36 Zoom >GEREIZT! DIE SUCHT NACH DEM NÄCHSTEN KLICK Vorsicht, in diesem Artikel geht es um Sucht. Wahrscheinlich sind viele Leser selbst davon betroffen. Eine Betrachtung über Gier, Kicks, Langeweile und das echte Leben von Marcus Ertle Ich bin süchtig. Wie jeder Süchtige stelle ich mir immer mal wieder ein paar sehr zentrale Fragen, die naturgemäß alle um meine Sucht kreisen. Eine dieser Fragen ist: Bin ich eine Ausnahme, oder gibt es noch viele andere Junkies, die meine Sucht teilen? Die Antwort auf diese Frage beruhigt mich, zumindest in dem Sinn, dass ich mich in guter und großer Gesellschaft wähnen kann. Ich bin süchtig nach Reizen. Ich meine nicht die Reize, die wir mit einem Augenzwinkern goutieren. Ich spreche nicht vom reflexhaft-gierigen Blick, der schönen Frauen auf der Straße folgt, oder dem Drang, Gemälde oder Sonnenuntergänge anzuschauen. Ich meine digitale Reize, körperlos, geruchlos, unantastbar, flüchtig und schnell. Ich brauche meine erste Dosis morgens. Der automatische Griff zum Handy, das natürlich neben dem Bett liegt. Irgendwas ist über Nacht passiert, weil immer was passiert und weil ich nicht weiß, was passiert ist, muss ich es jetzt gleich wissen. Meine seriösen Dealer - Spiegel, SZ, Welt - schicken mir per App meinen Informationsstoff. Und ich sauge ihn ein, als wüsste ich in der reflektierten Ecke meines Hirns nicht, dass die neuesten Meldungen über den IS, über Griechenland, über Affären von Politikern, dass all das Zeug erstens warten kann und zweitens mein Leben nur sehr indirekt betrifft. Ich bin kein verantwortungsbewusster Staatsbürger, der sich auf dem Laufenden hält, ich vergieße keine Träne im späten Morgenlicht, wenn wieder ein Flüchtlingsboot untergeht (Shitstorm bitte per Twitter, ein paar Follower mehr kann ich gut gebrauchen). Ich bin einfach nur ein Süchtiger. Aber die Reizsucht geht ja weit über das Aufsaugen neuester Schlagzeilen hinaus, das könnte ich als berufsbedingt abtun. Aber ich weiß, dass es weit mehr ist. Das Smartphone, das Notebook, der Rechner, sind weniger Wiedergabegeräte, sie sind vielmehr Tore in eine parallele Welt, in die ich flüchte, mit ihnen beantworte ich eine weitere Frage der Süchtigen: Wie komme ich an meine Droge? Es gibt zwei Götter, den Gott des echten Lebens und den Gott des unechten Lebens Ich schätze, dass ich damit bei den unter 35jährigen halbwegs technikaffinen Leuten zu einer Mehrheit gehöre. Ein wohliges Gefühl. Nichts freut den Sünder mehr, als die Existenz der anderen Sünder. Aber warum denn eigentlich Sünde? Was ist daran schlimm, wenn man sich als Suchtmittel virtuelle Reize ausgesucht hat? (Oder die Reize suchen uns aus, aber das ist ein anderes Thema). Ein paar Indizien in Sachen: Du machst was falsch, nenne es von mir aus Sünde. Das schlechte Gewissen der Realität gegenüber. Ich behandle die reale Welt irgendwie stiefmütterlich. Ich sitze am Esstisch, vor mir der Teller, von mir aus ein Schnitzel drauf und es schmeckt ja auch sehr gut, aber neben dem Teller liegt mein Handy und ich schaffe es einfach nicht das Schnitzel ohne Unterbrechung zu essen, ich muss zwischendurch schauen, was sich tut. Es gibt zwei Götter, den Gott des echten Lebens und den Gott des unechten Lebens, und beiden kann man nicht gleichzeitig huldigen. Deswegen wohl das schlechte Gewissen. Wenn man einen Partner hat, der, sagen wir, eine ausgesprochen gesunde Distanz zu Smartphones, Apps, News etc. hat, dann verstärkt sich das schlechte Gewissen enorm. Aber das schlechte Gewissen allein befreit keinen von der Sucht. Denn ich kann mir ja immer einreden, dass mein Konsum zwar zu hoch ist, aber das, was ich konsumiere, an sich nicht schlecht ist. Anders als bei Kokain etc. Die Wetter-App ist nützlich. Der Spiegel-Ticker ist nützlich. Wäre ich solo, wäre Tinder sicher auch sehr nützlich. Die neuen unglaublich interessanten Posts meiner Facebookfreunde – sehr nützlich. Die Fotos auf Instagram – nützlich. Keiner der Reize, nach denen ich süchtig bin, ist völlig unnütz. Den egal, welchen Inhalt er hat, er schafft es ja immerhin, seinen Zweck zu erfüllen. Seinen Zweck. Welchen Zweck? Zu informieren? Ach was, die Information ist nur der Stoff, aus dem der Zweck ist. Der Zweck ist schlicht Unterhaltung, und Unterhaltung wiederum ist dazu da, uns vor der Langeweile zu bewahren, die in uns allen wohnt und die sichtbar wird, wenn nichts <strong>Neue</strong>s am Horizont auftaucht. Wie komme ich von dem Zeug los? Vor 300 Jahren war das natürlich anders, ich weiß, da führten die Menschen ein hartes, reduziertes, aber immerhin naturnahes Leben, das sehr arm an (angenehmen) Reizen war. Aber dieses wohlfeile Wissen bringt mir heute gar nichts. Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn ich, wie Jürgen Domian, mal zwei Wochen ohne jede Technik in eine Blockhütte in den tiefen finnischen Wald gehen würde. Ganz auf mich zurückgeworfen. Keine Ablenkung. Lange einsame Spaziergänge, Lesen vielleicht, vielleicht auch schreiben. Ich glaube, ich würde entweder wahnsinnig werden, die Erleuchtung erlangen, ein Meisterwerk schreiben oder einfach nur zwei Wochen beschissene Laune haben und Eichhörnchen beobachten. Die Vorstellung kennst du, lieber Leser und Mitsüchtiger, natürlich selbst. Schön, oder? Ja, das ist die dritte Frage der Süchtigen: Wie komme ich von dem Zeug los? Das mit der Flucht in die Wälder ist ja kaum praktikabel. (Zum Glück.) Ich habe mir überlegt, wie ich meine Reizsucht im Alltag loswerden kann, oder zumindest reduziere, sie zähme, wie ein hartnäckiges, raffiniertes, unglaublich liebeswertes kleines lästiges Äffchen. Totalverzicht kann man vergessen. Ich brauche mein Handy beruflich und es könnte ja auch sein, dass ich einen sehr wichtigen Anruf bekomme, der in fünf Minuten beantwortet werden muss, sonst bereue ich es mein Leben lang. Solche Anrufe bekommen die meisten von uns zwar nie im Leben und wenn dann merken wir es oft gar nicht, was ja auch wieder gnädig ist. Also davon abgesehen: Ich kann nicht ganz ohne Handy. Deswegen dachte ich mir: Du machst es einfach so, dass du immer nur zur vollen Stunde auf dein Display schaust, ob denn da eine neue Mail, SMS, Whatsapp-Nachricht, Tickermeldung etc. angekommen ist. Gute Idee, aber verdammt schwer durchzuziehen. Ich ziehe das Handy ja schon automatisch aus der Hosentasche, wenn ich an der Ampel stehe. Hm, das wäre doch mal eine sinnvolle App. Man stellt ein, dass man nur jede Stunde aufs Handy schauen will und wenn man es vorher versucht, bekommt man einen starken Stromschlag. Aber vermutlich würden Facebook, Twitter und Google sofort das Patent kaufen und die App für immer verschwinden lassen. Das wäre wirtschaftlich vernünftig, immerhin würde auch kein guter Drogendealer Antisuchtmissionare in seinem Gebiet dulden. In 59 von 60 Minuten passiert gar nichts Ich könnte mir auch jedes Mal wenn ich aufs Handy, Notebook oder den Rechner schauen will sagen: Halt,
schau doch aus dem Fenster, da pfeifen die Spatzen, Sonne scheint oder Wind weht, willst du nicht lieber rausgehen? Ich glaube, das würde aber erst in einem Stadium funktionieren, in dem ich meiner Reizsucht tendenziell schon überdrüssig bin. Wie kann denn bitte ein Spatz auf dem Baum beispielsweise mit Facebook konkurrieren? Er kann es erst, wenn Facebook öde ist, wenn ich erkannt und verinnerlicht habe, dass auf Facebook während meiner Abgesehenheit in 59 von 60 Minuten so gut wie gar nichts passiert, was mich interessieren könnte. Und der Spatz könnte „ auch dann konkurrenzfähig werden, wenn das, was ich Reizrunde nennen, ihren Reiz verloren hat. Reizrunde: Wenn auf Facebook nichts los ist, schau ich auf Twitter, wenn da nichts geht, auf Spiegel-Online, wenn da nicht, checke ich Mails, wenn es keine Mails gibt, Whatsapp, auch nix los; dann zu Bild, da ist immer irgendeine niedrigschwellige Scheiße und dann geht’s auch schon zurück zu Facebook oder von mir Das schlechte Gewissen befreit keinen von der Sucht “ aus Instagram. Oder Flickr. Wenn also diese Reizrunde als öde Zeitverschwendung erkannt wird, dann kann die Stunde der Spatzen, der Natur, der reizenden Menschen in Fleisch und Blut schlagen. Erst dann. PS: Natürlich wird das, was ich auf Facebook, Twitter, der <strong>Szene</strong>-Website, Instagram und so poste immer lesenswert und ergo keine Zeitverschwendung sein. So gut wie nie zumindest. Aber der Artikel hier erscheint ja ohnehin in Print und das ist ein relativ guter Drogenersatzstoff für Reizsüchtige, das nur ganz am Rande.