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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC<br />
Ausgabe <strong>09</strong>/20<strong>16</strong><br />
TEMPO<br />
TEMPO<br />
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TEMPO<br />
Wer fährt am<br />
meisten mit der Bahn?<br />
Keine Überraschung, die Schweizer.<br />
Sie legten im Jahr 2014 2 429 km pro Einwohner<br />
zurück, wie der aktuelle Marktbeobachtungsbericht<br />
der IRG-Rail, die europäische Plattform der<br />
unabhängigen Eisenbahnregulierungsbehörden,<br />
belegt. Die Österreicher fuhren 1 426 km<br />
pro Einwohner mit dem Zug, was Platz zwei<br />
der europaweiten Erfassung entspricht und<br />
laut Studie mit den im EU-Vergleich<br />
relativ günstigen Fahrpreisen sowie<br />
einem dicht ausgebauten<br />
Schienennetz<br />
zusammenhängt.<br />
Was bedeutet<br />
das Wort Espresso?<br />
Die Wurzeln des Espressos, einer<br />
bestimmten Art der Kaffeezubereitung,<br />
liegen im italienischen Mailand zu Beginn des<br />
20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung verleitet zur<br />
Annahme, dass es sich dabei um einen schnell<br />
zubereiteten und schnell zu konsumierenden Kaffee<br />
handelt, da er mitunter schnell an der Bar getrunken<br />
werden kann. Sprachwissenschafter aber sehen die<br />
Herkunft des Wortes Espresso im italienischen<br />
espressivo (von esprimere, dt. Gefühle<br />
ausdrücken), mit dem einst ein explizit<br />
für den Gast zubereitetes<br />
Gericht bezeichnet<br />
wurde.<br />
Impressum und Offenlegung<br />
Medieninhaber und Herausgeber<br />
Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),<br />
Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0<br />
www.oeamtc.at<br />
ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301<br />
Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter<br />
Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.<br />
Rechtsgeschäftliche Vertretung<br />
DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor<br />
Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor<br />
Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh<br />
Chefredaktion DI Anna Várdai (ÖAMTC),<br />
Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)<br />
Chefin vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA<br />
Was ist Zeit?<br />
Zeit ist eine physikalische Größe<br />
und beschreibt eine Abfolge von<br />
Ereignissen. Zeit wird in verschiedenen<br />
Wissenschaften unterschiedlich betrachtet.<br />
So ist sie in der Physik ein messtechnisch<br />
erfassbarer Wert, in der Psychologie steht<br />
hingegen die Frage nach der Zeitwahr -<br />
nehmung und dem Zeitgefühl im<br />
Vordergrund, die Ökonomie<br />
wiederum betrachtet<br />
die Zeit als<br />
Wertgegenstand.<br />
Ab wann<br />
wurde unser Leben<br />
schneller?<br />
Einen exakten Zeitpunkt zu<br />
nennen, ist nicht möglich. Großen<br />
Einfluss auf die Beschleunigung<br />
unseres Lebens hatte aber wohl die<br />
Erfindung der mechanischen Uhr im<br />
14. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt<br />
gab nicht mehr nur die Natur,<br />
sondern mehr und mehr<br />
der Stundenzeiger<br />
den Takt an.<br />
Schneller gehen,<br />
länger leben?<br />
Australische Forscher gingen in<br />
einer Studie der Frage nach, ob eine<br />
schnellere Schrittgeschwindigkeit ein längeres<br />
Leben ermöglicht. Dazu nahmen sie das Schritttempo<br />
von 1 705 Männern im Alter über 70 Jahren<br />
unter die Lupe. Das Ergebnis: Jene, die schneller<br />
als 3,2 km/h gingen, zeigten im Vergleich zu<br />
langsameren Männern ein geringeres Risiko,<br />
innerhalb des Untersuchungszeitraums zu<br />
versterben. Die optimale Schrittgeschwindigkeit,<br />
um auch fünf Jahre nach Beginn<br />
der Studie noch am Leben zu sein,<br />
lag bei 4,8 km/h.<br />
Was sagen Chronos<br />
und Kairos aus?<br />
In der Antike wies man der Zeit zwei<br />
Gottheiten zu: Chronos und Kairos, die<br />
Götter der messbaren und der gefühlten Zeit.<br />
Chronos versinnbildlicht die Quantität bzw. den<br />
Ablauf der (Lebens-)Zeit. Damit verbunden ist der<br />
Gedanke, die Zeit, die der Mensch zur Verfügung hat,<br />
zu nutzen, zu lernen und in ihr zu reifen.<br />
Kairos hingegen steht für die Qualität der Zeit.<br />
Er stellt den besten Zeitpunkt einer Entscheidung<br />
dar: eine günstige Gelegenheit, deren ungenutztes<br />
Verstreichen nachteilig sein kann. Kairos sagt<br />
somit aus, dass man keine Zeit, sondern<br />
nur Gelegenheiten<br />
verlieren kann.<br />
Welches ist das<br />
schnellste Pferd<br />
der Welt?<br />
Obwohl Forscher der britischen<br />
University of Exeter kürzlich belegten,<br />
dass auch Rennpferde stetig schneller<br />
werden, gilt das 1764 geborene britische<br />
Rennpferd Eclipse als schnellstes Pferd<br />
der Welt. Der Hengst soll für eine<br />
7 190 Meter lange Rennstrecke<br />
6,4 Minuten gebraucht haben.<br />
Das entspricht einer<br />
Durchschnittsgeschwindigkeit<br />
von 71,9 km/h.<br />
Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz-Eichhorn, Ancuta Barbu,<br />
Mag. Gabriele Gerhardter, Catherine Gottwald, Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter,<br />
Mag. Claudia Kesche, Mag. Astrid Kuffner, Dr. Daniela Müller, Dr. Ruth Reitmeier,<br />
Teresia Tasser, Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA<br />
Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger<br />
Grafik Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA<br />
Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba<br />
Druck Hartpress<br />
Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.<br />
Ausgabe <strong>09</strong>/20<strong>16</strong>, erschienen im Juni 20<strong>16</strong><br />
Download www.<strong>querspur</strong>.at
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Heute<br />
Suche nach der verlorenen Zeit<br />
Das Leben wird immer schneller, zumindest<br />
kommt es uns so vor – wann erlebt<br />
der Mensch seine Zeit am intensivsten?<br />
Von Ruth Reitmeier<br />
Alles auf Schiene<br />
Vom Achterbahn-Rausch und dem<br />
Fahrvergnügen in der Bummelbahn.<br />
Von Astrid Kuffner<br />
Need for Speed<br />
Geschwindigkeit war immer ihr Element –<br />
Susie Wolff im Interview.<br />
Von Catherine Gottwald<br />
Am Puls der Stadt<br />
London, New York, Beijing –<br />
was macht eine schnelle Stadt aus?<br />
Von Teresia Tasser<br />
Schneller als je zuvor<br />
Der Sauseschritt des schnellsten<br />
Mannes der Welt kann einen Gepard<br />
noch immer nicht überholen.<br />
Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer<br />
Morgen<br />
Rasend Schnell<br />
Hochgeschwindigkeitszüge als Alternative<br />
zu Auto und Flugzeug, in Zukunft mitunter<br />
auf Luftkissen statt auf Schienen.<br />
Von Catherine Gottwald<br />
Die Fracht-Starter<br />
Eine Idee ist schnell geboren, der Erfolg<br />
eines Start-ups hängt aber von vielen<br />
Faktoren ab.<br />
Von Ruth Reitmeier<br />
Tanzen mit allen Sinnen<br />
Körper und Emotion verbinden und an<br />
drei Wochenenden ein bühnenreifes<br />
Tanztheaterstück entwickeln. Choreograph<br />
und Tänzer Vinicius im Interview.<br />
Von Daniela Müller<br />
Fast wie echt<br />
Simulierte Realität wird in Zukunft eine<br />
Komplexität erreichen, an der man heute<br />
schon forscht.<br />
Von Ruth Reitmeier<br />
Die Ruhe vor dem Bus<br />
Was tun, wenn man warten muss?<br />
Von Astrid Kuffner<br />
Start-ups<br />
Spannende Ideen zum Thema<br />
Geschwindigkeit.<br />
Von Ancuta Barbu<br />
Foto: © Karin Feitzinger<br />
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Foto: © s(c) Fraunhofer IPK Foto: © Williams/LAT– Susie Wolff<br />
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Foto: © https://anamericaninmontreal.wordpress.com<br />
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Foto: © Karin Feitzinger
SELBST IM MODERNEN, DIGITALISIERT-BESCHLEUNIGTEN LEBEN GILT:<br />
ZEIT ERLEBT DER MENSCH AM INTENSIVSTEN, WENN ER EINFACH<br />
STILL IST ODER ABER WENN ER NEUE ERFAHRUNGEN MACHT, ALSO<br />
ETWAS ERLEBT. DIE MONOTONE HEKTIK DES ALLTAGS HINGEGEN<br />
IST EIN ZEITKILLER. Von Ruth Reitmeier<br />
Wieder einmal zu spät zum ohnehin<br />
nur halbjährlich stattfi ndenden Treffen<br />
mit den Freundinnen. Etwas aufgelöst,<br />
abgehetzt, im Hirn nach einer<br />
Entschuldigung kramend. Doch zwei<br />
kurze Worte genügen, und alle nicken<br />
verständnisvoll: der Stress. Jeder<br />
kennt ihn, jeder hat ihn. Das war doch<br />
nicht immer so, oder?<br />
HEUTE HABEN<br />
MENSCHEN MEHR<br />
ZEIT ALS FRÜHER,<br />
ABER SIE NEHMEN<br />
ES NICHT SO WAHR<br />
Ein Schönheitsfehler der Gegenwart<br />
ist freilich, dass sie mit der Vergangenheit<br />
nicht mithalten kann. Tatsache<br />
ist, dass die meisten Menschen heute<br />
kürzer arbeiten denn je, sie haben<br />
viel mehr Freizeit, nennen jede Menge<br />
Gerätschaften ihr Eigen, die Hausund<br />
andere Arbeiten enorm rationalisiert<br />
haben und fühlen sich dennoch<br />
gestresst, getrieben, mitunter aufgerieben<br />
in ihrem durchstrukturierten<br />
Alltag. Eigentlich erstaunlich, denn<br />
wenn wir unser Leben mit jenem der<br />
Generation unserer Großeltern vergleichen,<br />
ist es zweifellos leichter.<br />
Und dabei soll es hier gar nicht um<br />
die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit<br />
gehen, sondern einfach<br />
nur um den Alltag.<br />
MEHR FREIZEIT,<br />
MEHR STRESS?<br />
Die Großmutter der Autorin etwa hatte<br />
außer Arbeit nicht viel zu tun. Denn<br />
sie hatte drei Kinder, einen Vollzeitjob,<br />
einen Haushalt, einen Garten.<br />
Ihr Leben war anstrengend, und sie<br />
war abends rechtschaffen müde. Gestresst<br />
war sie aber nicht. Was sie<br />
nämlich nicht hatte, waren permanenter<br />
Termindruck, Mails, Messages,<br />
Handy, Internet. Sie verspürte auch<br />
keinen Optimierungsdruck à la Marathon-Training<br />
oder Spanisch-Privatunterricht,<br />
zumal dafür ohnehin kein<br />
Geld übrig war. Und da sie nur wenig<br />
Freizeit hatte, hatte sie auch keinen<br />
Freizeitstress.<br />
Der tatsächliche Arbeitsaufwand kann<br />
es nicht sein, der uns stresst. Denn<br />
unterm Strich haben unsere Großeltern<br />
und auch unsere Eltern viel mehr<br />
Zeit mit Erwerbstätigkeit verbracht.<br />
Die gesetzliche Wochenarbeitszeit<br />
wurde in Österreich in den vergangenen<br />
100 Jahren schrittweise auf die<br />
aktuelle 38,5 Stunden-Woche gekürzt.<br />
1918 wurde der 8-Stundentag<br />
mit einer einhergehenden 48-Stunden-Woche<br />
umgesetzt, gefolgt von<br />
der 45-Stunden-Woche ab dem Jahre<br />
1959 und einer etappenweisen Einführung<br />
der 40-Stunden-Woche ab<br />
1969.<br />
WIR ARBEITEN HEUTE<br />
KÜRZER, WOLLEN ABER<br />
MEHR UNTERBRINGEN<br />
Das Leben damals war härter und zugleich<br />
übersichtlicher. Es ist wohl<br />
eher das viele Andere, das sich seither<br />
exponenziell vermehrt hat. Wir arbeiten<br />
kürzer, doch die Arbeit hat sich<br />
verdichtet und das wird Vielen zu viel.<br />
Eine Umfrage der Statistik Austria aus<br />
dem Jahr 2014 ergab, dass rund eine<br />
Million Österreicher über eine gesundheitliche<br />
Beeinträchtigung klagen,<br />
die von der Arbeit verursacht<br />
wurde – mit Rückenproblemen an der<br />
Spitze. Ein Vergleich mit einer Erhebung<br />
aus dem Jahr 2007 zeigt einen<br />
deutlichen Anstieg der Probleme. Vor<br />
allem der Anteil jener, die Zeitdruck<br />
als Faktor angeben, der ihr psychisches<br />
Wohlbefi nden am stärksten beeinträchtigt,<br />
war von 29 auf 37 Prozent<br />
gestiegen.<br />
DIE ERSEHNTE RUHE<br />
IST ZU BEGINN MEIST<br />
EIN ZIEMLICHER<br />
SCHOCK<br />
Die Beschleunigung des modernen,<br />
digitalisierten Lebens ist kein Mythos.<br />
Keiner will sie, doch jeder macht mit.<br />
Hört man Berichte von Menschen, die<br />
sich von ihrem hektischen Alltag zwischenzeitlich<br />
für ein paar Tage in ein<br />
Kloster zurückziehen, ist es ausgerechnet<br />
die ersehnte Ruhe, die viele<br />
zunächst überwältigt und emotional<br />
fordert. In der Stille hört der Mensch<br />
(auf) sich selbst. „Als ich vor einem<br />
Jahr das erste Mal im Stift Heiligenkreuz<br />
zu Gast war, kam ich bewusst<br />
ohne Handy, E-Mail, Internet an. Doch<br />
das war, wie sich herausstellte, zu radikal.<br />
Ich hatte die Stille unterschätzt<br />
und empfand sie fast als unerträglich.<br />
Ich dachte, ich werde verrückt“, sagt<br />
Sonja Scheibenreif. Die Gespräche<br />
mit einem ihr vertrauten Pater und die<br />
Teilnahme am Chorgebet der Mönche<br />
halfen ihr, die Umstellung zu meistern.<br />
Und nach nur einer Woche im Kloster<br />
hatte sie die Kraft der Stille schätzen<br />
TEMPO<br />
5
Foto: © Karin Feitzinger<br />
gelernt. Seither nimmt sie sich auch in<br />
ihrem Tagesablauf bewusst Auszeiten,<br />
wo zwischendurch das Handy stumm<br />
bleibt, wo sie zur Ruhe kommen und<br />
abschalten kann. „Es ist so wichtig,<br />
dass man sich nicht vom Alltag auffressen<br />
lässt“, sagt sie.<br />
IN DER MONOTONIE<br />
DES ALLTAGS LÄUFT<br />
UNS DIE ZEIT DAVON<br />
Wissenschaftliche Untersuchungen<br />
zur menschlichen Wahrnehmung von<br />
Zeit zeigen, dass diese nämlich vor allem<br />
dann rast, wenn eigentlich nichts<br />
Wesentliches passiert. Eine Reise mit<br />
Erlebnissen und Begegnungen wird<br />
in der Erinnerung als viel länger empfunden<br />
als die gleiche Zeit, die in der<br />
Monotonie des Alltags verbracht wird.<br />
So lässt sich auch erklären, warum<br />
das Leben Erwachsener viel schneller<br />
zu vergehen scheint, als etwa die<br />
Kindheit und Jugendzeit. Das liegt daran,<br />
dass man später nur noch wenige<br />
grundlegend neue Erfahrungen macht.<br />
WISSENSCHAFTER<br />
SUCHEN NOCH IMMER<br />
NACH DER INNEREN<br />
UHR DES MENSCHEN<br />
Das retrospektive Erleben von Zeit ist<br />
gut erforscht, die momentane Zeitwahrnehmung<br />
hingegen noch nicht<br />
vollständig geklärt. Das Wissenschaftsmagazin<br />
Spektrum berichtet,<br />
dass Hirnforscher seit einigen Jahren<br />
die innere Uhr des Menschen suchen,<br />
die für Zeitschätzungen im Minutenund<br />
Sekundenbereich zuständig ist.<br />
Durch Experimente im Floating-Tank –<br />
ein mit Salzwasser gefülltes, geschlossenes<br />
Becken, in dem äußere<br />
Reize weitgehend ausgeschaltet werden<br />
und nur der Körpersinn präsent<br />
ist, versucht man, die unmittelbare,<br />
momentane Zeitwahrnehmung von<br />
Menschen zu ergründen. Auf dem<br />
Wasser treibend, in völliger Dunkelheit<br />
und Isolation zeigt sich jedenfalls,<br />
dass dem Zeitbewusstsein die<br />
Körperwahrnehmung zugrunde liegt.<br />
Dabei spürt der Mensch die Zeit unmittelbar<br />
am eigenen Leib. Zeitbewusstsein<br />
entspringt also nicht nur<br />
äußeren Reizen, sondern aus dem<br />
Menschen selbst. Durch sein Körpergefühl<br />
und durch Signale wie die<br />
Atmung entsteht ein Gefühl für<br />
die Zeit.<br />
EUSTRESS IST GUTER<br />
STRESS UND MACHT<br />
DIE MENSCHEN KREATIV<br />
Zurück ins stressige Leben. „Nur Tote<br />
haben keinen Stress“, sagte Hans<br />
Selye, der erste offi zielle Stressforscher.<br />
Der aus Wien stammende Arzt,<br />
der 1934 vor den Nationalsozialisten<br />
nach Kanada fl üchtete, entwickelte<br />
die Lehre vom Stress und kreierte den<br />
Begriff. Er wollte den Stress keinesfalls<br />
abschaffen, mahnte jedoch, dass<br />
jeder sein Belastbarkeitslevel fi nden<br />
und die eigenen Grenzen beachten<br />
sollte. Beim Stress macht die Dosis<br />
das Gift. Stress kann Menschen krank<br />
machen, doch zunächst macht er sie<br />
kreativ und produktiv. Es ist schon<br />
6
Im Alltagstrott verfliegt die Zeit. Viel bewusster<br />
und intensiver erleben wir sie, wenn wir Neues<br />
kennen lernen. Zum Beispiel im Urlaub, oder in<br />
neuen Lebenssituationen.<br />
paradox, dass gerade in der Leistungsgesellschaft<br />
das Wort Stress<br />
so negativ besetzt ist. Gestresst sein<br />
klingt nach Überforderung, dabei können<br />
wir gerade in Situationen, in welchen<br />
wir gefordert sind, über uns hinauswachsen<br />
und Großes vollbringen.<br />
Positiver Stress hat mit Leidenschaft<br />
zu tun, mit Einsatz und Vertrauen in<br />
die eigenen Fähigkeiten. Es ist der<br />
Stoff, aus dem Action-Filme sind.<br />
NOTFALLMEDIZINER<br />
HABEN IN<br />
UNERWARTETEN<br />
SITUATIONEN AUCH<br />
HERZKLOPFEN<br />
Am letzten Tag des Jahres 2015, unterwegs<br />
auf der deutschen Autobahn,<br />
hatte der Wiener Arzt Andreas Gatterer<br />
kurz vor Regensburg ein berufl i-<br />
ches Erfolgserlebnis. Und dabei war<br />
er nicht einmal im Dienst. „Ein Staubeginn<br />
machte sich bemerkbar, in der<br />
Ferne waren Warnblinkanlagen zu erkennen,<br />
in der Kolonne dahinter gingen<br />
die Bremslichter an“, erinnert sich<br />
Gatterer. Er sieht, dass etwa 300 bis<br />
500 Meter entfernt, ein Pkw quer auf<br />
der Fahrbahn sowie Menschen auf<br />
dem Pannenstreifen stehen. Ein Unfall<br />
ist passiert und kein Blaulicht in<br />
Sicht, es sind also noch keine Einsatzkräfte<br />
am Unfallort. In diesem Moment<br />
wird aus dem Urlaubsreisenden<br />
der Notarzt und eine Kette zielgerichteter<br />
Handlungen nimmt ihren Lauf: Er<br />
muss sofort dorthin, um Erste Hilfe zu<br />
leisten. Gatterer ist Anästhesist- und<br />
Intensivmediziner sowie Notarzt. Jede<br />
Notfallsituation ist selbst für Profi<br />
s zunächst einmal eine Herausforderung,<br />
die Zeitwahrnehmung verändert<br />
sich. Jede Sekunde wird viel intensiver<br />
wahrgenommen.<br />
Am Unfallort stellt sich heraus, dass<br />
zwei Pkw mit mehreren Insassen, darunter<br />
ein Kind, beteiligt sind. Nachdem<br />
sich Gatterer mithilfe von Freiwilligen<br />
einen Überblick über die Verletzungsgrade<br />
der am Unfall beteiligten Personen<br />
gemacht hat, leistet er Erste Hilfe.<br />
Am Tag danach liest er in den Polizeinachrichten,<br />
dass alle Verletzten den<br />
Unfall überlebt haben. „Natürlich war<br />
das Stress, aber ein durchwegs positiver.<br />
Ich bin stolz, dass ich helfen konnte.<br />
Das ist ein gutes Gefühl“, sagt er.<br />
HELLWACH UND HOCH<br />
KONZENTRIERT – IN<br />
DER SCHRECKSEKUNDE<br />
REAGIERT DER MENSCH<br />
SEIT URZEITEN GLEICH<br />
Wer zwischenzeitlich gestresst ist,<br />
kurbelt die eigene Schaffenskraft<br />
an und entwickelt sich weiter. Einzig<br />
den Dauerstress gilt es, zu vermeiden,<br />
denn der macht krank. Was<br />
als Stress empfunden wird, ist zudem<br />
höchst individuell. Die Reaktionsabfolge,<br />
die im Körper dabei ausgelöst<br />
wird, ist jedoch stets die gleiche, wie<br />
sie schon unsere Urahnen in der Begegnung<br />
mit dem Säbelzahntiger erlebten,<br />
in jener Schrecksekunde, wo<br />
die überlebenswichtige Entscheidung<br />
Flucht oder Kampf getroffen werden<br />
musste. In der Stresssituation ist der<br />
Mensch hellwach, konzentriert und er<br />
priorisiert. Im Gehirn wird eine Reaktionskette<br />
ausgelöst: Adrenalin wird<br />
ausgeschüttet, Blutdruck und Puls<br />
steigen, die Muskulatur spannt sich<br />
an, Körper und Geist sind in Alarmbereitschaft.<br />
Etwa zehn Minuten nach<br />
dem Adrenalinausstoß folgt Cortisol,<br />
das den Körper vor zu viel Adrenalin<br />
schützt und noch eine Zeitlang für erhöhte<br />
Aufmerksamkeit sorgt. Wichtig<br />
ist, dass man danach den Cortisol-<br />
Spiegel wieder herunterfährt. Probleme<br />
drohen Dauergestressten, die es<br />
verlernt haben, sich aus dem Cortisol-<br />
Zustand wieder zu befreien.<br />
PAUSE EINLEGEN,<br />
MÜSSIGGANG<br />
GENIESSEN UND DANN<br />
NEU DURCHSTARTEN<br />
Der renommierte österreichische<br />
Stressforscher Sepp Porta warnt<br />
vor der „pausenlosen Gesellschaft“.<br />
Denn erst in der Pause entsteht die<br />
Kraft für kommende Anforderungen.<br />
Wer jedoch permanent arbeitet, nimmt<br />
Körper und Geist die Möglichkeit zur<br />
Regeneration. Überlastung, Erschöpfung<br />
und Burnout sind mögliche Folgen.<br />
Es gibt also keinen Grund, ein<br />
schlechtes Gewissen zu haben, wenn<br />
man ab und zu „alle fünf gerade sein“<br />
und die Arbeit liegen lässt. Müßiggang<br />
ist also in keiner Weise aller<br />
Laster Anfang, sondern notwendiger<br />
Ausgleich. Insbesondere Momente<br />
der Stille sind wahre Erholungsquellen<br />
in unserer schnellen Welt. Workaholics<br />
sollten das Eintauchen in die<br />
Stille laut Experten behutsam angehen.<br />
Für den Einsteiger genügen ein<br />
paar Minuten täglich, in denen er wieder<br />
ganz Herr seiner Zeit ist. <br />
TEMPO<br />
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USERSTORY<br />
Alles auf Schiene<br />
ABGEHEN WIE EINE RAKETE ODER MIT RUHIGER HAND BEIM FAHRSCHALTER<br />
SITZEN: DEM ALLTAG ENTKOMMEN VERONIKA LAUSS UND GERHARD ULLRAM<br />
IN GANZ UNTERSCHIEDLICHER GESCHWINDIGKEIT.<br />
DIE FREIZEITPARK-BESUCHERIN GENIESST ANGESCHNALLT DIE<br />
ACHTERBAHN, DER DAMPFLOKFÜHRER ROLLT MIT DER BUMMELBAHN<br />
DURCH DAS WEINVIERTEL. Von Astrid Kuffner<br />
Einsteigen<br />
und anschnallen!<br />
Fotos: © Veronika Lauss<br />
Wer schon einmal Hochschaubahn gefahren ist, kennt das:<br />
Racketacke-racketacke-racketacke – so wird die Wagenkette<br />
bergauf gezogen. Auf der Kuppe ist es einen Herzschlag<br />
lang still, der Atem setzt kurz aus, dann wird ausgeklinkt<br />
und der Zug saust auf Schienen bergab, legt sich<br />
in die Kurve oder stellt im Looping alle auf den Kopf. Dann<br />
schreit Veronika Lauss, fällt ein in den Chor der Adrenalinfreunde<br />
und genießt das kalkulierte Risiko, einen vorgegebenen<br />
Parcours in rasantem Tempo, gut angeschnallt, zu<br />
absolvieren. Nach einigen Minuten bremst der Zug ab, alle<br />
steigen beschwingt und schwindelig aus, atmen tief durch<br />
und entscheiden: Noch einmal. Oder: Nie wieder.<br />
Schon als Kind ließ sich die kleine Veronika beim jährlichen<br />
Urfahraner-Markt in Linz gern von Fahrgeschäften drehen,<br />
rütteln und schleudern. Ihre Vorliebe für Hochschaubahnen<br />
entdeckte die heute 35-jährige Juristin in einer Rechtsabteilung<br />
erst vor sechs Jahren. Bei einer Geburtstagsparty<br />
schwärmte ein Gast vom Europapark in Rust (Deutschland).<br />
„Meine Freundin Renate und ich waren so angetan von den<br />
lebhaften Schilderungen, dass wir beschlossen, selbst hinzufahren“,<br />
erzählt Veronika Lauss. Anfangs schlichen die<br />
beiden mit Heidenrespekt um die Achterbahnen herum. Hier<br />
fi ndet man auch die zweithöchste und viertschnellste Achterbahn<br />
Europas: „Zuerst dachten wir: ‚Das trauen wir uns<br />
nie‘! Dann haben wir es doch versucht und sind dabei geblieben.“<br />
Seither ist das Mädels-Wochenende im Freizeitpark<br />
ein jährlicher Fixpunkt. Gemeinsam waren sie schon<br />
in Spanien, mehrmals in Deutschland und auch in Holland.<br />
Veronika Lauss reizt die Mischung aus Überwindung, Adrenalin,<br />
Geschwindigkeit, Schwerelosigkeit und Orientierungslosigkeit<br />
– das gesicherte Abenteuer. Loopings mag<br />
sie besonders. Am ersten Tag des gemeinsamen Abenteuerurlaubs<br />
umkreist sie mit ihrer Freundin die Objekte der<br />
Begierde meist nur und erfasst mit Augen und Ohren die<br />
Angstlust der anderen Fahrgäste. Dabei überzeugen sich<br />
die Beiden gegenseitig davon, dass sie es wagen wollen.<br />
Denn eigentlich weiß man nie, was auf einen zukommt, bis<br />
man es selbst probiert hat.<br />
Jedes Jahr schneller und höher. Mehr interessiert die beiden<br />
jungen Frauen nicht. Auch physikalische Details der Anlage<br />
oder technische Rekorde sind ihnen eher egal. Natürlich ist<br />
ein Wing Coaster (die Fahrgäste sitzen links und rechts der<br />
Schiene, über und unter ihnen ist Luft) anders zu fahren als<br />
ein klassischer Roller Coaster (Zug auf Schienen). „Jedes<br />
Jahr fangen wir mit den ruhigeren Bahnen an und steigern<br />
uns langsam“, erklärt Veronika Lauss. Es gibt auch nicht DIE<br />
Wunsch-Adrenalinschleuder, mit der sie unbedingt fahren<br />
wollen. Es geht ihnen vielmehr um das gemeinsame Eintauchen<br />
in eine Themenpark-Welt. Der Park sollte auch eine<br />
gewisse Größe haben, damit die beiden drei Tage gut beschäftigt<br />
sind.<br />
Die ärgsten Achterbahnen fahren die robusten Naturen am<br />
zweiten Tag, ausgeschlafen und mit einem guten Frühstück<br />
im Bauch. Schlecht geworden ist ihnen noch nie. Abends<br />
schwankt der Boden manchmal noch, wenn sie im Bett liegen<br />
– wie nach einem Tag in einem Boot auf dem Meer.<br />
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Foto: © Gerhard Ulram<br />
Die Weichen auf<br />
Entspannung stellen<br />
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Weinviertel – auch<br />
für den Export landwirtschaftlicher Produkte – ein dichtes<br />
Netz an Lokalbahnen errichtet. Bis zur Mitte der 1970er-<br />
Jahre pfauchten Dampfl okomotiven durch den Nordosten<br />
Niederösterreichs. Ab den späten 1960er-Jahren gesellten<br />
sich betagte Dieseltriebwagen dazu, die aus dem Regelbetrieb<br />
ausgeschieden waren. Ab 1988 wurde ein Großteil<br />
des Lokalbahnnetzes eingestellt, „ein Trend, der zumindest<br />
in Niederösterreich leider bis heute anhält“, erklärt Gerhard<br />
Ullram. Zumindest am Wochenende und in der Sommersaison<br />
wird ein Teilabschnitt der Strecke von Hobby-Bahnfahrern<br />
benutzbar gehalten.<br />
Einer davon ist Gerhard Ullram, der in seiner Freizeit die Liebe<br />
zur Bummelbahn pfl egt. Als Kind besuchte er mit seinem<br />
Opa regelmäßig die Bahnhöfe in Mistelbach: den Staatsund<br />
den Landesbahnhof – in Gehweite von seinem Zuhause.<br />
Dort verfolgte er den Betrieb der alten Loks mit leuchtenden<br />
Augen. An eine Bahnfahrt im Jahr 1975 – damals war er vier<br />
Jahre – durch das Zayatal nach Dobermannsdorf und retour<br />
mit einer Dampfl ok der Reihe 93 (Baujahr 1928) erinnert er<br />
sich noch gut. „An den Enden der grünen Personenwagen<br />
konnte man auf der Plattform stehen, die Nase in den Rauch<br />
der Maschine halten und die Landschaft genießen“, schwelgt<br />
der Bahn-Nostalgiker in Erinnerungen. Es ist wohl kein Zufall,<br />
dass er heute bei der ÖBB-Infrastruktur arbeitet.<br />
Die ferrophile Vorbelastung geht aber noch weiter: Sein Onkel<br />
war bis zur Pensionierung Schaffner und erzählte gerne Geschichten<br />
über die „gute alte Zeit“ bei den Weinviertler Lokalbahnen<br />
– „sicher mit einem Schuss Verklärung“, lächelt Ullram.<br />
Seit 2003 ist Gerhard Ullram Gründungsmitglied des<br />
„Vereins Neue Landesbahn“, der die Strecke Ernstbrunn–<br />
Mistelbach (NÖ) durch die landschaftlich reizvollen Leiser<br />
Berge erhält und touristisch nutzt. Die Fahrgäste können einen<br />
Nostalgie-Express vom Wiener Praterstern nach Ernstbrunn<br />
nehmen, mit der Weinvierteldraisine nach Asparn an<br />
der Zaya radeln und sich mit dem Zayataler Schienen taxi,<br />
zusammengestellt aus ehemaligen ÖBB-Bautrupp-Fahrzeugen,<br />
mit 20 km/h zurück nach Mistelbach chauffi eren<br />
lassen. Im Schienentaxi versieht der 45-Jährige regelmäßig<br />
in der Freizeit Dienst als Fahrer, Betriebsverantwortlicher<br />
oder Schaffner. Die Dampfl ok stampft auf den „Mollmannsdorfer<br />
Berg“, der Steigungen wie die Semmering-Strecke<br />
aufweist, die Radreifen quietschen bei 25 km/h Reisegeschwin<br />
digkeit, die Fahrgäste schauen zufrieden – und<br />
Gerhard Ullram entspannt sich.<br />
In Mistelbach wurde 20<strong>09</strong> der Erlebnisbahnhof eröffnet, vor<br />
dem Gerhard Ullram 2013 standesgemäß im Rahmen einer<br />
Dampfzug-Sonderfahrt geheiratet hat. Seine Frau ist ebenfalls<br />
an der Bahn aufgewachsen, allerdings in Oberösterreich,<br />
und unterstützt ihn vor allem bei Sonderfahrten – kulinarisch<br />
und als Schaffnerin. An betriebsfreien Tagen widmet<br />
er sich Grünschnitt- und Wartungs-Arbeiten entlang der<br />
Strecke. „Im Alltag muss man sich den Anforderungen und<br />
dem Tempo der heutigen Zeit stellen“, sagt Gerhard Ullram,<br />
„aber nicht nur ich, sondern auch gehetzte Städter schalten<br />
bei der ‚Neuen Landesbahn‘ vom Alltag ab“. <br />
TEMPO<br />
9
Need for Speed<br />
SCHNELLIGKEIT WAR EINSTMALS EINE ÜBERLEBENSFRAGE. DER<br />
URZEITLICHE DRANG, GESCHWINDIGKEITSGRENZEN AUSZUTESTEN,<br />
WIRD IM MOTORSPORT BIS HEUTE KULTIVIERT UND ZELEBRIERT.<br />
EIN INTERVIEW ÜBER DIE SUCHT NACH GESCHWINDIGKEIT MIT<br />
EX-RENNFAHRERIN SUSIE WOLFF, DER SCHNELLSTEN FRAU DER WELT.<br />
Das Gespräch führte Catherine Gottwald<br />
<strong>querspur</strong>: Seit Urzeiten sind<br />
Menschen vom Phänomen<br />
Geschwindigkeit fasziniert.<br />
Manche erliegen dem Rausch der<br />
Geschwindigkeit geradezu, andere<br />
fürchten sich davor. Sie waren in<br />
Ihrer aktiven Zeit die erste Frau in der<br />
Formel 1 nach 22 Jahren und haben<br />
immer wieder betont, Geschwindigkeit<br />
regelrecht zu lieben. Ist Speed für Sie<br />
noch immer die ganz große Liebe?<br />
Susie Wolff: Total. Diese Liebe hat<br />
bei mir schon ganz früh begonnen:<br />
Mit zwei Jahren saß ich zum ersten<br />
Mal auf einem kleinen Motorrad.<br />
Schnell(er) sein zu wollen liegt wohl<br />
in meiner Natur. Es hängt von der<br />
Persönlichkeit ab, ob man Geschwindigkeit<br />
liebt oder nicht. Bei mir war<br />
diese Liebe von Anfang an da. Auch<br />
heute noch, nach meiner aktiven<br />
Karriere als Test- und Entwicklungsfahrerin<br />
in der Formel 1, macht mir<br />
alles Riesenspaß, was mit Speed zu<br />
tun hat und mir die Möglichkeit<br />
gibt, schnell zu fahren: Radfahren,<br />
Schifahren …<br />
GESCHWINDIGKEIT<br />
KANN SÜCHTIG<br />
MACHEN<br />
<strong>querspur</strong>: Sie haben sich als Adrenalin-<br />
Junkie und „Speed-Freak“ bezeichnet.<br />
Macht der Rausch der Geschwindigkeit<br />
im Motorsport süchtig?<br />
Wolff: Ja, bestimmt. Speed hängt mit<br />
Adrenalin zusammen. Wenn man<br />
schnell fährt, spürt man das Adrenalin.<br />
Ich mag das Gefühl, wenn ich<br />
irgendwo auf der Piste schnell unterwegs<br />
bin und das Adrenalin durch<br />
meinen Körper strömt. Es ist unbeschreiblich!<br />
Nun aber, da ich seit<br />
November 2015 meine Karriere als<br />
aktive Rennfahrerin an den Nagel<br />
gehängt habe, muss ich lernen mit<br />
weniger Adrenalin auszukommen …<br />
<strong>querspur</strong>: Lässt sich diese Euphorie,<br />
die hohe Geschwindigkeiten bei Ihnen<br />
auslösen, mit einem anderen Hochgefühl<br />
vergleichen, etwa mit dem Gefühl<br />
zu gewinnen?<br />
Wolff: Nein. Speed – und die damit<br />
verbundenen Eindrücke und Emotionen<br />
– ist einzigartig. Natürlich ist es<br />
auch ein tolles Gefühl auf einem Podest<br />
zu stehen und einen Pokal in der<br />
Hand zu halten, aber es ersetzt das<br />
Glücksgefühl nicht, das du empfindest,<br />
wenn du schnell fährst. Speed ist eine<br />
Form von Ekstase, die ich in keiner<br />
anderen Form gefunden habe. Wer<br />
sie erlebt, wird süchtig danach.<br />
<strong>querspur</strong>: Die Formel 1, in der Sie<br />
zwischen 2012 und 2015 als Test- und<br />
Entwicklungsfahrerin tätig waren, gilt<br />
nicht umsonst als Königsklasse. Mit den<br />
Rennwagen werden Geschwindigkeiten<br />
von weit über 350 km/h erreicht. Wie erlebten<br />
Sie ein solch unfassbares Tempo?<br />
Wolff: Das ist sehr schwer zu beschreiben.<br />
Bei einem Formel 1-Auto erlebst<br />
du die Erdschwerebeschleunigung<br />
(von Frau Wolff in Folge als „G-Kraft“<br />
bezeichnet) wie einen Schock (Anm.:<br />
Die Pilotin wird beim Start entgegen<br />
der Beschleunigungsrichtung<br />
nach hinten in den Sitz gepresst*). Du<br />
merkst es sofort. Die G-Kraft ist unglaublich<br />
groß, besonders beim Bremsen<br />
und in den schnellen Kurven.<br />
*Zum Vergleich: Während der Beschleunigung eines PKWs wirkt auf<br />
die Insassen eine Beschleunigung von ca. 0,3 g, der Pilot eines<br />
Rennwagens erfährt beim Start 1–1,5 g und in Kurvenfahrten bis 5 g.<br />
10
Foto: © Williams/LAT– Susie Wolff<br />
Susie Wolff, Jahrgang 1982, startete ihre<br />
Motorsportkarriere 1996 im Kartsport und<br />
duel lierte sich dort u. a. mit den späteren Formel<br />
1-Piloten Nico Rosberg, Lewis Hamilton<br />
und Kimi Raikonnen. Nach Karrierestationen,<br />
in der britischen Formel 3 und dem Tourenwagensport,<br />
wurde Wolff 2012 Test- und Entwicklungsfahrerin<br />
das Williams-Teams in der<br />
Formel 1, der Königsklasse des Motorsports.<br />
Susie Wolff hatte es mit ihrem Kampfgeist und<br />
Siegeswillen sogar geschafft, in der von Männern<br />
dominierten Formel 1 Proberunden der<br />
Grands Prix von Großbritannien und Deutschland<br />
im Jahr 2014 zu fahren. Diese Leistung<br />
war vor ihr erst einer Frau, Giovanna Amatti im<br />
Jahr 1992 gelungen. 2015 beendete Wolff ihre<br />
aktive Karriere als Test- und Entwicklungsfahrerin,<br />
wohl auch, weil die Formel 1 noch<br />
nicht sehr bald für eine „leistungsfähige Rennfahrerin<br />
bereit (ist), die auf höchstem Niveau<br />
mithalten kann“, wie sie in einem Blog für die<br />
Huffi ngton Post bedauert. Im Jänner 20<strong>16</strong> rief<br />
Wolff vielleicht auch deshalb die Initiative<br />
„Dare To Be different“ ins Leben, eine Plattform,<br />
die talentierte junge Frauen und Mädchen<br />
als Nachwuchs für den Motorsport begeistern<br />
und fördern möchte.<br />
TEMPO<br />
11
Das geht bis zu 4,8 g (1 g = Maß für<br />
Erdbeschleunigung). 1 g ist das Doppelte<br />
deines Körpergewichts. 4,8 g ist<br />
also fast das Fünffache des eigenen<br />
Körpergewichts und damit unglaublich<br />
viel. Das ist wie in einer Achterbahn.<br />
Gleichzeitig musst du aber den Kopf<br />
genau in der gleichen Position halten.<br />
Für den Nacken und den Rücken ist es<br />
eine Riesenbelastung. Wenn du auf einer<br />
Geraden bis zu 340 km/h fährst,<br />
drückt dir die G-Kraft das Hirn weg.<br />
Das ist die Hauptherausforderung.<br />
<strong>querspur</strong>: Im Cockpit vertrauen Sie<br />
auf Ihre durch hartes Training erworbenen<br />
Stärken und die Leistung Ihres<br />
Wagens. Wie wirkt sich das Wissen um<br />
Ihre Kapazitäten auf das Austesten von<br />
Geschwindigkeitsgrenzen aus? Können<br />
Sie – im Unterschied zu Amateurpiloten<br />
– bei hohen Geschwindigkeiten Risiken<br />
besser und kompetenter einschätzen?<br />
Wolff: Erstens: Wer nicht fit genug ist,<br />
ist gar nicht in der Lage, das Auto zu<br />
fahren. Es wäre zu anstrengend. Nach<br />
drei bis fünf Runden wäre er/sie körperlich<br />
am Ende und könnte den Kopf<br />
nicht mehr hochhalten. Zweitens: In<br />
der Formel 1 arbeiten wir nur mit<br />
den besten Leuten. Das gilt natürlich<br />
auch für die Ingenieure und Mechaniker.<br />
Ich habe vollstes Vertrauen in<br />
mein Team.<br />
SICHERHEITSGEFÜHL<br />
TROTZ ENORMEN<br />
RISIKOS – VERTRAUEN<br />
IN DIE TECHNIK<br />
<strong>querspur</strong>: Fühlen Sie sich, trotz des<br />
Wissens um das hohe Risiko, in diesen<br />
Autos sicher?<br />
Wolff: Ganz sicher. Schließlich sind die<br />
Autos ja so gebaut, dass sie den Aufprall<br />
bei einem Unfall abdämpfen.<br />
Ich habe Vertrauen in mein Team, die<br />
Leute, die das Auto gebaut haben,<br />
und weiß, dass solche Dinge immer<br />
passieren können. Dieser Sport ist<br />
immer noch gefährlich, obwohl die<br />
FIA (Fédération Internationale de<br />
l’Automobile, Internationaler Automobil<br />
Dachverband) für die Sicherheit<br />
kämpfen und es viel sicherer als<br />
früher ist, können Unfälle auch weiterhin<br />
passieren. Doch mir stellt sich<br />
die Frage nicht, ob ich Angst habe.<br />
Ich habe Vertrauen, wenn ich im<br />
Auto sitze, und ich bin bereit, dieses<br />
Risiko anzunehmen.<br />
<strong>querspur</strong>: Die Angst fährt also<br />
nicht mit?<br />
Wolff: Nein. Angst hatte ich nie. Ich<br />
habe immer gesagt, ich höre sofort auf,<br />
wenn ich Angst habe. Respekt vor der<br />
Geschwindigkeit hat man immer. Alles<br />
kann sehr, sehr schnell passieren. Beim<br />
kleinsten Fehler steckst du nämlich im<br />
Kiesbett. Konzentration ist wichtig.<br />
BIS AN DIE GRENZEN<br />
GEHEN – EIN<br />
EINZIGARTIGER<br />
AUGENBLICK,<br />
FÜR DEN MAN LEBT<br />
<strong>querspur</strong>: Apropos Konzentration:<br />
Erreichen Sie beim Fahren wirklich<br />
einen Flow-Zustand, also einen Zustand<br />
höchster Konzentration, indem<br />
Sie Ihre Wahrnehmung so steuern oder<br />
verlangsamen können, dass Sie außer<br />
Acht lassen, wie schnell Sie tatsächlich<br />
unterwegs sind oder in welcher Gefahr<br />
Sie sich bewegen?<br />
Wolff: Durchaus. Auf der Rennstrecke<br />
gibt es in deinem Kopf nichts anderes,<br />
als das, was im Moment passiert. Du<br />
pusht die Limits, denn du willst noch<br />
schneller fahren. Du willst bis an<br />
deine absoluten Grenzen gehen und an<br />
die deines Autos. Das ist der Augenblick<br />
der Wahrheit. Unverfälscht. Einzigartig.<br />
Rein. Ein Augenblick voller<br />
Klarheit. Du lebst für diesen Moment.<br />
Deswegen mögen so viele Leute Hochleitungssport,<br />
weil sich alles auf einen<br />
einzigen Moment konzentriert.<br />
<strong>querspur</strong>: Kann man diese Art<br />
Konzentration lernen?<br />
Wolff: Ja. Dafür gibt es eigene<br />
Übungen. Man kann das trainieren<br />
und verbessern.<br />
<strong>querspur</strong>: Wir haben schon über die<br />
Rolle des Teams gesprochen. Lassen<br />
Sie mich noch einmal drauf zurückkommen:<br />
Wie sehr ist der Rennerfolg<br />
Leistung des gesamten Teams,<br />
also Rennfahrer(in), Auto,<br />
Konstrukteure, etc.?<br />
Wolff: Es ist immer ein Teamerfolg.<br />
Darauf weise ich auch gern hin: Die<br />
Formel 1 sieht nach außen hin aus<br />
wie ein Einzelsport, weil der Pilot<br />
oder die Pilotin den ganzen Ruhm<br />
abbekommt und der Name des Fahrers<br />
auf dem Auto steht. Tatsächlich<br />
ist es ganz sicher ein Teamsport. Bei<br />
Williams gibt es über 500 Leute, die<br />
an zwei Rennautos bauen. Der Fahrer<br />
ist einfach das letzte Glied in der<br />
Kette. Rennfahren ist ein Teamsport<br />
und jede Abteilung muss hart arbeiten,<br />
damit das Auto schnell unterwegs<br />
ist. Auch im Rennen, wenn die<br />
Strategie falsch ist oder ein Fehler<br />
beim Boxen-Stopp passiert, kann<br />
das Rennen falsch laufen. Deswegen<br />
nimmt sich jeder Fahrer Zeit, das<br />
Team zu motivieren und gute Stimmung<br />
im Team zu kriegen. Die<br />
Besten können das sehr, sehr gut.<br />
Michael Schuhmacher ist bekannt<br />
dafür, Felipe Massa und Lewis<br />
Hamilton machen das auch<br />
sehr gut.<br />
SCHNELLE WELT:<br />
AUCH FÜR NIKI LAUDA<br />
VERGING DIE ZEIT IN DER<br />
FORMEL 1 SCHNELLER<br />
ALS ANDERSWO<br />
<strong>querspur</strong>: Niki Lauda hat einmal<br />
gesagt: „In der Formel 1 geht alles so<br />
rasch vorbei. Das heißt, zehn Jahre<br />
dort sind wie 40 Jahre im normalen<br />
Leben.“ Sehen Sie das auch so?<br />
Wolff: Ja. Das ist eine sehr, sehr<br />
schnelle Welt. Man muss immer<br />
auf Zack sein, man muss schnell<br />
entscheiden und schauen, wie sich<br />
alles entwickelt, und die Welt sieht<br />
dabei zu. <br />
12
RASEND SCHNELL<br />
HOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE GELTEN AUF DISTANZEN ZWISCHEN<br />
300 UND 800 KM ALS KONKURRENZFÄHIGE ALTERNATIVE ZUM FLUGZEUG.<br />
WELTWEIT FÄHRT JÄHRLICH EIN DRITTEL ALLER BAHNREISENDEN MIT EINEM<br />
DER 3.605 HOCHGESCHWINDIGKEITSZÜGE, UM SICHER, PÜNKTLICH UND VOR<br />
ALLEM BLITZSCHNELL AN IHR ZIEL ZU GELANGEN. IN ZUKUNFT KÖNNTEN ZÜGE<br />
STATT AUF SCHIENEN AUF LUFTPOLSTERN IN VAKUUMTUNNELN UNTERWEGS<br />
SEIN. Von Catherine Gottwald<br />
////// SCHNELLE ZÜGE IM ENERGIESPARMODUS /////<br />
Schnellfahrten auf Schienen haben Tradition: Schon 1903 raste in Deutschland der erste Drehstromtriebwagen<br />
der Firma AEG mit 210,2 km/h über die Gleise. Für die Anwendung im Alltag<br />
war die Technik jedoch noch nicht ausgereift genug, die Weiterentwicklung hatte in der Kriegszeit<br />
keine Priorität. Heute werden jene Züge des Eisenbahnverkehrs als Hochgeschwindigkeitszüge<br />
bezeichnet, die im regulären, fahrplanmäßigen Betrieb Geschwindigkeiten von mindestens<br />
250 km/h erreichen, wenn sie auf eigens dafür eingerichteten Neubau-Schnellfahrstrecken fahren.<br />
Der französische TGV schafft sogar 320 km/h. Auf konventionellen Strecken erreichen Hochgeschwindigkeitszüge<br />
nur 200 km/h. Der Hochgeschwindigkeitsverkehr (HGV) versteht sich<br />
als komplexes System, das nur dann funktioniert, wenn eine Vielzahl von Komponenten präzise<br />
aufeinander abgestimmt sind: eine entsprechende Infrastruktur aus neuen und ausgebauten konventionellen<br />
Strecken, besonders antriebsstarken Schienenfahrzeugen, welche zusätzlich gegen<br />
plötzliche Druckschwankungen geschützt sind („druckertüchtig“) sowie speziellen Signal- sowie<br />
Sicherheits- und Leitsystemen. Der Großteil der High-Speed-Trains läuft im sog. „Rad-Schiene-<br />
System“ (mit Rädern auf den Gleisen, im Gegensatz zur Magnetsch<strong>web</strong>ebahn, s. u.) und reduziert<br />
durch Faktoren wie aerodynamisches Design, ein homogenes Geschwindigkeitsprofi l, geringere<br />
Masse durch leichtere Materialien, effi zientere Elektroniksysteme u. a. den Energieverbrauch um<br />
bis zu 15 % gegenüber konventionellen Zügen.<br />
KOMPLEXES EINFACH ERKLÄRT<br />
////// FAST SO SCHNELL WIE FLUGZEUGE //////////////<br />
Technologisch sind im HGV aber die Magnetschnellbahnsysteme auf der Überholspur:<br />
Magnet sch<strong>web</strong>ebahnen sind spurgeführte Züge, die durch magnetische Kräfte auf eigens angefertigten<br />
Strecken geräusch- und verschleißarm in Sch<strong>web</strong>e gehalten und in Spur geführt werden,<br />
ohne jedoch die Schiene zu berühren. Auch der Antrieb und die Bremsung erfolgt im System.<br />
Ein Beispiel ist der Shanghai Transrapid Maglev. Er verbindet seit 2003 den Finanzdistrikt mit<br />
dem Shanghai Airport und ist mit einer Höchstgeschwindigkeit von 431 km/h das fahrplanmäßig<br />
schnellste spurgebundene Fahrzeug der Welt im regulären Betrieb. Außerhalb eines regulären<br />
Fahrplans ist der Weltrekordhalter in Sachen Geschwindigkeit der japanische Yamanashi Maglev<br />
L0 (A07), ebenfalls eine Magnetsch<strong>web</strong>ebahn: Am 21. April 2015 erreichte er auf einer Teststrecke<br />
603 km/h. Der private Betreiber Central Japan Railway plant, den Zug ab 2027 auf der<br />
Strecke Tokio–Nagoya einzusetzen (350 km in 40 Minuten). Bis 2045 soll via Magnetsch<strong>web</strong>ebahn<br />
auch Osaka von Tokio aus in 60 Minuten für etwa 400 km erreichbar sein.<br />
Bilder: © Hyperloop; wikipedia; Bombardier<br />
////// IN ZUKUNFT AUF LUFT STATT SCHIENE ///////////<br />
Nicht mehr Schienen, sondern Luftkissen könnten in Zukunft für den Massentransport eine Rolle<br />
spielen, wenn es nach dem Visionär Elon Musk geht. Er möchte auf der 600 km langen Strecke<br />
von Los Angeles nach San Francisco das Hochgeschwindigkeitstransportsystem „Hyperloop“<br />
einführen und dieses in Folge auch nach Europa und Asien exportieren. Hyperloop befördert<br />
Passagiere in elektrisch betriebenen Transportkapseln, die ähnlich wie bei bestehenden Magnetsch<strong>web</strong>ebahnen<br />
berührungsfrei, allerdings auf Luftpolstern bei 1 220 km/h energieeffi zient und<br />
schadstoffarm durch evakuierte Stahlröhren gleiten. Energieeffi zient, weil der Strom zum Antrieb<br />
der Kapsel aus alternativen Energiequellen (Solarenergie) gewonnen werden soll. Die Kapsel<br />
fasst 28 Passagiere; geplant sind auch Hyperloop-Cargo-Kapseln. Erstmals bemannt getestet<br />
wird der Hyperloop 20<strong>16</strong> auf einer acht km langen Teststrecke in Quay Valley. Ab 2020 könnte<br />
der Hyperloop beispielsweise auch die Städte Wien und Bratislava in nur acht Minuten verbinden.<br />
Erste Gespräche sind schon am Laufen. http://hyperlooptech.com<br />
TEMPO<br />
13
Abbildung: © Cargometer<br />
DIE FRACHT-STARTER<br />
DASS ES BEI START-UPS IMMER GANZ SCHNELL ZUGEHT, TRIFFT NUR AUF<br />
EINEN KLEINEN TEIL DER GRÜNDERSZENE ZU. BEI AUFWÄNDIGEN ENTWICK-<br />
LUNGEN HINGEGEN GILT DIE DEVISE: BEHUTSAM STARTEN UND ERST SPÄTER<br />
VOLLGAS GEBEN. DAS WIENER TECHNOLOGIE-START-UP CARGOMETER HAT<br />
EIN SYSTEM ZUR EXAKTEN BESTIMMUNG VON LKW-LADUNGEN ENTWICKELT.<br />
ZWISCHEN ERSTER PRODUKTIDEE UND NULLSERIE LAGEN ZIRKA FÜNF JAHRE.<br />
NUN STEHT DAS UNTERNEHMEN AN DER STARTRAMPE ZUM MARKTEINTRITT<br />
UND JETZT SOLL ES SCHNELL GEHEN. Von Ruth Reitmeier<br />
14
Start-up heißt ja nicht nur Unternehmensneugründung,<br />
sondern bedeutet<br />
auch durchstarten. Entsprechend dynamisch<br />
klingt der Begriff, nach mehr,<br />
nach von null auf hundert, einfach machen,<br />
schnell sein. Man assoziiert damit<br />
geniale Business-Ideen, die ihre Schöpfer<br />
binnen weniger Jahre vom Garagenmieter<br />
zum Milliardär machen oder auch<br />
fulminant scheitern lassen, um irgendwann<br />
vielleicht dann doch noch das<br />
ganz große Business auf die Beine zu<br />
stellen. Viele dieser modernen Mythen<br />
spielen im kalifornischen Silicon Valley,<br />
der Traumfabrik angehender Unternehmer.<br />
Ab und zu gibt es so eine Story<br />
auch aus Österreich. Diese Geschichten<br />
sind zweifellos inspirierend, jedoch in<br />
der Realität Ausnahmen, die die Regel<br />
bestätigen. Das Gros österreichischer<br />
Start-ups braucht Zeit für Entwicklung,<br />
Markteintritt, um Kunden zu gewinnen,<br />
ein Vertriebssystem aufzubauen und<br />
Gewinne zu schreiben. Auch technologische<br />
Innovationen, für deren Anwendung<br />
es oft mehr als eine Internet-Plattform<br />
braucht, benötigen Zeit und Geld.<br />
IM E-BUSINESS IST<br />
SCHNELLES HANDELN<br />
EIN SCHLÜSSELFAKTOR<br />
ZUM ERFOLG<br />
„Speed ist vor allem im E-Business ein<br />
Thema, denn ist die Zeit für eine Geschäftsidee<br />
erst reif, muss diese möglichst<br />
schnell und mit viel Marketingkapital<br />
auf den Markt gebracht werden“,<br />
sagt Werner Wutscher – Business Angel<br />
und Gründer der Investmentboutique<br />
New Venture Scouting, die innovative<br />
Start-ups und etablierte Unternehmen<br />
zusammenbringt. Ist ein Geschäftsmodell<br />
hochgradig skalierbar, so müssen<br />
dies in der Regel auch die Finanzmittel<br />
fürs Marketing sein. In der öffentlichen<br />
Wahrnehmung von Start-ups sind vor<br />
allem E-Commerce-Modelle und Apps<br />
präsent. Ein großer Bereich ist jedoch<br />
jener der Hardware und anderer aufwändiger<br />
Technologie-Entwicklungen,<br />
deren Teams üblicherweise einen langen<br />
Atem brauchen. „Das ist eine ganze andere<br />
Welt“, betont Wutscher.<br />
Zwischen Am Schöpfwerk und dem<br />
Wienerberg im zehnten Wiener<br />
Gemeindebezirk in einem langgestreckten<br />
Gewerbekomplex befindet sich der<br />
High Tech Campus Vienna, wo Michael<br />
Baumgartner seinen Arbeitsplatz hat.<br />
AM START ZUM<br />
MARKTEINTRITT: HIGH-<br />
TECH-ENTWICKLUNG<br />
MIT POTENZIAL AM<br />
WELTMARKT<br />
Er ist Gründer und Geschäftsführer von<br />
Cargometer. Das Wiener Messtechnik-<br />
Unternehmen wurde 2013 gegründet<br />
und steht nunmehr am Start zum Markteintritt.<br />
Was hier entwickelt wurde, ist<br />
ein innovatives Fracht-Messsystem, das<br />
derzeit in Nullserie bei der Spedition<br />
Gebrüder Weiss im Testbetrieb läuft.<br />
Die neue Technologie löst ein kostspieliges<br />
Problem in der Logistikbranche.<br />
Durch den Einsatz dieses Systems, das<br />
mittels Sensoren das Frachtvolumen von<br />
Lkw-Ladungen exakt bestimmt und verrechnet,<br />
können Transportunternehmen<br />
ihre Umsätze um bis zu fünf Prozent<br />
steigern – errechnete Cargometer. Rund<br />
90 Millionen Tonnen an so genannten<br />
Stückguttransporten – also mit Lebensmitteln,<br />
pharmazeutischen Produkten,<br />
Autozubehör oder Elektrogeräten beladene<br />
Paletten – sind im Lkw in gesamt<br />
27 Ländern Europas pro Jahr grenzüberschreitend<br />
unterwegs. Die tatsächliche<br />
Entwicklung des Produkts nahm drei<br />
Jahre in Anspruch, vor allem das Programmieren<br />
des Messsystems war zeitaufwändig,<br />
doch jetzt heißt es: Gas geben.<br />
Gerade im Hightech-Sektor ist<br />
flottes Wachstum des Unternehmens<br />
oftmals dem organischen vorzu ziehen,<br />
um bloß nicht von Kopisten über holt<br />
zu werden. Jetzt, an der Schwelle zum<br />
Markteintritt, führt das Unternehmen<br />
intensive Gespräche mit Investoren<br />
zwecks Anschubfinanzierung. Rund<br />
800 000 Euro benötigt das Unternehmen<br />
für den Roll-out. „Wir wollen die ersten<br />
im Markt sein“, sagt Baumgartner.<br />
2018, also fünf Jahre nach der Unternehmensgründung,<br />
will Cargometer den<br />
Break-even erreicht haben – ein laut<br />
Experten seriöses Ziel. Neben Kapitalgebern<br />
wird deshalb auch ein Vertriebspartner<br />
gesucht, der bereits über einen<br />
soliden Kundenstock in der Branche<br />
verfügt. Dies ist im Übrigen eine Variante,<br />
die laut Start-up-Experten Wutscher viel<br />
mehr Jungunternehmen nutzen sollten.<br />
STRATEGISCHE<br />
PARTNERSCHAFTEN<br />
ZWISCHEN START-UPS<br />
UND ETABLIERTEN<br />
UNTERNEHMEN ALS<br />
ERFOLGSFAKTOR<br />
Denn durch eine strategische Partnerschaft<br />
mit einem etablierten Unternehmen<br />
ist das Start-up viel schneller im<br />
Markt positioniert und erspart sich den<br />
mühsamen Aufbau eines eigenen Vertriebssystems.<br />
Hinzu komme der nicht<br />
zu unterschätzende Vorteil, dass bei einer<br />
Vertriebspartnerschaft keine Unternehmensanteile<br />
abgetreten werden müssen.<br />
„Solche Kooperationen werden üblicherweise<br />
über eine Umsatzbeteiligung des<br />
Vertriebspartners geregelt“, sagt Wutscher.<br />
Wobei Partnerschaften mit großen Konzernen<br />
für Start-ups schwieriger sein<br />
können als etwa die Zusammenarbeit mit<br />
einem KMU. Je größer der Konzern, desto<br />
langwieriger die Entscheidungsprozesse.<br />
Das passt oftmals mit Ausrichtung<br />
und Geschäftsidee des Start-ups nicht zusammen.<br />
Für ein KMU hingegen ist die<br />
Zusammenarbeit mit einem innovativen<br />
Jungunternehmen üblicherweise Chefsache.<br />
Steht der Eigentümer dahinter, kann<br />
eine Kooperation auch rasch umgesetzt<br />
werden.<br />
DIE RICHTIGEN<br />
MITARBEITER ZU FINDEN,<br />
IST FÜR GRÜNDER OFT<br />
SCHWIERIG<br />
Cargometer will jedenfalls zunächst<br />
den Heimmarkt bearbeiten sowie deutsche<br />
Spediteure als Kunden gewinnen.<br />
Grundsätzlich ist für ein Produkt wie<br />
dieses der Weltmarkt das Ziel. Das Unternehmen<br />
ist derzeit ein Fünf-Mann-<br />
Betrieb mit zwei Geschäftsführern und<br />
beschäftigt des Weiteren ein Team aus<br />
TEMPO<br />
15
Grafik: © www.cargometer.com<br />
Die scheinbar schnelle Start-up Welt braucht in bestimmten Abschnitten auch ihre Zeit. Vor allem High-Tech-Ideen lassen<br />
sich nicht über Nacht entwickeln. Wie im Fall von Cargometer, ein österreichisches Start-up, das mit seiner Lösung für die Logistik den<br />
Weltmarkt anstrebt und gute Chancen hat diesen zu erobern.<br />
drei Technikern, die allesamt erst einmal<br />
gefunden werden mussten. Auch<br />
das war ein Prozess. Neben dem Aufbau<br />
der richtigen Mannschaft und Unternehmensstruktur<br />
bremsten zwischenzeitlich<br />
Finanzlücken die Entwicklung,<br />
etwa jene zwischen den Auszahlungen<br />
einzelner Tranchen von Fördergeldern.<br />
DIE FINANZIERUNG<br />
WIRD VON VIELEN<br />
UNTERSCHÄTZT<br />
Der Geldfluss ist ein Bereich, den viele<br />
Start-ups unterschätzen. „Geld muss<br />
dann eingesammelt werden, wenn man<br />
es eigentlich noch gar nicht braucht“,<br />
sagt Wutscher. Denn es vergehen üblicherweise<br />
viele Monate zwischen einer<br />
Finanzierungszusage und dem Eingang<br />
der Finanzmittel auf dem Firmenkonto.<br />
Zurück zu Cargometer: Zirka zwei Jahre<br />
lagen zwischen der ersten Produktidee<br />
und dem Startschuss zur Entwicklung.<br />
Der Weg von der Idee zum marktreifen<br />
Produkt ist zudem eine klassische Geschichte<br />
von Versuch und Irrtum. Um<br />
sie zu verstehen, muss man in diesem<br />
Fall zunächst runter von der Straße und<br />
hinein in die Umschlaghalle, wo Stückgut<br />
am laufenden Band palettenweise<br />
ver- und umgeladen wird.<br />
GENAUE MESSUNG VON<br />
FRACHTGUT WAR BIS<br />
DATO KAUM MÖGLICH<br />
Bis heute werden Ladungen zumeist gar<br />
nicht oder aber mühselig von Hand<br />
abgemessen. Die Frachtscheine selbst<br />
liefern keine Daten über die Dimension<br />
einer Ladung, die Logistiker wissen<br />
folglich auch nicht, wie sie daherkommt.<br />
Sie schätzen das Volumen anhand des<br />
Frachtgewichts und liegen damit oft zu<br />
ihrem finanziellen Nachteil daneben.<br />
Eine noch unveröffentlichte Studie der<br />
Technischen Universität Wien kommt zu<br />
dem Schluss, dass rund 60 Prozent der<br />
Lkw-Ladungen untertarifiert abgerechnet<br />
werden und etwa 20 Prozent übertari fiert.<br />
Fazit: Lkw-Ladungen werden größtenteils<br />
falsch abgerechnet. Dieses Nichtwissen<br />
um die tatsächliche Dimension<br />
von Ladungen führt zu vage kalkulierten<br />
Rechnungen, Planungsdefiziten, schlecht<br />
ausgelasteten Logistik-Netzwerken und<br />
halbleeren Lkws. All das bringt nicht<br />
nur die ohnehin mageren Margen der<br />
Spediteure unter Druck, es führt auch<br />
zu CO 2 -Belastung, die man einsparen<br />
könnte. Und genau aus dieser Ecke kam<br />
die ursprüngliche Idee für dieses Produkt,<br />
denn Gründer Michael Baumgartner<br />
ist Klimaforscher. Seine Dissertation<br />
zum Thema CO 2 -Reduktion im Schwerverkehr<br />
verfasste er am renommierten<br />
Max-Planck-Institut für Meteorologie in<br />
Hamburg.<br />
MEHRERE ANLÄUFE,<br />
UM ZUM KERN DER<br />
GESCHÄFTSIDEE<br />
VORZURÜCKEN<br />
Aus Hamburg hatte er zudem ein Patent<br />
für eine „Vorrichtung und Verfahren zur<br />
Erfassung der Ausnutzung eines bewegbaren<br />
Laderaums“ mitgebracht. Bis sich<br />
daraus Cargometer entwickelte, brauchte<br />
es allerdings mehr als einen Anlauf.<br />
Als schließlich auch der perfekte Ort gefunden<br />
war, um die Lkw-Ladungen am<br />
besten zu messen – nämlich die großen<br />
Lkw-Tore zur Umschlaghalle, weil genau<br />
dort der Gabelstapler mit der Ladung<br />
durchfährt und der Arbeitsablauf in der<br />
Halle nicht behindert wird – tauchte<br />
ein praktisches Problem auf: Die Umsetzung<br />
war einfach zu teuer und wurde<br />
erst mit der rasanten Weiterentwicklung<br />
der Sensortechnik rentabel. Seit ein paar<br />
Jahren sind nun die benötigten Time-offlight-Sensoren<br />
in einer Preisklasse erhältlich,<br />
bei der sich eine Bestückung<br />
mehrerer Tore rund um eine Umschlaghalle<br />
rechnet. Und dies markierte quasi<br />
den offiziellen Start von Cargometer.<br />
EINFACHE RECHNUNG:<br />
LADUNG + PALETTE –<br />
GABELSTAPLER =<br />
FRACHTVOLUMEN<br />
Die Sensoren, die Cargometer heute einsetzt,<br />
schießen bis zu 30 Aufnahmen pro<br />
Sekunde. Auf dem Bildschirm entsteht<br />
daraus ein 3D-Modell, das sich nach und<br />
nach zu einer glatten und vor allem exakten<br />
Oberflächendarstellung der Ladung<br />
zusammenfügt. Der Computer zieht<br />
letztlich die Maße des Gabelstaplers ab<br />
und zeichnet die Kanten eines Quaders<br />
rund um die Ladung – Palette inklusive.<br />
Mit genau diesen Abmessungen steht sie<br />
wenig später im Lkw. Mittels der gewonnen<br />
Daten über die Dimension stimmt nicht<br />
nur die Rechnung des Spediteurs, die Bilder<br />
liefern nebenbei einen Beweis für etwaigen<br />
Diebstahl oder Beschädigung der Fracht.<br />
Auf Basis solcher Daten werden künftig<br />
die Flotten und Netzwerke der Transportunternehmen<br />
effizienter genutzt werden.<br />
So wird es möglich sein, Fahrpläne<br />
nicht mehr zirka halbjährlich, sondern<br />
sehr kurzfristig dem tatsächlichen Bedarf<br />
anzupassen. „Ist die Strecke Wien–Berlin<br />
etwa mittwochs schlecht ausgelastet, so<br />
wird das Logistikunternehmen die Waren<br />
eben in einem kleineren Lkw bis zur<br />
Umschlaghalle in München liefern und<br />
anschließend von dort aus diese Fracht<br />
zusammen mit weiteren Ladungen in einem<br />
größerem nach Berlin weiter transportieren“,<br />
sagt Baumgartner. <br />
<strong>16</strong>
Tanzen mit<br />
allen Sinnen<br />
Foto: © René Baumgartner<br />
DER TÄNZER, TANZPÄDAGOGE UND CHOREOGRAF VINICIUS VERFOLGT<br />
IN SEINEM TANZTHEATER-PROJEKT MOMENTOS EINE STRATEGIE:<br />
NACH NUR DREI WOCHENENDEN IST EIN STÜCK AUFFÜHRUNGSREIF.<br />
ZUSÄTZLICHER SCHWIERIGKEITSGRAD: VIELE TÄNZER HABEN KEINE<br />
ODER WENIG TANZERFAHRUNG. Das Gespräch führte Daniela Müller<br />
<strong>querspur</strong>: Vinicius, wie kam<br />
es zu Momentos?<br />
Vinicius: Bei meiner Arbeit mit<br />
Profis und Laien habe ich gemerkt,<br />
dass Kreativität einen besonderen<br />
Raum braucht, wenn sie sich unabhängig<br />
von Zeit und Druck entfalten<br />
soll. Unter solchen Voraussetzungen<br />
entsteht etwas, das ich Kreativraum<br />
nenne. Er ist die Vereinigung des<br />
Räumlichen, Geistigen und Emotionalen.<br />
Sobald man den Tänzerinnen<br />
und Tänzern diese drei Ebenen zu<br />
öffnen hilft, sind sie in der Lage, innerhalb<br />
kurzer Zeit neue Bewegungsideen<br />
zu kreieren.<br />
IN DER UNERPROBTEN<br />
SITUATION ENTSTEHEN<br />
BEWEGUNGEN MIT<br />
BOTSCHAFTEN<br />
Dann wird es auch interessanter und<br />
reizvoller, weil es nichts mehr mit Abspulen<br />
bereits trainierter Bewegungsabläufe<br />
zu tun hat. Es geht eher um<br />
eine individuelle Ausdrucksform, die<br />
zwischen dem Gesprochenen und<br />
dem Körperlichen, also der Bewegung<br />
und dem Ausdruck, sch<strong>web</strong>t. Eine solche<br />
Ausdrucksform kann „ungreifbare“<br />
Botschaften vermitteln. Diese<br />
werden nicht in erster Linie durch den<br />
Verstand erfasst, sondern durch<br />
einen anderen menschlichen Kanal:<br />
die Intuition.<br />
<strong>querspur</strong>: Das Ziel von Momentos<br />
ist, innerhalb von nur drei Wochenenden<br />
mit Menschen ohne oder mit wenig<br />
Tanzerfahrung etwas Qualitatives auf<br />
die Bühne zu bringen. Wie geht das?<br />
Vinicius: Momentos ist eher als<br />
Workshop-Situation zu verstehen.<br />
Hier geht es um das Experimentieren<br />
und Improvisieren. Da liegt der Fokus<br />
schon mal woanders als in der Perfektion:<br />
Wir schauen, was man in der<br />
Zeit schafft und nicht, was man nicht<br />
TEMPO<br />
17
Foto: © Gerrit Freitag<br />
Vinicius, in Rio de Janeiro geboren, kam 1992<br />
nach Deutschland und verwirklichte dort seinen<br />
Traum, auf großen Bühnen zu tanzen. Er absolvierte<br />
Ausbildungen als Tanztheatertänzer,<br />
Tanzpädagoge und Choreograph in Deutschland<br />
und London. Vinicius arbeitet heute freiberufl<br />
ich, vorwiegend in Deutschland und Österreich,<br />
leitet aber auch Tanzprojekte in anderen<br />
europäischen Ländern und in Brasilien. Das<br />
Projekt Momentos entstand im Sommer 2011<br />
in Wien und wurde später nach Innsbruck und<br />
Rio de Janeiro gebracht.<br />
www.fantastartist.de<br />
www.facebook.com/vinicius.de<br />
18
geschafft hat. Alle Mitwirkenden<br />
sollen dabei eine individuelle Verbindung<br />
zum Thema entwickeln und<br />
daraus ihren Beitrag leisten, sie sollen<br />
die Verbindung zwischen Tanz,<br />
Musik und Raum spüren. Zudem erfahren<br />
die Teilnehmenden einiges<br />
über die enorme Disziplin und Ernsthaftigkeit,<br />
die hinter so einer Produktion<br />
steckt und was es braucht, um<br />
Kunst im quasi professionellen Bereich<br />
zu kreieren und zu realisieren.<br />
AUFWÄRMEN IST NICHT<br />
NUR FÜR DEN KÖRPER<br />
WICHTIG, SONDERN<br />
BEREITET AUCH DIE<br />
EMOTIONALE EBENE<br />
DER TÄNZER VOR<br />
<strong>querspur</strong>: Wie geht es den<br />
Teilnehmenden mit dieser Situation?<br />
Vinicius: In der Regel sind sie nach<br />
dem Aufwärmen schon ganz anders<br />
eingestimmt, weil schon beim Aufwärmen<br />
eine mentale Vorbereitung<br />
auf die kommende Arbeit passiert:<br />
Viele denken, dass es beim Aufwärmen<br />
nur um die Muskeln geht. Doch<br />
in meiner Arbeit ist es der Zentralpunkt<br />
für den Eingang zur Sensibilisierung<br />
der emotionellen Ebene, zur<br />
Fokussierung des Denkens im Hier<br />
und Jetzt und zur Erfahrung der<br />
Qualität des eigenen Körpers. Erst<br />
auf einer zweiten Ebene geht es um<br />
die muskulären und tänzerischen<br />
Fähigkeiten. Mit diesem Aufwärmen<br />
werden die Tänzerinnen und Tänzer<br />
bestens für schnelle kreative und<br />
ausdrucks starke Ergebnisse vorbereitet.<br />
<strong>querspur</strong>: Wie genau entsteht das,<br />
was am Ende aufgeführt wird?<br />
Momentos entsteht, indem ich den<br />
Teilnehmenden Fragen stelle, auf die<br />
sie mir in Form von Bewegung antworten.<br />
In einem weiteren Moment<br />
lasse ich sie ihre Solo-Arbeiten<br />
gegenseitig präsentieren. Infolgedessen<br />
fallen viele Hemmungen und<br />
Unsicherheiten. Zugleich versuche<br />
ich, Verknüpfungspunkte zwischen<br />
den Soli zu erkennen, sie in Form von<br />
choreografischen Gruppenarbeiten<br />
zusammen zu bringen und daraus<br />
feste Szenen für das Tanzstück vorzubereiten.<br />
Das lässt ein Tanzstück –<br />
ein Wechselspiel zwischen den Tanzenden<br />
und mir – unheimlich schnell<br />
entstehen.<br />
<strong>querspur</strong>: Aber es wird doch einen<br />
gewissen Erwartungsdruck geben?<br />
Vinicius: Eigentlich habe ich viel<br />
mehr Erwartungen als Erwartungsdruck,<br />
d. h., ich habe immer den<br />
Wunsch neue Bilder und bewegte<br />
Momente mit meinen Tänzerinnen<br />
und Tänzern zu schaffen. Momentos<br />
entwickelt sich entlang individueller<br />
Fähigkeiten, die die Teilnehmenden<br />
mitbringen: wie sie sich bewegen,<br />
ausdrücken und inspirieren. Druck<br />
versuche ich zu vermeiden. Das ist<br />
kontraproduktiv. Kreativität und<br />
Produktivität entstehen eher, indem<br />
man das Bewusstsein für sich und die<br />
Umgebung schärft und sich darüber<br />
im Klaren ist, mit welchen Gefühlen<br />
man im Raum ist.<br />
MIT DIESER ART<br />
DES TANZENS<br />
LASSEN SICH AUCH<br />
ALLTAGSSITUATIONEN<br />
BESSER MEISTERN<br />
<strong>querspur</strong>: Ich würde das von Ihnen<br />
Beschriebene als „ganzheitliche“<br />
Lern situation beschreiben. Kann<br />
man ein solches Lernen auch im<br />
Alltag umsetzen?<br />
Vinicius: Zu mir kommen beispielsweise<br />
immer wieder Lehrende um<br />
Tipps, wie sie ihre Schülerinnen und<br />
Schüler für das Lernen begeistern<br />
können, einzuholen. Dazu muss<br />
gesagt werden, dass Lehrende in der<br />
Regel in einer Welt arbeiten, in der es<br />
einen festen Arbeitsrahmen gibt mit<br />
wenig Spiel- und Zeitraum, um den<br />
Lehrstoff zu vermitteln. Und das, obwohl<br />
wir mittlerweile wissen, dass<br />
es vier verschiedene Lerntypen gibt.<br />
Hier bremse ich ein und hole die Lehrenden<br />
erst einmal aus ihrer Lehrer-<br />
Rolle heraus, indem ich sie spüren<br />
lasse, wie es sich anfühlt, Individuum<br />
zu sein, sich selbst und die Welt der<br />
Emotionen zu erfahren, damit sie in<br />
einem weiteren Schritt im eigenen<br />
Körper erleben, wie es ist, wenn das<br />
Gelernte ein ausgeglichenes Erlebnis<br />
von Erleben und Fühlen ist. Nicht nur<br />
bei den Schülerinnen und Schülern,<br />
sondern auch bei sich selbst.<br />
<strong>querspur</strong>: Ein allgemeingültiger<br />
Rat wäre zu kurz gegriffen?<br />
Vinicius: Das Befolgen eines Rates<br />
hat meistens mit einem kognitiven<br />
Verstehen einer Aufgabe zu tun, ist<br />
oft aber nicht ausreichend, um bestimmte<br />
Dinge in Gang zu setzen.<br />
Manche Dinge muss man einfach erfahren<br />
und ausprobieren, um sie zu<br />
verstehen. Ein Beispiel dafür ist, mit<br />
einem Blatt Papier durch einen leichten<br />
Gegendruck zu tanzen. Um es zu<br />
erreichen, genügt es nicht aus zu sagen:<br />
Nutze den Gegendruck, um das Blattpapier<br />
an deiner Handfläche festzumachen.<br />
Zuerst muss ich die Sinne<br />
des Teilnehmenden für Leichtigkeit<br />
im Körper sowie in der Bewegung<br />
und zugleich Gegendruck sensibilisieren.<br />
Die Übung spiegelt oft wider,<br />
wie man selber im Leben drauf ist:<br />
Manche geben sich viel Druck im<br />
Leben und lassen das Blatt Papier<br />
trotzdem schnell fallen. Andere<br />
können sich kaum Gegendruck<br />
leisten, weil sie eher weich im Leben<br />
sind, und auch hier fällt das Blatt<br />
Papier zu Boden. Es geht um eine<br />
spielerische und andere Form der Balance<br />
von Raum, Geist und Emotion,<br />
der im Leben selten Aufmerksamkeit<br />
geschenkt wird.<br />
IN DER SITUATION DIE<br />
RICHTIGE ENTSCHEIDUNG<br />
TREFFEN<br />
<strong>querspur</strong>: Was haben Sie<br />
bei Momentos gelernt?<br />
Vinicius: Bei diesem Tanzprojekt<br />
lerne ich die Menschenseele zu verstehen,<br />
meine Intuition zu schärfen,<br />
die Fähigkeit, im Moment zu sein und<br />
dabei die richtige Entscheidung für<br />
das Tanzstück oder für die Gruppendynamik<br />
zu finden. Aber auch kreativ<br />
und effektiv zu sein und mit kleinen<br />
oder großen Herausforderungen umgehen<br />
zu können. <br />
TEMPO<br />
19
Fast<br />
Foto: © Fraunhofer IGD<br />
wie<br />
echt
SIMULIERTE REALITÄT WIRD DIE PRODUKT- UND PROZESSENTWICKLUNG<br />
REVOLUTIONIEREN. UM 2020 WERDEN IN DER AUTOMOBILENTWICKLUNG<br />
VERSUCH UND IRRTUM NUR NOCH EINE ZEHNTELSEKUNDE VONEINANDER<br />
ENTFERNT LIEGEN. MASCHINENBAUER MÜSSEN BEI REPARATUREN NICHT<br />
MEHR ZWANGSLÄUFIG ZUM STANDORT DER JEWEILIGEN ANLAGE REISEN.<br />
ES DARF SO RICHTIG GETÜFTELT WERDEN. Von Ruth Reitmeier<br />
In naher Zukunft: Immer dann, wenn<br />
sie auf der Suche nach einer Idee ist,<br />
spaziert die Autodesignerin morgens<br />
an einem Brunnen aus den 1960er<br />
Jahren vorbei, dessen biomorphe<br />
Formen (also künstliche Gebilde,<br />
die natürlichen Lebensformen nachempfunden<br />
sind) sie für ihre Arbeit<br />
immer wieder inspirieren. Und sie<br />
fi ndet dort einmal mehr erneut eine<br />
Antwort. Diesmal darauf wie sie das<br />
Heck, an dem sie gerade tüftelt und<br />
das vorerst nur auf Bildschirm in 3D<br />
existiert, fl ießender hinbekommt.<br />
Ein wenig später, an ihrem Arbeitsplatz,<br />
ändert sie ein paar Details.<br />
Dann drückt sie aufs Knöpfchen<br />
und schickt das virtuelle Auto mit verändertem<br />
Blechkleid in die simulierte<br />
Realität eines Windkanals, um die<br />
Aerodynamik zu testen. Im Bruchteil<br />
einer Sekunde hat sie ein Ergebnis.<br />
Bingo! Schönheit und technische<br />
Anforderungen ergänzen einander<br />
perfekt.<br />
DIE REALITÄT AM<br />
COMPUTER SIMULIEREN<br />
– DAS REDUZIERT DAS<br />
RISIKO<br />
Ab 2020 wird dies möglich sein, werden<br />
Versuch und Irrtum in der Produktentwicklung<br />
nur Zehntelsekunden<br />
voneinander entfernt liegen. Durch die<br />
laufende rechnergestützte Absicherung<br />
von Zwischenergebnissen wird<br />
mit wenig Risiko vieles ausprobiert<br />
werden können. Denn mittels simulierter<br />
Realität lassen sich Szenarien der<br />
realen Welt im Computer abbilden<br />
und Aus- sowie Vorhersagen treffen.<br />
Das Besondere an dieser Art der<br />
Simulation ist, dass sie virtuell und<br />
interaktiv ist. Sie bezieht also ihre<br />
Umgebung mit ein, genauso wie das,<br />
was dort passiert. Diese Art der<br />
virtuellen Realität hat nichts mit dem<br />
zu tun, was wir schon heute etwa<br />
aus der Architektur kennen, wo z. B.<br />
virtuel le Wohnungspläne dem Mieter<br />
oder Käufer das Raumempfi nden<br />
nahe bringen sollen.<br />
MODERNE SIMULATION<br />
IST HOCHKOMPLEX<br />
UND OFT NOCH IM<br />
ENTWICKLUNGSSTADIUM<br />
Das Konzept dieser hochentwickelten<br />
simulierten Realität wird vor allem für<br />
komplexe Systeme wie Verkehr und<br />
hochmoderne Produktions prozesse<br />
eingesetzt. Zum Beispiel im Flugzeugbau:<br />
Denn erst wenn absolut<br />
sicher ist, dass der neue Flieger auch<br />
oben bleibt, wird testgefl ogen, davor<br />
wird simuliert.<br />
Auch der Autobau bedient sich längst<br />
der realitätsnahen Simulation. Dennoch<br />
steht gerade hier ein großer<br />
Sprung nach vorne an. Anders als<br />
noch heute üblich wird in wenigen<br />
Jahren simulierte Realität fi xer Bestandteil<br />
in frühen Stadien des Produktentwicklungsprozesses<br />
sein.<br />
Dieser Fortschritt wird durch die Anforderungen<br />
des Weltmarktes angetrieben,<br />
wo, um wettbewerbsfähig zu<br />
bleiben, neue Produkte innerhalb kürzester<br />
Zeit Serienreife erreichen und<br />
folglich schneller und kostengünstiger<br />
entwickelt und produziert werden<br />
müssen.<br />
IN VIRTUELLEN WELTEN<br />
WIRD KÜNFTIG DAS<br />
RENNEN GEMACHT<br />
Zugleich pushen die neuen Player<br />
wie der Internetkonzern Google oder<br />
Elektroautohersteller Tesla die<br />
Entwicklung. Denn im Zuge der sich<br />
vollziehenden Neuerfi ndung des<br />
Autos zum automatisierten, autonomvernetzten<br />
Fahrkonzept wird der Autobau<br />
um einiges komplexer. PS, das<br />
war einmal, Automobilhersteller defi -<br />
nieren sich heute über ihre digitalen<br />
Stärken – wohlwissend, dass Umbrüche,<br />
wie sie sich zurzeit in ihrer<br />
Branche abspielen, in der Lage sind,<br />
unsterblich geglaubte Riesen hinweg<br />
zu fegen.<br />
OPTIMALE<br />
ERGONOMISCHE<br />
ARBEITSABLÄUFE<br />
KANN DER<br />
COMPUTER BESSER<br />
BERECHNEN<br />
„Es gibt Aufgabenstellungen, da ist<br />
der Zugang des Computers geeigneter<br />
als die menschliche Intelligenz“,<br />
sagt Philipp Slusallek vom Deutschen<br />
Forschungszentrum für Künstliche<br />
Intelligenz (DFKI). Das renommierte<br />
Research Center in Saarbrücken arbeitet<br />
aktuell an einem Forschungsprojekt<br />
mit der Daimler AG mit dem<br />
Ziel, ergonomisch optimierte Arbeitsabläufe<br />
von Menschen in der Werkshalle<br />
zu entwickeln. Denn das erfordert<br />
eine Arbeitswelt, in der die<br />
Jungen weniger werden, die Älteren<br />
älter, in der Menschen mit Behinderungen<br />
integriert werden, und<br />
zugleich die Produktion fl exibler,<br />
vernetzter, komplexer wird. Reale Bewegungen<br />
von Arbeitskräften bilden<br />
dabei die Datenbasis, diese werden<br />
mit Informationen zum Körperbau des<br />
Menschen sowie ergonomisch optimalen<br />
Bewegungsabläufen kombiniert<br />
und daraus ein Bewegungs- und Arbeitskonzept<br />
für den Mitarbeiter errechnet.<br />
Intelligente, simulierte Realität bildet<br />
Ausschnitte der Wirklichkeit im Computer<br />
nach, wobei die Umwelt ein-<br />
TEMPO<br />
21
ezogen wird. Dieser Computerwelt<br />
wird Leben eingehaucht, etwa durch<br />
die Arbeiter in der Produktion und ihr<br />
Handeln. Diese Modelle sind hochkomplex,<br />
bleiben jedoch ein Grundgedanke.<br />
„Eine realistische Abstrak tion<br />
ist keine Kopie der Realität. Die ist<br />
sehr viel komplexer“, betont Slusallek.<br />
Im Computer könne nicht alles bis ins<br />
letzte Detail – also bis in den atomaren<br />
oder gar subatomaren Bereich –<br />
dargestellt werden.<br />
SIMULATION IST WIE<br />
FOTOGRAFIE:<br />
EIN BESTIMMTER<br />
BILDAUSSCHNITT IST<br />
SCHARF GESTELLT<br />
Doch die Abbildung im Rechner muss<br />
genau genug abstrahiert werden, sodass<br />
die Ergebnisse stimmen. Im Simulator<br />
wird also ein Ausschnitt der<br />
echten Welt abgebildet. „Man kann<br />
das anhand des Beispiels der Fotografi<br />
e illustrieren. Der Fotograf stellt<br />
jenen Ausschnitt scharf, der ihm am<br />
wichtigsten ist. Das können die Berge<br />
im Hintergrund oder die Menschen im<br />
Vordergrund sein“, sagt Ilja Radusch<br />
vom Fraunhofer-Institut FOKUS in<br />
Berlin.<br />
Oder am Beispiel der Sturmwarnung:<br />
Um etwa Windgeschwindigkeit zu simulieren,<br />
muss nicht jedes Luftmolekül<br />
erfasst werden, aber der Luftdruck,<br />
der bei 90 km/h entstehen<br />
wird und seine Auswirkungen auf<br />
bestimmte Umgebungen. Dessen ungeachtet<br />
ist das Maß der Abstraktion<br />
ein Qualitätskriterium für virtuelle Simulation.<br />
Grundsätzlich gilt: Je detaillierter,<br />
desto besser. Ein weiteres<br />
Schlüsselkriterium für den Erfolg virtueller<br />
Simulation ist, dass vorab die<br />
richtigen Fragen gestellt werden.<br />
In der Robotik fi ndet simulierte Realität<br />
ein noch weites Anwendungsgebiet,<br />
das heißt, es gibt viel zu beforschen<br />
– zumal die Industrieroboter<br />
aktuell eine Krise durchmachen, weil<br />
sie zu unfl exibel sind. Anfang 20<strong>16</strong><br />
gab das Mercedes-Werk in Sindelfi n-<br />
gen (Baden-Württemberg) bekannt,<br />
dass dort künftig wieder verstärkt<br />
Menschen statt Roboter arbeiten<br />
würden, da die Maschinen von den<br />
detaillierten Anforderungen einer zunehmend<br />
individualisierten Fertigung<br />
schlichtweg überfordert seien. „Diese<br />
Varianz ist für die Maschinen zu viel“,<br />
wird Produktionschef Markus Schäfer<br />
in der „Welt“ zitiert.<br />
VORAUS ZU PLANEN<br />
IST FÜR MASCHINEN<br />
NOCH IMMER<br />
SCHWIERIG<br />
Dieses aktuelle Beispiel zeigt die Defi<br />
zite von Robotern, wie sie heute in<br />
der Montagehalle werken. Sie können<br />
ihre Umwelt nur sehr eingeschränkt<br />
wahrnehmen und auch nicht vorausplanen,<br />
was sich dort abspielen und<br />
der Mensch darin machen wird. „Denken<br />
wir etwa an Menschenmengen in<br />
einer U-Bahnstation, wie sie sich aneinander<br />
vorbeibewegen. Dies sind<br />
hochkomplexe Abläufe und darin ist<br />
der Mensch extrem gut. Wären indessen<br />
heutige Roboter unterwegs, würden<br />
sie vermutlich allesamt stehen<br />
bleiben“, sagt Slusallek. Das DFKI<br />
arbeitet aktuell an einem Forschungsprojekt<br />
auf dem Gebiet der kooperativen<br />
Robotik. Dabei geht es um enge<br />
Kooperation zwischen Mensch und<br />
Maschine, etwa in der Werkshalle.<br />
Bei schweren Arbeiten, wie etwa der<br />
Unterbodenmontage in der Autoproduktion,<br />
verspricht man sich davon<br />
eine Entlastung der menschlichen<br />
Arbeitskraft sowie insgesamt effi zientere<br />
Produktionsprozesse.<br />
ROBOTER SOLLEN<br />
IN ZUKUNFT MIT<br />
MENSCHEN<br />
INTERAGIEREN KÖNNEN<br />
In Zukunft sollen Roboter also nicht<br />
wie bisher allein im Käfi g an der<br />
Assembly Line werken, sondern mit<br />
dem Menschen gemeinsam, Seite an<br />
Seite und dafür müssen sie deutlich<br />
mehr können als bisher. Für die Entwicklung<br />
dieser neuen Robotergeneration<br />
wiederum braucht es simulierte<br />
Realität. „Mit traditioneller Robotik<br />
funktioniert das nicht. Denn soll der<br />
Roboter mit dem Menschen interagieren,<br />
kann er nicht bloß sein Programm<br />
abspulen, sondern muss in der Lage<br />
sein, sich ein genaues Bild seiner<br />
Umgebung zu machen und voraus zu<br />
planen, was der Mensch als nächstes<br />
tun wird“, betont der Experte. Um etwa<br />
folgenschwere Arbeitsunfälle zu verhindern,<br />
müssen die Maschinen<br />
behutsam sein, der Roboterarm darf<br />
dem Menschen beispielsweise etwas<br />
reichen, aber nicht in der Nähe seines<br />
Kopfs hantieren.<br />
IM SUPERMARKT<br />
SCHNELL ZU DEN<br />
GEWÜNSCHTEN<br />
PRODUKTEN FINDEN<br />
Anwendungsgebiete simulierter Realität<br />
fi nden sich mitunter auch für recht<br />
alltägliche Dinge wie etwa ein 3D-Simulationsmodell<br />
zur optimalen Auslegung<br />
und Beschilderung eines Supermarkts.<br />
Dabei werden Daten von<br />
Einkäufern, ihren Wegen und Erfahrungen<br />
à la „wo Nudeln sind, da ist<br />
auch Reis“ gesammelt, gespeichert<br />
und daraus in Kombination mit Umsatzzielen<br />
des Retailers eine optimierte<br />
Raumplanung der Verkaufsfl äche entwickelt.<br />
VIRTUELLE SPIEGELUNG<br />
IM MASCHINENBAU<br />
REDUZIERT<br />
REISETÄTIGKEIT<br />
DER MITARBEITER<br />
Vom Supermarkt in den Anlagenbau:<br />
In Zukunft werden Maschinenbautechniker<br />
nur noch bei sehr schwerwiegenden<br />
Störungen einer Anlage<br />
zum Kunden reisen müssen. Troubleshooting,<br />
Wartungsarbeiten und sogar<br />
Schulungen können künftig über<br />
eine virtuelle Spiegelung der Anlage –<br />
also einer Simulation – durchgeführt<br />
werden. Der Techniker beim Anlagenbauer<br />
in Österreich kann dem Kunden<br />
in Übersee an der virtuellen Anlage<br />
zeigen was zu tun ist, an welchen<br />
Schrauben gedreht werden muss,<br />
um das Problem zu beheben. In der<br />
Automobilindustrie wird schon heute<br />
eine große Anzahl von Tests realitätsnah<br />
simuliert. Das Problem dabei ist:<br />
Simulationen sind zeitintensiv und werden<br />
folglich erst in einem relativ späten<br />
Stadium des Entwicklungsprozesses<br />
22
Foto: © Fraunhofer IGD<br />
Simulierte Realität unterstützt nicht nur Innovationskraft großer Unternehmen, sondern wird zunehmend auch von kleinen und<br />
mittleren Unternehmen (KMU) genutzt. Etwa haben KMU aus dem Fertigungsbereich über das EU-Projekt CloudFlow die Möglichkeit,<br />
Spezialsoftware für virtuelle Simulationen über eine Cloud-Lösung zu nutzen um so die Entwicklung zu beschleunigen.<br />
eingesetzt. Zeigt sich dann, dass<br />
das neue Modell in ein paar Punkten<br />
schlechter abschneidet als geplant,<br />
heißt es zurück in die Entwicklung.<br />
Solche Korrekturen sorgen für<br />
Verzögerungen und das kommt teuer.<br />
André Stork vom Fraunhofer-Institut<br />
für Graphische Datenverarbeitung<br />
IGD in Darmstadt beschäftigt sich mit<br />
der interaktiven Simulation direkt im<br />
Entwicklungsprozess. „Wir haben die<br />
Vision, die interaktive Simulation zu<br />
beschleunigen“, sagt Stork.<br />
SIMULATIONEN<br />
IM GESAMTEN<br />
ENTWICKLUNGSZYKLUS<br />
Getüftelt wird intensiv, denn ab 2020<br />
soll das Ergebnis der interaktiven 3D-<br />
Simulation einer Strömungssimulation<br />
nicht nach etlichen Stunden, sondern<br />
binnen Zehntelsekunden vorliegen.<br />
Daraus ergibt sich eine grundlegende<br />
Veränderung in der Produktentwicklung.<br />
Es kann mehr ausprobiert<br />
werden, zumal mittels virtueller Simulation<br />
Feedback unmittelbar vorliegt<br />
und etwaige Fehler frühzeitig erkannt<br />
werden. Die virtuelle Simulation wird<br />
künftig also nicht primär der Endkontrolle<br />
dienen, sondern entwicklungsbegleitend<br />
eingesetzt werden. Entwickler<br />
und Designer können ihren<br />
Ideen freien Lauf lassen und zugleich<br />
durch virtuelle Simulationen jeden<br />
Zwischenschritt rechnergestützt absegnen<br />
lassen.<br />
Die Erwartungen sind hoch: Es sollen<br />
dadurch bessere, innovativere und<br />
auch ganz neue Produkte entstehen.<br />
Ab 2020 sollen zudem vernetzte<br />
Autos so richtig in Fahrt kommen.<br />
Ilja Radusch erforscht am Fraunhofer-<br />
Institut für Offene Kommunikationssysteme<br />
FOKUS in Berlin in Simulationsprozessen<br />
das vernetzte Fahren,<br />
wo Fahrzeuge miteinander oder auch<br />
mit Infrastruktur wie Ampelanlagen<br />
kommunizieren. Das hat den Vorteil,<br />
dass das Auto nicht nur ringsum<br />
wahrnimmt was passiert, sondern<br />
quasi auch um die Ecke sehen kann.<br />
DAS WETTER WIRD<br />
KEINEN EINFLUSS<br />
MEHR IN DER<br />
PRODUKTENTWICKLUNG<br />
HABEN<br />
Diese Entwicklung wäre ohne Simulation<br />
nicht möglich. „Man müsste eine<br />
Teststrecke von 40 Millionen Kilometern<br />
zurücklegen“, sagt Radusch. Mittels simulierter<br />
Realität wird das vernetzte<br />
Auto in Verkehrssituationen jenseits der<br />
Schönwetterfahrt getestet, also etwa<br />
beim Einfädeln auf der Autobahn. Ziele<br />
des vernetzten Auto verkehrs sind weniger<br />
Unfälle und mehr Effi zienz.<br />
SICHERHEIT IST DAS<br />
MASS ALLER DINGE<br />
UND BLEIBT EIN<br />
STARKES ARGUMENT<br />
In Zukunft werden im Sicherheitsbereich<br />
und in der Produktentwicklung<br />
die neuen Möglichkeiten, die simulierte<br />
Realität bietet, eine größere Rolle<br />
spielen, um im Wettbewerb bestehen<br />
und mit zunehmend komplexeren<br />
Fragestellungen umgehen zu können.<br />
So etwa nicht nur im Eingangs erwähnten<br />
Flugzeugbau, wo es darum<br />
geht, Parameter wie Sicherheit und<br />
Funktionsweise des Flugzeugs in sehr<br />
frühen Phasen der Entwicklung zu<br />
testen, in denen manchmal noch nicht<br />
einmal reale Flugzeugmodelle zur Verfügung<br />
stehen. Am Horizont zeigt sich<br />
bereits eine Integration mehrerer miteinander<br />
interagierender Modelle, die<br />
für komplexe Simulationsvorhaben<br />
höchste Genauigkeit und übereinstimmende<br />
Gültigkeitsbereiche bieten.<br />
Auch im Schiffsbau wird die Rolle von<br />
Verfahren der simulierten Realität zunehmen.<br />
Denn in einer Notfallsituation<br />
auf hoher See sind vorab getestete<br />
und sehr präzise simulierte Evakuierungsszenarien<br />
lebensrettend.<br />
Die Fahrt in eine neue Welt hat<br />
also begonnen. <br />
TEMPO<br />
23
Die Ruhe<br />
vor dem Bus<br />
Foto: © https://anamericaninmontreal.wordpress.com<br />
WARTEN IST EINE INAKZEPTABLE TÄTIGKEIT IN UNSERER ÄRA DER<br />
PRODUKTIVITÄT. BLÖD, WER AN DER HALTESTELLE MIT FAST LEEREM<br />
SMARTPHONE-AKKU ANKOMMT UND DAS TASCHENBUCH VERGESSEN HAT.<br />
GEDANKEN UND IDEEN, SICH DIE ZEIT ZU VERTREIBEN. Von Astrid Kuffner<br />
Ich stehe an der Haltestelle ohne<br />
Handy-Akku. Was tun? Hätte ich<br />
meine beiden Kinder dabei, müsste<br />
ich darüber nicht nachdenken. Ich<br />
hätte Kekse, Wasser und Pixi bücher<br />
in meinem Känguruh-Beutel. Falls<br />
nicht, bräuchte es zumindest ein Pointenfeuerwerk<br />
in Form von Kinderliedern,<br />
Reimen und Fingerspielen<br />
im Kopf. Ins Narrenkastl schauen<br />
kommt nicht mehr in Frage seit mir jemand<br />
gesagt hat, dass man schneller<br />
dement wird, wenn man oft ins Leere<br />
schaut. Wenn auch andere Leute<br />
warten, könnte man sich unterhalten.<br />
Aber die Jungen haben sicher ein geladenes<br />
Mobiltelefon mit. Und für die<br />
anderen ist meine eigene Stimmung<br />
zu schlecht. Wer will schon die Startrampe<br />
für das übliche Lamento über<br />
unpünktliche Verkehrsmittel, schlechtes<br />
Wetter oder Politik legen? Der aufgehängte<br />
Fahrplan ist oft genug ausgebleicht,<br />
in Kondenswasser gelöst,<br />
winzig gedruckt, mit undurchschaubaren<br />
Ausnahmen versehen, zugepickt,<br />
zerkratzt oder fehlt überhaupt.<br />
NEIN, DIE ZEITANZEIGE<br />
AN DER HALTESTELLE<br />
FOLGT KEINER LOGIK<br />
Selbst wenn es eine Minutenanzeige<br />
der Verkehrsbetriebe gibt, stimmt sie<br />
offensichtlich auf der ganzen Welt<br />
weder mit der eigenen biologischen<br />
Uhr noch der atomzerfall genau aufs<br />
Handy übertragenen Weltzeit überein.<br />
Und: Wenn es eine Anzeigetafel<br />
gibt, ist kaum etwas gefürchteter als<br />
ihre Aktualisierung. Es könnte sich zusätzlich<br />
zur Wartezeit eine Verspätung<br />
manifestieren.<br />
Ich könnte das Fitnessprogramm der<br />
Frauenzeitschrift, die ich zum Zeitvertreib<br />
im Wartezimmer zur Hand nehme,<br />
umsetzen. Total unauffällig, total straffend<br />
für alle Problemzonen oder effektiv<br />
gegen Krampfadern. Im Stehen<br />
auf die Zehenspitzen gehen, zehn<br />
Sekun den halten, absenken. Oder Po<br />
anspan nen, zehn Sekunden halten,<br />
entspannen. Je nach Warte zeit sind<br />
da viele Wiederholungen möglich.<br />
Und wenn ich die Selbst optimierung<br />
schon angeleiert habe, denke ich<br />
auch an Gehirnjogging im Stehen mit<br />
Sudoku, Tetris oder Wissensquiz.<br />
Allein: Es fehlt dafür der Touchscreen<br />
im Wartehäuschen.<br />
24
NEUDEUTSCH:<br />
BACKUP-TÄTIGKEIT ZUM<br />
ZEITVERTREIB PARAT<br />
HABEN<br />
In den Augen von Life Coach Anthea<br />
Newburn habe ich alles falsch gemacht,<br />
was man falsch machen kann:<br />
Während man auf ein Meeting oder<br />
den Aufzug wartet, rät sie zu Backup-<br />
Tätigkeiten, in die man jederzeit reinkippen<br />
und wieder unterbrochen werden<br />
kann. Ich will es Ihnen aber nicht<br />
vorenthalten: Lesestoff sollte immer<br />
dabei sein. Oder das (elektronische)<br />
Notizbuch, um die To-Do-Liste zu aktualisieren,<br />
die eigene Zielerreichung<br />
zu prüfen oder den Terminkalender<br />
zu optimieren. Ebenfalls dabei: Die<br />
Mama anrufen. Das tun wirklich viele.<br />
Vielleicht, weil die Exit-Option mit eingebaut<br />
ist: „Du Mama, ich muss aufhören,<br />
die Bahn kommt. Ich meld’<br />
mich, Bussi! Baba!“ Aber ohne Akku<br />
kein gutes Gewissen. Als ich neulich<br />
eine Zeitung dabei hatte, las ich Folgendes:<br />
Wir werden heute sowohl in<br />
der Freizeit als auch in der Arbeit unter<br />
Druck gesetzt, unsere Zeit sinnvoll<br />
zu verbringen. Dieser Druck kann –<br />
so die Studienautoren – zu Sucht (als<br />
Flucht), Burnout oder Depression<br />
führen.<br />
LANGEWEILE IM KOPF<br />
BIRGT DAS POTENZIAL<br />
NACHHALTIGER „KUNST“<br />
Nicht alle zünden sich eine Zigarette<br />
an oder werden lethargisch. Bei manchen<br />
führt Langeweile auch zu Aggression<br />
oder macht Lust, sich langfristig<br />
zu verewigen (Stichwort<br />
Graffi ti-Sprayer). Die dänische Stadt<br />
Alleroed nördlich von Kopenhagen<br />
setzt gegen diese ganz langweilig auf<br />
Videoüberwachung, das Los Angeles<br />
Police Department auf erzieherisches<br />
Blabla. Auch Schutzanstriche werden<br />
verkauft. Wer Wände bepfl anzt oder<br />
gleich bunt gestaltet, verdirbt Sprayern<br />
den Spaß einer einfärbigen Fläche.<br />
Ablenkung hilft vielleicht. Wer an einer<br />
Kärntner Bushaltestelle mit knallgelbem<br />
Sticker strandet, hat es gut:<br />
Via NFC oder QR-Code wird „Projekt<br />
Ingeborg“ aktiviert. Weil Klagenfurt<br />
keine eigene Stadtbibliothek hat, wurde<br />
die Stadt zur Bibliothek gemacht.<br />
Begonnen wurde im Juli 2012 mit 70<br />
freien E-Books, passend zu 70 Orten.<br />
An jedem Download-Point kann ein<br />
bestimmtes E-Book heruntergeladen<br />
werden, für das die Rechte bereits<br />
ausgelaufen sind.<br />
IN LONDON KANN MAN<br />
AN DER HALTESTELLE<br />
SCHAUKELN<br />
Wenn der Handy-Akku fast leer ist,<br />
muss ich wohl selbst Energie aufbringen.<br />
Wäre ich in London, könnte<br />
ich schaukeln, weil der Künstler Bruno<br />
Taylor einige Londoner bus stops<br />
mit Schaukeln ausgestattet hat. Klingt<br />
super! Außer es geht jemand hinter<br />
der Haltestelle vorbei, der in sein<br />
Smartphone stiert (weil er genug Saft<br />
hat) und wird von mir umgestoßen.<br />
Das Abbremsen wird ebenfalls spannend.<br />
Auf dem Spielplatz sehe ich<br />
wilde Kids einfach abspringen. Ich<br />
stelle mir mich vor, wie ich elegant<br />
vor dem Bus-Einstieg zum Stehen<br />
komme oder alert hockend, wie<br />
Spiderman. Wahrscheinlich würde<br />
ich die Scheibe einschlagen, wie ein<br />
wild gewordener Nothammer.<br />
IN MONTREAL WIRD<br />
SCHWINGEN IM<br />
GLEICHKLANG<br />
BELOHNT<br />
Noch schwieriger wäre es in Montréal,<br />
wo ein Team von Designern interaktive<br />
Musik-Schaukeln in der Nähe<br />
einer Bushaltestelle aufgebaut hat.<br />
Nur wenn die Nutzer im Gleichklang<br />
schwingen, spielen die Schaukeln<br />
Töne und ermöglichen gemeinsam ein<br />
Orchester. Eine Nutzerin im Werbevideo<br />
verrät, dass sie bereits seit eineinhalb<br />
Stunden schaukelt. Hoffentlich<br />
hat sie den Bus nicht verpasst.<br />
Apropos Promotion: Wo sind eigentlich<br />
die Produkt-Pröbchen-Verteiler,<br />
wenn man sie braucht? Ach ja: Hier<br />
ist ja kein Verkehrsknotenpunkt. Mit<br />
einer Variante von Haltestellen-Werbung<br />
möchte ich übrigens keinesfalls<br />
in Berührung kommen: Augmented<br />
Reality. Sie schickt dort, wo bei<br />
uns harmlos hinterleuchtete Plakate<br />
hängen, realitätsnah animierte Inhalte<br />
in das Wartehäuschen. Tigerattacke,<br />
Meteoriteneinschlag, UFO-Landung<br />
oder das vielarmige Saugnapfmonster<br />
aus der Kanalisation kann simuliert<br />
werden. Unbelievable Moments<br />
brought to you by Pepsi Max. Thanks,<br />
but no thanks.<br />
LESEZIRKEL, NÜSSE<br />
ODER SICH EINEN BART<br />
WACHSEN LASSEN:<br />
WARTEN BIRGT VIELE<br />
MÖGLICHKEITEN<br />
Natürlich wurde auch schon untersucht,<br />
warum das Warten auf Bus<br />
oder Bahn einem so lange vorkommt.<br />
Es gibt ja nicht überall elektronische<br />
Minuten-Anzeigen. Es ist nicht vergleichbar<br />
dem Warten in der Kassenschlange,<br />
wo ein Ende in Sicht ist.<br />
Beim Arzt gibt es den Lesezirkel oder<br />
beruhigende klassische Musik. Das<br />
Warten auf einen freien Tisch im Lokal<br />
vertreibt man sich an der Bar mit<br />
ein paar Nüsschen und es gibt genug<br />
zu sehen. Der Bus bleibt unsichtbar,<br />
bis er einfach dasteht. Er könnte in einer<br />
Minute kommen, oder in zwanzig.<br />
Er könnte gerade gefahren sein. Und<br />
Ablenkung ist… Mangelware. Hätte<br />
das Smartphone mehr Saft, könnte<br />
ich „Nine things to do while you wait<br />
for the bus“ auf Youtube anschauen:<br />
Einen Bart wachsen lassen, ein Kind<br />
großziehen, Ihre Lieblingsszene<br />
aus Ihrem Lieblingsfi lm nachspielen,<br />
Luftgitarre oder für den jährlichen Silly<br />
Walk Contest üben, pantomimisch<br />
nach einer weggelaufenen Ente fragen.<br />
Ebenfalls großartig: Das Poster<br />
der Academy of Art University, wie<br />
man 15 Minuten Zeit totschlägt (sic!).<br />
Das meiste ist analog: Reimwörter<br />
fi nden, über den ersten Kuss nachdenken,<br />
die Luft anhalten, den Schuh<br />
mit einer Hand zubinden. Ich hab<br />
schon etwas gefunden. Schade, dass<br />
der Bus gerade kommt. <br />
Projekt Ingeborg:<br />
http://pingeb.org/wie-pingeb-orgentstand-und-wie-es-funktioniert<br />
TEMPO<br />
25
INNOVATIVES ONLINE & OFFLINE<br />
START-UPS<br />
SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA GESCHWINDIGKEIT<br />
Von Ancuta Barbu<br />
////// INTERNET AUS DER GLÜHBIRNE //////////////////<br />
Wi-Fi macht die Internetnutzung ortsunabhängig. Für sehr schnelles Internet<br />
braucht es aber manchmal noch immer eine Kabelverbindung. Ändern könnte<br />
sich das, wenn es nach einer Vision von Harald Haas, Professor an der University<br />
of Edinburgh (Schottland), geht. Er prägte den Begriff Li-Fi (Light-Fidelity)<br />
schon 2001. Dabei handelt es sich um eine kabellose, optische Datenübertragungstechnologie,<br />
die nicht wie Wi-Fi Radiofrequenzwellen – also Funk – zur<br />
Übertragung von Daten nutzt, sondern Licht (LED-Technologie): LEDs senden<br />
durch schnelles, für das menschliche Auge nicht wahrnehmbares An- und Ausschalten<br />
Lichtsignale an Fotodioden, welche die Lichtsignale in elektrische Impulse<br />
umwandelt. Der Vorteil: Li-Fi ist 100 mal schneller als WLAN. Der Nachteil:<br />
Licht kann Wände nicht überwinden, was zu einer kürzeren Reichweite als<br />
WLAN führt. Durchaus vorstellbar sei allerdings, dass Li-Fi-Technik zur effi zienteren<br />
Nutzung von WLAN unterstützend eingesetzt wird. Marktreif soll die<br />
Technologie in einigen wenigen Jahren sein – zumindest wenn es nach dem estnischen<br />
Start-up Velmenni geht. Dazu hat das Unternehmen LED-Lampen entworfen,<br />
die sich derzeit in Optimierungstest befi nden.<br />
http://velmenni.com<br />
////// MEHR UND SCHNELLER LESEN ////////////////////<br />
Viele Menschen nutzen die Zeit, die sie in Öffi s verbringen, zum Lesen. Meistens<br />
zieht man der Fachliteratur aber einen leicht verträglichen Roman vor. Um sich<br />
den Kerninhalt von Büchern mit hunderten von Seiten dennoch in kurzer Zeit zu<br />
Gemüte führen zu können, haben die Erfi nder von Blinklist eine App entwickelt,<br />
welche die Hauptaussagen von ausgewählten Sachbüchern in 15 Minuten Lesezeit<br />
wiedergibt. Das Service ist in unterschiedlichen Ausprägungsgraden erhältlich;<br />
von der Gratisversion, bei der die Zusammenfassung eines Buches pro<br />
Tag gelesen werden kann, bis hin zur Premium Funktion für 80 Euro, bei der geschmökert<br />
werden kann und bei der auch Audioversionen zur Verfügung stehen.<br />
www.blinkist.com/de<br />
////// AKKULADEZEIT: EINE MINUTE ////////////////////<br />
Handyakku oder Elektroautobatterie: in wenigen Minuten vollständig aufl aden?<br />
Das israelische Start-up Store Dot macht das möglich. Es entwickelte eine<br />
Smartphonebatterie, die sich innerhalb einer Minute laden lässt – dabei allerdings<br />
auch nur die halbe Leistung eines herkömmlichen Gerätes liefert. Die gewohnte<br />
Leistung erhält man bei einer Ladezeit von fünf Minuten. Store Dot nutzt<br />
dieselbe Technologie auch für Akkus von Elektroautos. Nach fünf Minuten Ladezeit<br />
ist laut Doron Myersdorf, dem Gründer und CEO des Start-ups, eine 480 km<br />
lange Fahrt möglich. Die Erfolgsaussichten des Unternehmens scheinen gut:<br />
Die Massenproduktion der Batterien ist ab 2017 geplant. Unterstützung kommt<br />
von namhaften Investoren, wie etwa Samsung Ventures, ein internationales Investment-Unternehmen,<br />
wie auch Roman Abramovich, einer der vermögend sten<br />
Menschen der Welt oder auch Singulariteam, ein weltweit agierendes Venture<br />
Capital-Unternehmen.<br />
www.store-dot.com<br />
26
LEICHTES RAD MIT MOTORANTRIEB /////////////<br />
E-Bikes sind meist teuer und vor allem schwer. Der gebürtige Slowene Niko<br />
Klansek entwickelte deshalb eine Lösung der anderen Art: das Smart-Wheel.<br />
Das „schlaue Rad“ ist ein mit einem Elektromotor ausgestattetes Hinterrad, das<br />
auf praktisch jedem Fahrradgestell – egal welchen Alters oder Modells – montiert<br />
werden kann und nur 2,5 kg wiegt. Der Akku des E-Motors kann an jeder<br />
Steckdose aufgeladen werden. Das Smart Wheel von FlyKly kostet 999 Euro<br />
und wird mit einer App geliefert, die über Geschwindigkeit und Batteriestand<br />
Auskunft gibt, aber auch das Fahrtempo regulieren kann. Ebenso trägt die App<br />
dem Umweltgedanken Rechnung, indem sie anzeigt, wieviel Kohlenstoffausstoß<br />
durch die Fahrradfahrt im Vergleich zu einer Autofahrt eingespart wurde. Mithilfe<br />
der App kann das Fahrrad abgesperrt werden und ist bei Diebstahl lokalisierbar:<br />
Durch die zum Losfahren zwingende Verbindung mit dem Smartphone wird eine<br />
Nachricht an FlyKly gesendet, die das Fahrrad schnell wieder auffi ndbar macht.<br />
http://fl ykly.com<br />
////// ESSEN IM SAUSESCHRITT //////////////////////////<br />
Die meisten Menschen warten nicht gerne auf ihr Essen. Dashed, ein US-amerikanisches<br />
Start-up, macht sich zur Aufgabe, das schnellste Lieferservice im<br />
Nordosten des Landes zu bieten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden ausschließlich<br />
Sportler eingestellt, welche die Lebensmittel von mehr als 700 Restaurants<br />
zu den Kunden bringen. Zur Motivation werden die schnellsten Mitarbeiter jedes<br />
Monat mit Dashed Olympia Gold-, Silber- oder Bronze-Medaillen und einem<br />
Geldbonus prämiert. Die Lieferung erfolgt aber freilich nicht per pedes. Das<br />
Unternehmen legt Wert auf die Nutzung umweltfreundlicher Fahrzeuge, weshalb<br />
Elektroautos und vor allem Fahrräder und Scooter verwendet werden, mit<br />
denen Verkehrsstaus leicht umgangen und die überall Parkplätze gefunden werden<br />
können.<br />
www.dashed.com<br />
Eine andere Geschäftsidee im Restaurantbereich hat das US-Unternehmen Allset.<br />
Dabei handelt es sich um eine App, über die Speisen von einer einheitlichen<br />
Speisekarte in ein Partnerrestaurant der Wahl vorbestellt und zum ausgewählten<br />
Zeitpunkt gegessen werden können. Auch die Bezahlung erfolgt über die App.<br />
Die Idee dahinter ist, nicht mehr die halbe Mittagspause mit dem Warten auf das<br />
Essen verbringen zu müssen. Das bringt nicht nur den Konsumenten einen Vorteil,<br />
sondern auch den Restaurants: Durch die schnellere Bedienung der Kunden<br />
ist eine größere Anzahl an Bewirtungen in einer bestimmten Zeit möglich. Derzeit<br />
gibt es das Service in San Francisco und Manhattan.<br />
https://allsetnow.com<br />
////// LICHTGESCHWINDIGKEIT FOTOGRAFIEREN /////<br />
Selbst bei bekannten Technologien wie der Fotografi e gibt es interessante Innovationssprünge:<br />
Professor Ramesh Raskar vom MIT Media Lab in Massachusetts,<br />
USA, entwickelte zusammen mit seinem Team eine Kamera, die „fotografi ert“,<br />
wie sich Licht ausbreitet. Das ist möglich, indem eine Billion Einzelbilder pro Sekunde<br />
aufgenommen werden. Dazu braucht es allerdings seine Zeit: Rund eine<br />
Stunde dauert eine Aufnahme, die zeigt, wie Licht innerhalb einer Nanosekunde<br />
durch eine Flasche wandert. Für die Fotografi emethode, die als Femto-Photography<br />
bezeichnet wird (Femto steht für Billiardstel), sieht Raskar Anwendungsmöglichkeiten<br />
nicht nur im High-Tech-Bereich und in der Forschung, sondern<br />
auch für Hobbyfotografen. Die Technik könnte künftig etwa die Grundlagen für<br />
Aufsteckblitze für Fotoapparate liefern, die es mit einem Studioblitz mit all seinem<br />
Zubehör aufnehmen können.<br />
http://<strong>web</strong>.media.mit.edu/~raskar/trillionfps<br />
TEMPO<br />
27
Am Puls<br />
der Stadt<br />
28<br />
Foto: © shutterstock
WIE SCHNELL ODER LANGSAM, HEKTISCH ODER GEMÜTLICH WIR EINE STADT<br />
ERLEBEN, HÄNGT VON SEHR VIELEM AB: VERKEHR UND LÄRM, BÜRO- UND<br />
ÖFFNUNGSZEITEN, BAULICHEN GEGEBENHEITEN UND STÄDTISCHER<br />
INFRASTRUKTUR. UND VON UNSEREM PERSÖNLICHEN LEBENSSTIL.<br />
MANCHEM STADTBEWOHNER WIRD ES ZU SCHNELL: ER ZIEHT AUFS LAND.<br />
Von Teresia Tasser<br />
Stoßzeit in einer europäischen<br />
Metropole: Büromenschen hasten<br />
zu den Abgängen der U-Bahnen.<br />
Autos arbeiten sich im Stop-andgo-Modus<br />
voran. Gedränge in den<br />
Einkaufsstraßen kurz vor Ladenschluss.<br />
Blinken, Hupen, Signale,<br />
der Lärmpegel steigt. Die Grundstimmung<br />
ist hektisch und durch<br />
den Verkehrsstau zugleich gebremst.<br />
DICHTE<br />
VERMITTELT EIN<br />
GEFÜHL DER<br />
SCHNELLIGKEIT<br />
An Orten, an denen viele Menschen<br />
unterwegs sind, wird das Grundtempo<br />
einer Stadt besonders fühlbar.<br />
„Die Schnelligkeit in einer Stadt<br />
ist auch an die soziale Dichte gekoppelt“,<br />
meint die Wiener Stadtpsychologin<br />
Cornelia Ehmayer.<br />
Unter der sozialen Dichte versteht<br />
man die Nutzerdichte bestimmter<br />
Bereiche. Fazit: Sind Bus oder<br />
U-Bahn gesteckt voll, wird eine<br />
Stadt schneller erlebt, als wenn<br />
die Wägen quasi leer sind.<br />
Immer wieder gibt es den Versuch,<br />
das Tempo einer Stadt an konkreten<br />
Parametern zu messen, zum Beispiel<br />
am Gehtempo von Stadtbewohnern:<br />
Im Schnitt gehen Menschen fünf<br />
Kilo meter pro Stunde oder 1,4 Meter<br />
pro Sekunde. In manchen Städten<br />
schneller, in manchen langsamer: In<br />
Hannover ist man schneller unterwegs<br />
als etwa in Bremen, in Wien<br />
schneller als in Mexico City, in der<br />
Schweiz schneller als in den USA.<br />
31 Länder weltweit untersuchte der<br />
amerikanische Sozialpsychologe<br />
Robert Levine Ende der 1990er<br />
Jahre für sein bekanntes Werk<br />
„Eine Landkarte der Zeit. Wie<br />
Kulturen mit Zeit umgehen“.<br />
Levine untersuchte neben der Gehgeschwindigkeit<br />
auch die Genauigkeit<br />
der Uhren, die Termintreue<br />
oder die Schnelligkeit an einem<br />
Postschalter und kam zum Schluss,<br />
dass Tempo und Ökonomie zusammenhängen:<br />
„Menschen in Regionen<br />
mit einer blühenden Wirtschaft,<br />
einem hohen Industrialisierungsgrad,<br />
einem kühleren Klima und<br />
einer auf den Individualismus ausgerichteten<br />
kulturellen Orientierung<br />
bewegen sich tendenziell schneller.“<br />
DAS TEMPO DER<br />
STADT WIRKT<br />
SICH AUF DIE<br />
GESUNDHEIT AUS<br />
Psychologen zufolge führen Städte<br />
mit hohem Lebenstempo, wo –<br />
wie Studien belegen – die gefühlte<br />
Hektik größer ist, auch zu mehr<br />
koronaren Herzerkrankungen ihrer<br />
Bewohner. Die sogenannte Eilkrankheit,<br />
das Gefühl des Zuspätkommens,<br />
des Gehetzt-Seins,<br />
prägt das kollektive Befinden<br />
solcher Städte. Die Menschen<br />
stehen permanent unter Zeitdruck,<br />
sind von Terminen getaktet und<br />
verhalten sich ungeduldig bis ungehalten,<br />
wenn sie warten müssen.<br />
Zu diesem Städtetypus zählen auch<br />
chinesische Megastädte, die, auch<br />
ohne eine solche Kategorisierung<br />
zu kennen, bei vielen Menschen sofort<br />
ein Bild der Menschenmassen,<br />
von Autos verstopften Straßen,<br />
Hochhauswüsten und viel Lärm<br />
hervorrufen – das Klischee der<br />
schnellen Stadt.<br />
IN CHINA ZIEHEN<br />
MENSCHEN AUS DEN<br />
MEGA-METROPOLEN<br />
IN KLEINSTÄDTE<br />
Interessant ist, dass sich gerade<br />
dort, wo der soziale Aufstieg mit<br />
dem Zuzug in die Stadt untrennbar<br />
verbunden ist, bei jenen, die<br />
genug angehäuft haben, ein kleiner<br />
Gegentrend zu entwickeln scheint:<br />
Wohlhabenden Menschen wird es<br />
zu viel, sie kündigen gute Jobs und<br />
ziehen in kleinere Städte, die für<br />
Chinesen als „ländlich“ gelten.<br />
Etwa nach Lijiang im Südwesten<br />
der Provinz Yunnan. Dort manifestiert<br />
sich eine wahre Stadtflucht.<br />
Bei Yi ist einer der neu Hinzugezogenen.<br />
Seine Entscheidung dort<br />
hin zu ziehen, begründet er mit<br />
dem Arbeitsstress, den er in Beijing<br />
hatte. Geld verdienen die meisten<br />
Neo-Lijianger im Tourismus, denn<br />
die Provinz Yunnan ist wegen ihrer<br />
schönen Landschaftszüge ein<br />
beliebtes Reiseziel. „Man kann<br />
gesellschaftliche Tendenzen in einer<br />
Stadt meist schneller erkennen.<br />
Und große Städte haben es an sich,<br />
dass sie Trends vorgeben“, sagt die<br />
Stadtpsychologin Ehmayer ganz<br />
allgemein. Vielleicht ist der Wegzug<br />
aus den Megastädten Chinas<br />
also nur der Beginn einer in Zukunft<br />
wachsenden Bewegung, die auch<br />
auf andere Länder und Kontinente<br />
überschwappen wird. Die Flucht vor<br />
dem Stress, sozusagen.<br />
Die Geschwindigkeit des Stadtlebens<br />
wird aus verschiedensten<br />
TEMPO<br />
29
Richtungen getaktet, mitunter vom<br />
Verkehr: Ampelphasen geben einen<br />
Rhythmus vor – je kürzer die Taktung,<br />
desto schneller das individuelle<br />
Gefühl, voran zu kommen.<br />
Oder Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel:<br />
Displays mit Echtzeitangaben<br />
auf den U-Bahn-<br />
Plattformen und bei Haltestellen<br />
strukturieren die Zeit für den<br />
Wartenden.<br />
Im Autoverkehr größerer Städte<br />
wird, um den Verkehrsfluss zu<br />
erhöhen und damit ein schnelleres<br />
Vorankommen zu ermöglichen, ein<br />
vermeintliches Paradoxon angewendet:<br />
Erlaubte Höchstgeschwindigkeiten<br />
werden gesenkt – und<br />
das weltweit. In über 150 Städten,<br />
darunter selbst in Metropolen wie<br />
London, setzt sich zunehmend<br />
Tempo 30 beziehungsweise<br />
20 Meilen/h durch. Niedrigere<br />
Geschwindigkeiten reduzieren zudem<br />
den Lärm. Gerade die Akustik<br />
einer Stadt wird von vielen als Tempobeschleuniger<br />
empfunden. Verkehrslärm<br />
suggeriert Hektik und<br />
Stress. Fahrzeuge mit Tempo 30<br />
sind um drei bis vier Dezibel leiser<br />
als solche mit Tempo 50. Das entspricht<br />
einer Halbierung der wahrgenommenen<br />
Lautstärke.<br />
VERKEHRSLÄRM IST<br />
AUCH EIN INDIKATOR<br />
Man könnte also meinen, dass<br />
„die schnelle Stadt“ ein Phänomen<br />
ist, das vor allem von Fußgängern<br />
erkannt wird. Denn abgesehen davon,<br />
dass Verkehrslärm als Parameter<br />
der schnellen Stadt bei geschlossenen<br />
Fenstern meist nicht<br />
zu den Insassen durchdringt, wird<br />
der motorisierte Straßenverkehr<br />
in Metropolen eher mit Stau in Verbindung<br />
gebracht. Das subjektive<br />
Gefühl, schnell voran zu kommen, ist<br />
daher eher abseits der Straße, etwa<br />
zu Fuß möglich. Eine Übersichtskarte<br />
In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul wurde eine Autobahn abgerissen und<br />
eine Oase der Entschleunigung für die Stadtbewohner geschaffen. Denn schnelle Städte<br />
verlangen ihren Bewohnern oftmals viel ab – deshalb sind Orte der Erholung als Ausgleich<br />
besonders wichtig.<br />
zum Durchschnittstempo in USamerikanischen<br />
Städten zeigt einen<br />
Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit,<br />
die Autos im Durchschnitt<br />
fahren können, und der<br />
Wege, die zu Fuß zurückgelegt<br />
werden. Etwa in Mega-Metropolen<br />
wie New York – die Stadt, die<br />
niemals schläft: Hier legen die<br />
Menschen auf einen Kilometer<br />
mehr Schritte zurück, sind also<br />
häufiger zu Fuß unterwegs, als<br />
zum Beispiel in Tulsa, im Bundesstaat<br />
Oklahoma. Autofahrer hingegen<br />
fahren in Tulsa mit 70 km/h im<br />
Durchschnitt viel schneller als in<br />
New York (28 km/h).<br />
DAS EIGENE BEFINDEN<br />
ALS TEMPOMAT<br />
Die Wahrnehmung der Geschwindigkeit<br />
einer Stadt hängt aber immer<br />
auch vom eigenen Befinden ab.<br />
Wer beruflich im Stress ist, auf den<br />
wird eine entschleunigte Stadt einen<br />
wenig entlastenden Einfluss<br />
haben. Vieles ist auch eine Frage<br />
der Relation: Ein Fußgänger erscheint<br />
aus der Perspektive der<br />
vorbeifahrenden Straßenbahn langsam.<br />
Oder das Landleben aus der<br />
Sicht des Städters gemächlich und<br />
entstresst.<br />
URBAN GARDENING<br />
UND ERHOLUNGSZONEN<br />
ALS ORTE DER<br />
ENTSCHLEUNIGUNG<br />
Einen Beitrag zur lokalen Be- oder<br />
Entschleunigung einer Stadt liefern<br />
auch bauliche Maßnahmen. Man<br />
denke beispielsweise an den Vormarsch<br />
des Urban Gardening, bei<br />
dem sich Menschen in der Stadt<br />
kleine Gemeinschaftsgärten anlegen,<br />
die sie neben der Selbstversorgung<br />
mit Obst, Gemüse, Kräutern<br />
oder Blumen zur Regeneration<br />
nutzen. Auch Rückbau- und Renaturierungsprojekte<br />
mitten in der<br />
Stadt sind Beispiele, Tempo aus<br />
der Stadt zu nehmen und Orte der<br />
Erholung im unmittelbaren Umfeld<br />
schaffen. In Seoul wurde vor einigen<br />
Jahren eine sechs Kilometer<br />
lange und sanierungsbedürftige<br />
Stadtautobahn abgerissen, um die<br />
darunterliegende Flusslandschaft<br />
wieder zu beleben und daraus eine<br />
Stadtoase zu schaffen. In New<br />
York City ist die zu einem großen<br />
Park umfunktionierte, aufgelassene<br />
Highline zu einem innerstädtischen<br />
Anziehungspunkt geworden. Von<br />
dort aus kann man die Rush-Hour<br />
an sich vorbeiziehen lassen. <br />
Foto: © wikipedia<br />
30
SCHNELLER ALS JE ZUVOR<br />
Der schnellste Mann der Welt ist weniger als halb so schnell wie ein Gepard. Die Evolution hat daran nichts<br />
geändert. Allerdings hat unser Kommunikationsverhalten im Lauf der Zeit an Geschwindigkeit zugenommen:<br />
Wir sprechen schneller und versenden mehr Post. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer<br />
DATEN & FAKTEN<br />
Gepard schlägt Mensch<br />
Die schnellsten am Land lebenden Säugetiere sind Geparden. Beim<br />
Jagen erreichen sie eine Geschwindigkeit von bis zu 110km/h. Der<br />
schnellste Mensch der Welt, der Jamaikaner Usain Bolt, erreicht<br />
Höchstgeschwindigkeiten von 44,7 km/h bei einem 100-Meter-Lauf.<br />
Den bis heute gültigen Weltrekord über diese Distanz stellte er 20<strong>09</strong><br />
auf. Er legte die Strecke in 9,58 Sekunden zurück. Ein Gepardenweibchen<br />
in einem Zoo (USA) brauchte dafür 5,95 Sekunden.<br />
Die Post bringt mehr<br />
Es handelt sich zwar nicht nur um Post in<br />
Papierform, aber wir versenden immer mehr<br />
Information. 2014 wurden weltweit alleine<br />
<strong>16</strong>6 Milliarden E-Mails pro Tag<br />
verschickt, davon 115 Milliarden im<br />
Geschäftsverkehr. 1 Dazu kommen noch<br />
Briefe und Pakete. Das ist Rekord. Niemals<br />
wurden Briefe in diesem Ausmaß verschickt.<br />
2011 2014<br />
11 E-Mails pro Tag 2 18 E-Mails pro Tag 2<br />
Quellen: 1 Deutsche Handwerks-Zeitung; 2 IT-Branchenverband Bitkom; 3 Bayrischer Rundfunk; 4 KIM Studie 2014, MPFS; 5 ronnie05.wordpress.com;<br />
6 https://ronnie05.wordpress.com/2013/03/12/the-paradigm-of-multi-screen-experiences; 7 Österreich Census 2011<br />
In 77 % der Zeit, die wir vor dem TV<br />
sitzen, nutzen wir entweder das Smartphone<br />
(49 % der Fälle) oder einen<br />
PC oder Laptop (34 % der Fälle).<br />
In 75 % der Zeit, die wir ein Tablet<br />
verwenden, sehen wir fern (44 %) oder<br />
nutzen ein Smartphone (35%). 6<br />
34<br />
Mehr „Kinder“ im Hotel Mama<br />
Nicht alles schreitet voran, manches geht<br />
auch den umgekehrten Weg. Zum Beispiel<br />
die Nestflucht. Zwischen 1971 und 2011<br />
stieg die Anzahl an Töchtern und Söhnen,<br />
die noch bei den Eltern wohnen, merklich an.<br />
Zum Beispiel lebten 2011 noch 44,2% der<br />
25-jährigen jungen Männer zuhause, 1971<br />
waren es nur 29,4% gewesen. 7<br />
Schnellsprecher<br />
Eine Notiz zur Evolution des Sprechens: Im norwegischen Parlament<br />
hat sich die Sprechgeschwindigkeit in 50 Jahren um nicht weniger als<br />
50 Prozent erhöht. 3<br />
Wir können multitasken<br />
98 % der Jugendlichen in Deutschland besitzen ein Handy oder Smartphone 4 ,<br />
mit dem die News – welcher Art auch immer – schnell gescreent werden können.<br />
Ein Abo einer Tageszeitung haben hingegen nur 39 % (2000 noch 66 %) –<br />
einen Zeitungsartikel zu lesen erfordert auch mehr ungeteilte Aufmerksamkeit.<br />
Was tun wir noch, wenn wir vor einem Bildschirm sitzen?<br />
57 % der Zeit, die wir uns primär mit dem Smartphone beschäftigen, sehen<br />
wir nebenbei fern (in 29 % der Fälle) oder nutzen einen PC oder Laptop (28 %<br />
der Fälle). 5<br />
29,4 %<br />
1971<br />
1981<br />
1991<br />
TEMPO<br />
2001<br />
44,2 %<br />
2011<br />
31
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC<br />
Schlagfiguren<br />
Der Dirigent bietet Orientierungs-,<br />
Koordinierungs- und Gestaltungshilfe<br />
für die ausführenden Musiker eines<br />
Orchesters oder eines anderen<br />
musizierenden Ensembles. Mittels<br />
rhythmisch gleicher Dirigiergesten –<br />
sogenannten Schlagfiguren – wird<br />
unter anderem mit der rechten Hand<br />
auch das Tempo angegeben. Die linke<br />
Hand steht hingegen für freie,<br />
spontane Gesten während des<br />
Dirigierens zur Verfügung.<br />
Der Dirigent<br />
als Tempogeber<br />
Mohammadreza Azin, 1980 in Teheran<br />
geboren und begann schon mit 14 Jahren am<br />
Teheraner Musikkonservatorium Sooreh<br />
Komposition und Musik zu studieren.<br />
Seit Oktober 2015 besucht er den<br />
Studiengang Komposition an der<br />
Universität für Musik und<br />
Darstellende Kunst in Wien.<br />
https://about.me/<br />
Mohammadrezaazin.com<br />
Ein- bis<br />
fünfteiliger Takt<br />
Die gebräuchlichsten<br />
Schlagfiguren aus der Perspektive<br />
des Dirigenten für die rechte Hand<br />
sind zwar nicht verbindlich, gelten<br />
aber als normierte Ausgangsbasis.<br />
Wird mit zwei Händen taktiert,<br />
bewegt der Dirigent die Hände<br />
spiegelsymmetrisch.<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
1<br />
1<br />
1<br />
2<br />
2 1 3 2 1 3<br />
4<br />
32