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Alles aus. Alles neu.

Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 02/2012

Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 02/2012

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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC

Ausgabe 02/2012

Alles aus.

Alles neu.

Alles aus. Alles neu.

1


Alles aus.

Alles neu.

Serendipität

Serendipität (engl. serendipity)

bezeichnet eine zufällige Beobachtung

von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem,

das sich als neue und überraschende

Entdeckung erweist. Nylonstrumpf und

Röntgenstrahlen sind nur zwei von vielen

nützlichen Zufallsentdeckungen.

Serendipaceratops wird im Übrigen

ein Dinosaurier genannt, von dessen

Überresten bis heute nur eine

Elle bekannt ist.

Gemeinden in

Österreich

Eine Gemeinde ist die kleinste Form

der territorialen Gliederung des Staatsgebietes.

In ganz Österreich werden derzeit 2.357

Gemeinden gezählt. Seit 1980 (2.300) hat ihre

Zahl um 2,5% leicht zugenommen, seit 1965

(3.931) ist sie jedoch um fast 40% geschrumpft.

Das ist großteils auf Gemeindezusammenlegungen

zurückzuführen. Es verschieben sich jedoch

nicht nur die Gemeindegrenzen, auch die

Bevölkerungszahlen ändern sich: In

30% der Gemeinden (727) ist die

Einwohnerzahl seit 1961

zurückgegangen.

(Quelle: Statistik

Austria)

Schrumpfung

Schrumpfung, das Gegenteil von

Wachstum, wird der Prozess des

kleiner oder weniger Werdens genannt.

Schrumpfen kann in der Natur beobachtet

werden, wenn z. B. der Boden durch Entwässerung

an Volumen abnimmt. Auch der Mensch

schrumpft mit zunehmendem Alter, weil mit

abnehmendem Flüssigkeitsgehalt im Körper auch

das Volumen der Bandscheiben abnimmt. In der

Raumplanung wird Schrumpfungsprozessen

häufig mit Rückbaumaßnahmen von

immer dünner besiedelten oder

verlassenen Regionen

begegnet.

55 Menschen

Betrachtet man die

Gemeindegrößen, so fällt auf, dass

90% der österreichischen Gemeinden

weniger als 5.000 Einwohner zählen.

Die kleinste Gemeinde ist Gramais im

Tiroler Teil des Lechtals mit 55 Bewohnern.

Neun Gemeinden – das sind 0,4% der

Gesamtzahl – haben mehr als 50.000

Einwohner. Der unangefochtene

Spitzenreiter dieser Gruppe ist Wien

mit 1,7 Millionen Menschen.

(Quelle: Österreichischer

Gemeindebund)

Impressum und Offenlegung

Medieninhaber und Herausgeber

Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),

Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0

www.oeamtc.at

ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301

Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter

Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.

Rechtsgeschäftliche Vertretung

DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor;

Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor.

Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh

Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),

Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)

Chefin vom Dienst Silvia Wasserbacher, BA

Beamen

Beamen zu können ist einer

der großen Menschheitsträume.

Beamen, auch Teleportation genannt,

bezeichnet den Transport einer Person oder

eines Gegenstandes von einem Ort zu

einem anderen, ohne dass das Objekt dabei

den dazwischen liegenden Raum durchquert.

Wirklichkeit dürfte diese Art der Mobilität

jedoch noch lange nicht werden. Weil nur

Information, nicht aber Materie gebeamt

werden kann, müssen wir uns

weiterhin physisch

fortbewegen.

Weltuntergang

Weltuntergangszenarien sind so alt

wie die Menschheitsgeschichte. Schon

die Assyrer glaubten um 1500 v. Chr.

an apokalyptische Weissagungen.

In unserer jüngeren Vergangenheit seit dem

Jahr 2000 hätte die Erde bereits 25 Mal

untergehen sollen, zuletzt mit der Inbetriebnahme

des CERN-Teilchenbeschleunigers LHC im Jahr 2008.

Nachdem die Erde von Genf aus doch nicht in den

Abgrund gerissen wurde, darf man gespannt auf

den 21.12.2012 warten, das Ende des

Maja-Kalenders, für den auch das

Ende der Welt prognostiziert wird.

Wird es wieder nichts, könnte

es laut Sir Isaac Newton

2060 wieder so

weit sein.

Quantenphysik

Der geistige Vater der Quantenphysik,

Erwin Schrödinger,

sprach von der Quantenmechanik,

Albert Einstein von der Quantentheorie.

Die Begriffe

Quantenphysik, Quantentheorie

und Quantenmechanik werden

heute als Synonym

füreinander

verwendet.

Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl-Bw. Maren Baaz, Mag. Eva Hübner,

Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter, Mag. Claudia Kesche, Anita Kattinger, Bakk.phil.,

Mag. Konstantin Kouloukakos, Mag. Uwe Mauch, Dr. Daniela Müller, Martin Strubreiter,

Dr. Ruth Reitmeier, Katrin Stehrer, BSc, DI Anna Várdai

Fotos Christoph Wisser

Grafik Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, MA Barbara Wais

Korrektorat Christina Preiner, vice-verba

Covermodels Ines Mostböck, Lukas Aigner, Emil Gamauf

Druck Hartpress

Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.

Ausgabe 02/2012, erschienen im Oktober 2012

Download www.querspur.at


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Heute

Ein Kommen und Gehen.

In den vergangenen 140 Jahren sind

viele Verkehrsmittel verschwunden und

einige gekommen. Von Katrin Stehrer

Vier Menschen, vier Wege zu

vier neuen Zielen. Wie persönliche

Umbruchssituationen die Mobilität verändern.

Von Uwe Mauch

Große Pause. Die Menschheit sucht

in hohem Tempo das Neue. Vielleicht

ist Innehalten die bessere Strategie.

Von Ruth Reitmeier

Land in Sicht. Über die (Un)Möglichkeit,

schrumpfende Regionen zu

neuem Leben zu erwecken.

Von Daniela Müller

Von allem mehr. Ob öffentlicher

Verkehr, Auto oder Rad, der Mensch

nutzt immer mehr Verkehrsmittel

gleichzeitig.

Morgen

Autoindustrie im Umbruch.

Die Autoindustrie durchläuft den

größten Wandel ihrer Geschichte.

Von Martin Strubreiter

Über und unter der Erde.

New York – Peking in zwei Stunden.

Revolutionen im Reisen.

Von Anita Kattinger

Die Stadt nach Plan. Der deutsche

Architekt Meinhard von Gerkan hat

sich eine ganz neue Stadt in China

ausgedacht, die jetzt auch gebaut wird.

Von Ruth Reitmeier

Beamen bleibt vorerst Utopie.

Die Quantenphysik wird unser

bisheriges Denken ablösen, sagt der

Quantenphysiker Markus Aspelmeyer.

Von Daniela Müller

Start-ups. Spannende Ideen und

internationale Konzepte.

Von Katrin Stehrer

Von sprechenden Ampeln und

Autos, die überflüssig werden.

Utopien für 2050. Von Martin Strubreiter

Foto: © Hashi Future Parking Equipmen Foto: © Marcus Bredt

Foto: © Christoph Wisser Foto: © Uwe Mauch

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Alles aus. Alles neu.

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Umweltfreundliches Karosseriedesign

Flexible Farbauswahl

Parkplatzsparende Länge

Intelligentes

Einparksystem

und

Straßenkontrolle

Kommunikationszentrum

Terminplaner

Müdigkeitswarner

Relaxzone

Motoren, Getriebe und

Plattformen werden von

konkurrierenden

Herstellern gemeinsam

entwickelt

Elektro- oder

Hybridantrieb

Rollt per

Knopfdruck

aus der Garage

Roboter als Chauffeur

Fahrassistenz

Start- und Stoppautomatik

Spurassistent

Abstands- und

Geschwindigkeitskontrolle

Routenplanung

Foto: Christoph Wisser, Illustration: Barbara Wais

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Autoindustrie

im Umbruch

Neue Märkte in Asien, Fokus auf Nachhaltigkeit, verstopfte Städte

und ein Wirtschaftsleben, das alten Strukturen kaum noch

Chancen lässt: Auf die Autoindustrie wartet der gröSSte Wandel

ihrer Geschichte.

Von Martin Strubreiter

Das kleine, gallische Dorf der Autoindustrie

steht in Malvern Link, Großbritannien.

Bei der Firma Morgan

werden Roadster nach alter Sitte gebaut,

also von Hand. Die Hände sind

oft seit Jahrzehnten dieselben, noch

treuer als Belegschaft und Fans sind

lediglich die Eigentümer: Morgan

ist seit 1909 im Familienbesitz, seine

auffälligste Innovation ist das vierte

Rad – die ersten Morgans waren

Threewheeler.

Die Automobilindustrie aber wird in

einigen Jahren grundlegend anders

aussehen. Eine der markantesten Veränderungen

der nächsten Jahrzehnte:

Europa und die USA werden langsam

zur Fußnote der Autoindustrie, die

Kernmärkte verschieben sich nach

Asien. Schon 2010 lag China mit

18,1 Millionen neu zugelassenen

Kraftfahrzeugen deutlich vor den USA

(11,8 Millionen), Japan (5 Millionen),

Brasilien (3,5 Millionen) und

Deutschland (3,2 Millionen). In den

BRICS-Staaten (Brasilien, Russland,

Indien, China, Südafrika) werden

2020 fast sechsmal so viele Neuwagenkäufe

erwartet wie im Jahr 2010.

Und selbst dann werden die Märkte

noch lange nicht so gesättigt sein wie

heute in Europa, Japan und den USA.

In 20 Jahren

werden asiatische

Bedürfnisse den

Auto-Weltmarkt

bestimmen

Dann wird auch die Produktion und

Entwicklung in den neuen Märkten

erfolgen. Michael Ebner, Pressesprecher

von BMW Öster reich:

„Wir handeln nach dem Grund satz:

Der Produktionsstandort folgt dem

Markt. Das haben wir mit unseren

Werken in den USA sowie in Indien

und China gezeigt.“ Schon 2020 wird

mehr Forschung und Entwicklung in

den Schwellenländern stattfinden als

in den etablierten Märkten, prognostiziert

die Unternehmensberatung

A.T. Kearney.

Noch werden in China eher Modelle

produziert, die in Europa schon ausgelaufen

sind (z.B. eine Langversion

des 5er BMW). Aber der Trend wird

sich zumindest teilweise umkehren:

Ende 2013 bringt Citroën sein neues

Topmodell, den DS9, exklusiv in

China auf den Markt, zugeschnitten

auf chinesische Bedürfnisse – gerade

groß genug, um die Grundbedürfnisse

der Mobilität abzudecken. Diese

Modelle werden dann, um Entwicklungskosten

zu sparen, gewiss auch

nach Europa kommen.

Zugespitzt formuliert: In 15 bis 20

Jahren werden chinesische, indische

oder russische Bedürfnisse das Auto

für Europa oder die USA entscheidend

beeinflussen. Damit werden einerseits

kleine Autos, andererseits noble Marken

den Markt dominieren. Diese

Trends sind heute schon in den aufstrebenden

Märkten ablesbar: Der winzige

Tata Nano um umgerechnet 2.200 Euro

ersetzt bereits mehr als 200.000 Indern

das Moped. Anderer seits gibt es durchaus

chinesische Käufer, die direkt vom

Fahrrad auf einen BMW X1 umsteigen.

Wer also die Kompetenz zum Bau

von Kleinstwagen mitbringt oder zu

den Premiummarken zählt, hat gute

Zukunftschancen. Für Marken mit

durchschnittlichem Image könnte es

hingegen eng werden.

Will ein Hersteller von Europa aus

konkurrenzfähig bleiben, muss er

Alles aus. Alles neu.

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Foto: cepolina.com

Die Nachfrage nach Autos in den Schwellenländern steigt

rapide (im Bild: der Verkehrsalltag der indischen Millionenstadt

Hyderabad). Die Autohersteller werden deshalb immer mehr

Entwicklungskompetenz dorthin verlagern. In der Folge werden

die Innovationen im Automobilsektor künftig auch in Europa

stark von den Bedürfnissen Asiens und Südamerikas inspiriert

sein. Das Design eines Autos muss eine Lösung für die Platznot

der neuen Konsumenten bieten, Kosten und Kraftstoffverbrauch

müssen gesenkt werden.

den technologischen Vorsprung

wahren und weiter ausbauen. Marc

Lang, TTTech-Verkaufsleiter, einem

österreichischen Vorreiter bei elektronischen

Kontrollsystemen im Auto:

„Den europäischen und japanischen

Vorsprung holt China frühestens in 15

bis 20 Jahren auf, weil bei uns die Entwicklung

ja auch nicht still steht. Und

so einfach lassen sich komplexe elektronische

Systeme nicht nachbauen.

Unser Wachstum ist jedenfalls enorm,

wir suchen derzeit rund 30 Techniker

und Entwickler.“

Open Innovation wird

das tägliche Brot

der Entwickler

Um die immer höheren Entwicklungskosten

abzufedern, die mit der

steigenden Technologisierung einhergehen,

werden Motoren, Getriebe und

Plattformen künftig in allen Märkten

der Welt genutzt, oft auch von konkurrierenden

Herstellern, die gemeinsam

entwickeln. Das war in früheren

Jahren undenkbar. Zusätzlich werden

Autohersteller den Entwicklungsprozess

öffnen und Input von außen,

zum Beispiel von Konkurrenten, Universitäten

und Autokäufern gezielt

hereinholen, was einem Paradigmenwechsel

gleichkommt: Mittels Open

Innovation kann die Entwicklungszeit

dramatisch verkürzt werden, sie ermöglicht

deutlich mehr Klarsicht über

ein künftiges Produkt, das Risiko von

Fehlentwicklungen sinkt. Und die

Zukunft wird deutlich mehr Innovationen

hervorbringen müssen als die

Gegenwart: CO 2-Problematik und

andere Umweltfragen verlangen

verbrauchsgünstigere Autos, die Technologien

dafür (wie etwa Elektro- oder

Hybrid antrieb, Start/Stopp-Auto matik,

Energierückgewinnung beim Brem sen,

Leichtlauföle und -reifen, bedarfs -

ge steuerte Lichtmaschinen und Ölpumpen)

lassen heute nur wenige

Hersteller in die Serie einfließen,

künftig werden es alle sein. Erste

Ansätze für Open Innovation sind

übrigens bereits heute flügge: VW

sammelt über www.mythinkblue.de

Input zur nachhaltigen Entwicklung

und eröffnet sich damit ein weites

Feld für Ideen. Die kreativsten Ideenspender

gewinnen einen potenten

Konzern zur Umsetzung.

Die Autoindustrie wird mit anderen

Sparten enger zusammenarbeiten,

besonders mit der IT-Branche.

Künftig kann ein

Auto wie ein Smartphone

kommunizieren

Denn was Smartphones heute können,

wird künftig auch vom Auto erwartet –

und noch mehr: Anbindung ans Internet,

Kommunikation der Autos

untereinander im Dienste flüssigeren

Verkehrs (Autos, die im Stau stecken,

warnen zum Beispiel die Nachkommenden),

Fahrassistenzsysteme wie

Müdigkeitswarner oder Spurassistent

bis hin zu allen Vernetzungen, die

selbstfahrende Autos benötigen, die

man per Knopfdruck aus der Garage

holt und die einen lesend oder dösend

an den Zielort bringen. Diese sind

bereits heute oder in naher Zukunft

möglich. Das Problem: Auto und IT-

Industrie ticken unterschiedlich. Ein

Auto rollt vier bis acht Jahre lang vom

Band, die Elektronikindustrie wechselt

Produkte in Sechs-Monats-Zyklen.

Das heißt natürlich nicht, dass ein

Auto künftig jedes halbe Jahr neu

entworfen werden muss, um auf dem

neuesten Stand zu sein, sondern dass

die Software aktualisiert wird.

Klar ist: Viele der künftigen Innovationen

kommen nicht von den Autoherstellern,

sondern von Zulieferern.

Ein heutiger Pkw stammt zu rund 50

Prozent vom Autohersteller, ein Elektroauto

nur noch zu 10 Prozent. Der

Rest wird zugeliefert. Mit anderen

Worten: Der Autoindustrie droht das

Kerngeschäft abhanden zu kommen.

Die neuen Entwicklungen bergen

aber auch riesige Chancen, nicht nur

Kraftfahrzeuge zu verkaufen, sondern

Mobilität in allen Facetten. Michael

Ebner, BMW: „Wir werden künftig

Mobilität im Paket anbieten, beispielsweise

über Carsharing mit Elektroautos,

die unsere E-Fahrräder im

Kofferraum haben, dazu Telematik-

Dienstleistungen wie Navigation für

alle Verkehrsmittel.“

Nur wenige

Autohersteller

und zulieferer

werden überleben

Dennoch wird die Zahl der Zulieferer

und Autohersteller abnehmen.

Frank Gehr vom Fraunhofer Institut

für Produktionstechnik und Automatisierung

schätzt, dass in wenigen

Jahren die Zahl der großen, unabhängigen

Hersteller je nach Zählweise

von derzeit rund 40 auf die zehn erfolgreichsten

gesunken sein wird.

Nur Morgan wird wohl weiterhin

Roadster mit Eschenholz-Karosserierahmen

fertigen – wie 1909. •

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Ein Kommen und Gehen

In den vergangenen 140 Jahren sind viele Verkehrsmittel

verschwundeN und einige auch wieder zurückgekommen.

Von Katrin Stehrer

daten & fakten

Im Dezember 1872 wurde die längste

Pferdeeisen bahnstrecke Europas,

die 128 km lange Strecke Budweis – Linz –

Gmunden, eingestellt und durch eine

dampfbetriebene Eisenbahn ersetzt.

Noch heute fährt eine Pferdeeisenbahn in

der südaustralische Stadt Victor Harbor.

Sie hat die 630 Meter lange Strecke zur

Touristenattraktion gemacht und die

ursprünglich 1896 errichtete Bahn durch

Restaurierungsarbeiten im Jahr 1986 zu

Bis 1923 wurden in Großbritannien

mit Koks betriebene, äußerlich an Kutschen

erinnernde Dampfomnibusse eingesetzt,

die hauptsächlich zwischen London und

seinen Vororten fuhren. In den Glanzzeiten

konnten 700 Fahrten am Tag gezählt

werden. Aufgrund häufiger Unfälle wurde

die Maximalgeschwindigkeit auf 3 km/h

beschränkt, weshalb die Dampfomnibusse

zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der

elektrisch angetriebenen U-Bahn abgelöst

wurden.

Die weltweit letzte Fahrt eines von

Pferden gezogenen Omnibusses fand

1923 in Berlin statt. Einst die einzigen

innerstädtischen Verkehrsmittel der Stadt,

wurden die Pferdeomnibusse von der 1865

eingeführten, auf Schienen fahrenden Pferdestraßenbahn

schließlich ganz verdrängt.

Im Jahr 1900 stieg der erste Zeppelin

in Friedrichshafen auf, 30 Jahre später waren

Linienflüge für zivile Passagiere von Europa

nach Nord- und Südamerika eingerichtet.

Mit dem Unglück von Lakehurst (New Jersey,

USA) im Jahr 1937, bei dem der LZ 129 bei

der Landung in Flammen aufging, wurde das

Ende der Zeppelin-Luftfahrt eingeleitet –

vorerst. Denn seit 2001 fliegt die LT Zeppelin

Luftschifftechnik GmbH & Co KG mit dem

Zeppelin NT wieder kommerzielle Rundflüge,

bisher aber nur über dem Bodensee. 2

neuem Leben erweckt. 1 1 www.tourismvictorharbor.com.au/attractions.html

Bis 1957 wurde in Simbabwe

eine mit menschlicher Muskelkraft

betriebene Straßenbahn eingesetzt.

Weltweit gab es mehr als 100, davon ein

Teil in Afrika, über 80 in Asien (darunter

Japan mit der längsten Trasse von 26 km)

und eine 4 km lange Strecke in

Österreich. Sie befand sich im

Lainzer Geriatriezentrum und wurde

zum Gütertransport von Anfang des

20. Jahrhunderts bis 1925 betrieben.

2 www.zeppelinflug.de

Interessant ist auch die Geschichte des

Elektroautos. Ende des 19. Jahrhunderts

vor allem in den USA sehr beliebt und mit

einem Marktanteil von 38 % durchaus begehrt,

wurde es ab 1940 nicht mehr für

den Personenverkehr hergestellt.

Der Siegeszug des Benzinautos war

aufgrund des bequemeren Startens mittels

Anlassers anstelle des Ankurbelns und

des billigen Benzins nicht mehr aufzuhalten.

Seit den 1990er-Jahren gibt es jedoch

wieder kommerzielle Neuentwicklungen.

Alles aus. Alles neu.

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USERSTORY

4MENSCHEN,

WEGE ZU

NEUEN ZIELEN

Die Fremdenführerin, die nach ihrem Jobwechsel

mit ihrem Fahrrad eine neue Herausforderung sucht.

Der Rollstuhlfahrer, der sich dafür einsetzt, dass

auch Behinderte ohne Barrieren Bahn fahren können.

Die Mutter von drei Kindern, die sich über Nacht

als Alleinerzieherin in Wien wiederfindet.

Der Buchhändler, der plötzlich mit der S-Bahn

VON EINEM ENDE VON WIEN ZUM ANDEREN MUSS.

Von Uwe Mauch

Foto: Drahtzieher

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Eigentlich erstaunlich: Über ihr neues Smartphone, ihren

neuen Hund, ihre neuen Tapeten, ihre neue Frisur, ihren neuen

Chef – über vieles machen sich die Menschen heute Gedanken.

Doch selten denken sie darüber nach, wie sie sich

fortbewegen. Mobilitätsverhalten scheint so fix zu sein wie

die Uhrzeit oder das Brauchtum.

In Vorarlberg weiß man das. Deshalb erhalten Mitarbeiter, die

zu einem der innovativen Unternehmen wechseln, schon vor

ihrem ersten Arbeitstag einen Brief. Darin werden sie höflich

gefragt, ob sie nicht auf die Öffis umsteigen möchten. Wenn

ja, wird ihnen das Ticket bezahlt. Der Jobwechsel eine Zäsur –

und eine Chance für Neues. Kaum jemand hat sein Umsteigen

bis dato bereut. Die Vorarlberger Erfahrungen werden nun

auch von einer repräsentativen Befragung in sechs europäischen

Ländern gestützt. Im Rahmen des EU-Projekts „USEmobility“

1 wurde festgestellt, dass die Menschen am ehesten

dann auf ein anderes Verkehrmittel umsteigen, wenn sie sich

beruflich verändern, wenn sie mehr Sport betreiben möchten

oder ihren Wohnort wechseln. Öffentliche Verkehrsmittel kommen

zum Zug, wenn die Haltestellen gut erreichbar sind, die

Intervalle kurz sind und die Fahrziele möglichst direkt erreicht

werden können. Manchmal sind es auch andere Zäsuren im

Leben. Auch unerfreuliche. Im ersten Moment scheint alles

aus, alles anders, alles vorbei zu sein. Doch das Leben geht

weiter. Und wie es weiter geht! Manchmal gibt es auch neue,

erfreuliche Erfahrungen. Genau davon erzählen die vier Menschen,

die auf diesen Seiten zu Wort kommen.

Foto:s: uwe Mauch

REGINA MACHO, staatlich geprüfte Fremdenführerin.

Fährt seit vielen Jahren täglich mit dem Rad von

ihrem Haus im Grünen, in Klosterneuburg, zur Arbeit

nach Wien. Vor wenigen Wochen hat sie einen verantwortungsvollen

Job in der Hofburg gekündigt, um sich

neuen Aufgaben zu widmen. Ihre Entscheidung ist ihr

nicht leicht gefallen, doch vor dem Neuen fürchtet sie

sich nicht.

„Die Fahrt mit dem Auto zur Arbeit kommt für mich schon alleine

deshalb nicht in Frage, weil ich keines besitze. Als Radfahrerin

kann ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Das Rad hält mich fit, bringt mich in der Früh in Schwung.

Außerdem verbindet es mich mit der Natur. Denn ich fahre ja

von draußen, vom Land rein in die Stadt, ein Stück auch

durch die Donauauen. Ich bin früher immer mit dem Auto zur

Arbeit gefahren, nur damals habe ich die Natur nicht so unvermittelt

und intensiv erleben können. Einkaufen? Ist gar

kein Problem. Ich habe Packtaschen fürs Rad. Da passt alles

rein. Alles nur eine Frage der Organisation. Ich habe einen

guten Job aufgegeben, um einen sehr guten zu finden. Dabei

geht es mir auch um ein Mehr an Lebensqualität. Zum

Beispiel strebe ich im Moment keinen Fulltime-Job an, weil

ich mir auch noch ein bisschen Raum für die Fremdenführerei

schaffen möchte. Interessant ist, dass ich bereits verschiedene

Jobangebote bekommen habe, ohne dass ich

noch selbst aktiv war. Das tut nicht nur der Seele gut, das

bestätigt mich auch in meiner Entscheidung.“

REINHARD RODLAUER hat einen Gendefekt, der

sich im Alter von elf Monaten bemerkbar machte. Spinale

Muskelatrophie, sagen die Mediziner. Und meinen

damit den Muskelschwund. Der Bewegungsap parat

kann den Anweisungen des Gehirns nicht Folge

leisten. Seine Kindheit und Jugend im niederösterreichischen

Lunz am See war geprägt von Barrieren und

Entbehrungen, auch von vier deprimierenden Jahren

auf Arbeitssuche. Alles aus? Nein, alles neu! Der Rollstuhlfahrer

hat eine schöne berufliche Karriere hingelegt.

Schon als Trafikant ist er in seiner Freizeit als anonymer

Testfahrer durchs Land gefahren. So wurde man

bei den Österreichischen Bundesbahnen auf ihn aufmerksam.

Seit sechs Jahren ist Rodlauer deren Konzernkoordinator

für Barrierefreiheit.

„Es ist ein unglaublich erhebendes Gefühl, wenn man mich

heute mit der Klapprampe in einen Zug oder Bus hebt. Als

Kind konnte ich dem Postbus leider nur beim Davonfahren zuschauen.

Meine Aufgabe bei den ÖBB ist es, Barrierefreiheit

konzernübergreifend zu verwirklichen. Wir sind da auf einem

guten Weg: 75 Prozent unserer Busse sind bereits barrierefrei,

alle neuen Nahververkehrszüge sind mit Klapprampen ausgestattet,

auch im Railjet gibt es fahrzeuggebundene Hebe lifte.

Und im Jahr 2015 sollen die 140 meist frequentierten Bahnhöfe

in Österreich barrierefrei sein. Warum ich am liebsten mit

der Bahn verreise? Weil für mich die Bahn komfortabler ist als

Flugzeug oder Auto. Im Flugzeug komme ich mit dem Rollstuhl

nicht ins Klo, und eine Autofahrt ist mir zu anstrengend.“

Alles aus. Alles neu.

9


TINA BACHMANN, die Frau des österreichischen

Wirtschaftsdelegierten in Tripolis (Libyen) und Mutter

von drei schulpflichtigen Kindern. Im Februar 2011 hat

sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen dramatisch

verändert. Nach dem Bürgerkrieg in Libyen lebt

die Familie getrennt: Sie mit den Kindern in Wien, ihr

Mann in Tripolis. Nur mehr alle vier bis sechs Wochen

kann er für wenige Stunden nach Wien kommen.

„Ich muss vorausschicken: Wir haben uns mit der neuen

Situa tion so gut als möglich angefreundet. Das liegt auch daran,

dass wir uns gegenseitig Halt geben. Natürlich habe ich

Angst um meinen Mann. In Libyen fallen noch immer Schüsse.

Aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass dem David

nichts passieren wird, weil er seine Arbeit und seine Familie

liebt. Wir haben zuvor in Stockholm, in Lissabon, in Mexiko

City, in Wien und in Tripolis gelebt. Seit gut einem Jahr bin

ich mit den Kindern wieder in Wien. Und sie genießen Wien,

wirklich. Weil sie hier zum Beispiel mit der Straßenbahn fahren

und sich frei bewegen können. In Tripolis haben sie in einem

Goldenen Käfig gelebt – in unserem Haus gut bewacht,

aber wie in einem Gefängnis eingesperrt. In die Schule und

auch zum Sport wurden sie mit dem Auto gebracht. Ich weiß

nicht, ob das andere Wiener Kinder so stark empfinden – dieses

Gefühl der Freiheit in öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch

ich muss nicht mehr täglich ins Auto steigen. Ein Mal pro Woche

für einen Großeinkauf, und am Wochenende, wenn wir

WALTER KETTNER, gelernter Buchhändler. Verbringt

seit seinem Umzug täglich zwei mal vierzig Minuten

in der S-Bahn, um zwischen seiner Wohnung im

Süden und seiner Buchhandlung im Norden von Wien

hin und her zu pendeln. Der Inhaber der gut sortierten

Buchhandlung „Bücher am Spitz“ im Floridsdorfer

Amtshaus nützt die Zeit, um im Auftrag seiner Kunden

neue Bücher vorab zu lesen.

„Vor vier Jahren bin ich mit meiner Frau und meiner Tochter

von Wien-Währing nach Brunn am Gebirge gezogen. Wir

wollten unbedingt raus aus der Stadt. Naturgemäß hat sich

dadurch mein Weg zur Arbeit deutlich verlängert. Jetzt verbringe

ich täglich relativ viel Zeit in der Schnellbahn. Eine

Belastung ist das für mich nicht, ganz im Gegenteil. Von

Brunn am Gebirge bis zum Bahnhof Floridsdorf benötigt die

Bahn exakt 39 Minuten – das würde ich mit dem Wagen nur

selten schaffen. Außerdem kann ich mich in der Bahn gemütlich

zurücklehnen und entspannt lesen. Ich würde sagen,

dass ich an einem Tag so um die 50 Buchseiten im Zug

schaffe. Ich zähle das eigentlich nicht, aber in der Woche

lese ich sicherlich ein ganzes Buch. Ab und zu treffe ich im

Zug auch Kunden, und man hat Zeit, ein wenig zu plaudern.

Und da ist es mir nicht erst einmal passiert, dass ich in der

Schnellbahn eine Bestellung aufgenommen habe.“ •

die Schwiegereltern außerhalb von Wien besuchen.“ 1 http://usemobility.eu/de/project

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Über und unter der erde

Kein Tag ohne Stau. Den Ballungsräumen Asiens, Amerikas und Europas

scheint der Platz für die Autos ihrer Bewohner auszugehen.

Wie werden wir uns bewegen, wenn die StraSSen endgültig

verstopft sind? Querspur hat sich ober- und unterirdische

Alternativen angesehen. Von Anita Kattinger

////// FLIEGENDE AUTOS ////////////////////////////////////

Sieht unsere Zukunft wie im Film „Das fünfte Element“ aus? Wir sitzen in einem fliegenden

Taxi und steigen gleich im passenden Stockwerk aus? Dank fliegender Autos bräuchten

wir keine neuen Straßen und würden nie wieder im Stau stehen. Utopie? Keineswegs.

Das amerikanische Unternehmen Terrafugia setzt auf einen Auto-ähnlichen Rumpf mit

vier Rädern und einklappbaren Tragflächen. Angetrieben wird das Flugauto von einem

104 PS starken Rotax-Motor, der eine maximale Fluggeschwindigkeit von 185 km/h und eine

Höchstgeschwindigkeit auf der Straße von 105 km/h ermöglicht. Kosten: 210.000 Euro.

Noch hält es sich aber nur acht Minuten in der Luft.

Das EU-Forschungsprojekt „myCopter“ unter Federführung des Max-Planck-Instituts für

biologische Kybernetik in Tübingen forscht indes an einem individualisierten 3D-Luftverkehr

mit Personal Aerial Vehicles (PAVs). Teil der Forschungsarbeit sind die Erwartungen des

Endverbrauchers: Wollen wir selbst fliegen oder vertrauen wir einer computergestützten

Steuerung? Trotz großem Forschungsinteresse der EU-Kommission dauert es wohl noch,

bis wir statt des Führerscheins den Flugschein machen werden. http://mycopter.eu

komplexes einfach erklärt

////// UNTERIRDISCHE HOCHGESCHWINDIGKEIT //////

Für Jules Verne war eine Reise um die Welt in 80 Tagen 1873 schon sehr ambitioniert. In naher

Zukunft brauchen vielleicht Reisende nur noch zwei Stunden von New York nach Peking.

Die Technologie „Evacuated Tube Transport“ (ETT) verbindet die Vorteile einer Magnetschwebebahn

und eines Vakuumtunnels. Diese Vakuum-Züge fahren durch Röhren, aus

denen die Luft herausgepumpt wurde, um Reibung zu minimieren. Ohne Luftwiderstand und

ohne Reibungsverluste durch Schienen ermöglicht dieses Reisen theoretische Spitzen geschwindigkeiten

von rund 6.400 Stundenkilometern. Weitere Vorteile: geringer Energieverbrauch,

keine Lärmbelästi gung, Entlastung des bestehenden Schienen netzes. Städteplaner

könnten beim Einsatz von ETT selbst entscheiden, ob die Tunnel ober irdisch auf

Stelzen oder unterirdisch gebaut werden sollen. Das Unternehmen „ET3“ aus Colorado,

USA, hat bereits zahlreiche Lizenzen für seine „Vactrains“ nach China verkauft.

www.et3.com

Bilder: www.mycopter.eu; www.et3.com; www.cargocap.de

////// VOLLAUTOMATISCHE KAPSELN ////////////////////

Den rasant wachsenden Gütertransport unter die Erde zu verlegen, würde oberirdisch mehr

Platz für den Personenverkehr schaffen. In zahlreichen Städten wird bereits an Konzepten

für unterirdische Rohrleitungen gegen das städtische Verkehrschaos gearbeitet. „CargoCap“,

ein Projekt der Ruhr-Universität Bochum, setzt auf vollautomatische Kapseln auf

Schienen, die in Tunneln unter der Stadt fahren. Der Antrieb erfolgt elektrisch über die

Räder via Drehstrommotoren. Wie im U-Bahnsystem können die Kapseln mittels Weichen

„abbiegen“ und bei einem Schacht stehen bleiben, um die Fracht abzuladen. Jede „Cap“

hat die Größe von zwei Europaletten CCG1 (0,8 × 1,2 × 1,05 m) und bringt die Fracht unabhängig

von der Verkehrslage zu Supermärkten, Warenhäusern und Firmen. Durch eine

spezielle Tunnelbauweise mit Rohren von einem Durchmesser von zwei Metern werden

weder oberirdische Häuser noch das Grundwasser gefährdet, da die Rohre unter oder

über vorhandenen Kanälen verlegt werden können. www.cargocap.de

Alles aus. Alles neu.

11


Große

Pause

Foto: Christoph Wisser

12


Vielleicht liegt das Neue nicht in der Turbo-Beschleunigung,

sondern auf einer ganz anderen Strecke? Um das herauszufinden,

ist Innehalten eine probate Strategie.

Von Ruth Reitmeier

Frisch, aktuell, aufregend, jung, origi

nell, modern. Dies sind nur einige

Synonyme für neu. Wie man es auch

nennen mag, das Neue ist in unserer

Kultur positiv besetzt, Innovation

gleich bedeutend mit Optimierung.

Das war nicht immer so. Der Paradigmenwechsel

kam mit der Industriellen

Revolution, die eine nie dagewesene

Dynamik und eine im Vergleich mit

den Jahrhunderten davor rasend

beschleunigte Entwicklung von Technik,

Produktivität und Wissenschaft

freisetzte. In zwei Jahrhunderten

wandelte sich unsere Wahrnehmung

der Welt von einer des Seins in eine

des Werdens.

Der Mensch ist zudem ein übermütiges

Wesen, seine Neugierde Ressource

und Antrieb. Er gibt sich mit dem Status

quo nicht zufrieden, probiert und

probiert, auch durchaus riskant und

mit ungewissem Ausgang. In der Bibel

greift die Vertreibung aus dem Paradies

dieses Thema gleich in den ersten

Kapiteln der Genesis auf und warnt

den Menschen vor seiner Neugierde.

Der Mensch muss

die Kontrolle

über intelligente

Technologien

behalten

Neben dem Spannungsfeld zwischen

Ethik und Wissenschaft liegt heute

die Herausforderung darin, dass sich

die Neugierde nicht verselbständigt.

Globale intelligente Systeme sind

bereits Realität: In Zukunft wird

etwa die gesamte Energieversorgung

von so genannten „smart grids“ gesteuert

werden. Das sind hochkomplexe,

intelligente Netze. Laut Klaus

Mainzer, deutscher Philosoph und

Wissenschaftstheoretiker, ist dies

die Art von Intelligenz, von der wir

abhängig werden. Die Bankenkrise

hat dies eindrucksvoll und beunruhigend

vor Augen geführt. Geld- und

Informations ströme sind so komplex

geworden, dass sie Einzelne nicht

mehr durchschauen können. Die

Herausforderung wird darin liegen,

Wege zu finden, diese Systeme in ihrer

Komplexität zu erfassen und die Kontrolle

zu behalten.

In der Philosophie spielen die für das

Neue gewählten Begriffe eine Schlüsselrolle.

Das ist deshalb wichtig, weil

wie wir Dinge nennen, unsere Vorstellung

über sie prägt. Neues wird dabei

üblicherweise mit bereits vorhandenen

Begrifflichkeiten beschrieben. Herbert

Hrachovec, Philosoph an der Universität

Wien, erklärt dies am Beispiel der

E-Mail, der elektronischen Post. Man

hätte sie wohl genauso elektronische

Kopie nennen können. Denn eine E-

Mail hat ja mit der klassischen Post

wenig gemein. Schließlich ist sie viel

schneller unterwegs und kann gleichzeitig

an beliebig viele Empfänger versandt

werden. Umgekehrt passt heute

die gute, alte Post nicht mehr so richtig

in diese neue Begriffswelt und wird

humorvoll als „Snail-Mail“, als Schneckenpost,

bezeichnet.

Im Anfang schuf Gott Himmel und

Erde, so lautet der erste Satz der Genesis.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte

finden sich zwei Begriffe des

Neuen: die Schöpfung aus dem Nichts

– ex nihilo – und die Kreation aus bereits

vorhandener Materie. So ist die

Schöpfung des Menschen nach dieser

Vorstellung radikal neu, Eva hingegen

schafft Gott aus einer Rippe Adams.

Das Neue ist immer

ein Kind seiner Zeit

In der Wissenschaft ist es ganz ähnlich.

Der Großteil wissenschaftlicher Forschung

ist eine Weiterentwicklung bereits

vorhandenen Wissens. Viel seltener

und entsprechend spektakulär ist der

Paradigmenwechsel, der das bisherige

Bezugssystem über den Haufen wirft

und einer Revolution des Faches gleichkommt.

„Dass etwas neu ist, merkt man,

wenn man auf scharfen Widerspruch

stößt“, sagte Albert Einstein.

Philosophen weisen darauf hin, dass

das Neue nicht zuletzt dann eine

Chance bekommt, wenn die Zeit

dafür reif ist. In der Antike wäre

Galileo Galilei mit ziemlicher Sicherheit

zum Tode verurteilt worden.

Als die Ber li ner Mauer fiel, war der

Kommunis mus bereits am Ende. Der

Arabische Frühling wäre laut Kennern

der Region auch ohne Smartphones

und Twitter gekommen, zumal die

autoritär herr schenden Regime sowie

die politischen und sozialen Strukturen

in diesen Ländern die Grenze zur

Unerträglichkeit überschritten hatten.

Alles aus. Alles neu.

13


Management-Berater Peter Drucker

sagte bereits in den 1980er-Jahren, dass

unser Innovationsstreben künftig sozialen

Innovationen gelten müsse. Technologische

Entwicklungen alleine können die Bedürfnisse

einer Weltbevölkerung von neun

Milliarden Menschen nicht befriedigen.

Nobelpreisträger Albert Einstein

erkannte, dass jeder, der etwas Neues

in die Welt bringt, auf Widerstand gefasst

sein muss. Doch weniger das Neue an sich,

sondern eher die Komplexität und die Beschleunigung,

mit der es komme, würden Ablehnung

hervorrufen, sagte Einstein.

Anthropologin Gisela Grupe bezeichnet

den Menschen als Opportunisten. Sein Erfolgsrezept

sei das Neue. Aufgrund veränderter

und wechselnder Lebensbedingungen

sei er gezwungen, Innovationen hervorzubringen.

Nur so könne er sein Überleben

sichern.

Der Mensch der Moderne ist auf das

Neue stets gefasst, es gehört zu seinem

Leben untrennbar dazu. Wobei im

21. Jahrhundert die Beschleunigung

durch das Internet eine neue Dimension

erreicht hat. Der Fortschrittsglaube,

die Überzeugung, dass der

Fortschritt das Leben automatisch

besser macht, ermüdet indessen. „Es

heißt immer, es geht uns heute so gut.

Aber geht es uns denn wirklich so

gut?“, fragt Philosoph Eugen-Maria

Schulak, Gründer des Instituts für

Wertewirtschaft in Wien. Karl Marx’

Vision von einer Welt, in der Maschinen

fast alles erledigen und der vom

Die Suche nach dem

Neuen treibt den

Menschen an seine

Leistungsgrenze

Joch der Arbeit befreite Mensch seine

neu gewonnene Freizeit genießt, ist jedenfalls

nicht eingetroffen. Statt „heute

dies, morgen jenes zu tun“, lebt der

Mensch in der modernen Leistungsgesellschaft

gehetzt von vermeintlich

immer weiter steigerbaren Produktivitätszielen.

Könnte Aristoteles eine

Zeitreise in unsere Welt unternehmen,

käme er wohl zu dem Schluss, dass es

sich um eine Form der Sklavenhaltergesellschaft

handle, meint Schulak.

All die Anforderungen und insbesondere

das Affentempo, in dem sie

erledigt werden sollen, machen immer

mehr Menschen ernsthaft zu schaffen,

führen zu Überlastung und Ängsten.

„Burnout ist die Krankheit unserer

Zeit“, betont Schulak. Der Output des

Menschen scheint an die Grenzen des

Machbaren, des Erträglichen gestoßen

zu sein. Verfolge man die menschliche

Produktivität historisch zurück, so

zeigt sich Erstaunliches: Im Mittelalter

haben Menschen höchstens 100 Tage

pro Jahr gearbeitet, die restliche Zeit

verbrachten sie mit der Familie zuhause.

Eine Menge arbeitsfreie Zeit

beanspruchten nicht zuletzt die 140

kirchlichen Feiertage pro Jahr.

Bewusstes Nichtstun

kann einen

Kreativitätsschub

bringen

Es ist offenbar weniger das Neue an

sich, sondern die Komplexität und die

Beschleunigung mit der es kommt, die

den Menschen fordern. „Man muss

die Welt nicht verstehen, man muss

sich nur darin zurechtfinden“, sagte

Einstein. Wie können also Strategien

gefunden werden, was gibt Halt, wie

bleibt der Mensch handlungsaktiv?

Nichtstun. Werden Fragen zu komplex,

erscheinen Probleme unlösbar,

ist Innehalten wirksamer als hektischer

Aktionismus, langsamer werden

das einzige Mittel gegen die Beschleunigung.

In der Psychologie beschreibt

die Resilienz-Forschung diese

Strategie. Resilienz ist die seelische

Widerstandskraft. Robuste Menschen

bewältigen Lebenskrisen, ohne dass

tiefe seelische Narben zurückbleiben.

In Krisen nehmen sie sich zunächst

einmal Zeit, lassen sich nicht von den

Ereignissen unter Druck setzen. Sie

gehen davon aus, dass der Zeitpunkt

kommen wird, wo sie wissen werden,

was zu tun ist.

Taktik ändern. Robuste Menschen

machen nicht immer wieder die gleichen

Fehler, sondern ändern ihre Taktik

und bleiben dadurch im Spiel. Ein

Beispiel aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie:

Experten berichten von

jungen Patienten, die am Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitässyndrom

leiden –

einer Entwicklungsstörung, die im

Kindesalter beginnt und sich unter

anderem durch Probleme mit der

Aufmerksamkeit auszeichnet –, und

die deshalb permanent im Schul- und

Notenstress sind. Ihr Problem: Sie bewältigen

den Schulstoff nicht, zumindest

nicht so, wie vom Lehrplan vorgesehen.

14


Auf konventionellem Wege, also

durch mehr Arbeit, durch noch mehr

Lernen unterm Schuljahr ist das für

diese Burschen und Mädchen nicht

zu schaffen, sie sind bereits am Limit.

Einige haben deshalb ihre Strategie

geändert: Sie teilen die schulischen

Anforderungen in mehrere „Baustellen“

auf. Alles, was ihnen leichter fällt,

schließen sie positiv ab. Mit einer Entscheidungsprüfung

am Jahresende in

einem Problemfach und einer Wiederholungsprüfung

im Herbst in einem

anderen, gewinnen sie Zeit, verteilen

den Lernstoff übers gesamte Jahr und

können ihn so bewältigen.

Angst und

Verzicht treiben

die PERSÖN LICHE

Weiterentwicklung

voran

Seit Ausbruch der Wirtschaftskrise

fühlt sich die Zukunft für viele noch

ungewisser an. Der Umbruch lauert,

so scheint es. Und selbst wenn der

Crash ausbleibt, so kommt er leise und

unterschwellig. In den Industrieländern,

den reifen Märkten, ist die

Epoche des Schrumpfens eingeläutet.

Prioritäten definieren. Menschen

schützen sich vor der Ungewissheit,

indem sie Vorsorge treffen. Gegen

die Angst hilft, so heißt es, ihr ins

Auge zu sehen: Wovor habe ich denn

überhaupt Angst? Was ist mir wirklich

wichtig, und wo liegt meine

Schmerzgrenze? Wer einmal zum

Kern dieser Fragen vorgedrungen ist,

wird möglicherweise feststellen, dass

viele Ängste unbegründet sind. Das

allein kann befreiend wirken. Natürlich

will niemand seinen Job oder sein

Unternehmen verlieren, Ersparnisse

in einer Währungskrise verpuffen

sehen. Doch den meisten Menschen

sind andere Dinge wichtiger, zumeist

sind es Beziehungen zu Familie und

Freunden. In unsicheren Zeiten ist das

Investieren in persönliche Beziehungen

deshalb wichtiger denn je.

Selbsttest. Nach der theoretischen

Abklärung der persönlichen Schmerzgrenze

kann die Askese wertvolle

Erkenntnisse über sich selbst liefern

und Verlustängste minimieren. Im

Selbstversuch kann getestet werden,

wie wichtig einem Dinge und Gewohnheiten

wirklich sind. Der Städter,

der eine Zeitlang freiwillig aufs Auto

verzichtet, wird merken, dass es auch

anders gehen kann. Es soll ein Leben

ohne Fernseher geben. Wer meint,

ohne Kaffee nicht funktionsfähig zu

sein, kann sich genau dieser Herausforderung

stellen.

Plan B. Vorbereitet sein ist alles. Vielen

Menschen hilft es, einen Plan B

zu haben. Damit spielen sie sich gedanklich

frei und Ängste vor einer

ungewissen Zukunft schrumpfen. Ein

Wiener Stadtfrisör hat etwa in ein exklusives

Messer- und Scherenset aus

Japan investiert. Das ist seine Versicherung

für den Tag X, wenn die Bankomaten

kein Geld mehr ausgeben.

Dann will er mit seinem Handwerk

und seinem erstklassigen Werkzeug

von Tür zu Türe gehen und notfalls

im Tauschhandel gegen Lebensmittel

Haare schneiden.

Europa ist

fortschrittsfeindlicher

als Asien

Es gibt natürlich auch gute Gegenargumente

gegen Krisenidyllen und

Parallelwelten, gegen eine solcherart

konsumverweigernde und wachstumsmüde

Kultur. Der deutsche Verleger

Wolfram Weimer argumentierte,

dass sich Europa heute, insbesondere

im Vergleich mit Asien, auf einem

fortschrittsfeindlichen Kurs befinde.

„Wir wollen nicht mehr weiter werden“,

beschreibt er den Zeitgeist im Nachrichtenmagazin

profil 1 .

Vielleicht liegen die Dinge auch ganz

anders, und es verbirgt sich hinter

dieser vermeintlichen Passivität die

Avantgarde. Innehalten ist nicht

gleichbedeutend mit Stillstand. Vielleicht

sind Konkurrenzdenken und

klassisch-technisches Fortschrittsstreben

passé, die Zeit aber reif für

das etwas wirklich Neues. Es spricht

vieles dafür, dass unser Innovationsstreben

künftig sozialer Innovation

gelten muss. Wenn nun in Europa eine

Bereitschaft zur Verhaltensänderung

entsteht – ja, in der wirtschaftlichen

Dauerflaute durch die Macht des Faktischen

entstehen muss –, mag darin ein

enormer (Wettbewerbs-)Vorteil liegen.

Experten für nachhaltige Energie sind

sich weitgehend einig, dass technische

Innovationen allein die Energiewende

nicht herbeiführen werden, dafür

ist eine Veränderung unserer Konsumgewohnheiten

nötig. Windräder

und Solarpaneele allein werden nicht

ausreichen, um neun Milliarden Menschen

– dies ist die UN-Bevölkerungsprognose

für 2050 – ein erträgliches

Leben auf der Erde zu ermöglichen.

Alternativen zur fossilen Energie

müssen also von sozialer Innovation

begleitet sein.

In Zukunft werden

vor allem soziale

Innovationen unsere

Nöte befriedigen

Soziale Innovationen, so schreibt

Managementguru Peter F. Drucker in

seinem Buch Innovation and Entrepreneurship,

seien auch in der Vergangenheit

weitreichender als technische

gewesen. So hätten Spitäler, die in ihrer

modernen Form im Zuge der Aufklärung

entstanden, viel größere Auswirkungen

auf das Gesundheitswesen

gehabt als die meisten Medikamente.

Das Fundament der führenden Rolle

Deutschlands als Industrienation

seien nicht primär seine Erfindungen

und technischen Errungenschaften,

sondern die Art der Organisation der

Produktion und Lehrlingsausbildung.

Aus dem Blickwinkel der Anthropologie

jedenfalls steht dem Menschen

stets ein Spektrum an Möglichkeiten

offen. Er ist Generalist. Und er ist

laut Anthropologin Gisela Grupe „ein

ewiger Opportunist“, der sich an neue

und wechselnde Lebensbedingungen

rasch anpassen kann. Dieser Zugang

zum und Umgang mit dem Neuen war

und ist sein Erfolgsrezept. •

1 www.profil.at/articles/1225/560/

331996/retro-industrie-so

Alles aus. Alles neu.

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16

Foto: Christoph Wisser


Land

in Sicht

Schrumpfende Regionen müssen sich neu erfinden,

um überleben zu können. Manchmal hilft aber nur mehr

die Abrissbirne. Oft nicht die schlechteste Lösung.

Von Daniela Müller

Wenn in einer Metropole nicht mehr Autos

das Straßenbild bestimmen, sondern Gemüsegärten,

ist einiges im Wandel. Detroit ist so

eine Stadt. Einst Hochburg der Autoindustrie,

ist Detroit nach dem Wegfall tausender

Arbeits plätze heute aufgeteilt in eine „chocolate

city“, eine Innenstadt mit 90 Prozent vielfach

armer und beschäftigungsloser Afroamerikaner

und in „vanilla suburbs“, einem fetten Speckgürtel,

in dem fast ausschließlich wohlhabende

Weiße wohnen. Detroit ist eine Stadt, in der

die Einwohnerzahl von einst zwei Millionen

auf 700.000 geschrumpft ist, in der 4.000 verlassene

Bauten stehen und in die Touristen nur

kommen, um Bauruinen zu fotografieren. Eine

Stadt, die lange Zeit vergessen hat, zu handeln.

Detroit ist das stark ramponierte Gesicht der

postindustriellen Zeit.

Dennoch haben sich Bürger, Organisationen

und die Stadtverwaltung zum Handeln entschlossen.

In den letzten Jahren ist eine „Stadtlandschaft“

entstanden. In brach liegenden

Arealen oder dort, wo Häuser abgerissen wurden,

hat man mit Urban Gardening-Projekten

die Landwirtschaft in den urbanen Raum geholt.

Und weil die Stadt pleite ist, erledigen die

Bürger die Reinigung und Beleuchtung ganzer

Straßen, die Müllabfuhr und die Aufgaben der

Polizei selbst. Diese neue Mischung aus Kunst,

Kultur und aktivem Bürgertum scheint auch in

der Bevölkerung gut angekommen zu sein:

Die Abwanderung konnte reduziert werden.

Der Niedergang von Wirtschaftszweigen mit

Fabrikschließungen, der Rückgang bäuerlicher

Strukturen, Zersiedlung, Flucht in die Städte

und der demografische Wandel zwingen weltweit

schrumpfende Regionen zum Umdenken.

Schrumpfungsprozesse

sind globale Phänomene,

die auch Österreich

erfasst haben

In Ostdeutschland will man beispielsweise mit

dem „Stadtumbau Ost“ 1 die Bürger zum Umzug

in Innenstädte bewegen und reißt radikal

leerstehende Wohnbauten ab. In Österreich sei

Rückbau noch kein Thema, sagt Elisabeth Stix

von der Österreichischen Raumordnungskonferenz

(ÖROK) 2 . Doch was nicht ist, kann noch

werden: Massiv von Abwanderung bedroht

sind die Obersteiermark, manche Bezirke im

Burgenland und Kärnten sowie das nördliche

Waldviertel. Laut ÖROK werden in Bezug

auf die Bevölkerung die Stadtregionen weiter

wachsen und entlegene Regio nen das Nachsehen

haben. „Man kann sich globalen Trends,

die für Schrumpfungsprozesse verantwortlich

sind, nicht widersetzen“, meint Stix. Hier gilt

es, Alternativen zu finden und Potenziale zu

heben. „Das geht nur, wenn Verwaltung,

Politik, Bevölkerung und Experten gut zusammenarbeiten.

Lösungen brauchen Zeit und

Ressourcen.“

Alles aus. Alles neu.

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Foto: www.stadt-geschichte.tugraz.at

© Marion Schneider & Christoph Aistleitner, Mediocrity

Foto: www.stadt-geschichte.tugraz.at © Oliver Jungwirth

Durch den Rückgang des Bergbaus ist in der Region

Eisenerz die Bevölkerung seit den 1960er-Jahren bis heute

um fast zwei Drittel geschrumpft. Das Projekt redesign Eisenerz

setzt sich mit der Problematik auseinander.

Eine Lektion, die man in Eisenerz gelernt hat, ist, dass

die Bevölkerung aktiv in den Rückplanungsprozess einbezogen

werden muss. Selbst dann, wenn das in weiterer Folge eine

Umsiedlung von hunderten Bürgern bedeutet.

Während man in Detroit eine weniger dicht

besiedelte Stadt als Chance sieht und dort erfolgreich

neue Konzepte erprobt, steht die postindustrielle

Region Eisenerz erst am Anfang

einer solchen Entwicklung. Dort schrumpfte

nach dem Wegfall tausender Arbeitsplätze die

Zahl der Einwohner von 13.000 in den 1960er-

Jahren auf aktuell 5.000. 3

In Eisenerz standen

zuletzt zwei Drittel

der Wohnungen leer

Nach vielen Versuchen ab den 1980er-Jahren,

die Region zu beleben, um Wachstum zu erreichen,

kam man Anfang des Jahrtausends zum

Schluss, dass man sich mit der Schrumpfung

abfinden müsse. Immerhin standen rund zwei

Drittel der Wohnungen leer und die Vereinsamung,

die Alterung und das Geschäftesterben

waren nicht zu übersehen. Die Verkehrsinfrastruktur

wurde schlechter, weil immer weniger

Menschen unterwegs waren. Mit dem Projekt

redesign Eisenerz 4 begann man, die gesamte

Gemeindestruktur und alle Beteiligten – vom

einzelnen Bürger über die Stadtverwaltung bis

zum Land Steiermark – in die Lösung einzubeziehen.

„Umwandlungsprozesse in Regionen

stehen und fallen mit den dort ansässigen

und betroffenen Menschen“, sagt Norbert

Weixlbaumer vom Institut für Geographie

und Regionalforschung an der Universität

Wien. Transformationsprozesse seien stets ein

Mix aus Top-down und Bottom-up. Einerseits

müsse die Bevölkerung die Gelegenheit bekommen,

sich einbringen zu können. Andererseits

müssten im Hintergrund vernünftige Rahmen-

bedingungen vorgegeben werden. Vor allem

müsse es lokale Akteure geben, die gewillt

seien, neue Strukturen aufzubauen.

Vielfach komplett neu gedacht werden muss dabei

die Verkehrsinfrastruktur. Thomas Klinger

von der Arbeitsgruppe Mobilitätsforschung an

der Goethe-Universität Frankfurt sagt:

„Im Zuge der industriellen Entwicklung wurde

vor allem auf Straßenbau gesetzt und so eine

entfernungsintensive Lebensweise geschaffen.“

Nun zwinge uns die demografische Entwicklung

neue Lösungen zu finden. Denn schließlich hat

jeder Bürger ein Bedürfnis nach individueller

Mobilität.

In Nordeuropa war man schon länger gefordert,

trotz knapper Ressourcen eine bestmögliche

Versorgung zu gestalten: Auf der dänischen

Insel Bornholm ist der Paketdienst der Post

zugleich Nahverkehrsbus und der Rettungsdienst

ist in den öffentlichen Personenverkehr

eingebunden 5 .

Nach nordischem Vorbild wird nun in der

Uckermark in Ostdeutschland versucht, den

Güterverkehr mit dem Personenverkehr zu

bündeln. Und in der dünn besiedelten Region

Odenwald bei Frankfurt will man künftig die

Verbindung zwischen Gemeinden, Gemeindeteilen

und dem Unter- bzw. Mittelzentrum auf

multimodaler Basis – unter Kombination von

Bahn-, Buslinien, Lieferverkehr, Post und Individualverkehr

in nur 30 Minuten garantieren.

In vielen Regionen müssen Verkehrslösungen

komplett neu gedacht werden, die Autostadt

Detroit etwa hat nicht einmal einen Bahnhof.

Doch fast überall sind die Kassen knapp. Tobias

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Foto: www.shrinkingcities.com

Foto: Urban farming, Detroit

Detroit ist eine Stadt, in der die Einwohnerzahl von einst zwei

Millionen auf 700.000 geschrumpft ist, in der 4.000 verlassene

Bauten stehen und in die Touristen nur kommen, um Bauruinen

zu fotografieren.

Bürger, Organisationen und die Stadtverwaltung haben in

den letzten Jahren die Landwirtschaft in den urbanen Raum geholt.

In brach liegenden Arealen oder dort, wo Häuser abgerissen wurden,

werden Urban Gardening-Projekte betrieben.

Schlüter von der Abteilung Hypertransformation

an der Hochschule Zittau-Görlitz schlägt

deshalb ein Genossenschaftsmodell mit Anreizsystem

vor, bei dem Bund und Länder wie

gewohnt Zuschüsse an Mobilitätsanbieter

leisten. Wer es schafft, die Nutzerzahlen zu

steigern, kann sich die so erworbenen Gelder

behalten.

die britische Stadt

Manchester gilt

international als vorbild

Tourismus ist auch ein Stichwort für Transformationsprozesse

in vornehmlich alpinen

Regionen. Dort könnten große Naturschutzgebiete

neue Impulse bringen, glaubt Norbert

Weixlbaumer von der Universität Wien. In den

westfranzösischen Alpen kurbeln diese schon

jetzt den sanften Tourismus an. „Dadurch gewinnt

der Lebensraum an Qualität und wird

für Betriebsansiedlungen attraktiver“, sagt

Weixlbaumer.

Wie Kultur eine Region beleben kann, zeigt das

britische Beispiel Manchester, das neben Detroit

als Good-Practice-Beispiel für erfolgreichen

Stadtumbau gilt. Dort gelang nach dem Verlust

der klassischen Industriezweige durch den Bau

eines großen Shoppingcenters, durch mehrere

Kulturinitiativen sowie die Ansiedlung von

neuen Berufsfeldern der Turnover. Mittlerweile

verzeichnet Manchester sogar einen leichten Bevölkerungszuwachs.

Die Stadtverwaltung kam

der Bevölkerung dabei entgegen: Wer konstruktiv

zum Umbau der Stadt beitragen wollte, dem

wurden ohne Verrechnung von Betriebskosten

Gebäude zur Verfügung gestellt.

Die Bereitschaft zum Umbau und der Mut zum

Rückbau müssen in Eisenerz erst vollständig

ankommen. Das 2006 gestartete und noch bis

2021 laufende Projekt redesign Eisenerz beäugte

die Bevölkerung lange Zeit skeptisch. Als das

erste Gebäude abgerissen wurde, seien die Emotionen

hochgegangen, berichtet Elisa Rosegger-

Purkrabek von redesign Eisenerz. Ähnlich dem

Schrumpfen ist

schmerzhaft.

Kultur und Bildung

als Gegenstrategie

deutschen Modell „Stadtumbau Ost“ setzt man

gezielt auf Schrumpfung, indem vornehmlich

peripher gelegene und vielfach leer stehende

Wohnsiedlungen abgerissen und die verbliebenen

Bewohner dazu bewegt werden sollen, in

den Innenstadtbereich zu ziehen. Sieben Wohnhäuser

fielen der Abrissbirne schon zum Opfer,

über 120 Haushalte sind umgesiedelt. Weitere

Projektziele von redesign Eisenerz sind, die Region

touristisch als Ganzjahresdestination zu

etablieren, die Betriebe in der Region zu stärken,

mit entsprechendem Schulangebot stärker

auf Bildung zu setzen und kulturelle Angebote

zu etablieren. Bis 2030 soll sich die Einwohnerzahl

von derzeit 5.000 auf 3.500 einpendeln.

Wie vor dem Boom der Industrialisierung. •

1 www.stadtumbau-ost.info

2 www.www.moz.de/galerie/uebersicht/

g3/908/155780

3 www.oerok-atlas.at

4 www.eisenerz.at/redesign

5 http://elpub.bib.uni-wuppertal.de/servlets/

DerivateServlet/Derivate-684/d110401.pdf

Alles aus. Alles neu.

19


die welt in 20 jahren

Die Stadt

nach Plan

Der deutsche Architekt Meinhard von Gerkan hat sich eine

ganz neue stadt in china ausgedacht, die jetzt auch gebaut wird.

EIN GESPRÄCH zu seinen ÜberlegungeN, Beobachtungen

sowie schlussFolgerungen zur Städteplanung, und wie all

dies dazu führte, dass im Herzen von Lingang nichts

als Wasser ist.

Das Gespräch führte Ruth Reitmeier

Stadtmensch oder Landmensch?

Eindeutig Stadtmensch. Das Leben

in der Stadt ist für mich spannender,

vielseitiger, ansprechender.

Sie planen eine Stadt der Zukunft

für 1,3 Millionen Menschen in China:

Lingang New City.

Dort hatte ich Gelegenheit, das gesamte

Konzept zu entwickeln und nun zu realisieren

und dabei meine theoretischen

und logischen Folgerungen, die ich aus

anderen Städten entwickelt habe, verbessert

umzusetzen.

Welche Überlegungen standen bei

Lingang am Anfang?

Ganz am Anfang stand die Wahrnehmung

der nicht mehr zu bewältigenden

Verkehrsprobleme in China, die in großen

Städten noch viel drängender sind

als etwa in Europa, und die unglaublich

vielen Fehler, die man dort gemacht

hat und heute noch macht.

Welche?

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der

Verkehr fließt, je mehr Straßen gebaut

werden. Mit jedem Kilometer mehr

Straße wird entsprechend mehr

gefahren. In Shanghai gibt es Hochschnellstraßen.

Die haben nicht nur

einen enorm großen Flächenbedarf,

als Schnellverbindungen bieten sie

nur gelegentliche Anschlusspunkte

zum Stadtorganismus selbst. All das

hat zur Folge, dass die Verkehrsdichte

zunimmt, mehr Energie verbraucht

wird, die Umweltbelastung steigt und

der Stadtorganismus durch Verkehrsschneisen

zerschnitten wird.

Individualverkehr

erzeugt enorme

Probleme in der

Stadt

Hat der motorisierte Individualverkehr

in großen Städten ausgedient?

Der Individualverkehr hat zweifellos

Vorzüge, zugleich erzeugt er enorme

Probleme in der Verdichtung des Verkehrs

und des Flächenbedarfs, allein

wegen der Größe der Fahrzeuge. Der

Sättigungsgrad an Autos ist in vielen

Städten erreicht.

Muss auf das Autofahren in der Stadt

künftig verzichtet werden?

Nicht unbedingt, denn es haben sich

zugleich Dinge entwickelt, die vor zehn,

fünfzehn Jahren bestenfalls gedacht

wurden. Ich spreche vom Car-Sharing.

Man muss also gar kein Auto mehr besitzen,

sondern kann es bei Bedarf für

eine gewisse Zeit nutzen. Durch Mehrfachnutzung

wird der fließende Verkehr

durch eine viel geringere Zahl an

Autos möglich.

Was muss sich in alten Städten ändern?

Am wichtigsten ist die Änderung des

Bewusstseins. Dass das Auto nicht das

wichtigste Statussymbol sein muss und

man es viel effizienter, gemeinsam mit

anderen nutzen kann. Gibt es erst genug

Sammelstellen, könnte die Anzahl

der Autos enorm reduziert und Fläche

wieder freigegeben werden. Denn ein

Auto braucht fünfmal soviel Fläche wie

ein Mensch. Das ist ein unglaubliches

Problem, insbesondere in alten Städten.

Als ein Vorbild für Lingang diente eine

sehr alte Stadt, eine berühmte Stadt

der Antike: Alexandria.

Diese Frage führt uns zur Struktur innerhalb

der Stadt, das Zusammengehen

von Verkehrstrassen, von Bewegungsräumen

und Parks. All das setzt eine

20


Foto: © Wilfried Dechau

Meinhard von Gerkan leitet mit Volkwin

Marg das renommierte Architekturbüro gmp

in Hamburg.

Das Unternehmen wurde 1965 gegründet,

betreibt heute weltweit 10 Büros und baut

Kultur- und Infrastrukturbauten, Stadien

und derzeit eine ganze Stadt in China: Rund

60 Kilometer südöstlich von Shanghai entsteht

Lingang New City. Die Bauzeit erstreckt

sich über rund 18 Jahre bis 2020.

Von Gerkan stammt aus einer deutschbaltischen

Familie. Als Kriegsvollwaise und

Flüchtling wuchs er als Pflegekind in Hamburg

auf.

Sein Weg zur Architektur sei nicht vorgezeichnet

gewesen, wie er betont: „Ich habe

zwölf verschiedene Schulen besuchen müssen,

wurde hin-und-hergerissen von allen

möglichen Beeinflussungen. Ich wusste also

nicht, was ich werden wollte“.

Seine Wahl fiel schließlich auf das Architekturstudium,

zumal er Freude am Arbeiten

auf Papier, Zeichentalent sowie Interesse

an der Konstruktion hatte. „Und das hat mir

vom ersten Semester an Spaß gemacht.“

Alles aus. Alles neu.

21


Abbildung: © Heiner Leiska

Die strahlenförmig

angelegten Straßen Lingangs

führen zum Stadtmittelpunkt –

ein künstlicher See.

Vorbild dafür ist das

ägyptische Alexandria.

Abbildung: google maps; Barbara Wais

Shanghai

Die Planstadt Lingang befindet sich 60 km südöstlich von Shanghai und

soll 2020 fertig sein.

bestimmte logische Erkenntnis voraus.

Dazu muss man wissen, dass die Mitte

chinesischer Großstädte dicht mit

Hochhäusern bebaut ist. Die Mieten

sind dort am höchsten. Deshalb siedeln

sich jene dort an, die es sich leisten können,

und das sind allen voran Banken

und Versicherungen, die allerdings für

das Stadtleben tote Masse sind.

Allein die Tatsache, eine dicht bebaute

Stadtmitte zu schaffen, hat zur Konsequenz,

dass sie wochentags verkehrsmäßig

überfrachtet, am Wochenende aber

menschenleer ist. Und jetzt spanne ich

den Bogen zwischen Alexandria und

Lingang. Wenn man mitten in der

Stadt eine große Wasserfläche hat –

in Alexandria ist das eine Bucht, in

Lingang ein von mir erdachter künstlicher

See mit drei Kilometern Durchmesser

–, kann das nicht passieren.

Pudong

International

Airport

Lingang New City

Yangshan

Container-

Tiefseehafen

Denn der See hat den Vorteil, dass keine

Häuser darauf stehen. Zugleich ist er ein

Ort der Freizeit, des Vergnügens, der

Begegnung.

Die Stadtmitte

bleibt absichtlich

verkehrsfrei

Das Zentrum Lingangs ist also der

See sowie die rundherum verlaufende

Strandpromenade?

Richtig. Dort kann man sich mit Freunden

treffen, eine Runde joggen oder mit

dem Rad fahren. So funktioniert im

Übrigen der gesamte öffentliche Verkehr

der Stadt: Der fährt im Kreis. Die

Struktur ist eine Kreisfigur mit einem

Mittelpunkt, peripheren Kreisen und

strahlenförmig angelegten Straßen.

Alles ist so angeordnet, dass sich die

Wege stark verkürzen. Hier hat also

ein ratio nales Moment eine Ordnungsstruktur

geschaffen. Das findet man

auch in anderen Städten, doch so konsequent

umgesetzt wie in Lingang gibt

es das bisher auf der ganzen Welt noch

nicht.

Lingang ist zwar keine autofreie Stadt,

doch Sie haben alles daran gesetzt, die

Autos nicht ins Zentrum zu lassen.

In der Mitte ist der große See und da

gibt es nur Wasser – also keine Autos.

Dann kommt ein Strand, der ist relativ

breit, eine Grün- und Freizeitzone. Ich

habe auch ganz bewusst in die Gestaltungsordnung

hineingeschrieben, dass

man im inneren Ring die Autos nicht

an der Straße abstellen darf, es darf

dort keine freien Parkplätze geben. Die

Autos müssen unter die Erde oder weg.

Man muss andere

Städte durchlaufen,

um neue STädte

planen zu können

Wie entwickelt sich die Idee

einer Stadt der Zukunft?

Es ist zuallererst ein Prozess des Durchlebens.

Man muss einfach andere Städte

erleben, am besten durchlaufen. Nur

dann nimmt man sie wirklich wahr.

Um ein Beispiel zu nennen: Brasilia

war als eine moderne, autogerechte

Stadt konzipiert.

... und genau das war das Problem.

Man war zunächst unheimlich stolz

darauf. Nur, was ist passiert? Als Autofahrer

muss man heute in eingezäunten

Straßen von A nach B fahren. Völlig

unterprivilegiert sind alle nicht motorisierten

Verkehrsteilnehmer. In Wohn-

22


Das Zentrum chinesischer Städte

ist normalerweise von Banken und

Versicherungen besiedelt, die für

das Stadtleben tote Masse sind:

wochentags verkehrsüberlastet,

am Wochenende menschenleer.

In Lingang soll der See eine

solche Entwicklung verhindern.

vierteln kommt man ohne Auto nicht

von der einen Seite auf die andere.

Die autogerechte Stadt war, wie sich

heraus stellt, eine unsägliche Erfindung,

denn zugleich wurde damit eine

menschen ungerechte Stadt geschaffen.

Wird Lingang so funktionieren,

wie Sie sich das vorstellen?

Ich kann dazu nur sagen, ich wünsche

mir, dass die Stadt zu 80 Prozent so

funktioniert, wie erdacht. Zu 100

Prozent kann es gar nicht klappen,

weil eine Stadt permanenten Veränderungen

unterliegt, die nicht antizipierbar

sind. Aber natürlich fürchte ich,

dass ich vielleicht zu falschen Schlüssen

gekommen bin. Das wird man erst beurteilen

können, wenn die Stadt voll

belebt ist.

Eine ganze Stadt

zu planen ist

eine enorme

Herausforderung

Welche Vorteile hat die neu geplante

Stadt gegenüber der gewachsenen?

Die neu geplante Stadt hat den einen

Vorteil, dass sie etwa auf Bedingungen,

die im Mittelalter geherrscht haben,

keine Rücksicht nehmen muss. Dass es

eben keine engen Gassen gibt und dass

viel bessere Verknüpfungen innerhalb

der Stadt hergestellt werden können.

Ist es der Traum jedes Architekten eine

ganze Stadt zu planen?

Es ist eine der größten Herausforderungen,

es ist ein Geschenk, es tun

zu dürfen und es verpflichtet einen,

das Beste daraus zu machen. Es ist

zugleich aber – und das habe ich

lernen müssen – eine nicht aufhören

Foto: © Julia Ackermann / gmp Foto: © wikipedia, Ricky Qi

Lingang ist eine Stadt, die dem menschlichen Bedürfnis nach Begegnung

Rechnung tragen soll.

wollende Dauerbelastung, weil man

ständig aufpassen muss, dass nichts

schief geht.

Freiräume für

die spätere

Stadtentwicklung

zulassen

Muss eine neue Stadt um ein Mobilitätskonzept

herum geplant werden?

Mobilität ist zweifellos ein Grundbedürfnis

der Menschheit, doch es geht

dabei nicht nur um Fortbewegung,

sondern um die Begegnung mit anderen

Menschen. Man meint immer, hat

man erst eine Straßenstruktur geschaffen,

wurde ein Netz über die Fläche

ausgebreitet, dann entstehe eine

Grundstruktur und man brauche

nur noch die Häuschen reinzuflicken.

Doch die Netzstruktur, die man vorher

unveränderlich festlegt hat, hat den

Nachteil, dass alles, was mehr Bedeutung

hat, durch solche Raster gefesselt

ist und es keinen Spielraum gibt.

Was hat denn mehr Bedeutung?

Was in der Stadt womit und mit wem

wie verbunden ist, wo ein Schwerpunkt

liegt, wo eine Kulturachse entstehen

kann. Ein Plan muss der Freiheit der

Stadtentwicklung und den menschlichen

Bedürfnissen so gut wie möglich

Rechnung tragen.

Ist Lingang die ideale Stadt?

Lingang ist für mich eine einmalige

Chance, weil hier die Qualität des

urbanen Lebens im Mittelpunkt steht. •

Alles aus. Alles neu.

23


Beamen bleibt

vorerst Utopie

Man kann das Rad nicht neu erfinden, lautet ein sprichwort.

Die Quantenphysik versucht Es trotzdem. Was genau daraus wird,

weiSS niemand. Es könnte aber alles neu werden.

Das Gespräch führte Daniela Müller

Schrödingers Katze

Der Begründer der Quantenmechanik, Erwin Schrödinger, suchte zur

Veranschaulichung des Faches eine originelle Analogie in Form eines

fiktiven Experimentes. Dazu sollte eine Katze mit einem in absehbarer

Zeit radioaktiv zerfallenden Atom in einen nicht einsehbaren Kasten

gesperrt werden. Laut Versuchsanordnung wird die Katze in dem

Moment getötet, in dem das Atom zerfällt und der Geigerzähler

ausschlägt. Der nicht einsehbare Kasten ist dabei ein Synonym für

quantenphysikalische Vorgänge: Wenn man prinzipiell nicht wissen

kann, welches der beiden möglichen Ereignisse (Atom ist zerfallen

bzw. nicht zerfallen) eingetreten ist, liegen beide Zustände „gleichzeitig“

vor, die Katze ist tot und lebendig. Sobald der Mensch als

Beobachter eintritt, verändert er die experimentelle Situation:

Durch das Nachsehen, hier durch das Öffnen des Kastens, wird

ein bestimmter Zustand des Atoms und somit der Katze festgelegt.

Die Quantenphysik geht davon aus, dass die Welt noch viele

Überraschungen birgt – es im Fall der Katze noch andere Zustände

als „Katze lebt“ oder „Katze ist tot“ geben kann. Welche das sein

könnten, ist wenig definiert.

Markus Aspelmeyer geht an der

Fakultät für Physik der Universität

Wien den Geheimnissen der Quantenphysik

auf den Grund, die möglicherweise

unser Denken radikal verändern

werden.

Wie könnte im quantenmechanischen

Sinne Mobilität neu gedacht werden?

Es gibt das Gebiet der Quanteninformation.

Dort wird Information mit

Hilfe der Quantenphysik verarbeitet,

was ungeahnte Möglichkeiten für

Kommunikations- und Rechenanwendungen

eröffnet – sozusagen neue

Wege der „Datenmobilität“. Die Quantenkryptographie

ist nur ein Beispiel.

Dort wird abhörsichere Kommunikation

auf Basis der Quantenphysik

erzielt. In der herkömmlichen Kryptogra

phie ist das schwierig. Jeder Lauschangriff

wird aufgrund der Gesetze der

Quantenphysik sofort entdeckt. Die

Quantenkryptographie wird auch

schon kommerziell eingesetzt.

Es gibt auch andere Entwicklungen,

beispielsweise Ideen, wie man mit

Hilfe der Quantenphysik die Effizienz

von Solarzellen verbessern könnte.

Sollte das jemals erfolgreich sein,

könnte das durchaus die Mobilität beeinflussen,

je nachdem was Solarzellen

eben alles antreiben.

24


Also keine Aussicht auf eine völlig

neue Art, um von A nach B zu kommen?

Das beste Konzept, das ich dazu kenne,

ist der Infinite Improbability Drive

aus dem Buch „Hitchhiker’s Guide to

the Galaxy“. Die Idee ist, dass ein Objekt

mittels der quantenmechanischen

Wellenfunktion so weit im Raum verteilt

ist, dass es im Prinzip überall sein

kann. Das Problem ist nur, dass man

vor Antritt der Reise nicht weiß, wo

im Universum man landen wird…

Markus Aspelmeyer ist Professor für Physik an der

Universität Wien. Zuvor war er unter anderem am Institut

für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI)

der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

in Wien tätig. Er ist Gründungsmitglied und derzeitiger

Sprecher des Vienna Center for Quantum Science and

Technology (VCQ). Aspelmeyer wurde national und international

mehrfach für seine Forschungen im Bereich

der Quantenphysik ausgezeichnet.

http://aspelmeyer.quantum.at

Hat es Potenzial, umgesetzt zu werden?

Leider nein.

Wie sieht’s mit Beamen aus?

Ebenfalls hoffnungslos. Beamen ist

nichts anderes als Informationsübertragung,

allerdings ohne dass das Teilchen,

das die Information ursprünglich

trägt, transportiert wird. Die

Informa tion wird auf ein entferntes

Teilchen übertragen, und am Ausgangsort

unwiderruflich gelöscht. Die

Teleporta tion, die ihren Namen aus

dem Film Star Trek erhielt, wurde im

Labor erstmals in Österreich mit einzelnen

Lichtteilchen und auch Atomen

erprobt. Dabei wurden schon Distanzen

bis zu 140 Kilometer erreicht. Die

Schwierigkeit liegt darin, mehr Information

als einige wenige Bits zu teleportieren.

Bei einem größeren System,

und sei es auch nur ein Radiergummi,

wird’s prinzipiell unmöglich.

DAS Gedankenexperiment der Quantenphysik,

Schrödingers Katze, zeigt das

Dilemma, dass die uns bekannte Welt

und die der Quantenphysik unvereinbar

sind. Wie kann das Beispiel übersetzt

werden auf gesellschaftliche Prozesse?

Schrödinger wollte damit sagen, dass

die Quantenphysik Zustände von Objekten

zulässt, die sich unserem Alltagsverständnis

völlig entziehen.

(Aspelmeyer entschuldigt sich, um seiner

echten Katze die Türe zu öffnen.)

Wir können heute Experimente durchführen,

deren Ergebnisse im direkten

Widerspruch stehen mit unserer Vorstellung,

dass ausschließlich der eine

oder der andere Zustand eines Objekts

vorliegt, zum Beispiel dass ein Objekt

„hier“ oder „dort“ ist. Bei Atomen oder

Lichtteilchen mag einen das wenig stören,

weil man von diesen kleinen Objekten

keine rechte Vorstellung hat,

weil sie ja so klein sind. Aber bei einer

Katze steht das im direkten und ganz

krassen Widerspruch zu dem, was wir

aus dem Alltag kennen, nämlich entweder

tot oder lebendig.

Was heißt das alles für unser Denken?

Im Moment ist die größte Herausforderung,

diese Erkenntnis einmal zu

verdauen und klarzumachen, dass

Quantenphysik unser Weltbild radikal

infrage stellt. Da sind neue Denkansätze

gefragt.

Was zeigt uns die Quantenphysik, das wir

bisher nicht vollständig gedacht haben?

Wir wissen mittlerweile, wo wir falsch

liegen. Nämlich zu denken, dass man

einem Objekt Eigenschaften unabhängig

von der Messung der Eigenschaften

zuschreiben kann. Platt formuliert

könnte man sagen: Wir gehen fälschlicherweise

davon aus, dass jemand

Schuhe trägt, auch wenn wir nicht hinschauen.

Diese sogenannte Realismusannahme

ist falsch, zusammen mit der

Annahme, dass meine Beobachtung an

meinem Ort keinen Einfluss auf Ihre

Beobachtungen an Ihrem weit entfernten

Ort hat. Das ist ein extrem harter

Brocken, weil diese beiden Annahmen

nahezu intuitiv in unserer Weltanschauung

verankert sind. Was wir

noch nicht wissen, ist, wie man stattdessen

darüber nachdenken sollte.

Kann Quantenphysik ein Umbruch

in unserem naturwissenschaftlichen

Denken sein? Löst es Bisheriges ab oder

ist es eine alternative Denkweise?

Aus unseren Experimenten haben wir

bereits unabänderbare Fakten, die wir

nicht mit den einfachen Annahmen,

auf denen unser Weltbild fußt, erklären

können – unabhängig von der physikalischen

Theorie. Wir wissen also,

dass wir unsere Anschauungen gewaltig

ändern müssen. Wir arbeiten auch

mit Philosophen zusammen, um konsistente

Denkweisen zu finden. Um auf

die Frage zu antworten: Es wird bisheriges

Denken ablösen.

Wie kommen wir heraus aus unserem

Denkschema: Wir sehen nur, was wir

kennen? Oder um Einstein zu zitieren:

„Der gesunde Menschenverstand ist

nichts anderes, als die Summe der Vorurteile,

die wir bis zum 18. Lebensjahr

erworben haben.“

Man muss die Leute so früh wie möglich

mit der verrückten Welt der Quantenphysik

konfrontieren und sie zum

Denken anregen. Eigentlich dürfte man

das Gymnasium nicht verlassen, ohne

mit diesem Weltbild konfrontiert worden

zu sein. Und vielleicht muss man

ja noch früher ansetzen.

Warum brauchen wir Bilder, um etwas

zu glauben?

Das scheint ein natürliches Bedürfnis

zu sein. Daraus entspringt die menschliche

Neugier. Unsere Erklärungen

beruhen nicht nur auf Hypothesen

über die Welt, diese sollen auch nicht

im Widerspruch mit der Gesamtheit

unserer Beobachtungen stehen.

Wir wollen ein konsistentes Weltbild.

Die Quantenexperimente zwingen uns

dazu, einige dieser Hypothesen, wie

etwa den Realismus, aufzugeben.

Und das ist letztlich genauso schwer,

wie es sich anhört … •

Alles aus. Alles neu.

25


innovatives online & offline

StART-UPs

Spannende Ideen aus aller Welt zum Thema Alles neu.

Von Katrin Stehrer

////// Sag’s mir durch die Nummer ///////////////////

Beim Autofahren sind umfassende Botschaften an andere Verkehrsteilnehmer meist

unmöglich. Getadelt, gelobt und geflirtet wird daher mittels stark verkürzter Zeichensprache.

Ein kostenloser Service zweier Deutscher verspricht das zu ändern:

Auf www.flinyu.com kann man mit anderen Autofahrern in Kontakt treten, ohne deren

Namen zu kennen. Es genügt das Autokennzeichen. Voraussetzung ist, dass der

Adressat auch auf www.flinyu.com registriert ist.

////// Treibstoff gegen den Klimawandel ////////

Den CO 2-Gehalt in der Atmosphäre reduzieren und damit flüssigen Treibstoff produzieren?

Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Laut Climeworks, einem Spin-off der

ETH Zürich, könnte der Traum bald Realität sein. Reines CO 2 kann schon heute mithilfe

des patentierten CO 2-Luftfilter-Materials „Sorbent“ aus der Umgebungsluft gewonnen

werden. Bis 2020 soll auch der zweite Baustein für die Spritproduktion geschafft

sein: die Umwandlung von reinem CO 2 in flüssigen Treibstoff.

www.climeworks.com

////// umstiegshilfe in die firma //////////////////////

PocketTaxi und PleaseCycle sind zwei Start-ups mit unterschiedlichen Lösungen für

eine Herausforderung: die hohe Umweltbelastung durch den Berufsverkehr zu reduzieren.

Die PocketTaxi-Software, die in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut

für Technologie entwickelt wurde, ermöglichen mit wenigen Klicks spontanes Bilden

von Fahrgemeinschaften für den Weg von und zur Arbeit. Voranmeldung à la Mitfahrzentrale

ist nicht mehr nötig. Derzeit gibt es PocketTaxi nur für Unternehmen, geplant

ist eine Erweiterung auf Privatpersonen.

www.pockettaxi.de

PleaseCycle ist ein Londoner Start-up, das den Mitarbeitern von Unternehmen den

Umstieg auf das Fahrrad erleichtern will. Neben Umweltgründen führt PleaseCycle

ein originelles Argument ins Treffen: Körperliche Ertüchtigung reduziere die Rate an

Konzentrationsfehlern bei Mitarbeitern um 27 %. Das Angebot beinhaltet unter

anderem Routen planung, ein BikeMile-Programm, das Fahrradkilometer mit Einkaufs

gutschei nen belohnt, sowie einen Bike-Concierge, der sich um technische Angelegenheiten

kümmert, von Parklösungen bis zum Firmenlogo auf dem Rad.

www.pleasecycle.com

26


Fahrschein gegen Muskelkraft /////////////

Im Smart-City-Konzept „Hybrid2“ des Londoner Designers Chiyu Chen erzeugen

Fahrgäste selbst die Energie, mit der Stadtbusse und andere öffentliche Verkehrsmittel

betrieben werden: An Bus- und U-Bahnhaltestellen können mit Bremsrekuperation

ausgestattete Fahrräder entlehnt werden. Sie speichern beim Bremsen Energie,

welche nach Rückgabe an der Bikesharing-Stelle in das Verkehrsstromnetz

eingespeist wird. Der Fahrgast erhält dafür Bonus-Punkte, mit denen er andere Verkehrsmittel

kostenlos nutzen kann. Ein funktionierender Prototyp ist vorhanden. Was

noch fehlt, ist eine Stadt, die das fortschrittliche Konzept testen und umsetzen will.

www.chiyuchen.com

////// Spielend unterwegs //////////////////////////////

Seit 2010 sind die öffentlichen Verkehrmittel Londons ein gigantischer Reality-Spielplatz.

Möglich macht das die Firma Dynamic50 mit ihrem Spiel Chromaroma. Wer

eine Netzkarte besitzt, kann allein oder in Gruppen Punkte sammeln. Belohnt werden

Missionen wie die Nutzung möglichst vieler verschiedener Verkehrsmittel oder

die „Eroberung“ von Haltestellen durch besonders häufiges Aus- und Einsteigen.

Das macht Bus- und U-Bahn-Fahren nicht nur kurzweilig, sondern erleichtert auch

die Beobachtung des eigenen Fahrverhaltens. Derzeit ist das Spiel auf London beschränkt.

Das Ziel ist ein globales Chromaroma.

www.chromaroma.com

Auch der schwedische Designer Jiang Qian versucht Unterhaltung in die U-Bahn zu

bringen. Seine Game Straps sind von der Decke hängende Haltegriffe mit Monitoren,

auf denen beispielsweise Tetris gespielt werden kann. Wer besonders ins Spiel vertieft

ist, wird durch einen Vibrationsalarm sowie aktuellen Routeninformationen ans Aussteigen

erinnert. Bis jetzt existieren die Game Straps nur als Idee. Umsetzungspioniere

werden noch gesucht.

www.coroflot.com/jq

////// Den Stau überrollen //////////////////////////////

Für den 3D Express Coach der chinesischen Firma Hashi Future Parking Equipment

sind Staus kein Hindernis: Ein Tunnelbus fasst bis zu 1200 Personen und überspannt

eine zweispurige Fahrbahn in zwei Metern Höhe. Er kann normale Fahrzeuge

und Staus auf diese Weise überfahren. Die Kosten für den Bau des Busses und der

Führungsbahn betragen nur 10 % einer entsprechenden U-Bahn-Trasse. Realität soll

der 3D Express Coach auf 185 km Länge im Pekinger Mentougou District werden.

http://abcnews.go.com/Travel/beijing-china-3d-express-coach-combat-trafficpollution/story?id=11407858#.UDPvqULzqlU

////// Selbst den Verkehr regeln ////////////////////

Die Feedback-Plattform TrafficCheck, die 2012 als Prototyp für den Raum Graz online

ging, setzt auf die Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Verkehrsplanern. Vor

allem nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer sind eingeladen, via Smartphone die Infrastruktur

zu bewerten: Wie lang muss man vor einer Ampel warten, wie viel Stau

produziert sie, wie oft fällt sie aus? Über das direkte Feedback der Kunden soll der

städtische Verkehr verbessert werden. TrafficCheck ist eine Kooperation zwischen

verschiedenen Unternehmen, der TU Wien und der Grazer Stadtverwaltung.

www.trafficcheck.at

Alles aus. Alles neu.

27


Mobile Visionen

der Vergangenheit

Besonders eifrig bei Zukunftsvisionen war

stets die Zeitschrift Hobby, in den 50er-Jahren

Zentralorgan atomgetriebener Vollmobilität:

Vom Energieverbrauch war nie die Rede, aber

von mehrstöckigen Autobahnen in Städten,

Privatflugzeugen, unendlich schnellem Schienenverkehr,

und, nicht zu vergessen, die Mobilität in den Meeren,

auf dem und unter Wasser. Die Autos sahen aus wie

Raumschiffe, die momentan nicht fliegen, die Passagiere

schwitzten niemals, selbst unter riesigen Glaskuppeln nicht,

und die Autos fanden bereits selbst ans Ziel.

So heftig das Pendel in den 50er-Jahren auch

ausschlug, die Technikträume sind dann

doch an der Praxis gescheitert: Irgendwann

dürfte sich herausgestellt haben, dass

der Mensch doch nicht unablässig

in der Stadt unterwegs sein,

sondern auch dort

wohnen will.

Illustration: © Klaus Bürgle: Das neue Universum 76, 1959

28


Von sprechenden

Ampeln und Autos, die

überflüssig werden

Halb so viele Autos wie heute und dennoch schneller am Ziel –

2050 könnten wir uns an diesen Gedanken gewöhnt haben.

Von Martin Strubreiter

Die Verkehrsampeln der Zukunft sehen

die Kolonnen kommen, vermessen deren

Geschwindigkeit, kommunizieren

in Echtzeit miteinander und regeln den

Verkehr durch grüne Wellen deutlich

flüssiger – nicht nur für Autos, sondern

auch für Fußgänger und Radfahrer.

So sieht einer der vielen Mosaiksteine

aus, aus denen sich Mobilität künftig

zusammensetzen wird. Autos wird es

auch in Zukunft noch geben, aber sie

werden in Europas Städten eine geringere

Rolle spielen als heute. Davon geht

Wolfgang Schade vom Fraunhofer-Institut

für System- und Innovationsforschung

in Berlin aus, Autor der Studie

VIVER 1 (VIsion für nachhaltigen

VERkehr in Deutschland): „Bis 2050

wird der PKW-Bestand in Deutschland

von 523 auf rund 250 pro 1000 Einwohner

gesunken sein.“ Für Österreich

(derzeit 537 Pkw je 1000 Einwohner) ist

in Städten Ähnliches zu erwarten.

Dass der bisherige Verkehr vor allem

in den Städten an seine und die Grenzen

der Bewohner stößt, ist schon

heute fühlbar. Vor dem endgültigen

Steckenbleiben wird aber ein Umdenken

einsetzen, das schmerzlich sein

kann, weil ein paar lieb gewonnene Bequemlichkeiten

auf der Strecke bleiben

werden, oder eine freudige Chance,

weil dann doch alles schneller, günstiger

und geschmeidiger gehen wird.

Fest steht: Technik alleine wird Staus,

Lärmproblem und CO 2-Emissionen

nicht beseitigen können. Auch der

Mensch wird einen neuen Zugang

zur Mobilität entwickeln müssen, um

rasch, umweltfreundlich und unproblematisch

sein Ziel zu erreichen.

Eine einzige

Netzkarte für

viele städte

Die häufigste Frage wird also nicht

mehr jene sein, welches Auto man

fährt. Irene Feige, Leiterin des Münchner

Instituts für Mobilitätsforschung

(IFMO): „Künftig wird die Frage lauten:

Wie komme ich optimal, also

schnell und ressourcenschonend, in

Stadt und Land von A nach B?“ Es geht

also nicht nur um Verkehrswege und

-mittel, sondern um individuelle Mobilität

mit unterschiedlichen Motiven

und Bedürfnissen.

Dazu werden deutlich mehr unterschiedliche

Verkehrsmittel bereit

stehen als bisher. Und auch das Auto

wird es noch immer geben: in verschiedenen

Größen, elektrisch, mittels

Wasserstoff oder als (wahlweise rein

elektrisch oder mittels Verbrennungsmotor

zu fahrender) Plug-in-Hybrid.

Der Stadtbewohner der Zukunft wird

multi modale Mobilität pflegen. Viele

Experten gehen davon aus, dass sich

die User der Zukunft wünschen, ohne

jede Hemmschwelle zwischen den Verkehrsmitteln

wechseln zu können. Alle

sollten mit einer einzigen Mobilitätskarte

zugänglich sein, überall in der

Stadt bereit stehen, und die Planung

einer Fahrt sollte einfach sein wie nie

zuvor: Man gibt dem Smartphone oder

einem anderen digitalen Assisten ten das

Ziel an, und schon wird die schnellste,

kostengünstigste und umweltschonendste

Route angezeigt. Die benötigten

Leihautos, -fahr- oder -motorräder

können gleich reserviert werden, der

Fahrplan öffentlicher Verkehrsmittel

wird angezeigt, man wird zum Startpunkt

gelotst, und nach der Fahrt wird

pauschal und automatisch abgerechnet.

Teil dieser Vision ist, dass durch die

perfekte Vernetzung der Anbieter eine

Mobilitätskarte in vielen Städten einsetzbar

ist. Mit anderen Worten: Man

kombiniert einfach jene Verkehrsmittel,

die am besten zur Fahrstrecke passen.

Das private Auto wird dabei überflüssig.

Sobald Carsharing sehr viele

Nutzer hat, wird es auch deutlich flexibler

sein als heute: Jede Autokategorie

wird verfügbar sein, vom wendigen

Elektro-Zweisitzer für die Stadt bis zum

Van für Urlaubsreisen. Die Autos können

überall stehengelassen werden,

weil überall potenzielle User wohnen.

Ein weiterer Clou: Man muss nicht

mehr unbedingt selbst Autofahren.

Das autonome, computergesteuerte

Auto gibt es bereits und wird unseren

Alltag in den nächsten 20 Jahren revolutionieren.

Ein ebenso bekannter Stammgast früherer

Zukunftszenarien ist das fliegende

Auto. Mit dem EU-Projekt

MyCopter (siehe auch Seite 11) wird

aktuell an der praktischen Durchführung

getüftelt. Vor allem die Gefahr

der Kollision mit ober- und unterhalb

Alles aus. Alles neu.

29


fliegenden Autos kann durch automatische

Steuerung ausgebremst werden.

Somit könnte das fliegende Auto besonders

am Land einen Teil der Mobilität

übernehmen. Dort werden öffentliche

Verkehrsmittel in den nächsten

Jahrzehnten voraussichtlich mangels

Nachfrage reduziert.

Radikale

Trendbrüche AUF

DEM Weg zur Mobilität

der Zukunft

Man kann von teils sehr radikalen

Trendbrüchen sprechen, schließlich

wird auch die Welt 2050 nicht mehr

jene sein, die wir heute kennen. Fast

drei Viertel der Menschen wird Mitte

des Jahrhunderts in Städten wohnen.

In Europa und den USA wird das

Durchschnittsalter weiter zunehmen

und damit die Zahl der Erwerbstätigen

im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung

sinken – ein steigender Bedarf an Produkten,

die bequemes Fortkommen

ermöglichen, wird die Folge sein.

Wolfgang Schade: „Die Stadt der Zukunft

wird sich enorm verändert haben

und nicht mehr nach den Bedürfnissen

des Autoverkehrs gestaltet sein.

Es wird mehr Grün- und Lebensraum

geben, weil die neue Mobilität weniger

Platz braucht, was dann zu mehr Lebensqualität

führen wird. Beste Voraussetzungen

also, um die Trendumkehr

freudig zu zelebrieren.

Stark verändern wird sich die Mobilität

auch in jenen Ländern, die heute

zu den Wachstumsmärkten der Autoindustrie

zählen. Irene Feige vom Institut

für Mobilitätsforschung: „In den

Schwellenländern ist die Nachfrage

nach Motorisierung derzeit höher als

sie bei uns selbst in Wirtschaftswunder-

Zeiten war. Dort wird die Dichte privater

Pkw noch etwas länger zunehmen.“

Ein positiver Denkansatz geht allerdings

davon aus, dass Inder, Chinesen

und andere künftige Autofahrer aus

den Fehlern der nördlichen Welt lernen

und den Verkehrskollaps gleich

überspringen: Vielleicht werden intelligente

Verkehrsampeln 2050 nicht nur

in Europa deutlich mehr Radfahrer

und Fußgänger als Autofahrer zu erkennen

haben, sondern weltweit. •

1 www.isi.fraunhofer.de/isi-media/

docs/service/de/presseinfos/VIVER.pdf?

WSESSIONID=5230e64b8044d248e71

31389e4ef54ea

„Das Neue ist nur auf den ersten Blick langsamer“

Wolfgang Schade 2 , Fraunhofer Institut

für System- und Innovationsforschung

in Berlin, über nachhaltige

Mobilität im Jahr 2050 und warum

große Veränderungen selbstverständlicher

sein werden als angenommen.

Ihre Studie zeichnet ein durchwegs positives

Bild: Mobilität bleibt leistbar,

die Überalterung bleibt im Rahmen,

wir sind bereit für Entschleunigung

und einen rationaleren, also weniger

von Emotionen gesteuerten Umgang

mit dem Auto. Wird das wirklich so

leicht gehen?

Die positive Grundstimmung ist

bewusst gewählt, wir wollten ein

nachhaltiges, angenehmes, aber

realistisches Bild der Zukunft entwerfen.

Gehen wir von negativen Voraussetzungen

aus, dann kommen wir sehr

schnell zu einem sehr negativen Gesamtbild.

Es zeigt sich aber, dass Kampagnen

wie „Kopf an, Motor aus. Für

null CO 2 auf Kurzstrecken“ in vielen

deutschen Städten schon heute zum

Umdenken führen. Ich bin auch überzeugt,

dass wir bereit sind für Entschleunigung.

Auch Firmenchefs werden

hoffentlich einsehen, dass es auf

längere Sicht kontraproduktiv ist,

wenn ein Mitarbeiter fünf Jahre lang

über seine Verhältnisse arbeitet, dann

aber für zwei Jahre wegen Burnout

ausfällt. Dieses Umdenken wird uns

auch bei der Mobilität bereit machen

für Neues, das nur auf den ersten Blick

langsamer aussieht.

Gibt es kritische Stimmen zu

Ihrer Studie, beispielsweise von

der Autoindustrie?

Die Resonanz ist positiv, lediglich

ältere Menschen reagieren etwas

kritischer. Und die Autoindustrie

war ein wenig irritiert darüber,

dass der Autobestand so drastisch

auf weniger als die Hälfte sinken soll.

Aber die Hersteller haben den Trend

ohnedies schon erkannt, sehen ihre

künftige Rolle im Anbieten von

Mobilität und engagieren sich daher

bei neuen Geschäftsmodellen wie

Carsharing. Sogar die Deutsche Bahn

ergänzt ihr Angebot schon jetzt um

E-Bikes.

Da wird der große Durchbruch ja

mit der Vernetzung kommen …

Noch sind die Angebote etwas fragmentarisch,

man muss sich bei jedem

Anbieter extra anmelden und überall

getrennt bezahlen. Künftig wird die

Wegabfrage übers Smartphone laufen

und man wird auf einen Blick erkennen

können, welches Verkehrsmittel

man am besten nimmt, wo es steht

und was es kostet. Die technischen

Möglichkeiten dazu sind sicher schneller

entwickelt als die organisatorischen:

Da werden alle Anbieter zusammenarbeiten

müssen, und es werden

Datenserviceanbieter wie Google dabei

sein, an die man heute bei Mobilität

noch nicht denkt. •

2 www.isi.fraunhofer.de/isi-de/n/

mitarbeiter/ws.php

30


Von allem mehr

Immer mehr Österreicher pendeln zwischen ihrem Wohnort und Arbeitsplatz. Die Anzahl der Jahreskarten

für öffentliche Verkehrsmittel, der PKW sowie der Fahrräder, die in den Haushalten vorhanden sind,

nimmt zu. Auch weil Mobilität immer vielseitiger wird, wie die Mobilitätsstudie des ÖAMTC 2011 beweist:

57 % der Österreicher nutzen für ihre täglichen Wege mehr als ein Verkehrsmittel.

Die Zahlen wurden von Silvia Wasserbacher zusammengestellt.

daten & fakten

Pendler sind Erwerbstätige, Schüler oder Studierende, die zwischen

Wohnung und Arbeits- oder Ausbildungsstätte einen Weg zurücklegen und

dabei das Grundstück, auf dem sie wohnen, verlassen. 1

Immer mehr Erwerbstätige in Österreich pendeln 1

~ 2,41 Mio.

1971

+ 12,9 %

~ 2,72 Mio.

1981

+ 9,9 %

~ 2,99 Mio.

1991

+ 11 %

~ 3,33 Mio.

2001

+ 4,8 %

~ 3,49 Mio.

2009

Gesamt von

1971 – 2009:

+ 45 %

Die Anzahl der Haushalte steigt, in denen es mindestens eine Jahreskarte für öffentliche Verkehrsmittel

gibt. 1 Im Jahr 1989 besitzen 19% der Haushalte Österreichs eine Jahreskarte. 20 Jahre später – 2009 – sind es 24 %.

Keine Jahreskarte

19 % 24 %

Wien

Vorarlberg

Salzburg

Oberösterreich

Niederösterreich

Steiermark

Tirol

Kärnten

Burgenland

40 %

27 %

21 %

21 %

21 %

17 %

16 %

13 %

9 %

Jahreskartenbesitzer in absoluten Zahlen

2006

322.317 Salzbu rg 2006 4.696

2007

334.574 +4 %

2007 4.756 +1 %

2008

341.030 +2 %

2008 5.210 +9,5 %

2009

345.508 +1 %

2009 6.740 +29 %

2010

355.838 +3 %

2010 7.443 +10 %

2011

373.000 +5 %

2011 8.854 +19 %

Juli 2012

447.000 +20 %

Quelle: Salzburger Verkehrsverbund

Quelle: Wiener Linien GmbH & Co KG

1965 hatten 11 % der Geamtbevölkerung

einen PKW, im Juni 2012 bereits 53 % . 1

Wien

Stuttg

art

2002 82.215

2012

108.428 +32 %

Quelle: Verkehrs- & Tarifverbund

Stuttgart GmbH (VVS)

Die Zahl der Fahrradbesitzer hat in den vergangenen

Jahren wieder zugenommen. 2010 gab es in

76 % der Haushalte mindestens ein Fahrrad. 1

Angaben in 1000

68 %

4.441

4.513

1 Quelle: Statistik Austria

Alles aus. Alles neu.


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