

reine Fahrzeit pro Jahr.<br />

In 40 erwerbstätigen<br />

Jahren wären das<br />

562,5<br />

volle Tage.<br />

22<br />

46<br />

2<br />

Amsterdam (Niederlande)<br />

Oulu (Finnland)<br />

34<br />

4<br />

9<br />

Wien<br />

53<br />

28<br />

9 3<br />

60<br />

Groningen (Niederlande)<br />

Paris (Frankreich)<br />

35<br />

28<br />

27<br />

Graz<br />

Kopenhagen (Dänemark)<br />

10<br />

15<br />

20 5<br />

24 13<br />

Minuten1937<br />

< 10<br />

10–20 Minuten<br />

20–30 Minuten<br />

30–45 Minuten<br />

60<br />

Prag (Tschechien)<br />

45–60 Minuten<br />

5 1<br />

> 60 Minuten<br />

In Wien<br />

liegt das Mittel bei<br />

25 Minuten pro Strecke,<br />

das sind 187,5 Stunden<br />

reine Fahrzeit pro Jahr.<br />

In 40 erwerbstätigen<br />

Jahren wären das<br />

937,5<br />

volle Tage.<br />

2332 20<br />

Minuten11<br />

< 10<br />

10–20 Minuten<br />

20–30 Minuten<br />

30–45 Minuten<br />

45–60 Minuten<br />

10 4<br />

> 60 Minuten<br />

<strong>Distanz</strong><br />

15


Fotos: Lukas Ilgner; Uwe Mauch<br />

USER STORY<br />

PER FALTRAD<br />

IN DIE ZUKUNFT<br />

UWE MAUCH PENDELT (OHNE AUTO) ZWISCHEN WIEN UND ZAGREB<br />

MEINE FAMILIE IN KROATIEN – MEIN ARBEITGEBER IN ÖSTERREICH.<br />

WIENER WOHNUNG AM STADTRAND, DAS BÜRO IN DER INNENSTADT.<br />

GROSSE DISTANZEN. MODERNES, SCHNELLES LEBEN. ZUKUNFTSREICH.<br />

DABEI IST MEIN VERHÄLTNIS ZUM AUTO MEHR ALS NUR DISTANZIERT.<br />

EINE HOMMAGE AN FLOTTE FALTRÄDER UND LANGSAME IC-ZÜGE.<br />

WIEN-MEIDLING, Freitag, 8.02<br />

Uhr. Mein MacBook ist bereits betriebsbe<br />

reit, da setzt sich der „Emona“<br />

in Be wegung. Und siehe da: Bevor der<br />

Fernreisezug die Stadt hinter Liesing<br />

verlassen kann, stehen auch schon<br />

zwei halbwegs brauchbare Sätze zu<br />

Buche.<br />

Ja, ich bin praktizierender Mitteleuropäer!<br />

Meine Frau lebt mit unseren beiden<br />

Kindern in Zagreb, mir zahlt die<br />

Republik Österreich eine Pendlerpauschale,<br />

weil ich am Ende der alten<br />

Woche von der österreichischen in<br />

die kroatische Haupstadt und am Beginn<br />

der neuen Woche zurück nach<br />

Wien reise.<br />

„Gastarbajter“, witzelt ein befreundeter<br />

Nachbar in Zagreb. „Quoten-Jugo“,<br />

nennt mich ein befreundeter Kollega in<br />

Wien. Die Betonung liegt auf befreundet.<br />

Der Schneeberg fliegt rechts am Zugfenster<br />

vorbei. Alles gut. Willkommen<br />

in der Zukunft! Unsere Kinder beherrschen<br />

drei Sprachen: Kroatisch,<br />

Deutsch und Englisch (ihre Mutterund<br />

ihre Vatersprache akzentfrei).<br />

WIENER NEUSTADT, 8.33 Uhr.<br />

Fahrscheinkontrolle. Man grüßt sich.<br />

16


Man kennt sich – nach 17 Jahren!<br />

Der Schaffner, der heute Zugbegleiter<br />

genannt werden soll, weiß nicht, wie<br />

oft er schon hinauf zum Semmering<br />

gefahren ist. Durch all die Tunnel,<br />

über all die Via dukte. Wir rechnen<br />

nach: Bei mir werden es an die 1000<br />

Mal gewesen sein.<br />

Und ich bereue es nicht!<br />

Die Welt ist enger zusammen gerückt.<br />

Da heiratet man nicht mehr zwangsläufig<br />

im selben Ort. Da sind zwei Wohnsitze,<br />

die 400 km voneinander entfernt<br />

sind, nicht mehr Utopie. Da nimmt man<br />

auch nicht mehr blind den eigenen<br />

Wagen. Ich zum Beispiel fahre kombiniert<br />

– mit Bahn und Rad.<br />

es aus wie eine Sporttasche. Die<br />

Kombi aus Bahn und Rad ist vor allem<br />

im urbanen Raum unschlagbar schnell.<br />

Ich habe keinen Führerschein, habe<br />

auch noch nie Benzin getankt. In der<br />

Früh von der Wohnung in die Garage,<br />

dann mit dem Auto ins Büro, ohne den<br />

Himmel zu sehen, den Wind zu spüren<br />

und die Stadt zu atmen – alleine die<br />

Vorstellung ist für mich ein Graus.<br />

Eine Stunde radle ich von meiner<br />

Wohnung in Wien-Floridsdorf bis zum<br />

Büro in Wien-Neubau. Eine Stunde,<br />

die nur mir gehört. Ebenso wie jene<br />

Stunde am Abend. Niemand stoppt<br />

mich, unterwegs werden Muskeln aufgebaut<br />

und Hirnwindungen entlüftet.<br />

Und wünscht sich: Mehr schnelle Züge<br />

– nicht nur auf der viel beworbenen<br />

Westbahn, auch auf den Nebenbahnen.<br />

Mehr Komfort an Bord (z. B. getrennte<br />

Ruhe- und Rede-Zonen). Mehr moderne<br />

Lokomotiven, die nicht nur theoretisch,<br />

sondern auch praktisch in einem<br />

Zug durchfahren. Vor allem: Mehr Eisenbahn-Manager,<br />

deren Horizont nicht<br />

in Spielfeld oder Strass endet.<br />

Langsam arbeitet sich der Intercity-Zug<br />

den Zauberberg hinauf, schlängelt<br />

sich durch enge Kurven. Japaner und<br />

Amerikaner sind begeistert über das<br />

große Kino, das ihnen auf Ghegas<br />

Weltkulturerbe-Strecke geboten wird.<br />

Berufspendler verwünschen dagegen<br />

den NÖ. Landeshauptmann, der den<br />

Bau des Semmering-Basis-Tunnels<br />

virtuos in die Länge zieht.<br />

Was soll’s? Die Bahn bietet auch ohne<br />

Röhre Vorteile: Sie ist verlässlich (verlässlicher<br />

als das Flugzeug), stellt mir<br />

kostengünstig einen Fahrer zur Verfügung<br />

und ist darüber hinaus mein<br />

Schreib-Labor. Kein neues E-Mail<br />

blinkt auf, kein Anruf stört. In der Mur-<br />

Mürz-Furche kann man oft nix empfangen.<br />

Danke, liebe ÖBB!<br />

BRUCK AN DER MUR, 10.02 Uhr.<br />

Eisenbahnknotenpunkt haben wir in<br />

unsere Schulhefte geschrieben. Derzeit<br />

ist der Bahnhof ein gordischer<br />

Knoten: Baustelle. Neben meinem Sitz<br />

parkt mein Faltrad, zusammengefaltet<br />

auf Gepäckstückgröße. Mit seinem<br />

schwarzen Kunststoff-Umhang sieht<br />

GRAZ, 10.38 Uhr. Wieder Verspätung<br />

– auch das ist (noch) Realität.<br />

Zeit für einen Blick in die Zukunft:<br />

Schon bald werde ich kein Alien mehr<br />

sein. Mehr Menschen werden künftig<br />

den Wechsel von <strong>Distanz</strong> und Nähe<br />

schätzen, ohne deshalb die CO 2<br />

-Werte<br />

weiter in die Höhe zu treiben. Erklärt<br />

der Wiener Zukunftsforscher Harry<br />

Gatterer.<br />

Mit der selben Rasanz, mit der die<br />

Bahngesellschaften seit Jahren die<br />

Fahrkarten-Preise erhöhen, werden sie<br />

das Angebot verbessern. Fügt er hinzu.<br />

Der Markt wird ihnen gar keine andere<br />

Wahl lassen. Zwischen Graz und der<br />

aktuellen europäischen Kulturhauptstadt<br />

Maribor hat diese Zukunft leider<br />

noch nicht begonnen ...<br />

SPIELFELD-STRASS, 10.52 Uhr.<br />

15 Minuten Aufenthalt am alten, im<br />

Schengenland nutzlos gewordenen<br />

Grenzbahnhof. Man fragt sich: Warum<br />

wird heute noch die Lok gewechselt?<br />

Und denkt an die Chinesen: Die schaffen<br />

mit ihren modernen Hochgeschwindigkeitszügen<br />

1000 km in drei Stunden.<br />

MARIBOR, 11.45 Uhr. Den slowenischen<br />

Eisenbahnern, die in Maribor<br />

jeden Pimperlzug den Zügen nach<br />

Kroatien vorziehen, wünsche ich wiederum<br />

ein bisserl weniger Engstirnigkeit<br />

unterm Dienst-Kapperl. Und den<br />

schroffen slowenischen Grenzbeamten,<br />

dass sie – wie zuvor ihre österreichischen<br />

Vorbilder – bald in die Geschichte<br />

eingehen werden.<br />

ZIDANI MOST, 13.05 Uhr. Genug<br />

geschrieben! Nach der Einfahrt in den<br />

alten k. u. k. Bahnhof (neben der Mündung<br />

der Savina in die Save) steige<br />

ich aus dem „Emona“. Mit meinem<br />

Londoner Lifestyle-Falter fliege ich<br />

weiter – über die steinerne Brücke und<br />

dann der Save entlang. Richtung Süden.<br />

Es hat aufgehört zu regnen. Die Luft ist<br />

rein. Und ich freu’ mich schon, meine<br />

Frau und meine Kinder in die Arme<br />

nehmen zu können. Das Leben kann<br />

schön sein! <br />

<strong>Distanz</strong><br />

17


INNOVATIVES ONLINE & OFFLINE<br />

STARTUPS<br />

SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA DISTANZ UND INTERMODALE MOBILITÄT<br />

Von Katrin Stehrer<br />

////// DAS ENDE DER WARTEZEIT /////////////////////////<br />

Das Hauptärgernis vieler Nutzer des öffentlichen Verkehrs sind die Wartezeiten.<br />

Ebenso lästig: häufig Lebensmittel einkaufen zu müssen. Diese Probleme löst die<br />

Supermarktkette Tesco, indem sie virtuelle Supermärkte in U-Bahnstationen in Seoul<br />

und Shanghai betreibt. In den Regalen befinden sich mit QR-Codes versehene Produktfotos,<br />

die von den Kunden mittels Smartphone eingelesen und bezahlt werden<br />

können. Die echten Lebensmittel werden dann nach Hause geliefert.<br />

www.tescoplc.com/index.asp?pageid=17&newsid=593<br />

In der US-Stadt Boston wurden Wartezeit-Countdowns auf Anzeigetafeln in Geschäfte,<br />

Büros und Lokale verlegt. Ziel auch hier: Einkaufen oder Arbeiten während<br />

man wartet. Noch länger Zeit zu Hause oder produktiv im Büro verbringen können indes<br />

Smartphone-User, wenn sie Echtzeit-Apps nutzen. Besonders attraktiv für Vielbeschäftigte<br />

ist der CTA Bus Tracker in Chicago. Auf einer interaktiven Karte kann<br />

man genau verfolgen, wann der Bus oder Zug kommt, den man erreichen will.<br />

www.ctatracker.com<br />

////// AB IN DIE MITTE ///////////////////////////////////////<br />

„Treffen wir uns in der Mitte!“ Stefan Wehrmeyer, ein junger Entwickler von Web-Applikationen,<br />

macht es einfach, die Mitte auch wirklich zu finden: Seine App Mapnificient<br />

visualisiert Fahrtzeiten von öffentlichen Verkehrsmitteln. User, die sich verabreden<br />

wollen, geben einfach an, von wo sie wegfahren, wie lang sie unterwegs sein<br />

und was sie tun wollen. Den Rest erledigt Mapnificent: Rote Pins zeigen passende<br />

Treffpunkte an, zum Beispiel Cafés.<br />

www.mapnificent.net<br />

////// KONTAKTE KNÜPFEN LEICHT GEMACHT /////////<br />

Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln in Afrika oder Südostasien unterscheiden<br />

sich vor allem durch eines von jenen im Westen: Sie unterhalten sich und knüpfen<br />

Kontakte. Die preisgekrönte Pariser Social Commuting Plattform Submate will genau<br />

das zurück in westliche Städte bringen. Ist man eingeloggt, schlägt Submate interessante<br />

Reisekompagnons vor und erleichtert die Kontaktanbahnung. Die Idee kam<br />

Gründer Laurent Kretz auf seinen täglichen U-Bahnfahrten, wo es ihn störte, dass er<br />

immer wieder dieselben Personen sah, aber trotzdem nichts über sie wusste.<br />

www.submate.com<br />

Sogar im Flugzeug kann man jetzt leichter Kontakte knüpfen. Meet and Seat von<br />

KLM zeigt wer in derselben Maschine sitzt und man kann seinen Sitzplatz neben<br />

Fahrgästen mit ähnlichen Interessen wählen. www.klm.com<br />

18


STRAMPELN LOHNT SICH DREIFACH //////////////<br />

Finanzielle Belohnung für grüne Fortbewegung: Was zu schön klingt, um wahr zu<br />

sein, könnte mit mo, dem neuen Mobilitätssystem der Münchner Umweltorganisation<br />

Green City, Realität werden. Je mehr Kilometer man per Rad oder im öffentlichen Verkehr<br />

zurücklegt, desto weniger zahlt man im Gegenzug für ein Carsharing-Auto. Dabei<br />

zählen Rad-Kilometer dreifach. Für die Umsetzung des Anreizsystems, das mit der<br />

Wuppertal Universität und dem Designbüro LUNAReurope entwickelt wurde, sucht<br />

Green City nun Partnerstädte.<br />

www.mo-bility.com<br />

////// BIS INS LETZTE ECK //////////////////////////////////<br />

Eine Lösung, wie man die Wege von und zu den Bushaltestellen schnell und ohne<br />

Schwitzen bewältigen kann, hat der Kalifornier Gabriel Wartofsky gefunden: In seinem<br />

Bike-Sharing-Konzept für die Londoner Verkehrsbetriebe zeigt er das volle Potential<br />

eines E-Faltbikes. Entlehnboxen mit integrierten Ladevorrichtungen sind an die öffentlichen<br />

Autobusse gekoppelt. Damit hat man immer ein Fahrzeug zum Weiterfahren<br />

griffbereit. Wie zukunftsträchtig die Idee ist, zeigt die Tatsache, dass Wartofsky über<br />

die Crowdfunding-Plattform Kickstarter 25.955 US-Dollar für die Pilotproduktion des<br />

E-Faltrads ab 2012 einsammelt konnte.<br />

www.consciouscommuter.com<br />

////// RUTSCHE IN DEN UNTERGRUND ////////////////////<br />

Auf einem Bahnhof in Utrecht wird seit kurzem die Umsteigezeit auf unterhaltsame<br />

Weise verkürzt: Für Reisende, die es eilig haben, installierte die niederländische<br />

ProRail den Transfer Accelerator. Der futuristische Name steht für eine ganz normale<br />

Rutsche, die aber den versprochenen Zweck erfüllt: Sie beschleunigt das Vorankommen.<br />

www.hik-ontwerpers.nl<br />

////// FAHRSCHEIN AM HANDGELENK ///////////////////<br />

Mit Oi hat der Designer Benjamin Parton den Staus in Londoner U-Bahnstationen<br />

den Kampf angesagt. Oi ist ein elektronischer Fahrschein, der als Ring oder an der<br />

Armbanduhr getragen wird. Damit kommt man schneller durch die Zutrittsschranken<br />

als mit Karte. Wie die normale Oyster Card nutzt Oi RFID-Technologie. Für die Umsetzung<br />

seiner Idee sucht Parton derzeit nach Partnern. Sein Traum: Bei der Olympiade<br />

in London im Sommer 2012 soll Oi bereits die Staus vor den Zugangsschranken<br />

der U-Bahn in Grenzen halten.<br />

www.benjaminparton.com<br />

////// VON WIEN NACH TOKIO /////////////////////////////<br />

Die Vision, Europa und Asien über eine gigantische Seilbahn zu verbinden, verfolgen<br />

die Österreicher Wolfgang Lehrner und Matthias Pázmándy. Unfassbare 28 Mrd. Euro,<br />

50.000 Mitarbeiter und 24.000 km Kabel werden gebraucht, um eine Konstruktion<br />

zu bauen, die in einem Tempo von 50 km/h 21 Städte verbindet. Der Haken: Ebenso<br />

visionäre Finanzierungspartner fehlen noch.<br />

www.eurasiangondolas.com<br />

<strong>Distanz</strong><br />

19


All God’s<br />

children need<br />

travelling shoes.<br />

Maya Angelou,<br />

amerikanische<br />

Bürgerrechtsaktivistin<br />

Seelen können<br />

sich nicht so schnell<br />

fortbewegen, also bleiben<br />

sie zurück, und man muss<br />

auf sie warten wie auf<br />

verloren gegangenes Gepäck.<br />

William Gibson,<br />

Science Fiction Autor<br />

Ich fragte<br />

eine Schnecke,<br />

warum sie so langsam wäre.<br />

Sie antwortete,<br />

dadurch hätte sie mehr Zeit,<br />

die Welt zu sehen.<br />

Wolfgang J. Reus,<br />

deutscher Journalist<br />

Abbildung: aus: Wikipedia, Florian Prischl<br />

20


Homo<br />

Mobilis<br />

DISTANZEN SIND ZUM ÜBERWINDEN DA, DESHALB HABEN WIR<br />

UNSERE MOBILITÄTEN VERFEINERT. WIR REISEN SCHNELLER, WEITER,<br />

EFFIZIENTER ALS JE ZUVOR. UNGEKLÄRT BLEIBT DIE FRAGE:<br />

ZUR LAST ODER LUST?<br />

Von Nicole Kolisch<br />

Glaubt man dem arabischen Sprichwort, so<br />

reist die Seele mit der Geschwindigkeit eines<br />

Kamels. Zwar überwinden wir innerhalb eines<br />

Wimpernschlages <strong>Distanz</strong>en, von denen die<br />

Karawanen unserer Ahnen nicht zu träumen<br />

wagten, ob wir allerdings dafür geschaffen<br />

sind, ob der Mensch ein „<strong>Distanz</strong>wesen“ ist,<br />

geleitet vom Wandertrieb, darf zumindest<br />

hinterfragt werden. „Als Sozialwissenschaftler<br />

ist man natürlich geneigt, so etwas als Biologismus<br />

einzustufen“, meint Ingrid Thurner,<br />

die am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

zum Thema „Freiwillige Mobilität“<br />

forscht. „Haben wir einen Reisetrieb, quasi ein<br />

Relikt aus der Nomadenzeit? Solche Vorstellungen<br />

geistern immer wieder durch die Literatur.“<br />

Orientiert man sich etwa an der gern<br />

zitierten Maslow’schen Bedürfnispyramide, so<br />

wäre Mobilität an der Spitze einzuordnen, als<br />

Faktor der Selbstverwirklichung, der uns erst<br />

dann unter den Nägeln brennt, wenn die basalen<br />

Erfordernisse (z.B. Nahrung, Sex, Sicherheit)<br />

erfüllt sind. Thurner schüttelt den Kopf,<br />

„Nein, freiwillige Mobilität ist nicht endogen,<br />

sie hängt von sozialen und wirtschaftlichen<br />

Bedingungen ab.“<br />

An Hand von Berufsmobilität lässt sich das<br />

auch gut zurückverfolgen. Deren Geburtsstunde<br />

wird gern mit der Industrialisierung<br />

angenommen, tatsächlich reicht sie viel weiter<br />

zurück: Die Irrfahrten des Odysseus zählen<br />

ebenso dazu wie die Handelsreisen der Phönizier.<br />

Das römische Reich wäre ohne fahren de<br />

Händler undenkbar gewesen, die <strong>Distanz</strong>en<br />

zwischen Europa und dem Vorderen Orient<br />

zu überwinden wussten. Und bereits hier zeigt<br />

sich, wie stark der Grad der Mobilität mit der<br />

jeweiligen Profession verknüpft ist: Ein Hufschmied<br />

wird sein Umfeld kaum verlassen,<br />

ein Stoffhändler zwangsläufig.<br />

INDUSTRIALISIERUNG LIESS<br />

MOBILITÄT EXPLODIEREN<br />

Zu einer Explosion der Mobilität – sei es<br />

zweckgebunden wie bei Pendlern oder aus<br />

reiner Lust am Erlebnis – führt allerdings<br />

wirklich erst die Industrialisierung: Der<br />

Engländer Thomas Newcomen erfindet 1712<br />

die Dampfmaschine und ebnet dadurch den<br />

Weg für die Turbo-Kamele seiner Zeit: Die<br />

Dampfschifffahrt und die Dampflokomotive.<br />

Reisen wird billiger, erstmals auch für breitere<br />

Schichten der Bevölkerung erschwinglich.<br />

Erlebnismobilität wird unter den Besserverdienern<br />

geradezu schick; auch hier zeigen sich<br />

die Engländer als federführend und erfinden<br />

flugs die Reisegruppe (1845) und die Travellerschecks<br />

(1874)…<br />

Die ersten Fabriken gieren indes nach Arbeitskraft,<br />

schaffen erstmals Mobilität auch in<br />

Handwerksberufen. Bauernsöhne folgen dem<br />

Ruf der Werkssirene in die Stadt: Sie pendeln.<br />

Wo bislang am selben Hof gemäht, geerntet,<br />

geschlafen und geliebt wurde, kommt es nun<br />

<strong>Distanz</strong><br />

21


Foto: Barbara Wais<br />

zu einer Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz.<br />

Lohnarbeit lockt, Berufsverkehr entsteht.<br />

„Dabei geht es längst nicht nur um die Möglichkeit,<br />

räumliche <strong>Distanz</strong>en, sondern auch<br />

um die Fähigkeit, soziale Grenzen zu überwinden“,<br />

sagt Thurner. „Wenn wir von<br />

Mobilität sprechen, sollten wir vertikale Bewegung<br />

ebenso betrachten wie horizontale.“<br />

Horizontale Mobilität – das ist die rein geografische:<br />

von Neusiedl nach Wien, von Paddock<br />

Wood nach London. Vertikale hingegen<br />

bezeichnet den Auf- oder Abstieg innerhalb<br />

der Gesellschaft. Thurner: „Es lässt sich nicht<br />

Gesetz hinkt hinterher<br />

Das Gesetz bildet neue Entwicklungen<br />

noch nicht ab. Hier sind Arbeitszeiten<br />

schwarz-weiß geregelt:<br />

Wenn Arbeit bereits am Weg zur Firma<br />

erledigt wird, ist das nicht vergütbar.<br />

Arbeitsstunden sind nur jene, die auch<br />

physisch am Arbeitsplatz verbracht<br />

werden.<br />

Eine indirekte Folge des Trends zum<br />

Unterwegs-Arbeiten sind jedoch All-<br />

In-Verträge (Überstundenpauschalen)<br />

bzw. eine generelle Lockerung der<br />

Arbeitszeiten (z. B. vermehrt Gleitzeit).<br />

Technisch wäre es längst möglich, einen<br />

Abrechnungsmodus zu finden, der auch<br />

Wege als Arbeitszeit berücksichtigt.<br />

Rolf Gleißner,<br />

Arbeitsrechtsexperte der WKO<br />

fein säuberlich auseinander dividieren. Oft<br />

geht das Hand in Hand, auch vertikale Mobilität<br />

ist mit physischer Bewegung verbunden.“<br />

Ganz banal: Wer mehr verdient, zieht um.<br />

Selbst in der Sprache ist die enge Verknüpfung<br />

von Mobilität und Prestige dokumentiert. Wir<br />

drücken unsere Anerkennung in Bewegungsmetaphern<br />

aus: Jemand ist „bewandert“, er<br />

ist „erfahren“, hat „Routine“ (zurückzuführen<br />

auf die Route) oder besitzt erstrebenswerte<br />

„Fertigkeiten“ („fertig“ leitet sich ebenfalls<br />

von „fahren“ ab). Wir „erweitern unseren<br />

Horizont“, wir sind „sattelfest“ und „gut beschlagen“.<br />

Nur selten ist uns dabei bewusst,<br />

dass wir hier von der eingangs erwähnten Kamelmobilität<br />

sprechen. (Zugegeben, in Europa<br />

eher Postkutsche als Kamel …)<br />

WER MEHR VERDIENT,<br />

ZIEHT UM – MOBILITÄT<br />

BRINGT PRESTIGE<br />

Unsere Erfahrung (sic!) von <strong>Distanz</strong> ist dabei<br />

höchst individuell, ob wir eine Strecke als<br />

Klacks oder als Zumutung einstufen, von<br />

multiplen Faktoren bestimmt. Amerikaner<br />

sind beispielsweise unterrepräsentiert, wenn<br />

es um den Besitz von Reisepässen geht – ihre<br />

Bereitschaft zur Mobilität innerhalb der USA<br />

ist jedoch Legende. Skandinavier fahren oft 200<br />

Kilometer, nur um in die Disko zu gehen. Wiener<br />

raunzen, wenn sie beruflich einen Tag nach<br />

Salzburg müssen. Linz geht gerade noch …<br />

22


Öffentliche Verkehrsmittel<br />

werden zum<br />

mobilen Arbeitsplatz.<br />

Foto: Lukas Ilgner<br />

Entscheidend ist dabei weniger die Mentalität<br />

einer Nation als ihre Besiedelungsdichte.<br />

Thurner: „Wenn nur alle paar hundert Kilometer<br />

eine Stadt ist, steigt die Bereitschaft,<br />

größere <strong>Distanz</strong>en zurückzulegen. Eine berufliche<br />

Mobilität, wie wir sie aus Amerika kennen,<br />

wo sehr oft nicht nur gependelt, sondern für<br />

den Job komplett der Standort gewechselt<br />

wird, gibt es bei uns erst in den letzten Jahren.“<br />

Auf den Geschmack kommt die Generation<br />

Praktikum durch Studentenaustauschprogramme<br />

wie Erasmus – und auch hier wandelt sich<br />

unsere Wahrnehmung: Vor 20 Jahren bedurften<br />

Auslandssemester noch einer gewissen<br />

Rechtfertigung vor Verwandtschaft und<br />

Freundeskreis, heute muss man sich fast<br />

rechtfertigen, wenn man keines absolviert.<br />

KOPPLUNG VON ARBEIT<br />

UND ARBEITSWEG IST NEU<br />

„Ändert sich unser <strong>Distanz</strong>empfinden auch<br />

durch neue Medien?“, wollen wir wissen.<br />

„Stand früher die Fahrt mit all ihren Beschwernissen<br />

im Mittelpunkt, während sie<br />

heute, iPad und Netbook sei Dank, zusehends<br />

zur Nebentätigkeit wird?“ – Nein, meint die<br />

Forscherin. Schon der Landvermesser Sven<br />

Hedin hätte auf seinem Kamel immer gelesen,<br />

weil ihm die Reise durch die Steppe so langweilig<br />

war. Er hatte bloß noch keinen iPod,<br />

aber dass Reisen nicht Selbstzweck ist, ist<br />

nicht neu.<br />

Neu ist hingegen die Kopplung von Arbeit<br />

und Arbeitsweg: E-Mails in der Schnellbahn<br />

beantworten, den Präsentationen im Flieger<br />

den letzten Feinschliff verpassen. Wir erledigen<br />

das on the go! <strong>Distanz</strong>en werden so nicht nur<br />

schneller überwunden, sie werden auch effizient<br />

genutzt. Leerläufe sind out – bezahlt wird<br />

uns das allerdings nicht [siehe Info-Kasten,<br />

S. 22]. Warum tun wir’s uns dann an?<br />

Spätestens durch die Zwangspause, die der<br />

Eyjafjallajökull vor zwei Jahren der Überholspur-Gesellschaft<br />

verpasst hat, ist in Europa<br />

eine Art „Entschleunigungs-Diskurs“ entbrannt:<br />

Leben wir unnatürlich schnell?<br />

Kommt die Seele, in ihrem Kameltempo<br />

noch mit? Eine Studie der Stanford University<br />

prophezeit uns einen „Peak Travel“, analog<br />

zum „Peak Oil“. Demnach bremsen wir uns<br />

erstmals seit der Industrialisierung wieder<br />

ein wenig ein. Bis 2030 sollte das auch an<br />

geringeren Emissionen messbar werden.<br />

Warten wir’s ab. <br />

<strong>Distanz</strong><br />

23


Autostoppen 3.0<br />

Foto: Lukas Ilgner<br />

MITFAHRBÖRSEN WERDEN INTELLIGENT. SOGAR KURZFRISTIG<br />

ENTSCHLOSSENE KÖNNEN DAMIT IHR GLÜCK FINDEN.<br />

VOR ALLEM IN DEN STÄDTEN WIRD DEM CARSHARING DER<br />

ANDEREN ART EINE GROSSE ZUKUNFT VORAUSGESAGT.<br />

Von Daniela Müller<br />

„Do you know the Taliban?“, entgegnet<br />

der junge Mann auf dem Beifahrersitz<br />

auf die Frage der Fahrerin, was<br />

ihn denn nach Österreich getrieben<br />

habe. „Yes, we all know the Taliban“,<br />

antwortet die Fahrerin und meint<br />

dabei nicht nur sich, sondern auch die<br />

beiden Männer im Fond des Autos,<br />

die sie noch nicht kennt.<br />

Was sich abenteuerlich anhört, ist<br />

für mittlerweile Millionen Menschen<br />

in Europa Normalität: Man nimmt<br />

fremde Menschen mit. Oder steigt zu<br />

ihnen ins Auto. Wenngleich die Beifahrer<br />

nicht immer so spektakuläre<br />

Gesprächsthemen zu bieten haben.<br />

„Der Preis ist der Hauptgrund für<br />

die meisten, über Mitfahrbörsen<br />

nach Begleitern zu suchen“, erklärt<br />

Carpooling-Geschäftsführer Markus<br />

Barnikel. Das deutsche Unternehmen<br />

betreibt www.mitfahrgelegenheit.at,<br />

die zur Zeit größte Vermittlungsplattform<br />

im Internet. Mitfahren auf der<br />

Strecke Graz–Salzburg kostet im<br />

Durchschnitt 15 Euro gegenüber<br />

48 Euro für ein Vollpreis-Bahnticket.<br />

Dazu kommt eine Zeitersparnis von<br />

über einer Stunde im Vergleich zur<br />

Bahn.<br />

Umgekehrt sind Mitfahrer auch für<br />

Autobesitzer attraktiv, die einmalig<br />

oder regelmäßig von A nach B fahren,<br />

die die hohen Spritpreise nicht alleine<br />

tragen wollen oder einfach keine Lust<br />

haben, alleine im Auto zu sitzen.<br />

24


Automatisches Match-Making<br />

Während Plattformen wie www.mitfahrgelegenheit.at,<br />

www.mitfahrzentrale.at und www.karzoo.at auf eine langfristigere<br />

Buchung abzielen, ist das Fraunhofer Fokus-Projekt OpenRide<br />

oder die Plattform www.flinc.org auf die spontane und flexible<br />

Echtzeitbuchung von Mitfahrgelegenheiten ausgerichtet.<br />

Bei beiden Lösungen gibt der Fahrer per Smartphone oder Internet<br />

seinen Start- und Endpunkt und die Zahl der freien Plätze an.<br />

Das System sucht automatisch nach registrierten Mitfahrern, die<br />

auf dieser Strecke oder Teilen davon mitgenommen werden wollen<br />

und meldet dies dem Fahrer. Beide, Fahrer und Mitfahrer, erhalten<br />

Informationen über den jeweils anderen, der Mitfahrer erfährt die<br />

Höhe der Fahrtkosten und beide können nun entscheiden, ob sie<br />

die gemeinsame Fahrt antreten wollen. Bei OpenRide erhält der<br />

Fahrer per Smartphone die neue Wegstrecke und Fahrzeit, der<br />

Mitfahrer den genauen Zeitpunkt, zu dem er abgeholt wird.<br />

Mitfahrgelegenheiten gibt es auch über spezielle Plattformen wie<br />

www.bergfex.at für sportliche Aktivitäten.<br />

Unter www.adriaforum.com sind Fahrten nach Kroatien und/oder<br />

retour gelistet. Eine kleine Mitfahrbörse findet sich auch unter<br />

www.flohmarkt.at.<br />

Mitunter erfahren sie bewegende Geschichten:<br />

So erzählt der Mann auf<br />

dem Beifahrersitz mit dem Namen<br />

Bilal, dass er nach einer Todesdrohung<br />

vor den Taliban nach Österreich<br />

geflohen sei und nun Freunde in<br />

Salzburg besuchen wolle. Für seine<br />

Flucht nach Österreich, die er zum<br />

Teil im Unterbau eines Lkw verbracht<br />

habe, hätten die Schlepper fast 5.000<br />

Euro verlangt. Die Asylbehörde habe<br />

ihm seine Geschichte zwar geglaubt,<br />

den Antrag auf Asyl jedoch abgelehnt,<br />

berichtet Bilal. Nun heißt es für den<br />

jungen Mann Warten auf eine nächste<br />

Gesprächsmöglichkeit mit dem Amt.<br />

Vielleicht Jahre.<br />

HOHE AKZEPTANZ<br />

VOR ALLEM UNTER<br />

JUNGEN LEUTEN<br />

Bei der Plattform „Mitfahrgelegenheit“<br />

sind viele der Registrierten regelmäßige<br />

Pendler. Etwa Pjotr, der seit 13<br />

Jahren jede Woche 1200 Kilometer<br />

von Slowenien nach Deutschland zur<br />

Arbeit fährt. Oder der Tiroler Franz,<br />

der sich einige Jahre vor seiner Pension<br />

in die Südsteiermark verliebt, sich dort<br />

ein Haus gekauft hat, beruflich aber<br />

nach Innsbruck pendeln muss.<br />

Die Zukunft sieht das Fraunhofer-<br />

Institut für Offene Kommunikationssysteme<br />

(Fokus) in Berlin jedoch vor<br />

allem in spontanen, kürzeren Fahrten<br />

im Umfeld von Städten: als Erweiterung<br />

von Carsharing und als Baustein,<br />

mit dem Mobilität neu definiert<br />

werden kann. Mitfahrbörsen würden<br />

künftig von jungen, kurzentschlossenen<br />

Menschen ohne eigenes Auto<br />

genutzt, Carsharing hingegen von<br />

jenen, die sich sonst ein Taxi genommen<br />

hätten, sagt Forschungsleiter Ilja<br />

Radusch. Indem jeder zum Taxifahrer<br />

werden könne, freilich ohne mit dem<br />

Beförderungsgesetz in Konflikt zu<br />

kommen, würde man eine Menge an<br />

Leerfahrten vermeiden. „Menschen<br />

wollen heute nicht mehr unbedingt<br />

selbst mit dem Auto fahren, sondern<br />

schnell von A nach B kommen.“ Für<br />

die jüngere Generation sei es kein<br />

Muss mehr, alles selbst zu besitzen,<br />

bestätigt auch Markus Barnikel von<br />

Carpooling. Das gelte für Autos genauso<br />

wie für Musik-CDs.<br />

JEDEM SEINE GANZ<br />

PRIVATE MITFAHR-<br />

COMMUNITY<br />

Doch wie bringt man Autofahrer und<br />

Mitfahrer kurzfristig zusammen?<br />

Beim Projekt OpenRide des Fraunhofer<br />

Fokus sowie auf der neuen<br />

Plattform www.flinc.org geschieht das<br />

über geeignete Softwareprogramme<br />

online und in Echtzeit. Benutzer können<br />

unterwegs via Smartphone nach<br />

Mitfahrmöglichkeiten suchen oder<br />

umgekehrt anbieten, jemanden mitzunehmen.<br />

Die spontane Vermittlung<br />

hat allerdings den Nachteil, dass sowohl<br />

Fahrer als auch Mitfahrer keine<br />

Möglichkeit haben, sich über den<br />

jeweils anderen vorab ausführlich zu<br />

informieren.<br />

Das versuchen OpenRide und flinc<br />

allerdings dadurch zu kompensieren,<br />

dass sie sich an bestehende Communities<br />

anhängen wollen: Man will Unternehmen<br />

ansprechen, die ihre Mitarbeiter<br />

bei der spontanen Bildung von<br />

Fahrgemeinschaften unterstützen,<br />

Gemeinden, die ihr Mobilitätsangebot<br />

erweitern und Veranstalter, die die<br />

Anreise der Besucher effizient gestalten<br />

wollen. Auch Vereine und Universitäten<br />

gehören zur Zielgruppe. flinc<br />

setzt zudem stark auf Social Media:<br />

Der Einzelne kann sein privates Mobilitätsnetz<br />

aufbauen und seine eigene<br />

Mitfahr-Community schaffen.<br />

Das schafft Vertrauen zwischen den<br />

Menschen, die sich ein Auto teilen.<br />

Mitunter bleibt es nicht bei einmaligen<br />

Gelegenheiten: So erzählte die<br />

Autofahrerin einer Journalistin vom<br />

Afghanen Bilal, die daraufhin einen<br />

Artikel über seine Geschichte veröffentlichte.<br />

Zufall oder nicht, nur<br />

wenige Tage später flatterte ein Brief<br />

der Asylbehörde in die Unterkunft<br />

des Afghanen: Bilal soll einen Pass<br />

bekommen. <br />

<strong>Distanz</strong><br />

25


DATEN & FAKTEN<br />

TIERISCHE REKORDE<br />

Einmal die Erde umrunden = 40.000 km<br />

4.000.000 km<br />

Der Mauersegler<br />

schafft es in seinen bis<br />

zu 20 Lebensjahren auf<br />

4.000.000 Flugkilo meter.<br />

Er fliegt jedes Jahr ca.<br />

200.000 km, das ist so<br />

weit wie viermal um die<br />

Erde!<br />

1.100.000 km 60.000 km 40.000 km 15.000 km<br />

Grauwale bewegen sich<br />

mit einer Geschwindigkeit<br />

von max. 9 km/h<br />

extrem langsam,<br />

legen aber nach<br />

55 Lebens jahren doch<br />

ca. 1.100.000 km zurück.<br />

Karibus sind ständig in<br />

Bewegung und laufen<br />

pro Jahr ca. 6000 km. Bei<br />

einer Lebenserwartung<br />

von zehn Jahren legen<br />

sie 60.000 km in einem<br />

Leben zurück.<br />

Mensch 50 Millionen<br />

Schritte machen wir in<br />

unserem Leben. Dabei<br />

legen wir 40.000 Kilometer<br />

zurück – wir laufen<br />

also einmal um den Erdball.<br />

Unechte Karettschildkröten<br />

Dank ihrer phänomenalen<br />

Orientierung<br />

steuert das Tier nach gut<br />

25 Jahren und ca. 15.000<br />

zurückgelegten Kilometern<br />

genau den Strand an,<br />

an dem es einst aus dem<br />

Ei schlüpfte.<br />

Dunkler Sturmtaucher Der 64.000 km<br />

weite Flug dieses Vogels ist die längste<br />

bisher nachgewiesene Reise einer Vogelart.<br />

Er trug einen elektronischen Sender und<br />

benötigte rund 200 Tage für die Strecke.<br />

Tierische Transportsysteme<br />

Die Pfuhlschnepfe namens E7<br />

sei ohne Zwischenlandung<br />

von Alaska nach Neuseeland<br />

(ca. 11.500 km) geflogen.<br />

Der längste Passagierflug Der längste<br />

derzeit durchgeführte Flug ist der von<br />

Singapore Airlines mit einem A340-500<br />

durchgeführte Linienflug von Singapur nach<br />

New York mit 16.600 km und einer Flugzeit<br />

von etwa 18 Stunden.<br />

Kuhreiher nutzen Elefanten als<br />

Aussichtsplattform: Die Jagd nach<br />

Insekten und Kleintieren wird ihnen<br />

dadurch erleichtert, dass die<br />

Beutetiere durch die Elefanten<br />

aufgescheucht werden.<br />

Schiffshalter heften sich an<br />

Haie, sodass sie jederzeit an<br />

abfallenden Beuteteilchen<br />

teilhaben können.<br />

Manche Tiere ohne Nest wie<br />

das Känguru und die Geburtshelferkröte<br />

transportieren Brut<br />

und Jungtiere auf dem Rücken,<br />

im Körper oder in eigenen Bruttaschen.<br />

Krötenmännchen lassen sich<br />

längere Zeit während der Laichzeit<br />

von den Weibchen tragen.<br />

26


DIE VERMESSUNG DER WELT<br />

WARUM WERDEN AN DER STRASSENBAHN-HALTESTELLE AUS VIER<br />

ANGEZEIGTEN MITUNTER SECHS TATSÄCHLICHE MINUTEN WARTEZEIT?<br />

KÖNNEN ORTUNGSSYSTEME KEINE UHREN LESEN?<br />

QUERSPUR HAT SICH ZWISCHEN RAUM UND ZEIT SCHLAU GEMACHT.<br />

Von Nicole Kolisch<br />

////// ANZEIGETAFEL IN ECHTZEIT /////////////////////////<br />

Wer in Wien an einer Haltestelle wartet, sieht auf der Anzeigetafel in Echtzeit<br />

wann die nächste Straßenbahn kommt. Die Anzeige ist in Minuten und theo retisch<br />

exakt. Theoretisch, wohlgemerkt: „Wir nennen das die Wiener Linien Minuten“, sagt<br />

Michael Kieslinger, dessen Firma Fluidtime hinter der Berechnung steckt. „Busse<br />

oder Straßenbahnen funken ihren Standort und wir rechnen die verbleibenden Meter<br />

bis zur nächsten Haltestelle in Zeit um.“ Der Algorithmus berücksichtigt die durchschnittliche<br />

Verkehrssituation. Parkt aber gerade ein Auto aus, nachdem der Standort<br />

gefunkt wurde, kommt es zu Abweichungen. „Das Verkehrsgeschehen der Zukunft<br />

kann nicht berücksichtigt werden“, meint Kieslinger. „Die angezeigte Ankunftszeit ist<br />

deshalb immer die kürzest mögliche, nicht unbedingt die reale.“<br />

KOMPLEXES EINFACH ERKLÄRT<br />

////// UNVORSTELLBAR //////////////////////////////////////<br />

<strong>Distanz</strong>en lassen sich auf zweierlei Arten darstellen: einerseits als gemessene<br />

Strecke (metrisch), andererseits als Zeitangabe. In unterschiedlichen Situatio nen<br />

empfinden wir diese Angaben unterschiedlich sinnvoll. Klar: Dass eine Autostrecke<br />

3 km misst, ist eine nützliche Auskunft. Dass es bis Kairo 2384 km Luftlinie sind, hilft<br />

uns hingegen weniger. Hier zählt allein die Auskunft über die Reisedauer: 3 Stunden<br />

Flugzeit. Kurz: Je weiter die <strong>Distanz</strong>en, desto weniger vermag der Verstand räumliche<br />

Angaben zu erfassen. So wie wir eher vom Lichtjahr sprechen, als von 9,5 Billionen km.<br />

Foto: bikemap; Firma Hale Electronic; Internet; Wiener Linien<br />

////// ZEIT ODER WEGSTRECKE /////////////////////////////<br />

„Ein Taxameter funktioniert im Prinzip wie die Waage im Wurstgeschäft“, sagt Paul<br />

Blachnik (Bundesfachverband für Personenbeförderungsgewerbe), „nur dass eben<br />

nicht Gramm, sondern Weg gemessen wird“. Die Wahrheit ist noch sehr viel komplizierter:<br />

Neben der Kilometer-Anzahl wird gleichzeitig auch die Zeit gemessen. Entsprechend<br />

der europäischen Richtlinie für Taxameter erfolgt die Fahrpreisberechnung<br />

in der Weise, dass unterhalb der sogenannten Umschaltgeschwindigkeit der Zeittarif<br />

und oberhalb der Wegtarif zugrunde gelegt wird. Ist das Taxi sehr langsam unterwegs,<br />

zählen die Minuten, ist es schneller unterwegs, die Kilometer. Übrigens: Die<br />

Salzburger Firma Hale Electronic ist Marktführer und beliefert mehr als 40 Länder mit<br />

ihren geeichten Taxametern. Ein Exportschlager made in Austria.<br />

////// DIE IDEALE ROUTE /////////////////////////////////////<br />

Für die Fahrradrouten-App von bikemap.net spielt Zeit hingegen kaum eine Rolle.<br />

„Autos sind einheitlicher, aber bei Fahrrädern kommt es sehr auf das Modell bzw. die<br />

körperliche Kondition an. Da sind 08/15-Wegzeitangaben sinnlos“, erklärt Developer<br />

Helge Fahrnberger. Um die ideale Route für eine Anfrage zu ermitteln, füttert er seinen<br />

Algorithmus stattdessen mit topografischen Daten (Steigungen) und Klassifizierungen<br />

der Wege. Eine weitere wichtige Komponente stellt das seit Jahren via bikemap gesammelte<br />

Userfeedback dar: „In Wien gibt es viele Wege vom Stubentor zum Westbahnhof,<br />

aber aufgrund unserer Daten sehen wir, welcher von 80 % der Nutzer gewählt<br />

wurde und können eine entsprechende Empfehlung abgeben.“<br />

<strong>Distanz</strong><br />

27


Kindergarten<br />

Erwerbsarbeit/Teilzeit<br />

Mittagessen<br />

Schule<br />

Erwerbsarbeit/Teilzeit<br />

Zuhause<br />

Spielplatz<br />

Zuhause<br />

Sport<br />

Supermarkt<br />

Musikschule<br />

Foto: Lukas Ilgner<br />

28


Wegemuster<br />

durch<br />

die Stadt<br />

FRAUEN LEGEN KOMPLEXERE STRECKEN ZURÜCK ALS MÄNNER.<br />

UND: EINHEIMISCHE KOMMEN PRO TAG AUF DURCHSCHNITTLICH<br />

12.000 METER STRECKE, MIGRANTEN HINGEGEN NUR AUF 8000.<br />

DIE SOZIOLOGIN ELLI SCAMBOR UND DER MEDIENKÜNSTLER FRÄNK ZIMMER<br />

UNTERSUCHTEN UND VISUALISIERTEN DIE ALLTAGSWEGE<br />

DER GRAZER BEVÖLKERUNG.<br />

Das Gespräch führte Ruth Reitmeier<br />

Frau Scambor, Sie leben in Graz, Sie<br />

sind Soziologin. Gibt es Erkenntnisse<br />

dieser Studie, die Sie dennoch richtig<br />

überrascht haben?<br />

Ja. Eine Sache war, dass sich die<br />

Mobilitäten von Männern und<br />

Frauen mit Kindern unter 14 Jahren<br />

so stark voneinander unterscheiden.<br />

Natürlich wissen wir, dass die Arbeitsteilungsmodelle<br />

in Österreich so<br />

aussehen, dass hauptsächlich Männer<br />

einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen,<br />

und Frauen Teilzeit arbeiten<br />

und die Kinderbetreuung übernehmen.<br />

Wir hatten jedoch erwartet,<br />

dass sich in einer Stadt dieser Größe<br />

eine höhere Komplexität zeigen<br />

würde.<br />

Es hat sich jedenfalls gezeigt, dass<br />

an dem Vorurteil, dass Frauen<br />

nicht mobil seien, nichts dran ist.<br />

Richtig. Frauen sind hochmobil.<br />

Und Frauen mit Kindern unter 14<br />

weisen die komplexesten Mobilitäten<br />

von allen auf. Frauen und Mädchen<br />

werden ja für zwei Lebensbereiche<br />

sozialisiert, für die Erwerbsarbeit und<br />

für die Familie. Männer hingegen werden<br />

haupt sächlich für die Erwerbsarbeit<br />

sozia lisiert. Die Frage war also,<br />

ob sich dies in den Mobilitäten der<br />

Menschen zeigt. Nun, es zeigt sich,<br />

sobald Kinder da sind. Bei den Männern<br />

bleibt die Mobilität im Prinzip<br />

gleich. Die der Mütter hingegen wird<br />

viel komplexer und entspricht dieser<br />

doppelten Eingebundenheit in die<br />

Gesellschaft. Da werden viele Orte miteinander<br />

verknüpft, und viele dieser<br />

Punkte auf dem Weg verweisen auf<br />

die Familienarbeit: Das beginnt damit,<br />

dass Frauen morgens die Kinder<br />

in den Kindergarten oder in die Schule<br />

bringen, dann gehen sie arbeiten. Mittags<br />

werden die Kinder wieder abgeholt.<br />

Nachmittags geht es dann zum<br />

Flötenunterricht, zum Spielplatz, zum<br />

Supermarkt.<br />

Wenn man sich diese Muster ansieht,<br />

ist das „andere Geschlecht“ nicht die<br />

Frau, sondern die Mutter. Denn die<br />

Mobilität von Frauen ohne Kinder<br />

unterscheidet sich ja kaum von<br />

jenen der Männer.<br />

Erwerbstätige Frauen ohne Kinder<br />

haben entsprechend einfache Wege,<br />

ähnlich wie Männer.<br />

Gab es denn keine neuen Väter<br />

im Sample?<br />

Doch, die gab es. Wenn man die Daten<br />

im Detail ansieht, zeigt sich, dass<br />

vor allem Väter mit höherer Bildung<br />

komplexere Mobilität und Wegeketten<br />

haben als etwa Väter mit niedrigem<br />

Bildungsniveau. Es sind aber<br />

nicht sehr viele und über die gesamte<br />

Stichprobe von 1650 Menschen gerechnet,<br />

verschwinden sie.<br />

Denken Sie, dass etwa in Uppsala die<br />

Mobilitätsmuster von Eltern mit Kindern<br />

anders aussehen?<br />

Ich denke schon, dass die Mobilitäten<br />

in Ländern wie Schweden anders aus -<br />

sehen, weil ja auch die Arbeitsteilungsmodelle<br />

einer gerechten Aufteilung<br />

von Erwerbsarbeit und Familienarbeit<br />

entsprechen.<br />

<strong>Distanz</strong><br />

29


Foto: Elli Scambor, Fränk Zimmer<br />

Das Team<br />

Die Soziologin...<br />

Elli Scambor ist Lektorin an mehreren Unis in Graz. Wissenschaftliche<br />

Koordinatorin im Forschungsbüro der Männerberatung Graz.<br />

Schwerpunkte: Genderanalyse, Diversitäts- und Männerforschung<br />

in den Bereichen Stadtraum, Arbeit, Organisation, soziale Netzwerke.<br />

Projekte an der Schnittstelle von Sozialforschung und Medienkunst.<br />

http://elliscambor.mur.at<br />

... und der Medienkünstler<br />

Fränk Zimmer, geboren in Luxemburg, lebt und arbeitet in Graz.<br />

Musikwissenschaftliche Studien in Graz und Wien. Klang- und<br />

Medieninstallationsprojekte im öffentlichen Raum. Producer des<br />

ORF Musikprotokolls im Steirischen Herbst. Schwerpunkte künstlerischer<br />

Arbeiten bilden die Verschränkung von Medienkunst und<br />

angewandter Sozialforschung. http://fz.mur.at<br />

Das Projekt<br />

1650 Grazer zeichneten ihre täglichen Wege in den Stadtplan ein.<br />

Die so gewonnenen Daten wurden in der „Intersectional Map“, einem<br />

Grazer Stadtplan der Alltagsmobilitäten, dargestellt. Eine der<br />

Zielsetzungen war, diese Daten wieder in die Bevölkerung zurückzuspielen.<br />

Dafür wurden Monitore mit der Map-Installation aufgebaut,<br />

die über Monate durch die Stadt wanderten. Die Map ist online<br />

abrufbar unter. http://intersectional-map.mur.at/<br />

Das Buch<br />

Das Studien-Projekt liegt aktuell als Buch vor.<br />

Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.)<br />

Die intersektionelle Stadt.<br />

Geschlechterforschung und Medienkunst<br />

an den Achsen der Ungleichheit.<br />

Februar 2012 / ISBN 978-3-8376-1415-2<br />

Transcript. Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis<br />

30


Auf Achse in der Berliner Großstadt<br />

Der Berliner Atlas paradoxaler Mobilität von Friedrich von Borries zeigt eine ungewöhnliche<br />

Sicht auf Berlin und die Phänomene moderner Mobilität. Es ist eine Sammlung unorthodoxer<br />

Kartografien – etwa zu überfahrenen Füchsen, Wagensiedlungen, unvollendeten Autobahnbrücken<br />

sowie Grätzel mit hoher Porsche-Dichte –, mit Fotos, Essays und Interviews.<br />

Dabei werden die Bewegungsmuster von Fahrradkurieren genauso beschrieben wie jene<br />

von Drogendealern oder Touristen. Interviews mit Straßenmusikanten, Trampern, Obdachlosen,<br />

Lastwagenfahrern und mobilen Würstchenbratern liefern Einblicke<br />

in Mobilitätskulturen direkt von der Straße.<br />

Friedrich von Borries (Hg.)<br />

Berliner Atlas paradoxaler Mobilität<br />

ISBN: 978-3-88396-304-4<br />

Merve Verlag Berlin 2011<br />

Ist Ihnen ein Unterschied zwischen<br />

Männern und Frauen in der Nutzung<br />

der Art der Verkehrsmittel aufgefallen?<br />

Das haben wir hier nicht erhoben. Es<br />

gibt allerdings Studien, die belegen,<br />

dass gerade Frauen Verkehrsmittel<br />

häufiger wechseln und stärker multimodal<br />

unterwegs sind als Männer.<br />

Legen Frauen mit Kindern insgesamt<br />

kürzere Strecken zurück?<br />

Die Weglängen zeigten keine auffälligen<br />

Unterschiede, zumal Frauen mit<br />

ihren Kindern oft mehrere Stadtteile<br />

durchqueren, um an spezielle Orte<br />

wie etwa zum Montessori-Kindergarten<br />

zu gelangen. Die Unterschiede bei<br />

den <strong>Distanz</strong>en waren zwischen Inländern<br />

und Menschen mit Migrations-Hintergrund<br />

am auffälligsten.<br />

Womit wir beim zweiten wichtige Ergebnis<br />

der Studie wären: Zuwanderer<br />

legen deutlich kürzere Strecken zurück<br />

als Einheimische. Die Messung<br />

ergab 8000 Meter pro Tag zu 12.000.<br />

Genau. Das war, wenn man so will,<br />

die zweite Überraschung. Diese Zuwanderer-Communities<br />

haben starke<br />

lokale Netzwerke und bleiben unter<br />

sich. Also über die Mur, auf die traditionell<br />

bürgerliche Seite, gibt es nur<br />

wenige Querungen aus diesen Vierteln.<br />

Ein paar Einrichtungen haben<br />

diese Teilung ein wenig aufgebrochen.<br />

Wie etwa das Kunsthaus Graz oder<br />

die Fachhochschule. Stadtteile mit<br />

einem hohen Anteil an Zuwanderern<br />

werden durch solche Ansiedelungen<br />

heterogener, in die andere Richtung<br />

passiert das aber kaum. Soziale<br />

Homogenität betrifft ja nicht nur die<br />

Zuwanderer-, sondern auch die bürgerlichen<br />

Viertel.<br />

Die Studie zeigt auch, dass die Stadtnutzung<br />

sehr unterschiedlich ist. Was<br />

lässt sich aus den Ergebnissen für die<br />

Stadtentwicklung ableiten?<br />

Die wichtigste Aufgabe dieser Studie<br />

ist ja zunächst das Aufzeigen einer<br />

Fragmentierung. Im nächsten Schritt<br />

könnten sich die Stadtpolitikerinnen<br />

und -politiker fragen: Was ist das für<br />

eine Stadt, in der sich alle Menschen<br />

wohl fühlen? Also das ist für mich<br />

eine zentrale Fragestellung. Denn ich<br />

betrachte die Stadt als etwas Gesellschaftliches.<br />

Sie ist nicht etwas, das<br />

außerhalb von uns existiert, sondern<br />

sie ist das, zu dem wir sie machen.<br />

Indem ich die Stadt nutze, wird sie<br />

zu meiner Stadt.<br />

Wir wissen also jetzt, wer sich wo<br />

in der Stadt bewegt. Was wäre der<br />

nächste Schritt?<br />

Der nächste Schritt wäre, zu schauen,<br />

wie zufrieden die Menschen damit<br />

sind. Diese qualitative Dimension<br />

zu erheben, wäre wichtig, denn damit<br />

wird vielleicht der Auftrag an<br />

die Stadtpolitik noch deutlicher, sich<br />

Konzepte zu überlegen, die eine stärkere<br />

soziale Durchmischung zum<br />

Ziel haben.<br />

Denken Sie, dass technische Innovationen<br />

die Mobilitätsmuster verändern<br />

werden?<br />

Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass<br />

sich hier durch neue Technologien<br />

großartig etwas ändern würde, – also<br />

nicht für diese Fragestellung. Wir haben<br />

uns ja primär angeschaut, welche<br />

Orte besucht werden, nicht das Wie.<br />

Die Veränderung liegt also in der<br />

sozia len Innovation. Würden Sie die<br />

Studie in zehn Jahren wiederholen,<br />

denken Sie, dass die Mobilitäten von<br />

Eltern sich angeglichen haben werden?<br />

Was diese Studie abbildet, sind gesamtgesellschaftliche<br />

Verhältnisse,<br />

und das betrifft Veränderungen, die<br />

lange Zeit brauchen. Also dass die<br />

Mobilitäten von Männern mit Kindern<br />

ähnlich komplex werden wie<br />

jene der Frauen, das ist etwas, das<br />

werde ich vermutlich nicht erleben.<br />

Wie sehen Sie die Zukunft der Alltagsmobilität?<br />

Wenn ich mir Mobilität ganz allgemein<br />

ansehe, über diese Studie hinausblickend,<br />

habe ich den Eindruck,<br />

dass zu Fuß gehen wieder wichtiger<br />

wird und sich das Verhalten insgesamt<br />

verändert. Also der Trend geht<br />

in Richtung multimodale Mobilität.<br />

Haben Sie sich Ihre eigene Mobilität<br />

angesehen?<br />

Ja.<br />

Überrascht?<br />

Ja, doch. Denn es ist mir aufgefallen,<br />

dass es ein langer Weg ist, und einer,<br />

wo ich unterwegs viele Dinge mitnehme.<br />

<br />

<strong>Distanz</strong><br />

31


1 2 3 4 6 7 8 9 10 11 12 13 14 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28<br />

32<br />

Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC<br />

PARKOUR<br />

ist eine aus den 1980er-Jahren<br />

in Frankreich entstandene Sportart.<br />

Ihr Ziel ist es, durch elegante, effiziente,<br />

geschmeidige und flüssige Bewegungen alle<br />

Hindernisse zu überwinden, die sich dem Traceur –<br />

der ausübenden Person – in den Weg stellen.<br />

<strong>Distanz</strong>en werden charakteristisch ohne Hilfsmittel<br />

und Veränderung der Umgebung überwunden.<br />

Der Traceur nimmt dazu auf kreative Weise andere<br />

Wege, als sie architektonisch vorgegeben sind.<br />

In seiner ursprünglichen Form ist der Parkour<br />

keine Akrobatik sondern die Philosophie,<br />

die eignen durch Körper und Umwelt<br />

gesetzten Grenzen zu erkennen<br />

und zu überwinden.

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