Am Puls der Stadt 28 Foto: © shutterstock
WIE SCHNELL ODER LANGSAM, HEKTISCH ODER GEMÜTLICH WIR EINE STADT ERLEBEN, HÄNGT VON SEHR VIELEM AB: VERKEHR UND LÄRM, BÜRO- UND ÖFFNUNGSZEITEN, BAULICHEN GEGEBENHEITEN UND STÄDTISCHER INFRASTRUKTUR. UND VON UNSEREM PERSÖNLICHEN LEBENSSTIL. MANCHEM STADTBEWOHNER WIRD ES ZU SCHNELL: ER ZIEHT AUFS LAND. Von Teresia Tasser Stoßzeit in einer europäischen Metropole: Büromenschen hasten zu den Abgängen der U-Bahnen. Autos arbeiten sich im Stop-andgo-Modus voran. Gedränge in den Einkaufsstraßen kurz vor Ladenschluss. Blinken, Hupen, Signale, der Lärmpegel steigt. Die Grundstimmung ist hektisch und durch den Verkehrsstau zugleich gebremst. DICHTE VERMITTELT EIN GEFÜHL DER SCHNELLIGKEIT An Orten, an denen viele Menschen unterwegs sind, wird das Grundtempo einer Stadt besonders fühlbar. „Die Schnelligkeit in einer Stadt ist auch an die soziale Dichte gekoppelt“, meint die Wiener Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer. Unter der sozialen Dichte versteht man die Nutzerdichte bestimmter Bereiche. Fazit: Sind Bus oder U-Bahn gesteckt voll, wird eine Stadt schneller erlebt, als wenn die Wägen quasi leer sind. Immer wieder gibt es den Versuch, das Tempo einer Stadt an konkreten Parametern zu messen, zum Beispiel am Gehtempo von Stadtbewohnern: Im Schnitt gehen Menschen fünf Kilo meter pro Stunde oder 1,4 Meter pro Sekunde. In manchen Städten schneller, in manchen langsamer: In Hannover ist man schneller unterwegs als etwa in Bremen, in Wien schneller als in Mexico City, in der Schweiz schneller als in den USA. 31 Länder weltweit untersuchte der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine Ende der 1990er Jahre für sein bekanntes Werk „Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen“. Levine untersuchte neben der Gehgeschwindigkeit auch die Genauigkeit der Uhren, die Termintreue oder die Schnelligkeit an einem Postschalter und kam zum Schluss, dass Tempo und Ökonomie zusammenhängen: „Menschen in Regionen mit einer blühenden Wirtschaft, einem hohen Industrialisierungsgrad, einem kühleren Klima und einer auf den Individualismus ausgerichteten kulturellen Orientierung bewegen sich tendenziell schneller.“ DAS TEMPO DER STADT WIRKT SICH AUF DIE GESUNDHEIT AUS Psychologen zufolge führen Städte mit hohem Lebenstempo, wo – wie Studien belegen – die gefühlte Hektik größer ist, auch zu mehr koronaren Herzerkrankungen ihrer Bewohner. Die sogenannte Eilkrankheit, das Gefühl des Zuspätkommens, des Gehetzt-Seins, prägt das kollektive Befinden solcher Städte. Die Menschen stehen permanent unter Zeitdruck, sind von Terminen getaktet und verhalten sich ungeduldig bis ungehalten, wenn sie warten müssen. Zu diesem Städtetypus zählen auch chinesische Megastädte, die, auch ohne eine solche Kategorisierung zu kennen, bei vielen Menschen sofort ein Bild der Menschenmassen, von Autos verstopften Straßen, Hochhauswüsten und viel Lärm hervorrufen – das Klischee der schnellen Stadt. IN CHINA ZIEHEN MENSCHEN AUS DEN MEGA-METROPOLEN IN KLEINSTÄDTE Interessant ist, dass sich gerade dort, wo der soziale Aufstieg mit dem Zuzug in die Stadt untrennbar verbunden ist, bei jenen, die genug angehäuft haben, ein kleiner Gegentrend zu entwickeln scheint: Wohlhabenden Menschen wird es zu viel, sie kündigen gute Jobs und ziehen in kleinere Städte, die für Chinesen als „ländlich“ gelten. Etwa nach Lijiang im Südwesten der Provinz Yunnan. Dort manifestiert sich eine wahre Stadtflucht. Bei Yi ist einer der neu Hinzugezogenen. Seine Entscheidung dort hin zu ziehen, begründet er mit dem Arbeitsstress, den er in Beijing hatte. Geld verdienen die meisten Neo-Lijianger im Tourismus, denn die Provinz Yunnan ist wegen ihrer schönen Landschaftszüge ein beliebtes Reiseziel. „Man kann gesellschaftliche Tendenzen in einer Stadt meist schneller erkennen. Und große Städte haben es an sich, dass sie Trends vorgeben“, sagt die Stadtpsychologin Ehmayer ganz allgemein. Vielleicht ist der Wegzug aus den Megastädten Chinas also nur der Beginn einer in Zukunft wachsenden Bewegung, die auch auf andere Länder und Kontinente überschwappen wird. Die Flucht vor dem Stress, sozusagen. Die Geschwindigkeit des Stadtlebens wird aus verschiedensten TEMPO 29