Die rastlose Weltfamilie Fotomontage: © Barbara Wais 14
SICH ONLINE UND ANONYM VERLIEBEN, EINE PARTNERSCHAFT MIT ZWEI WOHNSITZEN IN UNTERSCHIEDLICHEN STÄDTEN FÜHREN: DISTANZ MUSS DER LIEBE KEINEN ABBRUCH TUN. IN EINER GLOBALISIERTEN WELT VERÄNDERN SICH FAMILIEN UND MÜSSEN DAHER NEU DEFINIERT WERDEN. Von Julia Schilly „Was kommt nach der Familie?“, fragte die Wissenschafterin Elisabeth Beck- Gernsheim bereits 1998 im gleichnamigen Buch. Darin stellte sie die These auf, dass sich die Familie immer mehr zu einem widersprüchlichen Modell zwischen traditionellen Sehnsüchten und neuen Herausforderungen entwickelt. Denn vor allem die neuen Jobchancen der globalisierten Welt schaffen neben der klassischen Form der Familie, die am gleichen Ort lebt, immer mehr verstreute Strukturen. Von manchen wird dieser Zustand erhofft, von anderen erlitten. Mit welchen Strategien überleben also diese neuen Beziehungen, ja sogar Liebe auf Distanz? „WIR WAREN NIE LÄNGER ALS 14 TAGE GETRENNT“ Beck-Gernsheim spricht aus eigener Erfahrung, da sie und ihr Mann, der ebenso bekannte Soziologe Ulrich Beck, seit Jahren an unterschiedlichen Orten arbeiten: Sie unterrichtet an der Universität in Trondheim in Norwegen, er pendelt nach London, beide leben in München. Beck- Gernsheim nennt die wichtigste persönliche Grundregel für ihre Fernbeziehung: „Wir waren nie länger als 14 Tage getrennt.“ Ihr Modell kann jedoch nicht von allen Paaren angewendet werden. Für Wissenschafter und ohne Kinder sei es einfacher, sich die Zeit frei einzuteilen: „Wir packen so viel Arbeit wie möglich in den Zeitraum, in dem wir uns nicht sehen, damit wir dann ein paar Tage völlig frei haben.“ In ihrem jüngsten Buch „Fernliebe“ hat das Ehepaar Beck nun seine Untersuchungen zu Liebe und Beziehungen weitergesponnen und verschiedene Modelle von Fernbeziehungen, deren Stolperfallen und Chancen beleuchtet. Interessant ist, dass Beck-Gernsheim eine Fernbeziehung nicht nur pessimistisch sieht: Durch sie entstünden neue Anregungen. Der größte Feind der Liebe sei ja bekanntlich nicht nur Distanz, sondern auch zu viel Nähe und Routine. JEDER VIERTE ÖSTERREICHER KENNT FERNLIEBE Die Becks beweisen mit ihrer Themenwahl ein Gespür für aktuelle Trends: Wie Studien zeigen, gibt es immer mehr Fernbeziehungen. Laut Statistik Austria führten 1985 nur vier Prozent der Menschen über 30 Jahre eine Fernbeziehung. Aktuell hat jeder vierte Österreicher in dieser Altersgruppe Erfahrung damit. Vor allem junge Akademiker sind betroffen. Partnerbörsen im Internet schaffen die Möglichkeit, weit entfernte Partner kennenzulernen. Doch vor allem der Arbeitsmarkt begünstigt diese Entwicklung. Wer berufl ich weiterkom men will, muss fl exibel sein. Manchmal gehört eben auch ein Wohnortwechsel dazu. Die gängige Defi nition der Familie, deren Mitglieder im selben Haushalt leben, ist damit nicht mehr gültig. Erleichtert wurde der Strukturwandel der Familie und die Entstehung einer „Fernfamilie“ von modernen Kommunikationstechnologien wie E-Mail, Skype und Videotelefonie. Die Großmutter in Österreich kann dadurch bei der Weihnachtsbescherung in Spanien dabei sein, die Kinder zeigen ihre ersten Schritte am Bildschirm oder das frisch verliebte Paar schwört sich am Abend im Chatroom die Liebe. Doch körperliche Nähe und Geborgenheit können dadurch nicht ersetzt werden. Für Familien mit Kindern bedeutet das eine noch größere Entbehrung. „Aber wenn einmal etwas Schlimmes passiert, ist es doch etwas anderes, in den Arm genommen zu werden. Daher spricht man in diesem Zusammenhang auch von ‚sunny day technologies‘“, sagt Beck-Gernsheim. PHANTASIE WAR NOCH NIE SO GEFRAGT WIE HEUTE Die Technologie hat aber nicht nur das Potenzial, Beziehungen zu erhalten. Flirten, verlieben, betrügen und trennen: Vor allem das Internet habe die Art, wie wir lieben, in den vergangenen Jahren stark verändert, sagt der israelische Emotionsforscher Aaron Ben-Ze’ev. Der Professor der Philosophie hat sich in seinem Buch „In the Name of Love“ mit dem Thema eingehend auseinandergesetzt. Ein Aspekt dieser neuen Art der virtuellen Liebe ist jener, dass sich Paare online verlieben, ohne sich jemals offline getroffen zu haben. „Unser Vorstellungsvermögen war schon immer ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Es war jedoch noch nie so gefragt, wie im Cyberspace“, sagt der Philosoph. KÖRPERLOSES VERLIEBEN Zunächst sind online alle Menschen gleich. Aussehen, Alter, Geschlecht oder Religion sind unbekannt. Bei persönlichen Bekanntschaften hingegen können solche Aspekte schon in den ersten Sekunden darüber entscheiden, ob man ein Gespräch aufnimmt oder zu fl irten beginnt. Wenn online der erste Funken übergesprungen ist, entsteht oft sehr schnell eine Nähe. Die Distanz tut der <strong>Leidenschaft</strong> keinen Abbruch. Im Gegenteil: Es bestehe sogar die Möglichkeit, dass der Austausch von Informationen tiefer, vielseitiger und schneller passiere, sagt Ben-Ze’ev. Denn die Kommunikation kompensiert in diesem Fall die körperliche Distanz. <strong>Leidenschaft</strong> 15