Leidenschaft
Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 03/2013
Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 03/2013
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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 03/2013
Leidenschaft
Leidenschaft
1
Leidenschaft
Was ist
Entrepreneurship?
Entrepreneurship bedeutet,
neue Marktchancen zu erkennen,
daraus eine Geschäftsidee zu entwickeln und diese
selbst unter Ungewissheit in Form von innovativen
Geschäftsmodellen umzusetzen. In seiner heutigen
Ausprägung hat der österreichische Ökonom
Joseph Schumpeter den Begriff maßgeblich
gestaltet. Der Entrepreneur ist ein ständiger Innovator,
der Wirtschaftswachstum und sozialen Wandel
vorantreibt. Der Unterschied zum Unternehmer ist,
dass nicht alle Unternehmer zwingend innovativ sein
müssen und Unternehmer meist auch die Eigentümer
des Unternehmens sind. Ein Entrepreneur
kann hingegen auch in einem
Unternehmen beschäftigt sein –
als Intrapreneur.
Quellen:
1 Statistik Austria
2 www.bmvit.gv.at
Was ist
Familie?
Das Wort Familie stammt aus dem
Lateinischen familia für „Hausgemeinschaft“.
Eine einheitliche Definition gibt
es nicht. Ein Vorschlag ist das Kernfamilienkonzept
der Vereinten Nationen. 1 Danach
bilden Ehepaare oder Lebensgemeinschaften
mit oder ohne Kinder eine Familie.
Alleinerziehende Elternteile mit Kind(ern)
werden als Ein-Eltern-Familie bezeichnet.
Wenn Alleinerzieher neue Lebensgemeinschaften
eingehen,
entsteht eine
Patchworkfamilie.
Was ist
Leidenschaft?
Leidenschaft ist ein Zustand völlig
vereinnahmender Emotion. Das Wort ist
eine Erfindung des deutschen Schriftstellers
Philipp von Zesen, der im 17. Jahrhundert
lateinische Ausdrücke durch seine
deutschen Kreationen ersetzte. Passion –
von passio, „leiden“ – ersetzte er durch das
althochdeutsche lidan, was so viel heißt
wie „erfahren, durchmachen“. Nicht mit
allen Erfindungen war von Zesen
erfolgreich: Das Fenster – vom
lateinischen fenestra – wird heute
nicht als Tageleuchter
bezeichnet.
Wo sind die
meisten
Oldtimer zugelassen?
Gemessen an der Einwohnerzahl
gibt es die meisten Oldtimer in
Oberösterreich. Hier sind
779 PKW als historische Kraftwagen
zugelassen(55 auf 100.000 Einwohner).
Im Burgenland fahren die wenigsten
Oldtimer: Hier kommen nur
30 Zulassungen
auf 100.000
Einwohner. 2
Was ist eine
Benefit Corporation?
Die Benefit Corporation (B Corp)
wurde 2010 in den USA eingeführt. Sie dient
vor allem jungen Unternehmern, die in ihrem
Geschäftsmodell soziale Komponenten vorgesehen
haben, dazu, leichter an Wachstumskapital zu kommen.
Durch die Gründung einer B Corp wird Transparenz
über die gesellschaftlichen und unternehmerischen Ziele
geschaffen. Impact-Investoren, die mit ihrem
Geld gezielt Gutes tun wollen, können gezielter
angezogen werden. Eine B Corp muss jährlich
verpflichtend einen Benefit Report vorlegen, in
dem sie Rechenschaft über ihre sozialen und
ökologischen Aktivitäten ablegt.
Derzeit gibt es in den
USA 650 B Corps.
Wo sitzt
Leidenschaft?
Das Herz ist der Quell aller
Leidenschaft, sagt der Volksmund. Die
Wissenschaft ist anderer Meinung und
erkennt den Ursprung der Emotion vor
allem in den Mandelkernen, einer
Funktionseinheit des limbischen Systems,
das sich durch das gesamte Gehirn zieht.
Es handelt sich also um keinen
bestimmten Teil des Gehirns, sondern
ein komplexes Netzwerk neuronaler
Schaltkreise, das bis heute nicht
genau erforscht ist.
Wann wird ein
Auto zum Oldtimer?
Als historische Kraftwagen gelten
in der Fachsprache Autos bis zum
Baujahr 1955, sowie jene, die älter als 30 Jahre
sind und in die Liste der historischen
Kraftfahrzeuge vom Bundesministerium für Verkehr,
Innovation und Technologie eingetragen sind. Sie
dürfen laut Gesetz nur an 120 Tagen pro Jahr
gefahren werden. Historische Krafträder nur an
60 Tagen pro Jahr. Über die Verwendung ist ein
Fahrtenbuch zu führen, das auch den Zweck
der Fahrt enthält. 2 Diese genaue Regelung ist
nötig, weil Oldtimer bei Steuern und
Versicherung begünstigt
sind (z.B. keine NoVA
oder CO 2
-Steuer).
Impressum und Offenlegung
Medieninhaber und Herausgeber
Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),
Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0
www.oeamtc.at
ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301
Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter
Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.
Rechtsgeschäftliche Vertretung DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor;
Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor.
Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh
Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),
Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)
Chefin vom Dienst Silvia Wasserbacher, BA, MA
Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl-Bw. Maren Baaz, Matthias Berger, Margit Hurich,
Mag. (FH) Christian Huter, Mag. Claudia Kesche, Mag. Uwe Mauch, MMag. Ursula Messner,
Dr. Daniela Müller, Martin Strubreiter, Dr. Ruth Reitmeier, Mag. Julia Schilly, Katrin Stehrer, BSc,
DI Anna Várdai, Silvia Wasserbacher, BA, MA
Grafik Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA
Fotos Karin Feitzinger
Raumtechnik Filippos Zisidis
Korrektorat Christina Preiner, vice-verba
Covermodels siehe Umschlagrückseite
Druck Hartpress
Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.
Ausgabe 03/2013, erschienen im April 2013
Download www.querspur.at
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Heute
Erhofft und doch verbannt. Sie ist
Quelle des Neuen und bringt uns voran.
Trotzdem verbannen wir die Leidenschaft aus
vielen Lebensbereichen. Von Daniela Müller
Leben was man liebt, lieben was man
tut. Bauchtanz, Handschrift, Pollenforschung:
Drei Menschen, die es schaffen, ihren ungewöhnlichen
Vorlieben im Alltag zu fröhnen.
Von Uwe Mauch
Altes Blech, junge Freude. Sammelobjekte
sagen oft mehr über ihre Besitzer
aus, als man auf den ersten Blick vermutet.
Von Martin Strubreiter
Von West nach Ost: Wo schlägt das
Herz den Kopf? Die Passionen der
Österreicher nach Bundesländern.
Von Silvia Wasserbacher
Morgen
Gutes tun und Geld verdienen.
Eine Reportage über den Hub-Vienna, der
größte Knotenpunkt für Social Entrepreneurs
in Österreich. Von Uwe Mauch
Die rastlose Weltfamilie. Immer mehr
Familien leben getrennt voneinander.
Wieviel physische Nähe braucht es in einer
globalisierten Welt? Von Julia Schilly
Laufen, kaufen, um Punkte raufen.
Was wirklich in Kundenbonusprogrammen
steckt. Von Matthias Berger
Leidenschaft braucht Trott. Christian
Hlade, Gründer von „WeltweitWandern“,
verrät, wie er sich durch große Reisen
verändert hat und wie wir in Zukunft reisen
werden. Von Daniela Müller
Start-ups. Spannende Ideen aus aller Welt
von oder für Menschen mit Leidenschaft.
Von Katrin Stehrer
Programmierte Empathie.
Der Mensch überschreitet Grenzen, indem
er Maschinen auf Emotion programmiert.
Von Ruth Reitmeier
Die Suche nach dem Glück.
Die österreichische Filmemacherin Clara
Harden fi nanziert ihre außergewöhnlichen
Projekte über Crowdfunding. Ein Knochenjob.
Von Ruth Reitmeier
Foto: © Karin Feitzinger
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Foto: © www.iuro-project.eu
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Leidenschaft
3
Talia Radford
Mitbegründerin von
taliaYsebastian, einem
Industriedesign-Studio,
das neue, nachhaltige
Technologien mit dem
richtigen Design verbindet
Lena Robinson
PR-Managerin bei
Three Coins, einem
Unternehmen,
das Jugendlichen
den Umgang mit
Geld näher bringt
Alexis Eremia
Co-Gründerin des
Hub Vienna
Claudia Käfer
Mitbegründerin von
Inventures, einer
Online Plattform,
die Startups für eine
breite Öffentlichkeit
sichtbar macht
Erika Büttner
Mitbegründerin von
Papertown, einem
Designstudio, das mit dem
Konstruktionsmaterial 4
Karton arbeitet
Foto: © Karin Feitzinger
Gutes tun und
Geld verdienen
THE HUB VIENNA IN WIEN 7 IST NICHT NUR EIN ARBEITSPLATZ
MIT BESONDEREM FLAIR, SONDERN AUCH EIN MAGNET FÜR
KREATIVE UND SOZIAL ENGAGIERTE UNTERNEHMER.
EINE MODERNE ARBEITSWELT-REPORTAGE.
Von Uwe Mauch
Es ist der Freitag nach dem Fest, der
Freitag nach dem Drei-Jahres-Jubiläum.
Anderswo meldet man sich nach
einer derart fröhlichen Nacht vorsichtshalber
krank. Oder nimmt sich
einen Urlaubstag. Oder lässt sich anmerken,
dass man heute nicht mehr
fröhlich ist.
Nicht so hier. The Hub Vienna in einem
Hinterhofhaus in der Lindengasse
Nr. 56 in Wien 7 ist eine moderne
Denkfabrik und ein Coworking-
Space. Vor allem für Menschen aus
der jahrelang bemitleideten „Generation
Praktikum“, die nicht darüber
jammern, dass die Welt so schlecht
ist, sondern lieber hart daran arbeiten
wollen, dass die Welt ein wenig besser
wird. Einige verdienen mit ihren
Projekten und Unternehmen, die von
kreativen Ideen, professionellen
Zugängen zur Arbeit und sozialem
Engagement getragenen sind, auch
schon gutes Geld!
MAN FEUERT SICH
GEGENSEITIG AN
Gegen 9 Uhr werden auf den selbst
gebauten Tischen die ersten Mac-
Books aufgeklappt. Auch am Beginn
des vierten Jahres will das emsige
Tippen auf den schwarzen Plastiktasten
nicht verstummen.
„The Hub ist ein inzwischen weltweit
verbreitetes Netzwerk, das ursprünglich
in London entwickelt wurde“, verrät
Lena Robinson am Eingang zum
ebenso klug wie stilsicher eingerichteten
Wiener Umschlagplatz für
nachhaltiges, sozial- und umweltverträgliches
Wirtschaften.
Mister Jonathan Robinson, nicht verwandt
mit der Wiener Frau Robinson,
hat es im Jahr 2005 gegründet. Der
englische Anthropologe wollte nicht
länger hinnehmen, dass die Kreativen
in London in ihren Schlafzimmern und
Werkstätten vor sich hinwerken, ohne
sich gegenseitig anzufeuern, immer
hart am Abgrund zum Prekariat. So
eröffnete er mit Mitstreitern und
Freunden die erste Schnittstelle für
so genannte Social Entrepreneurs.
Per Defi nition sind das Selbstständige,
die innovative unternehmerische
Lösungen für drängende soziale
Probleme fi nden und umsetzen.
The Hub Vienna wurde Anfang 2010
eröffnet. Damals als Nr. 15 in der
langen Hub-Kette. Heute gibt es
bereits 37 Schnittstellen – von
Sao Paolo über London und Wien bis
Shanghai. In der Wiener Filiale sind
knapp 300 Mitglieder registriert. Das
Spektrum reicht hier von Industriedesignern
über Improvisationskünstler
bis zu ehemaligen Geschäftsführern
in Konzernen und Bankern, für die
Geld nicht alles ist. Sie alle eint die
Überzeugung, dass man als Mensch
gut leben und Geld verdienen kann,
auch wenn man das Gemeinwohl im
Fokus hat.
DREI MÜNZEN GEGEN
DIE SCHULDENFALLE
Auch die Namensvetterin des Londoner
Hub-Gründers, Lena Robinson,
hat Anthropologie studiert. Und auch
sie will mit ihrer Arbeit gesellschaftlich
etwas bewegen. Die 26-jährige
Grazerin hat zuvor erfolgreich im Tourismus-Marketing
und im Kultur-Management
gearbeitet. Im Hub Vienna,
das auf insgesamt 400 Quadratmetern
ausreichend Platz für individuelle
Entfaltung und gemeinsame Gestaltung
lässt, ist sie für die Pressearbeit
zuständig.
Darüber hinaus engagiert sich Robinson
für die „Three Coins“ GmbH.
Social Entrepreneurship
Social Entrepreneurs lösen drängende soziale und ökologische Probleme
mittels marktwirtschaftlicher Mechanismen. Eines ihrer großen
internationalen Vorbilder ist Muhammad Yunus, Friedensnobelpreisträger
und Gründer der Grameen Bank. Die „Bank für die Armen“
vergibt Mikrokredite an Menschen ohne Einkommenssicherheiten.
Nur durch die soziale Kontrolle in der Community wird eine Rückzahlungsquote
von 97 % erreicht.
Im Unterschied zu NGOs erwirtschaften Social Entrepreneurs das
Geld zum Betrieb ihrer Unternehmen selbst. Gewinne werden häufi g
ins Unternehmen reinvestiert. Die Wurzeln von Social Entrepreneurship
reichen weit in die Geschichte zurück. Mittlerweile ist daraus
eine weltweite Bewegung mit vielen Initiativen, großem Zulauf von
jungen Unternehmern sowie einer Ausstrahlung bis in etablierte, gewinnorientierte
Unternehmen entstanden.
Leidenschaft
5
Der Hub Vienna ist der größte
Knotenpunkt für Social Entrepreneurs
in Österreich und Teil eines globalen
Netzwerkes mit mehr als 5000 Mitgliedern.
Wiener Zentrum für Social Entrepreneurs:
www.vienna.the-hub.net
Spielend den Umgang mit Geld lernen:
www.threecoins.org
Dekorationen aus der Wiener Papierstadt:
www.papertown.at
Foto: © Karin Feitzinger
Moderne Kultur in der Lichtfabrik:
www.dielichtfabrik.at
Best of CEE Start-ups:
www.inventures.eu
Design zum An- und Begreifen:
www.taliaysebastian.com
Die Idee dafür kam von einer Juristin
und einem Game-Designer. So unterschiedlich
ihr Beruf, so eindeutig ihre
Geschäftsidee. Robinson: „Wir entwickeln
ein Online-Spiel, das 14- bis
19-Jährigen den Umgang mit Geld
näher bringen soll, ausgehend von
der Beobachtung, dass bei immer
mehr jungen Menschen allzu schnell
die Schuldenfalle zuschnappt.“
PAPIERSTADT UND
LICHTFABRIK
Am Nebentisch arbeitet Erika
Büttner an sehr Konkretem. Mit dem
Architek ten Philipp Blume, einem
Konstrukteur und einem Licht- und
Mediendesigner hat sie den Beweis
erbracht, dass Papier viel mehr sein
kann als nur geduldig.
In ihrem Design-Studio „papertown“
auf dem Sparkassenplatz in Wien 15
wird Karton als Alternative zu Kunststoff
verwendet. Vor allem zur Gestaltung
und Dekoration von Messeständen,
Bühnen und Einrichtungsgegenständen.
„Wir sind erst seit einem
dreiviertel Jahr als Firma aktiv, und
können uns nicht über zu wenig
Nachfrage beklagen“, freut sich
Büttner. Im Gegenteil. Und damit ihr
Leben ausreichend spannend bleibt,
will die Projektentwicklerin, die in ihren
ersten 28 Lebensjahren schon erstaunlich
viel von der Welt gesehen
hat, nebenbei die „Lichtfabrik“ im
Wiener Kulturgefüge etablieren: „Als
ein Kulturzentrum, das noch wenig
bekannten Künstlern eine Bühne
bieten soll.“
AUSSERGEWÖHNLICHE
IDEEN WERDEN NICHT
BELÄCHELT
Am Hub schätzt Büttner die familiäre
Atmosphäre und die Möglichkeit, inspirierende
Menschen kennen zu lernen:
„Wenn man hier eine außergewöhnliche
Idee vorstellt, wird man
nicht belächelt, sondern beraten, wie
man sie am besten umsetzen könnte.“
Die Atmosphäre im Hub wirkt angenehm,
entspannt. Auf dem Tresen der
Bar in der Mitte, die signalisiert, dass
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der Mensch nicht nur zum Computerarbeiten
gemacht wurde (sondern
auch zum Netzwerken), stehen Kaffee
und Kuchen. Dessen ungeachtet
geht es an jedem der Tische, an denen
geschrieben, kalkuliert, diskutiert
und nachgedacht wird, um sehr viel.
Nicht zuletzt um die Etablierung neuer
Firmen und die fi nanzielle Grundlage
deren Mitarbeiter.
Auch Claudia Käfer hat noch einige
Hürden aus dem Weg zu räumen. Im
Moment arbeitet die 29-jährige Betriebswirtin
und Soziologin an der Dekoration
und Ausstattung eines neuen
Hub-Portals im Internet. Dieses Schaufenster
für Interessierte trägt den Namen
„Inventures“ und wird von Social
Entrepreneurs für Social Entrepreneurs
gestaltet. Vorgestellt und damit
auch unterstützt werden viel versprechende
Start-up-Projekte.
WESTEN WAR
GESTERN
Interessant ist dabei auch die Blickrichtung.
„Westen war gestern“,
sagt Käfer. Die Zukunft liegt auch
für hiesige Kreative in den viel zitierten
Ländern Mittel- und Osteuropas.
Derzeit fi nanziert sich das Inventures-
Portal, wie auch eine Reihe anderer
Projekte im Hub, durch eine Förderung
des Austria Wirtschaftsservice,
kurz AWS, einer Einrichtung des
österreichischen Wirtschaftsministeriums.
Künftig will Käfer möglichst
ohne Förderung auskommen. Dabei
strebt sie ein Modell an, in dem die
bereits Arrivierten den Gründern
Starthilfe geben und so möglicherweise
neue Partner fi nden.
The Hub als modernes Haus der
Begegnung ist auch eine Meisterleistung
der Technik und Architektur. Es
gibt kleine Telefonzellen, in denen
man in Ruhe wichtige Gespräche
führen kann; es gibt Ruhezonen zum
Arbeiten ebenso wie zum Ausruhen,
einen Seminarraum und ein größeres
Atrium, das für Veranstaltungen gebucht
werden kann. Der offene Raum
ist multifunktional und mit wenigen
Handgriffen veränderbar.
Talia Radford betritt soeben das Hub.
Sie sagt, dass sie gerne hierher kommt.
Auch, weil man neben gleichgesinnten
Geschäftspartnern auch neue
Freunde und Bekannte kennen lernen
kann. Das fi nanztechnische Know-how
anderer Hubianer hat ihr schon bisher
beim Aufbau ihrer Firma geholfen.
„Und das möchte ich auch weiterhin
nicht missen.“ Die 30-jährige Spanierin,
die in Mallorca geboren wurde
und in England zur Schule gegangen
ist, sagt offen: „Ich habe Design studiert,
nicht Business. Die Workshops
für Start-up-Unternehmen waren daher
für mich sehr hilfreich.“
Radford ist Mitbegründerin des Industrial
Design-Studios „taliaYsebastian“,
das sich auf die Entwicklung von
ausgeklügelten Design-Konzepten
spezialisiert hat, um neue Umwelt
schonende und sozial verträgliche
Technologien einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich und besser verständlich
zu machen.
LERNPROGRAMME FÜR
DIE ECHTE UMSETZUNG
VON IDEEN
Dass Hub-Mitglieder keine Träumer
sind, sondern Profi s in ihrem Metier,
zeigt auch die Tatsache, dass ein
namhafter Konzern wie Osram, der
eine neue Generation von LED-Lampen
entwickelt hat und diese in zwei
Jahren auf den Markt bringen möchte,
auf die Dienste des Ein-Frau-Unternehmens
baut. Radford erklärt ihren
Auftrag: „Um Vertrauen in die
neue Technologie zu gewinnen, bedarf
es auch einer speziellen Haptik
und Didaktik, die den Menschen das
neue, weniger Energie verbrauchende
Licht-Konzept näher bringen soll.“
Wer meint, dass es nach den spannenden
Begegnungen mit Menschen, die
viel positive Energie ausstrahlen, nicht
mehr besser kommen kann, hat die
Rechnung ohne die Bankerin Alexis
Eremia gemacht. Eremia ist ein wahres
Energiebündel, lacht gerne, wirkt dabei
hoch konzentriert, ist eine Managerin,
die naturgemäß auch die schwarzen
Zahlen auf dem Papier im Auge hat,
aber weit mehr als nur die Zahlen.
Gemeinsam mit den beiden Jungunternehmern
Matthias Reisinger und
Hinnerk Hansen hat sie vor drei Jahren
The Hub Vienna gegründet. Und damit
wohl auch ein neues Kapitel in
der österreichischen Wirtschaftsgeschichte
eröffnet. Denn in der Tradition
der hiesigen Sozialpartner gab
es bisher nur das Lager-Denken:
Hier die Eigentümer der Produktionsmittel,
dort die Umwelt- und Arbeitnehmerschützer.
Hier Wirtschafts-,
dort Arbeiterkammer.
„Ich habe in Bukarest Finanzwirtschaft
studiert“, erzählt Eremia. „Ich habe
dann auch in Wien in einer Bank gearbeitet.
“ Um als Bankerin nicht ihre
Ideale verraten zu müssen, habe sie
sich immer eine Hintertür offen gehalten.
„So kam es auch zur Hub-
Gründung.“
Dort ist nicht nur ihre gute Laune
ansteckend, sie hilft auch den neuen
Mitgliedern, Fuß zu fassen. Vor allem
solchen, die eine gute Idee, aber keinen
Businessplan haben. Speziell
für sie hat sie eine ganze Reihe von
Lernprogrammen entwickelt. Diese
reichen von Workshops über spezielle
Coachings bis hin zu Networking-
Veranstaltungen.
JEDER SCHULE IHREN
ENTREPRENEURSHIP
HUB
Menschen wie Alexis Eremia machen
sich naturgemäß auch Gedanken
über die Zukunft: Schon bald wird es
im offenen Raum in der Lindengasse
zu eng werden. The Hub Vienna expandiert,
weiterhin rasant. „Wir werden
spätestens in einem Jahr einen
größeren Raum benötigen.“ Und in
Zukunft? Die Vordenkerin lächelt, dabei
ist es ihr durchaus ernst: „Da wird
es ohne Social Entrepreneurs in der
Wirtschaft einfach nicht mehr gehen.
Daher wünsche ich mir auch, dass es
in Zukunft in jeder Schule des Landes
eine Art Mini-Hub geben wird.“
Leidenschaft
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Foto: © Karin Feitzinger, Illustration: Barbara Wais
Erhofft und
doch verbannt
SIE PACKT UNS, FESSELT UNS, VERÄNDERT UNS.
SIE HAT REVOLUTIONEN AUSGELÖST UND GESELLSCHAFTEN VERÄNDERT.
DOCH WARUM BLENDEN WIR LEIDENSCHAFT IM ALLTAG LIEBER AUS?
Von Daniela Müller
Leidenschaft. Die österreichische Tagespresse
ist voll davon. Sie berichtet
über die niederländische Königin
Beatrix, die sich im Ruhestand ihrer
Leidenschaft, der Bildhauerei, widmen
wird, über den leidenschaftlichen
Erneuerer populärer Filmgenres, den
Regisseur Quentin Tarantino, oder
über den Fußballklub Rapid, der seine
Leidenschaft wiederentdeckt haben
soll. Es wird geklagt, dass der Ausbau
technischer Universitätsbereiche mit
zu wenig Strategie und Leidenschaft
betrieben werde, und der polnische
Bischof Tadeusz Pieronek betont, dass
keine Macht den Menschen von dem
abhalte, wozu ihn die Leidenschaften
trieben. Ja, wozu? Was steckt dahinter,
was ist das genau, Leidenschaft?
VORAUSSETZUNG IST,
DASS MAN SICH
ANGENOMMEN FÜHLT
Unter Leidenschaft wird vieles subsummiert.
Richtige Leidenschaft ergreift
uns, lässt uns nicht mehr los.
Leidenschaft kann aber auch als
Ersatzhandlung in Erscheinung treten.
Sie wird oft vorgetäuscht, wenn
Menschen bluffen, um mit gespieltem
Höchsteinsatz andere von ihrer Meinung
zu überzeugen.
Damit richtige Leidenschaft entstehen
kann, braucht es laut Hirnforscher
Gerald Hüther ein Grundvertrauen,
dass man sich so, wie man ist, angenommen
fühlt. In der Hirnforschung
wird dieser Zustand als Kohärenz bezeichnet,
wenn kein Widerspruch ist
zwischen dem, was ist und dem, was
man möchte. Doch diese Kohärenz,
das Gefühl, dazuzugehören, fehlt vielen
Menschen. Sie machen sich taub
gegen diesen Schmerz und spüren
sich nicht mehr. Zivilisationskrankheiten
wie Magengeschwüre, Bluthochdruck
oder Haltungsschäden
sind Spätfolgen dieser verloren gegangenen
Sensibilität. Oder sie suchen sich
Ersatzhandlungen, die getarnt als
Leidenschaft auftauchen. Das kann
eine Sammelleidenschaft sein, ein
Faible für teure Uhren oder schnelle
Autos oder wenn Menschen die Karriereleiter
hochklettern, um sich so
Gehör und Ansehen zu verschaffen.
Diese Menschen werden zwar selten
froh, erklärt Hüther, sind meist aber
zumindest einigermaßen zufrieden.
Jedenfalls so lange, bis das vermeintliche
Glück der Ersatzhandlung zerbricht.
Etwa wenn es karrieremäßig
nicht mehr weiter geht oder eine
Sammelleidenschaft durch richtige
Leidenschaft ersetzt wird, wenn der
Sammler seinen Seelenpartner findet.
Wobei: Das Hirn kann nicht unterscheiden,
ob es sich um wahre Leidenschaft
handelt oder nur um eine Ersatzhandlung.
EMOTION IST EINE
BEDROHUNG
Leidenschaft zeigt sich also in vielen
Gesichtern. Wirkliche Leidenschaft
treibt uns an, kann aber auch negativ
sein, wenn sie sich in Hass ausdrückt.
Sie steckt hinter religiöser oder politischer
Begeisterung und bringt uns
dazu, trotz Gegenwinds unsere Ziele
zu verfolgen. Leidenschaft ist auch
eine zentrale Triebfeder, damit in der
Zivilgesellschaft Wandlungen stattfinden
können – sei es die Französische
Revolution oder der Arabische Frühling.
Nur: So richtig offen ist unsere
Gesellschaft für Leidenschaft immer
noch nicht. Emotion wird durch die
gesamte Geschichte der Philosophie,
und auch noch heute, als Gegensatz
zum Verstand gesehen. „Gefahr“ gehe
vom leidenschaftlichen Menschen
in sofern aus, weil er für die anderen
Mitglieder einer Gesellschaft weniger
berechen- und steuerbar sei, sagt die
deutsche Philosophin Eva-Maria
Engelen.
Leidenschaft
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Foto: © www.publicdomainpictures.net, Illustration: Barbara Wais
Nur Mut zur Ermutigung: Hirnforscher Hüther rät dazu, die Ideen und Träume der Kinder ernst zu nehmen und nicht schon an
der Wurzel als Leichtsinn abzukanzeln. Das Resultat wäre, dass mehr Menschen ihre Ideen ohne Scheu umsetzen würden.
Damit könnte sich die Gesellschaft ingesamt schneller weiterentwickeln.
Über die Kraft der Leidenschaft
dachte schon Aristoteles nach: Von
einer Herrschaftselite aus gleichberechtigten
Männern sollten nur die
tugendhaften regieren dürfen, die
über die nötige Selbstbeherrschung
verfügen. Diese sei Ausdruck von
„geschulten Emotionen“. Wer etwa
schamhaft sei, zeige, dass er über
Bewusstsein für Gesetze und deren
Übertretung verfüge.
In der modernen Philosophie hat
sich der gesellschaftliche Zugang zu
Leidenschaft zwar verändert, mehr
Platz hat sie aber nicht. „Heute wird
vieles, was mit Emotionen zu tun hat,
moralisierend betrachtet. Kinder dürfen
zum Beispiel nicht mehr bockig
sein. Haut eines um sich, ist es gleich
ein Schlägertyp“, sagt Engelen. In
der Arbeitswelt würden Sprache und
Handeln immer mehr entemotionalisiert.
Ein Beispiel: Obwohl man den
Arbeitsauftrag des Vorgesetzten gern
als „Schwachsinn“ bezeichnen würde,
kontert man mit einem diplomatischen
Standardsatz wie „Glauben Sie, dass
wir so zum Ziel kommen?“ – und
macht, was verlangt wird. Man passt
sich eben an.
Ein Grund dafür ist die Macht der
Leidenschaft: Leidenschaftliche Menschen
haben bestimmte Vorstellungen
oder Wünsche und sind getrieben
vom Drang nach Wunscherfüllung.
ZÜGELUNG UND
GEFÜHLSKONTROLLE
FÜR SOZIALE ORDNUNG
Siegmund Freud konstatierte, dass
Leidenschaft von Trieben gespeist ist,
die tief in uns schlummern. Leidenschaftlich
ist, wer sich dem hingibt,
für das er brennt, auch wenn das Ziel
noch weit entfernt ist und ein Scheitern
möglich ist. Von Freud wissen
wir auch, dass das Triebhafte in unserer
Gesellschaft negativ konnotiert
ist. Deshalb erlauben wir der Leidenschaft
nur unter bestimmten Rahmenbedingungen
volle Entfaltung.
Die Zügelung äußere sich gewöhnlich
durch Gefühlskontrolle und diene
der Beibehaltung sozialer Ordnung,
sagt die Sozialanthropologin Herta
Nöbauer und nennt das Beispiel Ehe:
Damit das eheliche Band bestehen
kann, muss Leidenschaft immer wieder
domestiziert und in andere Bereiche
verschoben werden. Während zu
frühgeschichtlichen Zeiten die Ehe
zur Zügelung von Promiskuität, also
dem sexuellen Kontakt mit mehreren
Partnern gleichzeitig, diene, wird
heute ein Zuviel an sexueller Leidenschaft
von der Ehe in die Sexindustrie
ausgelagert. Aber auch beim Sport
geht es um das Ausleben der „triebhaften“
Leidenschaft, allerdings in
WIRTSCHAFT IST
NICHTS RATIONALES
einem klar definiertem Rahmen.
Nicht nur bei menschlichen Beziehungen
spielt die Leidenschaft eine
Rolle, sondern auch in der Wirtschaft.
Nach Adam Smith wird diese nicht
von der Ratio, sondern von Passion
angetrieben. Samt der Schattenseiten,
etwa wenn die Gier zuschlägt, weil
Menschen und ihre Finanzprodukte
nicht mehr kontrolliert werden können
und Teile der Wirtschaft so in
den Abgrund fahren. Gerade die
Wirtschaft sei ein Bereich, wo viele
Bluffer unterwegs seien, betont Bärbel
Schwertfeger, Chefredakteurin des
Magazins „Wirtschaftspsychologie“.
„Wie der Banker, dem soziale Verantwortung
plötzlich ein Anliegen ist,
10
Leidenschaft ist uns in die Wiege gelegt. Der Säugling
kommt mit Offenheit und Vertrauen zur Welt, dass
er so, wie er ist, richtig ist. Kohärenz nennt die Hirnforschung
diesen Zustand, wenn kein Widerspruch
ist zwischen dem, was ist und dem, was man möchte.
In der Welt der Erwachsenen sind dies jene seltenen
Glücksmomente, die leidenschaftliche Menschen erleben,
erklärt der Hirnforscher Gerald Hüther. Fällt
ein Mensch hingegen aus der Verbundenheit heraus,
wird im Cortex (Hirnrinde) der Bereich aktiviert, der
auch für körperliche Schmerzen zuständig ist.
Gerald Hüther:
www.kulturwandel.org
www.lernwelt.at
www.sinn-stiftung.eu
Eva-Maria Engelen:
http://www.uni-konstanz.de
Herta Nöbauer:
http://www.univie.ac.at/ksa/html/inh/pers/
lekt/noeb.htm
Foto: © Franziska Hüther
wohlwissend, dass er es nur auf seine
Boni abgesehen hat.“ Wirkliche
Leidenschaft hingegen zeige sich
durch innere Überzeugung der Protagonisten
und sei stets authentisch,
allerdings nicht unbedingt strategisch
oder diplomatisch, weiß Schwertfeger.
„Dabei besteht immer die Gefahr, dass
man sich verrennt. Etwa jene, die aus
Leidenschaft missionieren und nicht
akzeptieren, dass andere Personen
Dinge anders sehen.“ Oder dass man
selbst aus- oder verbrennt.
Grundsätzlich ist Schwertfeger der
Meinung, dass in unserer Gesellschaft
eher die angepassten Menschen dominieren.
Schwertfegers Credo: „Jeder
sollte sich fragen, was er wirklich
gern machen würde.“
SCHULEN TREIBEN
LEIDENSCHAFT AUS
„Das Grundvertrauen, die Basis für
Leidenschaft, gerät spätestens dann
ins Wanken, wenn das Kind zur
Schule kommt“, erzählt Hirnforscher
Gerald Hüther. Unser Schulsystem
erziehe, belehre, und selektiere mit
dem Ergebnis, dass am Ende der
Volksschule viele Kinder krank seien:
ADHS (ein Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätssyndrom), Adipositas,
Diabetes, Haltungsschäden. Für den
Hirnforscher Hüther ist das Schlimmste,
was in der Schule passieren kann,
wenn die Schüler dort ihre Leidenschaft
am eigenen Entdecken und Gestalten
verlieren und nur noch mit Leidenschaft
um gute Zensu ren kämpfen,
geleitet von den Kriterien „Strafe vermeiden“
oder „Belohnung“. Seine Lösung:
Ein Schulsystem, das nicht auf
Auswendiglernen basiere, sondern wo
die Schüler in Teams ihre Aufgabenbereiche
eigenständig und mit Freude
erarbeiten. Dazu bräuchte es aber eine
völlig neue Beziehungskultur. Keine
Einzelkämpfer, sondern Teamworker,
die begreifen, dass man nur gemeinsam
etwas erreichen kann.
Nur: Von oben lasse sich kein Kulturwandel
anordnen, das sei ein langfristiger
Transformationsprozess, der
durch einen „Wust an Regulatorien“
und die vorhandenen Verwaltungsstrukturen
systematisch aufgehalten
werde. Dabei wäre es höchste Zeit, das
zu ändern, fordert Hüther. Bereits
heute suchten die Universitäten keine
„funktionierenden“ jungen Leute
mehr, und Firmen bräuchten Menschen,
die Lust hätten, sich einzubringen,
Leute mit Teamfähigkeit, Kompetenz
und Einfühlungsvermögen.
Menschen, die erfahren hätten, wie
es ist, ihr Leben selbst gestalten zu
können.
UNKONVENTIONELLE
WEGE STATT ANPASSUNG
Würden Menschen nicht primär versuchen,
sich an die gegenwärtig herrschenden
Erfordernisse anzupassen,
sondern sich leidenschaftlicher dem
hinzugeben, was sie tun wollen, würde
das nicht nur mehr innovative Tüftler
und Erfinder hervorbringen, sondern
alle Lebensbereiche vorantreiben, ist
Hirnforscher Hüther überzeugt. Er berät
nicht nur in Sachen Bildung, sondern
unterstützt auch Unternehmen, unkonventionellere
und kreativere Wege zu
gehen. Etwa die Bremer Kammerphilharmonie,
die ohne Dirigent auskommt,
weil den Musikern das gemeinsame Erarbeiten
der Stücke wichtig ist. Deren
39 Mitglieder führen die Philharmonie
wie ein Unternehmen und haften mit
ihren Privatvermögen. Mit dem Ergebnis,
dass das Orchester mit nur einem
Drittel der Subventionen auskommt.
Die Musiker mischen auch beim Nachwuchs
mit. Jedes Orchestermit glied
investiert mindestens zehn Prozent
seiner Arbeit in Kinder, um das Veränderungspotenzial,
das in klassischer
Musik liegt, an die nächste Generation
weiterzugeben. Die Schüler sitzen dann
mucksmäuschenstill zwischen den Orchestermitgliedern
auf der Probebühne
und lassen sich von der Konzentration
der Künstler anstecken.
Leidenschaft
11
USERSTORY
Leben was man liebt,
lieben was man tut
Fotos: © Uwe Mauch
DREI MENSCHEN, DIE FÜR IHRE ARBEIT UND FÜR IHRE IDEEN BRENNEN.
Von Uwe Mauch
ÜBER DIE SANFTE
MOBILITÄT DES BAUCHES
Ein kleines Tanzstudio in einer Nebengasse der Ottakringer
Straße in Wien. Orientalische Musik aus dem Lautsprecher.
MARIANNE GRUBER, gestandene Geschäftsfrau aus dem
Waldviertel mit viel Bauchgefühl, legt sofort los.
Schon wischt sie leicht bekleidet und leichtfüßig über das
Parkett. Mit anmutigen Handbewegungen führt die Tänzerin
ihren Schleier, rollt mit den Augen und dazu über die Fußballen,
ehe sich langsam ihre Hüften zu drehen beginnen.
Abseits der Schönheitsideale stellt Gruber etliche Klischees
auf den Kopf. Weil sie die Vorbehalte kennt, zitiert die 56-Jährige
ihren ägyptischen Tanzlehrer: „Erst eine voll erblühte Rose
entfaltet ihren vollen Duft.“
Mit dem Bauchtanz hat sie vor bald zwanzig Jahren begonnen,
ursprünglich, um ihre Kreuzschmerzen zu lindern. Aus
der hilfreichen Therapie wurde bald eine Leidenschaft.
Und aus der Leidenschaft ein Business: Belissimas Orientpalast
– so nennt sie ihr Geschäft an der Ottakringer Straße.
Eine Straße, in der das Gros der Geschäftsleute einen multikulturellen
Hintergrund hat und in der eine Waldviertlerin Seltenheitswert
genießt. Ohne die sanfte Mobilität will sie heute
nicht mehr leben: „Das Tanzen tut mir einfach gut, seelisch
und körperlich.“ Zum Takt der Musik holt sie weiter aus:
„Man kann dabei die Weiblichkeit spüren, die ja in einer
männerdominierten Welt völlig unterdrückt wird.“
Zwei, drei Mal pro Jahr geht Frau Gruber auf Reisen. In den
Orient. Sie vertraut nämlich auf das Geschick der Näherinnen
am Stadtrand von Kairo. Wo die Straßen keine Namen haben.
Wo sie im Kopftuch vorfährt, immer mit schützendem
Begleiter. Egal ob Ottakringer Straße oder Orient, Marianne
Gruber ist heute in beiden Welten zu Hause. Ihr Bauchgefühl
hat auch ihren Horizont erweitert.
www.orientpalast.at
12
ÜBER DEN KREATIVEN AKT
DES FEDERFÜHRENS
Langsam, leise, elegant, eigenwillig schwingt seine Feder
über das Papier. Für ROMAN STEINER ist das Bewegen
der Füllfeder elementarer Teil eines spannenden Kreativ-
Prozesses. Steiner ist ein gut gebuchter Marken-Designer
mit einem Faible für das Schöne. Für den REWE-Konzern hat
er einst die Eigenmarke „clever“ entwickelt, für den Österreichischen
Fußballbund lieferte seine Firma das Corporate
Design.
Alles spannend. Doch seine Augen beginnen zu funkeln,
wenn er über seine Füllfedern spricht. Und ja, es sind seine
Füllfedern! Vor zwei Jahren hat er die erste Füllfeder mit dem
eingetragenen Markennamen „Gusswerk“ verkauft. Er hat
für die Entwicklung dieser edlen und dennoch leistbaren
Schreibgeräte viel Geld in die Hand genommen. Noch
schreibt er damit keine Gewinne. Doch in einer Zeit, in der
man sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren beginnt,
da arbeitet die Zeit auch für ihn.
„Das ist für mich eine tiefe Leidenschaft“, sagt der 42-jährige
Marken-Designer. „Mit zwölf habe ich von meinem Vater einen
Pierre-Cardin-Füller geschenkt bekommen. Der war
blau und gold und nicht unbedingt schön. Ich habe ihn dennoch
in der Schule verwendet, wohl auch, um mich damit
von den anderen in der Klasse abzuheben.“
Heute trägt er neben iPad und iPhone immer auch ein Moleskine-Tagebuch
und eine Füllfeder mit sich, um damit
fl üchtige Gedanken, Ideen, Entwürfe und auch konkrete Arbeitsschritte
festzuhalten.
„Ich schreibe anders“, erläutert der Entwickler von Marken,
„wenn ich mit der Hand schreibe“. Er hat sich dabei auch
selbst beobachtet: „Durch die Langsamkeit des Notierens
bekommen meine Gedanken mehr Zeit, um sich auszuformen.
Von Hand geschrieben sind die Gedanken oft noch
nicht so konkret. Da bleibt für mich noch mehr Raum für
Krea tivität.“
Und noch eines: „Wenn ich meine Feder führe, fühlt sich jeder
Buchstabe anders an. Auf der Tastatur meines Computers
hingegen, da sind alle Buchstaben gleich.“
www.originalgusswerk.com
ÜBER ALLERLEI ENTDECKUNGEN
IN FERNEN WELTEN
Fragt man die international anerkannte Pollenforscherin
MARTINA WEBER, die an der Universität Wien forscht und
lehrt, wohin die nächste Reise gehen soll, antwortet sie immer
mit dem selben Satz: „Das kann ich ganz genau sagen!“
Die Vielfl iegerin sammelt Bonuspunkte für Flugmeilen so
wie andere Vergünstigungen bei den ÖBB oder im Supermarkt
ihres Vertrauens. Dabei reist sie nie in Gruppen, und
nie gestresst. Davon zeugen unzählige Foto-Alben, die veranschaulichen,
dass die Welt nicht nur in 3sat-Dokumentationen
wunderschön sein kann.
Die Weltgewandte forscht aber auch begeistert und begeisternd
im Minimalbereich des Lebens. Dort fand sie heraus,
wie Spermazellen in einem Pollenkorn entstehen. Komplex –
ihre Doktorarbeit. Mehr noch – ihr Lebenswerk.
Das Innenleben des Pollens ist für sie auch eine Welt für
sich: „Faszinierend, wie alles zusammenpasst. Jede Zelle
funktioniert wie eine moderne Fabrikshalle. In einem Teil
wird etwas produziert, an einer anderen Stelle wird es verpackt,
und am Ende wird es an die Oberfl äche zum Abtransport
gebracht.“
Und doch kommt das Gespräch bald wieder auf die große
Welt zurück. Denn es gibt auch auf Martina Webers Erdball
noch weiße Flecken, die sie noch nicht erforscht hat. Ihre
Augen leuchten: „Mich interessiert in erster Linie das Andere.
Nepal und Tibet, da will ich unbedingt noch hin. Und seit ich
auf der Osterinsel war, muss ich auch noch zur Weihnachtsinsel.“
Ihre nächste Reise geht Ende August nach Spitzbergen,
Grönland und Island, dieses Mal mit dem Schiff. Damit steht
auch schon der Resturlaub am Ende des Jahres fest. So wie
fast immer: „Null.“
www.botanik.univie.ac.at/sfb/
Leidenschaft
13
Die
rastlose
Weltfamilie
Fotomontage: © Barbara Wais
14
SICH ONLINE UND ANONYM VERLIEBEN, EINE PARTNERSCHAFT
MIT ZWEI WOHNSITZEN IN UNTERSCHIEDLICHEN STÄDTEN FÜHREN:
DISTANZ MUSS DER LIEBE KEINEN ABBRUCH TUN.
IN EINER GLOBALISIERTEN WELT VERÄNDERN SICH FAMILIEN
UND MÜSSEN DAHER NEU DEFINIERT WERDEN. Von Julia Schilly
„Was kommt nach der Familie?“, fragte
die Wissenschafterin Elisabeth Beck-
Gernsheim bereits 1998 im gleichnamigen
Buch. Darin stellte sie die
These auf, dass sich die Familie immer
mehr zu einem widersprüchlichen
Modell zwischen traditionellen
Sehnsüchten und neuen Herausforderungen
entwickelt. Denn vor allem
die neuen Jobchancen der globalisierten
Welt schaffen neben der
klassischen Form der Familie, die
am gleichen Ort lebt, immer mehr
verstreute Strukturen. Von manchen
wird dieser Zustand erhofft, von anderen
erlitten. Mit welchen Strategien
überleben also diese neuen Beziehungen,
ja sogar Liebe auf Distanz?
„WIR WAREN NIE
LÄNGER ALS
14 TAGE GETRENNT“
Beck-Gernsheim spricht aus eigener
Erfahrung, da sie und ihr Mann, der
ebenso bekannte Soziologe Ulrich
Beck, seit Jahren an unterschiedlichen
Orten arbeiten: Sie unterrichtet
an der Universität in Trondheim in
Norwegen, er pendelt nach London,
beide leben in München. Beck-
Gernsheim nennt die wichtigste persönliche
Grundregel für ihre Fernbeziehung:
„Wir waren nie länger als
14 Tage getrennt.“ Ihr Modell kann
jedoch nicht von allen Paaren angewendet
werden. Für Wissenschafter
und ohne Kinder sei es einfacher,
sich die Zeit frei einzuteilen: „Wir packen
so viel Arbeit wie möglich in den
Zeitraum, in dem wir uns nicht sehen,
damit wir dann ein paar Tage völlig
frei haben.“
In ihrem jüngsten Buch „Fernliebe“
hat das Ehepaar Beck nun seine
Untersuchungen zu Liebe und Beziehungen
weitergesponnen und
verschiedene Modelle von Fernbeziehungen,
deren Stolperfallen und
Chancen beleuchtet. Interessant ist,
dass Beck-Gernsheim eine Fernbeziehung
nicht nur pessimistisch sieht:
Durch sie entstünden neue Anregungen.
Der größte Feind der Liebe sei ja
bekanntlich nicht nur Distanz, sondern
auch zu viel Nähe und Routine.
JEDER VIERTE
ÖSTERREICHER
KENNT FERNLIEBE
Die Becks beweisen mit ihrer Themenwahl
ein Gespür für aktuelle
Trends: Wie Studien zeigen, gibt es
immer mehr Fernbeziehungen. Laut
Statistik Austria führten 1985 nur vier
Prozent der Menschen über 30 Jahre
eine Fernbeziehung. Aktuell hat jeder
vierte Österreicher in dieser Altersgruppe
Erfahrung damit. Vor allem
junge Akademiker sind betroffen.
Partnerbörsen im Internet schaffen
die Möglichkeit, weit entfernte Partner
kennenzulernen. Doch vor allem
der Arbeitsmarkt begünstigt diese
Entwicklung. Wer berufl ich weiterkom
men will, muss fl exibel sein.
Manchmal gehört eben auch ein
Wohnortwechsel dazu. Die gängige
Defi nition der Familie, deren Mitglieder
im selben Haushalt leben, ist damit
nicht mehr gültig.
Erleichtert wurde der Strukturwandel
der Familie und die Entstehung einer
„Fernfamilie“ von modernen Kommunikationstechnologien
wie E-Mail, Skype
und Videotelefonie. Die Großmutter
in Österreich kann dadurch bei der
Weihnachtsbescherung in Spanien
dabei sein, die Kinder zeigen ihre
ersten Schritte am Bildschirm oder
das frisch verliebte Paar schwört sich
am Abend im Chatroom die Liebe.
Doch körperliche Nähe und Geborgenheit
können dadurch nicht ersetzt
werden. Für Familien mit Kindern bedeutet
das eine noch größere Entbehrung.
„Aber wenn einmal etwas
Schlimmes passiert, ist es doch etwas
anderes, in den Arm genommen zu
werden. Daher spricht man in diesem
Zusammenhang auch von ‚sunny day
technologies‘“, sagt Beck-Gernsheim.
PHANTASIE WAR
NOCH NIE SO GEFRAGT
WIE HEUTE
Die Technologie hat aber nicht nur
das Potenzial, Beziehungen zu erhalten.
Flirten, verlieben, betrügen und
trennen: Vor allem das Internet habe
die Art, wie wir lieben, in den vergangenen
Jahren stark verändert, sagt
der israelische Emotionsforscher
Aaron Ben-Ze’ev. Der Professor der
Philosophie hat sich in seinem Buch
„In the Name of Love“ mit dem Thema
eingehend auseinandergesetzt.
Ein Aspekt dieser neuen Art der virtuellen
Liebe ist jener, dass sich Paare
online verlieben, ohne sich jemals offline
getroffen zu haben. „Unser Vorstellungsvermögen
war schon immer
ein wichtiger Teil des menschlichen
Lebens. Es war jedoch noch nie so
gefragt, wie im Cyberspace“, sagt
der Philosoph.
KÖRPERLOSES
VERLIEBEN
Zunächst sind online alle Menschen
gleich. Aussehen, Alter, Geschlecht
oder Religion sind unbekannt. Bei
persönlichen Bekanntschaften hingegen
können solche Aspekte schon in
den ersten Sekunden darüber entscheiden,
ob man ein Gespräch aufnimmt
oder zu fl irten beginnt. Wenn
online der erste Funken übergesprungen
ist, entsteht oft sehr schnell eine
Nähe. Die Distanz tut der Leidenschaft
keinen Abbruch. Im Gegenteil:
Es bestehe sogar die Möglichkeit,
dass der Austausch von Informationen
tiefer, vielseitiger und schneller
passiere, sagt Ben-Ze’ev. Denn die
Kommunikation kompensiert in diesem
Fall die körperliche Distanz.
Leidenschaft
15
Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: „Fernliebe”;
280 Seiten, Suhrkamp Verlag 2011
Aaron Ben-Ze’ev: Love online: Emotions on the
Internet. 302 Seiten; Cambridge: Cambridge
University Press. 2004
Foto: © Isolde Ohlbaum
Aaron Ben-Ze’ev, Ruhama Goussinsky: In the Name of
Love: Romantic Ideology and Its Victims. 260 Seiten;
Oxford University Press, USA. 2008
Aaron Ben-Ze’evs Blog „In the Name of Love“:
www.psychologytoday.com/blog/in-the-name-love
Philippinische Arbeitsmigrantinnen vernetzen sich
http://mmceai.blogspot.co.at
Elisabeth Beck-Gernsheim und ihr Mann Ulrick Beck prognostizierten schon 1998 den Wandel der Familie zu immer
mehr global verstreuten Teilfamilien. Heute lebt das bekannte Soziologenehepaar selbst eine Fernliebe:
Sie arbeitet in Norwegen, er in England. Diesem Lebenskonzept liegt jedoch eine freiwillige Entscheidung zugrunde.
Gleichzeitig bedeutet dies jedoch
nicht, dass die Sache mit der Liebe
einfacher wird. Es sei schwieriger geworden,
eine feste Beziehung zu erhalten.
Wir lebten in einer leistungsorientierten
Gesellschaft, sagt der
Philosoph. Im Hinterkopf hätten viele
Menschen ständig den Gedanken,
dass es jemand „Besseren“ oder eine
„bessere Beziehung“ für sie geben
könnte. Daher werde in Krisensituationen
an bestehenden Beziehungen
weniger gearbeitet. „Das hat aber
nichts mit Faulheit zu tun. Es spielt
vielmehr die Überlegung mit, wieso
hart gearbeitet werden sollte, wenn
es so viele vermeintlich angenehmere
Möglichkeiten gibt“, sagt er.
DIE EINEN WOLLEN,
DIE ANDEREN MÜSSEN:
FERNFAMILIEN AUF
ZWEI KONTINENTEN
Im Fall von Jobnomaden aus Asien,
Afrika oder Osteuropa verlangt das
Thema Fernliebe eine andere Betrachtungsweise,
betont Elisabeth
Beck-Gernsheim: Vor allem das Phänomen,
dass Frauen ihre Familien
verlassen, um in einem anderen Land
(fremde) Kinder zu betreuen oder alte
und kranke Menschen zu pfl egen,
nimmt zu. Im Unterschied zum Brain-
Drain, dem Abwandern qualifi zierter
Arbeitskräfte in reichere Länder,
spricht man hier vom Care-Drain.
So suche sich eine berufstätige Frau
in Österreich zum Beispiel die Hilfe
eines Au-pairs, „bevor sie ganz in ihrer
eigenen Arbeit und Betreuungspfl
icht der Kinder
untergeht“, sagt Beck-Gernsheim.
Die Geschichten von Arbeitsmigranten
sind sehr unterschiedlich, ein
Beispiel ist Elena Manulat, die heute
46 Jahre alt ist. Sie stammt aus
Mindanao, der südlichsten Insel der
Philippinen und ging mit 20 Jahren in
die USA. Ihre erste Tochter ließ sie
damals für die Aussicht auf ein besseres
Leben für sich und ihre Familie
zurück.
DER EXPORTSCHLAGER
DER PHILIPPINEN SIND
ARBEITSKRÄFTE
Manulat ist kein Einzelfall. Wer weggeht,
gilt auf den Philippinen als Held.
Arbeitskraft ist das wichtigste Exportgut:
Achteinhalb Millionen Menschen
arbeiten in mehr als 200 Staaten der
Welt. Täglich ziehen bis zu 4000 Philippiner
weg und suchen anderswo
ihr Glück. Dieser Schritt wird massiv
von der Regierung gefördert.
Die Geld-überweisungen der sogenannten
OFW, den „Overseas Filipino
Workers“, aus dem Ausland an ihre
Verwandten in der Heimat machen
jähr lich bis zu zwölf Prozent des
Bruttoinlandprodukts aus.
Solange die Philippinerinnen im Ausland
sind, erfolgt die Zuwendung für
ihre Familien in materieller Form –
so wie bei getrennten Familien in
den Industrieländern. Die „sunny
days technologies“ ersetzen aber
auch hier nur begrenzt die Erziehung
der Kinder oder die Partnerschaft.
FERNFAMILIE IST OFT
EIN INDIVIDUELLES
EXPERIMENT
AUF ZEIT
Die Folge auf dem asiatischen Kontinent
sind: Enttäuschungen auf beiden
Seiten. Das Geld, das im Ausland
verdient wird, sichert den
Wohlstand zu Hause nicht in dem
Maße ab wie ursprünglich erhofft.
Die Kinder und der Mann zeigen nicht
genug Dankbarkeit für die Entbehrungen
der Frau. Elena Manulat lebt
heute wieder in Mindanaos Hauptstadt
Davao City und engagiert sich
im Verein „Mindanao Migrants“. Ihr ist
wichtig, bei den betroffenen Angehörigen
Verständnis für die im Ausland
arbeitenden Familienmitglieder zu
wecken. Arbeit hat sie genug. Denn
weltweit wird die Fernfamilie in Zukunft
weiter wachsen.
Auch wenn ein Teil der Betroffenen
das Projekt Fernfamilie nach einer
bestimmten Zeit beendet und sich
entschließt, wieder an einem Ort
zusammen zu sein.
16
LAUFEN, KAUFEN, UM PUNKTE RAUFEN
BEFRAGUNG WAR GESTERN. HEUTE BEOBACHTEN UNTERNEHMEN IHRE
KUNDEN UND ERFAHREN DAMIT VIEL MEHR ÜBER SIE, ALS DIESE SELBST
VON SICH WISSEN. Von Matthias Berger
75 Prozent der Österreicher haben
zumindest eine Kundenkarte. Laut einer
Erhebung des Vereins für Konsumenteninformation
beulen durchschnittlich fünf
Plastikkarten die Geldbörsen aus.
Mehr als 20 Millionen
Kundenkarten sind in
Österreich im Umlauf,
Tendenz stark steigend.
////// PSYCHOLOGIE DES SAMMELNS ////////////////////
Der Mensch liebt es, nach Rabatten zu jagen und Punkte zu sammeln: Fünf Kundenkarten
tragen die Österreicher im Durchschnitt mit sich herum. In Deutschland sind es vier. Warum
eigentlich? Prestige spielt z.B. bei Meilensammelprogrammen eine klare Rolle. Darüber
hinaus liefert die Theorie der Behavioral Economics von Nobelpreisträger David Kahnemann
eine mögliche Erklärung: Gewinne, und sind sie noch so klein, werden vom Menschen
stärker wahrgenommen als damit verbundene Kosten (Mittragen der Kundenkarten,
zusätzlich getätigte Einkäufe). Ein Resultat dieser inneren Bewertung sind Mileage Runs:
In Onlineforen rechnen besonders leidenschaftliche Vielfl ieger aus, über welche Reise -
routen der billigste Flug mit den meisten Meilen zu holen ist. Die inbrünstige Tüftelei nimmt
mitunter Stunden und Tage in Anspruch.
KOMPLEXES EINFACH ERKLÄRT
////// LUKRATIV FÜR ANBIETER ////////////////////////////
Für die Unternehmen sind Kundenkarten pures Kalkül, aus zumindest drei Gründen. Erstens
Umsatzsteigerung: Rabatte führen dazu, dass wir größere Mengen einkaufen. Gleichzeitig
führen uns Sammelkarten an neue Produkte heran, die wir normalerweise nicht kaufen.
Die so erzielten Zusatzumsätze bei den Händlern sind beachtlich: selbst in gesättigten
Märkten oft bis zu 20 Prozent. Zweitens geht es um Kundenbindung: Kundenkarten führen
im Ideal fall zu einer größeren Treue von Kunden: Statt zu wechseln, kommen wir immer
wieder. Je besser die Datenfl ut analysiert und daher Kunden mit maßgeschneiderten Aktionen
versorgt werden können, desto besser funktioniert die Kundenbindung. Das Ziel lautet:
Massen personalisierung in der Werbung wie im Angebot. Das führt nahtlos zum dritten Vorteil:
Händler, die wissen, was die guten Kunden wann kaufen (wollen), können ihr Sortiment
so optimieren, dass sie letztlich noch einmal mehr verkaufen.
////// BIG DATA – DAS NEUE GOLD ////////////////////////
Überraschend ist, wie wenig die Datenberge, die gläserne Konsumenten bisweilen freiwillig
liefern, in der Realität ausgewertet werden: Zur Zeit kann nur ein Drittel der Daten sammelnden
Unternehmen weltweit ihre Daten nutzbringend verarbeiten. Zu diesem Schluss kam
eine Studie des IT-Unternehmens EMC in Deutschland. Unter den Vorreitern befi ndet sich
der britische Händler Tesco, dem jedes Prozent richtig ausgewerteter Daten jährlich bis zu
120 Millionen Pfund mehr hereinspült. Der große Rest ist mit der extrem komplizierten Analyse
und der Verwertung der Ergebnisse noch überfordert. Ein Beispiel aus der Praxis: Was
nützt es einem Fan von Zartbitterschokolade, wenn er einen Gutschein für Lachgummi bekommt,
nur weil die Süßwaren in der Datenanalyse noch nicht genauen Untergruppen zugeordnet
werden können? Und: Nicht alles, was technisch möglich ist, ist klar geregelt
oder erlaubt. Auch das führt dazu, dass der Goldschatz, den manche in Big Data wähnen,
nur zögerlich gehoben wird.
Illustration: Barbara Wais
In Zukunft werden die
Kundenkarten im Smartphone
gespeichert sein.
Nach einer Prognose von McKinsey wird bis 2018 der Bedarf an Big-Data-Experten die
verfügbaren Arbeitskräfte in den USA um 60 Prozent übersteigen. Dann ist maßgeschneiderte
Kundeninformation vielleicht schon ein alter Hut. Es wird neue Wege der Verhaltensbeeinfl
ussung geben: Im Geschäft wird eine automatische Koppelung zwischen Kundenkarte
und Einkaufswagen den Kunden direkt zu jenen Produkten führen, die zu ihm passen
könnten. Zusätzlich erhalten Kunden Vorschläge in Echtzeit: Hat er oder sie nur Kuchen im
Korb, aber kein Schlagobers und befi ndet sich schon bei der Kassa? Schon kommt ein Erinnerungs-SMS.
Plastikkarten an der Kasse vorzuzeigen, wird in wenigen Jahren nicht mehr
nötig sein: Dann werden Mitgliedschaften automatisch vom Smartphone abgelesen werden.
Überladene Geldbörsen, ausgebeulte Hosen – adé!
Leidenschaft
17
Leidenschaft
braucht Trott
STATT DIE ELTERLICHE BAUFIRMA ZU ÜBERNEHMEN, HAT DER GRAZER
CHRISTIAN HLADE EIN UNGEWÖHNLICHES REISEBÜRO GEGRÜNDET:
WELTWEITWANDERN (WWW) BEGLEITET SEINE GÄSTE AUF REISEN JENSEITS
DES MASSENTOURISMUS. Das Gespräch führte Daniela Müller
Sie haben Architektur studiert.
Eigentlich ein Beruf mit Potenzial zu
Leidenschaft.
Für mich nicht so ganz. Ich sollte die
Baufirma der Eltern übernehmen,
wollte aber nicht. Nach der HTL-
Matura war ich vier Monate in Indien
und Nepal und bin sterbenskrank mit
einem Virus zurückgekommen, aber
mit dem Entschluss, studieren zu wollen.
Das Architekturstudium war für
mich ein Wegbewegen vom Wunsch
der Eltern, ohne den Plan ganz wegzuwerfen,
quasi ein Abbiegen in Richtung
Freiheit.
Was ist auf der Reise passiert?
Nach dieser Reise öffnete sich etwas in
meinem Leben. Ich weiß nicht genau,
was der Auslöser war, vielleicht die
Berge, jedenfalls nichts Esoterisches.
Nepal und Indien sind so anders, es
rüttelt einen durcheinander.
Reisen macht mit Ihnen etwas?
Ich brauche die Ferne, um in der Nähe
die Dinge zu ordnen – eine weitere
Perspektive beizubehalten, um mich
in der Nähe nicht in den kleinen Details
zu verlieren. Das ist etwa, wenn
ich zu lange in den normalen Trott
eingespannt bin, aus dem ich nicht gut
herauskomme. Wenn Leidenschaft
produktiv sein will, braucht es beides.
Bergführer ohne Beziehung zum Land
sind tragische Gestalten genauso wie
die, die zu 100 Prozent im Alltag gefangen
sind. Es braucht den Trott und
das Eingebundensein in die Gesellschaft
und es braucht das Ausreißen
in die Weite.
KOMMUNIKATION
UND INFORMATION
HABEN DAS REISEN
STARK VERÄNDERT
Haben Sie eine besondere Erfahrung
mit dem Ausreißen?
Ja. Ich durchlebte vor zwei Jahren eine
Phase der Perspektiv- und Energielosigkeit
und wollte auf Weltreise gehen.
Die Firma habe ich den Mitarbeitern
übergeben, ich hatte nicht einmal
mehr eine Mailadresse. Bedenken
hatte ich wegen meiner drei Kinder.
Schließlich meinte meine Frau, „Wenn
du so rumhängst, kann ich dich hier
auch nicht brauchen.“ Ich wollte mehrere
Monate weg sein, spürte aber bald,
dass ich nicht mehr der Student mit
Rucksack bin und dass planloses Reisen
nicht mehr meins ist. Die Mitreisenden
redeten mich mit „Sie“ an! Ich
bin von dieser Reise früher zurückgekommen,
es passte einfach zu meiner
Rolle nicht mehr. Seither schaue ich,
wie ich meine verschiedenen Pole in
Balance bringen kann.
Verändert das Reisen Ihre Gäste?
Ich glaube, dass jene, die mit dem Leben
unzufrieden sind – übrigens eher
eine kleine Minderheit –, durch das
Gehen und die Natureindrücke einen
klareren Kopf bekommen. Durch das
Erleben anderer Kulturen und anderer
Möglichkeiten zu leben bekommt man
wieder einen besseren Blick auf das eigene
Leben.
Wie hat sich das Reisen in den letzten
Jahrzehnten geändert?
Sehr stark, bedingt durch die Kommunikation
und Information. Überall
gibt es Satellitenfernsehen und
arme Länder haben massiv aufgeholt.
Ich habe in Ladakh (Tibet) vor 13 Jahren
eine Schule gebaut, die fünf Tage
von der nächsten Straße entfernt war.
Heuer werde ich zum ersten Mal mit
dem Taxi zur Schule fahren können.
In den letzten Jahren hat die Mittelschicht
Südamerikas und Asiens stark
aufgeholt, Tausende brechen auf. Wir
Europäer sind nicht mehr die Könige
im weltweiten Tourismus.
18
Fotos © Christian Hlade
Global vernetzt und doch geerdet
Christian Hlade kennt die schönsten Ziele auf
der ganzen Welt. Mehrmals im Jahr geht er
für sein Unternehmen Weltweitwandern auf
Reisen.
Die Firma legt er derweil in die Hände seiner
Angestellten. Weltweitwandern bietet nicht
nur alternatives und sanftes Reisen, das Unternehmen
wurde auch vielfach für seine Mitarbeiterfreundlichkeit
ausgezeichnet.
Auch in seine Partner vor Ort investiert Hlade
viel: Sie erhalten in Österreich Sprachkurse,
lernen das Land und seine Werte kennen. Er
organisiert zudem Austauschbesuche, der
marokkanische Partner reist etwa in ein tibetisches
Kloster und umgekehrt.
Für die 20 wichtigsten Partner veranstaltet
Hlade eine Akademie zur Fortbildung und
zum interkulturellen Austausch. Davon profi -
tieren laut Hlade alle Seiten. „Das ist unser
USP.“
Welche Folgen sind hier zu erwarten?
Europa ist nicht mehr die große Nummer
als Reiseveranstalter. Dann haben
sich Länder wie Burma in Richtung
Demokratie geöffnet, innerhalb kurzer
Zeit hat sich die Touristenzahl verdreifacht.
Dort boomt es, der Bau von
Infra struktur explodiert, es ist eine
rapide, ungesteuerte Entwicklung zu
befürchten. Was sicher gefährlich für
Naturschutz oder Kulturbewahrung
ist. Aber es gibt in Burma bereits einen
starken Wunsch, die Entwicklung zu
bremsen, weil die ersten negativen
Auswirkungen durch explodierende
Grundstückspreise an den Stränden
zu sehen sind.
STATT VIELER
STÄDTEREISEN
LIEBER AB UND ZU
EINE GROSSE REISE
Und im Bereich der Reisemobilität?
Der weltweite Flugverkehr wird gewaltig
steigen, man kann aber den neuen
Reisenden die für sie erst seit Kurzem
leistbar gewordenen Flüge nicht verbieten.
Vor allem wir Europäer kommen
da in einen schweren Argumentationsnotstand.
Aber es muss Ziel sein,
den weltweiten Flugverkehr einzudämmen,
das geht meiner Ansicht nach
nur über das Einschränken der Verfügbarkeit.
Wir von Weltweitwandern
empfehlen, nicht mehrere kurze
Städte reisen pro Jahr zu machen, sondern
eher Nahurlaub und dazu einige
Male im Leben eine richtige Reise, die
den Horizont erweitert. Doch auch wir
sind in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
eingebunden. Wir hatten
eine Bulgarienreise mit Bus und Zug
im Programm, die niemand gebucht
hat. Letztlich sehe ich eine Lösung auf
der internationalen politischen Ebene
und in Form einer gewaltigen Verteuerung
des Rohstoffes Erdöl. Gerade das
Thema Flugreisen muss auf globaler
Ebene gelöst werden, „Global Warming“
betrifft uns alle.
Was macht die Sehnsucht nach den
„großen“ Reisezielen aus?
Sie sind schön. Wenn sie in Filmen
und Büchern gut beschrieben sind,
schürt das die Sehnsucht. Etwa nach
Tibet: Obwohl wir wissen, dass die
Tibeter fürchterlich unterdrückt sind,
wollen wir dort ein Paradies sehen –
das wir zwischendurch immer wieder
finden. Es ist der Wunsch nach diesen
Augenblicken. Bei der Hitparade der
Reue sind nicht gemachte Reisen auf
Platz 2. Platz eins besetzt die Liebe.
IN NEPAL LEBEN
DIE MENSCHEN
VIEL MEHR
IM AUGENBLICK
Was bremst die Leidenschaft in unserer
Gesellschaft?
Ich denke, das hängt mit Achtsamkeit
zusammen. In Nepal leben die Menschen
viel mehr im Augenblick. Sie
sehen etwas, das ihnen gefällt und
rennen dort hin. Bei uns gibt es so
etwas nicht. Menschen haben mehr
Sorgen, Probleme, beschäftigen sich
mit Zukunftsprojekten und Vergangenheitsreue.
Ein Geheimnis vom
Reisen, etwa nach Indien, ist, dass
man an die eigenen Probleme nicht
mehr denkt, weil die Probleme vor
dem Auge so schreiend sind. Wenn
ich von einer solchen Reise zurückkomme,
sehe ich daheim alles wieder
neu und lebe mehr im Augenblick.
Leidenschaft
19
Altes Blech, junge Freude
WER OLDTIMER, MOTOR- ODER FAHRRÄDER SAMMELT, SIEHT DIESE MIT
ANDEREN AUGEN. DAS FAHREN SELBST IST NUR NOCH NEBENASPEKT.
NATÜRLICH GESCHIEHT DAS ALLES NICHT ZUFÄLLIG, WIE DIE
WISSENSCHAFT WEISS. Von Martin Strubreiter
Moderne Autos sind schnell, sicher,
zuverlässig und Oldtimerfreunden zu
langweilig. Die entdecken lieber den
Charme des Langsamen, das Sinnliche
des Unperfekten, das Einzigartige der
alten Formen, und wer seinen Werkzeugkoffer
virtuos einzusetzen versteht,
ist im Vorteil. Andere renovieren Fahrräder,
die noch vor wenigen Jahren im
Sperrmüll versunken wären, bauen sie
zu Single-Speeds 1 um oder rollen auf
Porteurs-Rädern 2 in die neueste Modewelle.
Japanische Sammler hängen sich
Renn- und Reiseräder berühmter Rahmenbauer
neben edle Gemälde an die
Wand, und man erkennt: Hier agiert
reine Leidenschaft, um Mobilität alleine
geht’s längst nicht mehr.
Das gilt auch für Gerhard Würnschimmel:
„Wenn mich jemand angesichts
der restaurierungsbedürftigen
Autos fragt, wann meine Sammlung
fertig ist, dann sage ich: Sie ist schon
fertig, und wenn ich in einigen Monaten
ein weiteres Auto fahrbereit habe,
dann ist sie eben anders fertig.“
„MEINE WELLNESS-
OASE IST ETWAS
STAUBIG“
Gerhard Würnschimmel sammelt seit
40 Jahren Autos des 1961 untergegangenen
deutschen Borgward-Konzerns.
Die Kollektion umfasst schöne und
perfekte Autos – und solche, die Neuwagenfahrer
als Wracks bezeichnen
würden. Das ist meist für Außenstehende
ein Problem, nicht aber für
den Sammler: „Manchmal fahre ich
in meine Scheune, setzt mich in einige
Autos, höre den Geschichten zu,
die ihre Patina erzählt, und wenn ich
wieder heimfahre, bin ich entspannt
und fröhlich. Meine Wellness-Oase
ist etwas staubiger als die des Durchschnittsbürgers.“
Derlei Leidenschaft
verstehen am ehesten andere Sammler
– oder Psychologen, Soziologen
und Philosophen. Der Wirtschaftspädagoge
und Germanist Lothar Beinke
schreibt in seinem Buch „Sammeln
und Sammler“: „Es ist beim Sammeln
das Entscheidende, dass der Gegenstand
aus allen ursprünglichen
Funktionen gelöst wird, um in die
denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen
zu treten. Dies ist der diametrale
Gegensatz zum Nutzen.“
Spätestens jetzt ist der Blick frei auf
die reine Freude, die Sammler mit
ihrem Hobby zelebrieren. Sammeln
nur als Rest des früheren Jagdtriebes
zu sehen, sei zu populärwissenschaftlich,
meint die Psychotherapeutin
Veronika Schröter: „Sammeln hat viel
mit Schönheit, Ästhetik und Kultur zu
tun, es ist eine wunderbare Ressource
zur Erholung, und auch eine Positionierung:
Der Sammler zeigt sich als
Teil dieser Welt, indem er sich mit ihr
über die Sammlung verbindet und in
die Geschichte seiner Sammelobjekte
eintaucht.“
SAMMELOBJEKTE
VERRATEN VIEL ÜBER
DIE GESCHICHTE DES
SAMMLERS
Ralph Sichler, Professor für Sozialund
Angewandte Psychologie an der
Siegmund Freud Universität in Wien
ergänzt: „Ich sehe Sammeln als Versuch,
sich eine vertraute Umgebung zu
schaffen, in der man sich gut auskennt.
Man vertieft sich in etwas, wo es immer
weitergehen kann, wo es aber auch
klare Grenzen gibt: Das sammle ich –
und das nicht.“
Für den Psychoanalytiker und Kunstsammler
Werner Muensterberger ist
das fortwährende Suchen ein Kernelement
der Sammlerpersönlichkeit, wie
er in „Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft“
beschreibt: „Es ist mit viel
tiefer liegenden Wurzeln verknüpft, es
erweist sich als Neigung, die aus einer
nicht sofort erkennbaren Erinnerung
an Entbehrung, Verlust oder Verletzung
und einem sich daraus ergebenden Verlangen
nach Ersatz herrührt.“
Warum aber werden alte Autos gesammelt?
Ralph Sichler meint, dass die Vertrautheit
mit der eigenen Jugend mit
eine Rolle spiele, vieles werde verklärt:
Schlechte Erfahrungen würden ausgeblendet,
die guten blieben erhalten.
SAMMLER WOLLEN
DURCH IHRE
SAMMLUNG IN EWIGER
ERINNERUNG BLEIBEN
Gertraud Flemming-Hagn, Besitzerin
mehrerer Citroen 2CV, bestätigt das.
„Der Geist des Entenfahrens hat viel
mit den 70er Jahren zu tun, mit der
Hochblüte der Hippiezeit in Österreich.
Bis heute strahlt der 2CV für
mich Liebe und Frieden aus.“
Die Freude am Fahren ist bei Fahrradsammlern
ähnlich. Walter Schmidl,
Besitzer von rund 125 Fahrrädern der
Baujahre 1891 bis 2000: „Je nach Wetter
und Transportbedarf nehme ich in
der Früh ein Rad aus meiner Sammlung
und fahre in die Arbeit. So beginnt
jeder Tag mit meinem Hobby.
Fahrradsammeln deckt viele Bereiche
ab, die mich interessieren: das Nützliche,
das Sportliche, das Finden, Restaurieren
und das Erforschen der
Fahrradgeschichte.“ Der Forschertrieb
sammelt also mit, und auch das
Bestreben, der Nachwelt einmal eine
feine Sammlung zu hinterlassen, ist
ein wesentliches Motiv vieler Sammler.
Natürlich könnte man auch neue Autos
sammeln. Da wird viel durch den
Freundeskreis bestimmt: Sammel-
20
Gerhard Würnschimmel sagt zu seiner Oldtimersammlung „Wellnessoase“.
Fotos: © Karin Feitzinger
Foto: © wikipedia/Mick
Für Walter Schmidl beginnt jeder Tag mit einem seiner
125 geliebten Fahrräder der Baujahre 1891–2000.
Leidenschaft für den Citroen 2CV prägt bis heute so
manchen Freundeskreis und führte sogar Liebende zusammen.
objekte sind irgendwie auch Statussymbole.
Ralph Sichler: „Will man
Aner kennung erfahren, dann ist das
Lebensumfeld entscheidend. Mit Spoilern
bestückte, tiefergelegte BMWs
sind bei Vorstandsvorsitzenden eher
nicht so gefragt wie in manch ländlicher
Gegend.“ Natürlich tauchen wir
da mitten ins Henne-Ei-Problem, denn
auch das Sammelgebiet formt den
Freundeskreis. Gertraud Flemming-
Hagen: „Bis auf wenige Ausnahmen
kommen alle unsere Freunde aus der
2CV-Szene, und meinen Mann habe
ich auch bei einem Klubtreffen kennengelernt.“
KLUBTREFFEN SIND
KULT UND FORMEN
DEN FREUNDESKREIS
Überhaupt, die Clubtreffen. Was einfach
als fröhliche Zusammenkunft
Gleichgesinnter gesehen werden kann,
kommt kultischen Handlungen nahe:
Als Kult im strengen Sinn gilt eine Zusammenkunft
mehrerer Menschen, die
ritualisierte Handlungen zu Ehren eines
Objektes vollführen. Oldtimerausfahrten
sind da verdächtig nahe dran.
Was die Art des Sammelns betrifft, so
haben Männer und Frauen einen unterschiedlichen
Zugang, wie Ralph
Sichler erklärt: „Fahrzeuge sprechen
tendenziell eher Männer an, man darf
spekulieren, ob da die Eroberung der
Welt mitspielt und Kraft und Power,
auch wenn alte Autos nicht so viel
Kraft haben.“ Provokant formuliert
lautet der Umkehrschluss, dass Frauen
ihre Kraft und Power auch ohne fahrbaren
Untersatz demonstrieren können.
DAS ENDE EINER
SAMMLUNG IST
EINE RATIONALE
ENTSCHEIDUNG ÜBER
AUFWAND UND ERTRAG
Eine Oldtimersammlung kann aber
auch ausufern. „Häuft jemand zu viel
an, dann liegt das oft daran, dass es
mehr um den Kick beim Erwerben
geht, ums Siegen, um den Erfolg beim
Ersteigern“, erläutert Ralph Sichler.
Eine überbordende Sammlung will aber
nicht mit Messietum verwechselt werden.
Das sei laut Veronika Schröter ein
anderes Phänomen, es wurzle im Unvermögen,
etwas loszulassen. Gefährdet
seien besonders Personen, die in ihrer
Kindheit viele Zwänge erlebt haben.
Einem Messie aber sei seine Wohnung
peinlich, während ein Sammler stolz
auf seine Kollektion sei. Dennoch trennen
sich Sammler bisweilen von ihrer
gesamten Sammlung. Ralph Sichler:
„Diese Entscheidung kann sehr rational
sein, wenn ein Sammler erkennt,
dass Aufwand und Ertrag nicht mehr
zusammenpassen – gerade bei Oldtimern
steckt ja oft auch viel Geld in der
Sammlung. Es kann mit Frustration
und Enttäuschung zu tun haben, wenn
man erkennt, dass einen das Sammelgebiet
nicht so erfreut wie erhofft. Oder
neue Lebenszusammenhänge wie beispielsweise
eine neue Beziehung eröffnen
frische Perspektiven.“ Im Idealfall
also erkennen Sammler, wann die
Zeit reif ist für einen neuen Lebensabschnitt.
Oder ein neues Sammelgebiet.
1 Sehr schlanke, reduzierte Fahrräder ohne
Schaltung und folglich mit nur einer Übersetzung
– entweder mit Freilauf oder ohne, letztere
sind auch als Fixies bekannt.
2 Transporträder mit einem überbreiten Gepäcksträger
über dem Vorderrad, wie sie einst
beispielsweise von Bäckern benützt wurden.
Leidenschaft
21
INNOVATIVES ONLINE & OFFLINE
START-UPS
SPANNENDE IDEEN AUS ALLER WELT VON ODER FÜR
MENSCHEN MIT LEIDENSCHAFT. Von Katrin Stehrer
////// NACHHALTIGKEIT AUF DREI RÄDERN /////////////
Das visionäre indisch-holländische Startup Three Wheels United (TWU) will mit
dem Verkauf von Hybrid-Tuk-Tuks die Umweltverschmutzung und den Lärm in Indiens
Großstädten bis 2020 um bis zu 30% reduzieren. Die prekäre Einkommenssituation
der fünf Millionen indischen Tuk-Tuk-Fahrer soll ebenfalls verbessert werden:
TWU erleichtert den Fahrern den Kauf der Rikschas durch faire Darlehen und
sichert ihnen eine zusätzliche Einnahmequelle: die Nutzung der Tuk-Tuks als Werbeträger.
Das Start-up wurde vom holländischen Social Impact Inkubator Enviu mitbegründet
und vom Fast Company Magazin unter die 10 innovativsten Unternehmen
der Welt gereiht.
www.threewheelsunited.com
enviu.org
////// DIE BOX FÜR ALLE FÄLLE ////////////////////////////
Der Schweizer Philippe Perakis wollte sich bei seinen Touren von Unterbrechungen
wie etwa einer Hotelübernachtung im Tal nicht mehr einschränken lassen. Der einstige
Profi -Mountainbiker entwickelte die swissRoomBox, eine Wohnung in der Kiste,
die im Auto mitgenommen werden kann. Die swissRoomBox wird im Kofferraum
transportiert und kann je nach Bedarf ausgeklappt werden: zur Warmwasserdusche
mit Duschvorhang, zum Doppelbett, zur Küche oder zum Esszimmer. Einzelne Module
gibt es ab ca. EUR 700, die all-inclusive Version kostet rund EUR 7500.
www.swissroombox.com
////// NICHT OHNE MEIN FAHRRAD ///////////////////////
Vrachtfiets, niederländisch für Cargo Fahrrad, ist eine Transportlösung für wahre
Fahrradenthusiasten, die selbst beim Umzug nicht auf das Bike verzichten möchten.
Es hat Platz für zwei Personen, bietet Lagerraum für zwei Kubikmeter Fracht und wird
durch einen mit Solarstrom betriebenen Elektroantrieb unterstützt.
Entwickelt wurde es von den beiden Industriedesignstudenten Onno Sminia und
Louis Pierre Geerinckx an der TU Delft. Obwohl das Vrachtfi ets für Privatkunden gedacht
war, sind die ersten Kunden große Abnehmer wie die Stadt Delft, die Technische
Universität Delft sowie Ikea.
www.vrachtfi ets.nl
////// FENSTERPLÄTZE ZUM SPIELEN /////////////////////
Auf langen Zugfahrten vertreiben sich die Passagiere die Zeit meist lieber mit Büchern
oder Mobilgeräten, anstatt bloß die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten.
Die japanische audio-visuelle Gruppe Salad will das ändern und integriert die Landschaft
in ein Spiel. Touch the Train Window ermöglicht es den Reisenden durch
bloßes Berühren der Fensterscheibe Gegenstände wie Ballons, Flugzeuge, Bäume,
aber auch Vögel und Menschen in der Landschaft zu platzieren. Die Augmented-
Rea lity-Technologie ist eine Mischung aus iPhone, Kinect, openFramework, GPS
Modul und Beamer. Wenn sich die Idee durchsetzt, müssen wohl bald alle Sitze im
Zug Fensterplätze sein.
www.csp-salad.com
22
THERAPIE AN DER BUSHALTESTELLE /////////////
Der Mangel an Sonnenlicht und damit an Vitamin D ist ein bekannter Auslöser von
Winterdepressionen. Dem hat der Energiekonzern Umeå Energi im schwedischen
Umeå den Kampf angesagt. Weil es in der 500 Kilometer nördlich von Stockholm gelegenen
Stadt im Dezember nur vier Lichtstunden pro Tag gibt, ersetzte Umeå Energi
die Werbefl ächen von 30 Bushaltestellen mit fototherapeutischen Lampen. Diese
sollen die Tagesdosis an Licht erhöhen und den Hormonspiegel im Gehirn in lichtarmen
Zeiten auf einem gesunden Level halten. Um die volle Wirkung der kostenlosen
Lichttherapie nutzen zu können, müsste man sich 30 Minuten pro Tag bestrahlen
lassen – bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad eine große Überwindung.
www.umeaenergi.se
////// DIE STRASSE ALS KRAFTWERK ////////////////////
Solarenergie liegt im Trend und wird schon lange nicht mehr nur am Dach des
Eigen heims gewonnen. In Europa hat das niederländische Forschungsinstitut TNO
die Solarzelle nun auf die Straße gebracht. In einem Kooperationsprojekt mit einer
Straßen baugesellschaft und einem Elektrotechnikkonzern wurde die Solaroad
(Solarstraße) entwickelt. Sie ist mit einer zentimeterdicken Solarzellenschicht bedeckt
und lässt sich modulartig auf eine beliebige Länge zusammensetzen. Das System
Solaroad könnte unter anderem zur Stromversorgung der umliegenden Häuser
beitragen: Bereits 30 Quadratmeter decken den Energiebedarf eines Singlehaushalts
in der Höhe von 1.500 kwh pro Jahr. Alleine Holland hat ein Straßennetz von
ca. 140.000 Kilometern Länge, das dafür genutzt werden könnte. Der Proto typ, ein
Fahrradweg in Krommenie in der Nähe von Amsterdam, kann bereits besichtigt
werden.
www.tno.nl/solaroad
Der Elektroingenieur Scott Brusaw arbeitet am US-amerikanischen Pendant zur Solaroad.
2009 entwickelte er für die US-Highway-Verwaltungsbehörde einen Solarroad
Prototyp. Seit 2011 wird auch an einem Parkplatz-Protoypen gearbeitet. Seine
Vision ist, das Land von Kalifornien bis New York City mit einer Solarstraße auszustatten.
So komme es zu einem Kontinent überspannenden Netzwerkeffekt, über den
die Westhälfte der USA in der Nacht mit der Energie der Osthälfte, an der Tag ist,
versorgt wird und umgekehrt.
http://solarroadways.com/intro.shtml
////// DER BALL ZUM MINENRÄUMEN /////////////////////
Schätzungen zufolge gibt es weltweit 100 Millionen Landminen, 10 Millionen sollen
es allein in Afghanistan sein. Massoud Hassani, Absolvent der Design Academy
Eindhoven, suchte nach einer Lösung für dieses Problem und erfand den Minenräumungsball
Mine Kafon (Persisch für Explosion). Er sieht aus wie der überdimensionierte
Kopf einer Pusteblume mit zwei Metern Durchmesser und ist aus biologisch
abbaubarem Hartplastik und Bambusrohren konstruiert. Sobald der Räumungsball
über eine Landmine rollt, wird die Detonation ausgelöst. Der 80 Kilogramm schwere
Mine Kafon wird durch den starken afghanischen Wind angetrieben, dieser bestimmt
auch die Richtung des Weges. Der eingebaute GPS-Sensor zeigt die Landminenfreien
Zonen später im Internet an. Ob eine serienmäßige Produktion folgt, ist noch
unklar.
http://minekafon.blogspot.co.at
www.vimeo.com/51887079
Leidenschaft
23
PROGRAMMIERTE
EMPATHIE
Foto: © www.iuro-project.eu
24
IN NAHER ZUKUNFT WERDEN EMPATHISCHE ROBOTER IN DIE
PRIVATHAUSHALTE EINZIEHEN, SIE WERDEN UNS ALLTAGSENTSCHEIDUNGEN
ABNEHMEN UND WIR WERDEN SIE DAFÜR LIEBEN.
Von Ruth Reitmeier
„Wir sind soziale Wesen, das ist nicht
unsere Entscheidung“, sagt Paolo Petta,
Emotionsforscher am Austrian Research
Institute for Artificial Intelligence
(OFAI). Und plötzlich sitzt er
vollkommen regungslos da. Was sich
wie eine Ewigkeit anfühlt, dauert vielleicht
zwei, höchstens drei Sekunden.
Dann die Erlösung, wie auf Knopfdruck
wieder zum Leben erweckt sagt
er: „Ja, wir sind es.“ – Er hat mit dieser
kleinen Demonstration wirklich anschaulich
verdeutlicht, was er meint:
Wer auf sein Gegenüber nicht mehr
eingeht, wirkt sofort unmenschlich.
Auch Barbara Kühnlenz von der
Technischen Universität München
(TUM) erforscht menschliche Emotion
in der Interaktion mit der Maschine.
Konkret arbeitet sie zusammen
mit Projektpartnern mehrerer
europäischer Universitäten an IURO,
einem Roboter, der in der Lage ist,
mit dem Menschen face-to-face zu
kommunizieren. Sein Repertoire baut
auf Erkenntnissen der Psychologie
auf, vor allem dem Wissen, dass Empathie
das Fundament menschlicher
Beziehungen darstellt. Ein Freund ist
jemand, der einen verständnisvoll ansieht
und einem zuhört. Nun erforschen
Wissenschafter wie Kühnlenz,
ob die Mechanismen der Empathie
die Maschine dem Menschen näher
bringen können. Tritt IURO mit einem
Menschen in Kontakt, stellt er
sich zunächst vor und fragte dann
sein Gegenüber wie es ihm gehe. Dadurch
entsteht die Basis für eine prosoziale
Interaktion mit dem Roboter.
Noch sind sie hauptsächlich in Fabriken
im Einsatz, doch die Roboter
kommen. Da sind sich die Experten
einig. Kleinserien als Alltagshilfen
dürften in zehn bis 15 Jahren vom
Band rollen, spätestens 2050 werden
Roboter in privaten Haushalten standardmäßig
im Einsatz sein. Diese
Helfer sollten als möglichst angenehme
Gesellschaft empfunden werden,
Befindlichkeiten des Menschen
erkennen und berücksichtigen können.
„Der Roboter sollte etwa merken,
dass der Mensch gerade nicht gut
drauf und vom Staubsauger genervt
ist, und in einem anderen Raum zuerst
saugen“, sagt Kühnlenz.
2050 SIND SERVICE-
ROBOTER AKTIVE
FAMILIENMITGLIEDER
IURO ist zirka 1,70 Meter groß, besteht
aus einem kompakten, robusten
Rumpf, Armen und ist auf Rädern unterwegs.
Auf den ersten Blick beeindruckt
aber IUROs Gesicht: Riesige
blaue Augen, hinter denen Kameras
eingebaut sind, er kann die Mundwinkel
und die Augenbrauen hochziehen
und lustig mit den kleinen
Ohren schlagen. Was IURO sagt und
wie die Mimik-Features in der Interaktion
mit dem Menschen eingebracht
werden, ist Kühnlenz’ Domäne. „Wir
Menschen empfinden es als natürlicher,
wenn der Roboter überrascht
dreinschaut, weil er einen Auftrag
nicht verstanden hat, als wenn ein
rotes Lämpchen aufleuchtet“, sagt sie.
IURO kann mittlerweile sogar in den
Gesichtern der Menschen lesen. Der
erste Ausflug des Prototypen führte
in die Münchner Innenstadt. Der Roboter
wurde losgeschickt, um nach
dem Weg zum Marienplatz zu fragen.
Das Ziel war, dass die Menschen ihm
helfen sollten. IURO steuerte also
Passanten an. In diesem Feldversuch
kam bereits eine anspruchsvollere
Variante des Small Talk zum Einsatz.
Denn IURO schätzte anhand
des Gesichtsausdrucks ein, wie sich
der Mensch gerade fühlt – darauf ist
er programmiert. „Die Einschätzung
war zwar nicht immer korrekt, aber
dadurch wurde eine gemeinsame
Basis für eine Interaktion geschaffen.
Die meisten Menschen haben ihm
dann auch geholfen“, sagt Kühnlenz.
Dies ist der sozialpsychologische Angelpunkt,
von dem aus sich ein noch
größeres soziales Repertoire des Roboters
entwickeln lässt. Nachdem
auch die Robotik verstärkt selbstlernende
Systeme einsetzt, wird der Roboter
künftig vom Menschen lernen,
der ihm Feedback gibt: „Das hast du
gut gemacht.“ Der Mensch wird für
den Roboter zur wichtigsten Informationsquelle.
Auch der Affective Intelligent Driving
Agent, kurz AIDA, hat große Augen,
wenn auch nur als Bildschirmgrafik.
Er ist ein freundlicher Co-Pilot, eine
aktuelle Entwicklung von Volkswagen
of America in Zusammenarbeit
mit dem Massachusetts Institute of
Technology (MIT). AIDA verarbeitet
Daten aus dem Inneren des Wagens
und allem, was sich außerhalb tut.
Das System spricht mit dem Lenker
und ist Autodidakt: Mit jeder Fahrt
lernt es den Fahrer und die Verkehrssituation
in der Stadt besser kennen.
Das Gerät ist quasi die nächste Generation
der Navigationssysteme und
kann deutlich mehr. Es gibt dem Fahrer
nicht nur die beste Route durch
und rechtzeitig Bescheid, wenn er
sich etwa zu seinem Termin verspätet.
Leidenschaft
25
RADIKALE
TRENDBRÜCHE AUF
DEM WEG ZUR MOBILITÄT
DER ZUKUNFT
Foto: © www.iuro-project.eu
Können gegenseitig ihre Gesichter lesen und Small Talk führen:
Roboter IURO und seine Chefi n Barbara Kühnlenz von der technischen Universität München.
Mehr noch, auf Wunsch schreibt das
Ding gleich eine SMS an den Wartenden
und gibt dem Fahrer sodann die
Antwort durch. Wird der Fahrer ein
wenig müde, spielt es flotte Musik aus
den im Handy gespeicherten Playlists.
PROGRAMMIERTE
LIEBE FUNKTIONIERT
NICHT
Wenn IURO mit seinen großen Augen
verständnisvoll dreinschaut, so
ist dies programmiert. Roboter, die
mit gängiger Software unterwegs sind,
seien nicht klüger als Waschmaschinen,
betont der irische Informatiker
Noel Sharkey. Roboter und Computer,
die sich verselbständigen, die durchknallen
und die Menschheit vernichten
wollen, kennt man aus der Science-
Fiction-Literatur und Filmen. Dass
Roboter Gefühle erlernen und Bewusstsein
erlangen werden, gar
liebes- und leidensfähig sind, wie
etwa das Roboterkind David in Steven
Spielbergs Film AI, der seine Menschenmutter
abgöttisch liebt, bleibt
ein Mythos. Und daran wird auch
das Einspeichern immer größere Datenmengen
nichts ändern. „Vielleicht
wird es irgendwann möglich, dass
durch die Verschaltung der richtigen
Kreise der Roboter eine Art Bewusstsein
herausbildet“, meint Kühnlenz.
Herausforderungen, die einer Gesellschaft
voller Robotern blühen, werden
wohl andere sein. Die Menschheitsgeschichte
zeigt, dass jede technologische
Revolution massive gesell schaftliche
Veränderungen zur Folge hat, betont
Petta vom OFAI in Wien. Roboter, soviel
steht fest, fügen sich zunehmend
effizienter in die Arbeits welt ein. Industrieroboter
arbeiten mittlerweile so
genau und sind so günstig, dass bereits
Produktionsverlagerungen von Industrie-
in Billiglohnländer abgesagt und
stattdessen Roboter angeschafft wurden.
Es stellt sich also die Frage, was
das für eine Gesellschaft sein wird, in
der sie allgegenwärtig sind und viele
Arbeiten und Tätigkeiten übernehmen,
und noch wichtiger: Was werden dann
die Menschen tun?
ÄLTERE MENSCHEN
WOLLEN ROBOTER
NICHT MEHR
HERGEBEN
Der Roboter wird möglicherweise niemals
Gefühle entwickeln können, das
Affektwesen Mensch wird sich jedoch
an die Maschine binden. Im Feldver -
such zur Interaktion zwischen Mensch
und Roboter in der Münchner Innenstadt
zeigte sich, dass viele Menschen,
vor allem auch ältere, gerne bereit waren,
mit dem Roboter zu kommunizieren.
„Und sie waren auch sehr geduldig
mit ihm“, betont Kühnlenz.
Petta vom OFAI berichtet davon, wie
älteren Menschen für die Zeit nach
einer Operation oder Rehabilitation
ein Miniroboter zur Verfügung gestellt
wurde, um sie etwa daran zu erinnern,
regelmäßig ihre Medikamente
einzunehmen, Blutdruck zu messen
und die Werte einzutragen. „Was man
aber nicht bedacht hatte, war wie sich
die älteren Leute dabei fühlen werden,
wenn der Roboter nach einigen Wochen
wieder abgeholt wird.“ Sie hatten
sich an ihn gewöhnt, einige sprachen
mit ihm.
Anhand von Beispielen wie diesem
hat man inzwischen erkannt, wie
wichtig es ist, die ethische Dimension
zu überprüfen, aber auch, dass man
die Entscheidung darüber nicht dem
Entwickler überantworten kann, sondern
andere, am besten wir alle, daran
Teil haben. Technologiefolgenabschätzung
ist vielschichtig, der gesell schaft-
26
Fotos: © MIT SENSEable City Lab and
Personal Robots Group of Media Lab
Auch der Affective Intelligent Driving Agent (AIDA) wird bald neben dem Navigieren auch und die Gefühle des Fahrers erkennen
und sie mit seinen blauen Augen ausdrücken. Ziel ist es, in der richtigen Situation richtig zu reagieren, um das Fahrerlebnis zu verbessern.
Zum Beispiel werden Fahrtipps nur bei guter Gemütslage des Lenkers gegeben.
liche Diskurs darüber von enormer
Relevanz. Petta: „Wir alle sind aufgerufen,
einen Umgang mit neuen Technologien
zu finden. Man lässt ja auch
kein Stanleymesser offen herumliegen.“
Und Klaus Mainzer, TUM-Professor
für Philosophie und Wissenschaftstheorie
unterstreicht, dass etwa für
die fortschreitende globale Vernetzung
gelten muss, was für jedes Küchengerät
gilt, das auf den Markt
kommt: Sicherheitsstandards müssen
eingehalten werden.
Ethiker und Technikphilosophen beschäftigen
sich nicht nur mit Robotern,
sondern mit der zunehmenden globalen
Vernetzung intelligenter Infrastrukturen.
Schon in naher Zukunft
werden wir die Komplexität des Alltags,
Energieversorgung und Verkehrsprobleme
über solche Netzwerke
lösen. Sie werden den Globus wie ein
Nervensystem überziehen. Und sie
werden sich eigenständig organisieren
und autonom agieren müssen, nicht
zuletzt weil der Mensch die Details
gar nicht mehr überblickt.
Parallel zu diesen großen Netzen
spannt sich das so genannte Internet
der Dinge. Kleinstcomputer werden
künftig alle Objekte miteinander verbinden
und Informationen mit Menschen
sowie anderen Dingen austauschen.
Ins Internet der Dinge sind
nicht nur das Heizsystem oder der
Kühlschrank eingebunden, sondern
selbst so kleine Objekte wie die Glühbirne,
die über WLAN verfügt. Vergisst
der Letzte also, das Licht auszumachen,
kann er dies übers Handy
später bequem vom Büro aus erledigen.
Das Internet der Dinge wird als das
nächste große Ding gehandelt, die
Infrastruktur dafür ist de facto längst
geschaffen. Seit August 2010 sind bereits
mehr Maschinen als Menschen
im Internet. Der Technologiekonzern
Cisco schätzt, dass bis 2015 rund
15 Milliarden Gerätschaften mit dem
Internet verbunden sein werden,
50 Milliarden bis 2020. Und weil das
Internet bereits jetzt aus allen Nähten
platzt, muss ein neues Adressierungssystem
eingeführt werden. Statt
4,3 Milliarden Webadressen wird das
neue Internet Raum für 340 Sextillionen
Adressen bieten (die Sextillion
hat 36 Nullen!).
Das Internet der Dinge klingt nach einer
wundervollen und gespens tischen
neuen Welt zugleich. Man stelle sich
vor, das Auto macht während der
Fahrt ein merkwürdiges Geräusch,
der Fahrer hält an, das Fahrzeug meldet
dem Fahrer, wo das Problem liegt,
ruft den Pannendienst an und informiert
auch diesen darüber, gibt den
genauen Standort durch und welche
Ersatzteile benötigt werden sowie wo
diese lagernd sind.
Keine Branche wird davon unberührt
bleiben. Und noch wichtiger, die fortschreitende
Technikintegration wird
tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen
nach sich ziehen. Das erzeugt
Begeisterung, aber auch Unbehagen.
In einer Welt, in der alles
vernetzt ist, bleibt nichts geheim.
Die Technik bietet ungeahnte Möglichkeiten.
Entdecken wird diese das
niemals auf Bequemlichkeit ausgelegte
„Steinzeithirn“ des Menschen,
das gefordert werden will: Neurowissenschaftliche
Untersuchungen zeigen,
dass mit der Hand zu schreiben mehr
Gehirnareale aktiviert, darunter jene,
die für das Lernen und Merken zuständig
sind, als vergleichsweise flüchtiges
Tippen auf dem Keyboard. Eine Studie,
die Psychologen an der Universität
Princeton durchgeführt haben, offenbarte,
dass sich die Studenten Textinhalte
besser gemerkt haben, wenn
diese in schlechter Druckqualität
daher kamen.
GEGENREAKTION AUF
TECHNOLOGISIERUNG:
MANUELLE
ANSTRENGUNG
Gewisse Komplikationen scheinen
das Gehirn regelrecht zu beflügeln
und der Kreativität auf die Sprünge
zu helfen. Der amerikanische Rockmusiker
Jack White ist davon überzeugt,
dass gute Musik nicht leicht
von der Hand gehen darf, und macht
sich deshalb das Leben auf der Bühne
absichtlich schwer: indem er etwa auf
billigen Gitarren spielt und verschiedene
Instrumente so anordnet, dass
er sich anstrengen muss, wenn er zwischen
ihnen wechseln will.
Der österreichische Schriftsteller
Arno Geiger beschreibt die Tücken
der Technologisierung im Zusammenhang
mit menschlicher Leidenschaft
im Onlinemagazin Chrismon:
„Ich würde gerne Gitarre spielen können,
aber wenn ich mir dafür am
Kiosk nur einen Chip kaufen müsste,
wäre es nichts wert. Das Schöne ist,
dass ich die Sehnsucht habe, etwas zu
können, aber mir meiner Unfähigkeit
bewusst bin und dann eine Leidenschaft
dafür entwickle. Das erzeugt
Glück.“
www.iuro-project.eu
www.ofai.at
http://senseable.mit.edu/aida
Leidenschaft
27
DIE SUCHE
Foto: © Klara Harden
NACH DEM
GLÜCK
DIE ÖSTERREICHERIN KLARA HARDEN FINANZIERT ÜBER CROWDFUNDING
FILMPROJEKTE, FÜR DIE SIE BRENNT. ZULETZT BEREISTE SIE ZUSAMMEN MIT
KARSTEN PRÜHL MADAGASKAR. AUF FAHRRÄDERN ERKUNDETEN DIE BEIDEN
FILMEMACHER DIE INSEL, FINGEN IHRE SCHÖNHEIT WIE AUCH IHRE PROBLEME
EIN. IHR AKTUELLER FILM WITH LOVE FROM MADAGASCAR LÄUFT IM INTERNET.
Das Gespräch führte Ruth Reitmeier
„With Love from Madagascar“ wurde
wie schon Ihr erstes Film-Abenteuer
„Made in Iceland“ über Crowdfunding
finanziert, konkret über die Plattform
Startnext. Wieso haben Sie sich für
diese Art der Finanzierung entschieden?
Ich denke, ohne Crowdfunding wäre
es nicht möglich gewesen, dieses Projekt
überhaupt zu machen. Die Supporter
sind alle Kleinstproduzenten
und sie sind stolz darauf, wenn sie ihren
Namen im Abspann lesen.
Alle Unterstützer werden namentlich
genannt?
Ja selbstverständlich, es ist sehr wichtig
zu zeigen, dass wir ja nicht bloß
einen Film machen wollten, sondern
wir haben diesen Film für genau
diese Menschen gemacht. Denn sie
haben entschieden, dass er gedreht
wird. Das ist das Schöne am Crowdfunding:
Hat man eine Idee, die andere
berührt oder den Zeitgeist trifft,
dann kann man etwas produzieren,
das sonst kaum Chance auf Realisierung
hätte.
28
Crowdfunding – die Schwarmfi nanzierung – wurde in der Kulturund
Kreativszene zwecks Projektfi nanzierung erdacht. Auf den US-
Plattformen Kickstarter und Indiegogo sammeln Kreative seit Jahren
Geld für Buchprojekte, Musik, kultige Magazine. Seit zirka 2010
sind auch mehrere deutsche Crowdfunding-Plattformen online, darunter
Startnext. Kreative präsentieren ihre Projekte in einem kurzen
Video auf der Plattform. Der Investor unterstützt jene Projekte, die er
realisiert sehen will. Es gilt das Alles-oder-nichts-Prinzip. Findet die
Idee binnen einer Frist nicht genug Anklang, dann wird sie auch
nicht verwirklicht. Jene, die bereits überwiesen haben, bekommen
ihr Geld zurück.
Anders als beim Spenden geht es beim Crowdfunding um Geben
und Nehmen. Die Mäzene zahlen 10, 20, 100 Euro oder auch mehr
für ihr Wunschprojekt ein und bekommen als Gegenleistung ein
exklusives „Dankeschön“. Das kann eine handsignierte CD sein,
eine Premierenkarte, ein T-Shirt. Crowdfunding entwicklet sich zu
einem Instrument der Kulturfi nanzierung, einer Alternative zur Subventionierung
durch die öffentliche Hand. Mischformen zwischen
staatlicher und privater Projektfi nanzierung durch Crowdfunding
sind im Kommen.
Findige Internet-Unternehmer haben die Idee des Crowdfunding
längst weitergedreht und renditefähig gemacht. Das Crowdinvesting
ward geboren. Beim Crowdinvesting legt eine Großgruppe von
Kleinst-Investoren zusammen und stellt Risikokapital für Start-ups
und innovative Unternehmen bereit. Crowdinvesting hat starkes Potenzial:
Zum einen wird es für Gründer und mittelständische Unternehmen
zunehmend schwieriger, Risikokapital für Innovationen
von Banken zu bekommen. Für den Anleger ist das Modell in Zeiten
mickriger Sparzinsen nicht zuletzt deshalb interessant, weil er mit
überschaubaren Geldbeträgen in der Höhe von hundert Euro direkt
in Unternehmen seiner Wahl investieren kann. Durch die Investition
in mehrere unterschiedliche Projekte kann das Risiko gestreut werden.
Hinzu kommt: Im deutschsprachigen Raum ist laut Branchenkennern
noch jede Menge Platz für private Geldgeber.
CROWDFUNDING
FINANZIERT IDEEN,
DIE SONST KEINE
CHANCE HÄTTEN
Wie viel Geld hatten Sie letztendlich
zur Verfügung?
Über die Startnext haben wir die angepeilten
5000 Euro gesammelt, dazu
kam eine Filmförderung von Cinestyria
über 2500 Euro. Zudem haben uns
drei Unternehmen mit Expeditionsequipment
gesponsert.
Dieses Budget ist für ein Projekt
dieser Art schmal. Sind Sie damit
durchgekommen?
Nein, das war uns allerdings von
Anfang an klar, dass sich das nicht
ausgehen wird. Ich erinnere mich
aller dings noch, dass Startnext
meinte, dass un ser Zielbetrag von
5000 Euro für das Finanzierungsinstrument
Crowdfund ing doch recht
hoch ist. Das hat sich seither allerdings
geändert, mittler weile ist es
durchaus üblich, 10.000-Euro-
Projekte so zu finanzieren.
Und wie haben Sie die Finanzlücke
geschlossen?
Bei unserem Filmprojekt ist auch unser
privates Geld hineingeflossen und wir
haben die gesamte Produktion, also
etwa den zeitaufwändigen Filmschnitt,
als unbezahlte Arbeitszeit aus der
eigenen Tasche finanziert.
DIESE ART DER FILME
SICHERN MICH SOZIAL
NICHT AB
Und wie verdienen Sie Ihren
Lebensunterhalt?
In Berlin mache ich Fotos für Schauspieler,
das sind kleinere Aufträge.
In Österreich habe ich zuletzt für
Red Bull als Kamerafrau gearbeitet.
Das sind Jobs, die ganz ordentlich
bezahlt sind und von denen ich lebe,
auch in der Zeit, in der ich an den
eigenen Projekten arbeite.
Was ist die Motivation, sich das
überhaupt anzutun?
Die Motivation für den Madagaskar-
Film war für uns, dass wir, obwohl es in
Europa alles gibt, von diesem Leben
nicht ausgefüllt waren. Wir dachten,
dass es da noch mehr, mehr Sinn geben
muss. Und ich wollte diesmal die Aufmerksamkeit,
die mir durch den Island-
Film zuteil wurde,für etwas nutzen, für
das sie wirklich gebraucht wird. Durch
den Film konnten wir sichtbar machen,
welche Hilfsprojekte es auf Madagaskar
gibt, was sie machen, und welche Art
von Unterstützung die richtige ist.
DIE MENSCHEN IN
MADAGASKAR LEBEN
VON ABHOLZUNG, DAS
IST NICHT NACHHALTIG
Madagaskars gravierenstes Problem
ist die Umweltzerstörung durch Abholzung...
Ja. Und wir hoffen natürlich, dass
wir die Organisationen, die wir
besucht haben, durch den Film
bekannter machen und auf diese
Weise unterstützen können.
Ein heilsamer Geldfluss zieht sich
durch diese Geschichte: Mit Crowdfunding
haben Sie den Film weitgehend
finanziert und zugleich die
Fan-Community aufgebaut, und nun
werden noch mehr Menschen den
Film sehen und das vielleicht zum
Anlass nehmen, eines der porträtierten
Projekte zu unterstützen. Doch
der Film bietet vor allem Spannung
und Abenteuer.
Auf der Madagaskar-Reise ist so vieles
passiert, und wir haben dort auch
harte Zeiten und viele Überraschungen
erlebt. Wir konnten deutlich
weniger von Madagaskar bereisen als
geplant, dafür war die Reise intensiver.
Was hat Sie aufgehalten?
Etwa eine auf der Landkarte einge-
Leidenschaft
29
Fotos: © Klara Harden
Nach einer intensiven Zeit des Crowdfunding können die Filmemacher Klara Harden und Karsten Prühl ihren neuesten Film
„With Love from Madagaskar“ drehen. Vor Ort stoßen die jungen Kreativen auf unerwartete Hürden wie zum Beispiel im Plan verzeichnete
aber real nicht vorhandene Straßen. Aufgeben ist jedoch keine Option.
zeichnete Straße am Meer entlang, die
sich als Sandpiste entpuppte, wo man
mit dem Fahrrad einfach nicht mehr
fahren konnte.
CROWDFUNDING
FUNKTIONIERT NUR BEI
AUSSERGEWÖHNLICHEN
IDEEN UND SEHR
PRÄZISE FORMULIERTEN
ANLIEGEN
Beim Crowdfundig muss man die Idee
schon in einem frühen Stadium mit
anderen teilen. Ist das ein Problem
für den kreativen Prozess?
Im Gegenteil, es ist eher förderlich,
weil man seine Idee sehr früh, sehr
präzise ausformulieren muss. Dadurch
wird einem auch selbst klar,
was man eigentlich erreichen will.
Fehlermachen ist Teil dieses Lernprozesses,
denn es wird einem von der
Community schnell und direkt vermittelt,
wenn man auf dem Holzweg
ist.
Konkret?
Wir haben etwa diesmal nicht nur ein,
sondern zwei Präsentationsvideos gemacht,
weil wir gemerkt haben, dass
sich die Leute beim ersten Anlauf
schwer getan haben, zu verstehen, was
wir wollen. Beim Islandfilm war die
Aussage simpel: „Eine junge Frau will
sich ihren Traum erfüllen, und wenn
du auch an Träume glaubst, dann unterstützt
du sie.“ Das war leicht zu
formu lieren. Madagaskar war ein deutlich
komplexeres Projekt. Hinzu kam:
Wir haben das erste Video auf Englisch
gedreht, haben aber gemerkt, dass das
für die deutschsprachigen Unterstützer
schwierig war. Das zweite Video haben
wir auf Deutsch mit englischen Untertiteln
gemacht.
GESCHENKE UND
EINE NENNUNG IM
ABSPANN ALS LOHN
Haben Sie denn Fans außerhalb
Österreichs und Deutschlands?
Aber ja, einige unserer Supporter
kommen aus den USA, einige aus
Asien, und viele aus anderen Ländern
Europas.
Was bekommen Eure Unterstützer
als Dankeschön?
Die meisten, die uns über Startnext
unterstützt haben, haben eine selbstgemachte
Postkarte gewählt. Wir haben
auch Briefe versandt, und Karsten
Prühl hat Zeichnungen mitgeschickt.
Vielen Briefen waren kleine Dinge beigelegt,
wie ein Korallenstück oder eine
Bohne aus Madagaskar. Neben der exklusiven
Preview des Films für die
Supporter werden sie allesamt im Abspann
genannt.
Was motiviert Sie, sich wiederholt
einer so schwierigen Aufgaben wie
dem Filmen zu stellen, zumal damit
kein Geld zu machen ist.
Ich habe während des Filmschneidens
wieder darüber nachgedacht. Das ist
nämlich sehr anstrengend und man
kann dazwischen die Motivation verlieren.
Doch ich weiß, warum ich das
mache: weil für mich ein europäisches
Standardleben nicht funktionieren
würde. Viel Geld ist für mich im Augenblick
nicht wichtig, ich muss niemanden
versorgen. Ich will mich auch
nicht an Güter binden, weil ich weiß,
dass das nicht glücklich macht. Die
Arbeit ist eine Suche nach Glück und
auch eine Investition in die Zukunft.
Vielleicht gibt es ja künftig eine Möglichkeit,
davon sogar leben zu können.
Gibt es neue Vorhaben?
Es ist noch nichts spruchreif, doch es
gibt Pläne für künftige Abenteuer.
Es geht also weiter ...
Ja, und ich glaube nicht, dass ich
jemals damit aufhören werde.
„With Love from Madagascar“ unter:
http://klaraharden.com/
So funktioniert Crowdfunding:
www.youtube.com/
watch?v=kowE3CrOpMg
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VON WEST NACH OST: WO
SCHLÄGT DAS HERZ DEN KOPF?
OB AUF DEM RÜCKEN DES MOTORRADES, IM INTERNET ODER IM GOURMET-
LOKAL – DIE ÖSTERREICHER FINDEN IHRE LEIDENSCHAFT AUCH REGIONAL
AUF HÖCHST UNTERSCHIEDLICHE WEISE. Von Silvia Wasserbacher
DATEN & FAKTEN
Essen ist Leidenschaft. Wenn es um die gehobene Küche geht,
sind der Phantasie und dem Geschmackserlebnis keine Grenzen
gesetzt. Die meisten Gourmet Tempel befinden sich in Salzburg.
Vielleicht gibt es deshalb seit geraumer Zeit das Studium der
Gastrosophie. In fünf Semestern wird man an der Universität
Salzburg zum akademischen Gourmet und lernt, wie Ernährung,
Kultur, Medizin, Wirtschaft und Kommunikation zusammenhängen.
Schlusslicht bildet Oberösterreich. Vielleicht, weil der Weg nach
Salzburg nicht weit ist. www.gastrosophie.at
Anzahl der Haubenrestaurants je
100.000 Einwohner in Österreich
Quelle: Gault Millau, getestete Restaurants 2012
Oberösterreich
Niederösterreich
Steiermark
Vorarlberg
Tirol
Burgenland
Wien
Kärnten
Salzburg
Anzahl der Kaffeehäuser je
100.000 Einwohner in Österreich
Quelle: WKÖ, Kaffeehäuser und Kaffeekonditoreien
Vorarlberg
50,8
Wien
51,2
Niederösterreich
58,9
Salzburg 69,8
Oberösterreich 73,9
Burgenland 87,3
Kärnten
117,6
Steiermark
132,0
Tirol
148,6
8,3
13,1
18,2
19,7
21,3
22,4
27,3
28,3
36,7
Schwarz und stark oder mit viel Milch und Schlag – Kaffee ist
nicht nur ein Koffein-Kick sondern auch Genussmittel. Die
größte Kaffeehausdichte gibt es nicht in Wien, sondern in Tirol.
In der Großstadt schätzt man die Anonymität. Daher können sich
59 % der Wiener vorstellen, ihren Partner im Internet zu suchen. In
Tirol sind es nur 34 %. Im Umkehrschluss könnte man sagen, dass
die Wiener österreichweit das kleinste Selbstbewusstsein haben.
Denn über das Medium Internet ist die Mutschwelle niedriger, jemanden
anzusprechen. Eine Umfrage des GfK Austria* bestätigt
die Vermutung: Nur 72 % der Wiener fühlen sich attraktiv, wohingegen
die Eigenschaft 80 % der Tiroler für sich attestieren.
* GfK Austria Sozial- und Organisationsforschung, telefonische Befragung von
n= 500 Personen, repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 15 Jahren.
Vorstellbarkeit der Partnersuche im Internet in
Prozent in Österreich Tirol 33,8 %
Quelle: parship.at
Burgenland
38,2 %
Kärnten
38,6 %
Oberösterreich
42,3 %
Salzburg
46,8 %
Vorarlberg
47,6 %
Steiermark
47,7 %
Niederösterreich
57,2 %
Wien
58,8 %
Einmal im Jahr werden 70.000 Motorräder am Faaker See gezählt.
Dann treffen sich in Kärnten die Harley-Davidson-Fans aus ganz Europa
und zelebrieren das Gefühl der Freiheit. Unterm Jahr geht es ruhiger zu.
Dennoch: Mit Blick auf den Österreich-Vergleich steht das südliche
Bundesland in der Motorradstatistik an erster Stelle.
Dem Motto „gemeinsam statt einsam“
folgen im Vereinsland Österreich vor
allem die Kärntner. Ob Brauchtum und
Kultur, ob Tiere und Natur oder Sport und
Gesundheit, es ist für jeden etwas dabei.
Tanzen ist die Leidenschaft
schlechthin. Die meisten Tanzschulen
Österreichs werden im
Burgenland betrieben.
Schlusslicht ist Vorarlberg.
Anzahl der Motorräder je
100.000 Einwohner in Österreich
Quelle: Statistik Austria 2011
Wien
Salzburg
Oberösterreich
Tirol
Burgenland
Steiermark
Vorarlberg
Niederösterreich
Kärnten
3.511
4.751
4.857
5.108
5.127
5.233
5.445
5.564
5.654
Anzahl Vereine je
100.000 Einwohner in Österreich
Quelle: BMI Vereinsstatistik 2012
Oberösterreich
Vorarlberg
Salzburg
Niederösterreich
Steiermark
Tirol
Wien
Burgenland
Kärnten
1.198
1.222
1.239
1.350
1.456
1.484
1.511
1.715
1.732
Anzahl der Tanzschulen je
100.000 Einwohner in Österreich
Quelle: WKÖ, nur aktive WK-Mitgliedsbetriebe
Vorarlberg
Salzburg
Tirol
Wien
Oberösterreich
Steiermark
Kärnten
Niederösterreich
Burgenland
0,54
0,56
0,98
1,50
1,98
2,15
2,35
2,91
4,55
Leidenschaft
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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Seit vielen Jahren
liebt Brigitte Schmidhuber
reines, hochwertiges Olivenöl.
2010 hat sie ihre Passion
zum Beruf gemacht und versorgt
seither Wien mit echtem italienischen
Olivenöl aus limitierter Produktion
sowie mit Verkostungen und Seminaren
für Olivenöl-Interessierte. Diese
organisiert die Gastronomiefachfrau
und Filmwissenschafterin
gemeinsam mit ihrem Partner
Domenico Pugliese.
www.casacaria.com
Christopher Schweiger’s
Leben ist die Musik. Vor genau
drei Jahren hat der ehemalige
Profireiter seine sehr erfolgreiche
Karriere als Architekt aufgegeben
und einen Plattenladen eröffnet.
Seither nutzt er sein Wissen über
die Dimension Raum, befüllt sie
mit Körper und Klang
und geht darin voll auf.
www.tongues.at
Markus Handl ist
Grafik-Designer und fühlt sich
gleichermaßen nach Hamburg
und seiner Heimatstadt Wien
gezogen. Um beide Orte zu
vereinen, verwandelt er jeden
Abend sein kleines Grafikbüro
in einen Hamburg-Shop samt
hanseatischer Kneipe.
www.hafenjunge.at
Margit Hurich hat
den Blick für das Schöne.
Ihre besondere Leidenschaft
sind High Heels. Täglich trägt sie
eines der mittlerweile über 80 Paare
und jedes erzählt seine eigene
Geschichte. Daher wird nur sehr
selten ein Paar ausgemistet. Schon als
kleines Mädchen entdeckte die studierte
Romanistin, dass ein schöner
Schuh die Persönlichkeit
unterstreicht und den
selbstbewussten Tritt ins
Leben erleichtert.
Jessica Gaspar’s
Leidenschaft ist das Tanzen.
Nach einem langen Arbeitstag
am Schreibtisch findet die
Grafikerin darin den nötigen
Ausgleich. Ob in den eigenen
vier Wänden oder nächtens im
Club spielt keine Rolle – solange
der Bass hart und die Musik
laut genug ist.
www.jessicagaspar.at
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