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HOLLY-JANE RAHLENS

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<strong>HOLLY</strong>-<strong>JANE</strong> <strong>RAHLENS</strong><br />

Wie man richtig küsst<br />

Aus dem Amerikanischen von Sabine Ludwig


Prolog<br />

AN JENEM NACHMITTAG, als ich meine Mutter mit Sammy Rosetti im Bett erwischte,<br />

wusste ich: Es kann nur noch schlimmer werden. Wie konnte sie es wagen? Woher<br />

nahm sie das Recht? Da lag sie, ausgestreckt auf dem Hotelbett, die Bettdecke<br />

zerwühlt, die Schuhe weggeschleudert, die Beine nackt, das Haar aufgelöst. Ich war<br />

entsetzt!<br />

Im ersten Moment kam ich gar nicht auf die Idee, dass sie da im Bett mit<br />

Sammy war. Wieso auch? Sammy gehörte mir.<br />

Ich machte noch ein, zwei Schritte. Jetzt würde meine Mutter mich sicher gleich<br />

bemerken. Aber sie war wie in einer anderen Welt, atmete schwer und hielt das<br />

Objekt der Begierde fest umklammert. Fassungslos beobachtete ich, wie die rechte<br />

Hand meiner Mutter für einen Augenblick von Sammy abließ, dann gierig wieder<br />

zugriff und ... umblätterte.<br />

Ich weiß noch, wie ich dachte: Was liest die denn da? Was für ein Buch ist so<br />

fesselnd, dass sie mich noch nicht mal reinkommen hört?, als mir die<br />

aufgeschlagene Seite ins Auge stach. Leuchtblaue Markierungen und<br />

neonpinkfarbene Wellenlinien am Rand. Markierungen, die ich nur zu gut kannte: Sie<br />

stammten von mir. Meine Mutter las mein Buch. Wie man richtig küsst von Samantha<br />

T. Rosetti. Sammy. Mein Sex-Ratgeber!<br />

Ich wusste sogar, auf welcher Seite sie war: 53. Im Kapitel So wird ein Strip erst<br />

richtig hip! Den markierten Absatz kannte ich praktisch auswendig. Wenn ihr beide<br />

Lust habt, aber euch noch nicht so ganz entspannt fühlt, dann versucht es doch<br />

einmal im Dunkeln. Den Zusatztipp dazu hatte ich eingekreist und mit einem<br />

Ausrufezeichen versehen: Solltet ihr einen von diesen niedlichen Leuchtkulis haben,<br />

könnt ihr ihn abwechselnd auf klitzekleinen Zonen des Partners aufleuchten lassen –<br />

hier ein Bauchnabel, da ein großer Zeh, dort ein Ohrläppchen oder ein<br />

Ellbogen. Macht ein Spiel daraus. Das bricht das Eis. Und ist außerdem sehr sexy.<br />

Mein Magen krampfte sich zusammen. Mist! Jetzt wusste meine Mutter, warum<br />

ich mir gestern genau so einen Leuchtkuli gekauft hatte.<br />

Mir wurde heiß. Und dann kalt. Eine Sekunde lang war ich kurz davor, zu<br />

explodieren, vor Wut zu platzen, in der nächsten hatte ich das Gefühl aus lauter<br />

Scham zu einem Nichts zu schrumpfen.<br />

Meine Mutter hob ihren frisch gespitzten Stift und drehte sich zum Licht.<br />

Wahrscheinlich wollte sie etwas in ihr Notizbuch schreiben, das neben ihr lag. Und


da entdeckte sie mich, oder besser: mein verschwommenes Spiegelbild im Fenster.<br />

»Oh!«, schnappte sie nach Luft. »Du meine Güte! Hast du mich erschreckt, Renée!<br />

Ich hab dich gar nicht gehört!«<br />

Als wären meine Beine sprachgesteuert, machte ich einen verzweifelten Satz<br />

nach vorne und griff nach dem Buch. »Das ist meins!«<br />

zurück?«<br />

Meine Mutter setzte sich auf und zog ihren Rock über die Beine. »Schon wieder<br />

»Was machst du mit meinem Buch?«<br />

Meine Mutter hob die Hände und öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen<br />

wollte, aber nichts kam heraus. Nun ja, was hätte sie auch sagen können? Sie war<br />

schuldig. Im Sinne der Anklage. Punkt.<br />

»Du schnüffelst also jetzt in meinem Koffer rum?«, sagte ich und wedelte bei<br />

jedem Wort dramatisch mit dem Buch.<br />

Der lange, fließende Seidenschal meiner Mutter glitt zu Boden und landete dort<br />

neben einem zerknüllten Müsliriegelpapier. Mit diesem Gesichtsausdruck, den ich<br />

nur zu gut kannte, ihrem Nun-lass-uns-doch-bitte-vernünftig-sein-und-uns-so-wie-<br />

erwachsene-Leute-benehmen-Gesichtsausdruck,-sah sie mich an. »Es war in<br />

deinem Wäschesack«, sagte sie ruhig und hob ihren Schal und das Müsliriegelpapier<br />

auf. »Du hast doch gesagt, dass deine Unterwäsche gewaschen werden soll.«<br />

Oh nein! Wie war das nur passiert? Wie konnte ich vergessen, dass ich das<br />

Buch in meinem Wäschesack versteckt hatte?<br />

»Ich hatte keine Ahnung, dass es da drin war«, fuhr meine Mutter fort. Dabei<br />

zog sie ihr Oberteil über die Hüften und strich es glatt. Es war weit geschnitten, wie<br />

alles, was sie in letzter Zeit trug. »Das Zimmermädchen hat es mit deiner<br />

Unterwäsche zum Waschen gegeben. Die Hausdame hat es zurückgebracht und ...«<br />

»... dich freundlich darum gebeten, es zu lesen!«<br />

Ich nahm meinen Rucksack ab und stopfte das Buch hinein. Nichts war vor<br />

dieser Frau sicher!<br />

Meine Mutter ging an den Schreibtisch, warf das Müsliriegelpapier in den<br />

Papierkorb, schlang sich den Seidenschal um den Hals und griff nach einer<br />

Haarspange, die neben dem Telefon lag. Dann zwirbelte sie ihren dicken Zopf am<br />

Hinterkopf zusammen und steckte ihn fest.<br />

Ehrlich gesagt, ich finde, sie sollte den Zopf abschneiden und sich einen<br />

ordentlichen Haarschnitt verpassen lassen. Und wenn sie schon dabei ist, dann sollte


sie auch gleich ihr Blond auffrischen und das Grau abdecken. Und sich ein paar<br />

anständige Klamotten kaufen. Ich meine, sie könnte doch wenigstens versuchen,<br />

zumindest ein bisschen cool auszusehen, oder ist das zu viel verlangt? Es erwartet ja<br />

keiner, dass sie cool ist.<br />

»Schwitzt du nicht?«, sagte meine Mutter und starrte auf meine Beine.<br />

Ich trug meine kniehohen, schwarzen Lederstiefel, die mit den Schnallen an der<br />

Seite, schwarze Netzstrümpfe mit einem Loch am rechten Knie und einem auf dem<br />

linken Oberschenkel, und meinen Schottenmini. Das Ablenkungsmanöver konnte sie<br />

sich sparen, ich antwortete nicht.<br />

»Es tut mir Leid, Liebes«, sprach sie weiter. »Bitte entschuldige. Du hast ja<br />

Recht. Ich hätte das Buch nicht öffnen sollen.« Sie ging zum Sofa und grinste mich<br />

an. Ich sah ein paar Müsliriegelkrümel zwischen ihren Vorderzähnen. »Aber ich finde<br />

den Titel einfach genial. Wie man richtig küsst. Sex-Ratschläge für Anfänger jeden<br />

Alters. Wie kann man da widerstehen? Es ist nie zu spät, etwas dazuzulernen.« Sie<br />

zwinkerte mir zu, als ob wir Verschworene wären, zum gleichen Team gehörten.<br />

Es ist nie zu spät, dazuzulernen. Kotz, würg.<br />

»Ich brauche deine Absolution nicht«, sagte ich.<br />

»Renée ...«, hob sie mit ruhiger Stimme an und ging am Sofa vorbei.<br />

»Ich weiß, wie ich heiße!«, langsam wurde ich laut. »Begreifst du nicht? Es ist<br />

mir egal, was du denkst. Schnurzegal! Scheißegal! Kackegal! Ich lese, was ich lesen<br />

will, ob du es gut findest oder nicht!«<br />

Meine Mutter seufzte tief, zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. Als<br />

laste das Gewicht der ganzen Welt auf ihnen. Dann machte sie einen Schritt auf mich<br />

zu, aber ich drehte mich weg. Im Spiegel sah ich, wie sie resigniert die Hände hob<br />

und sich dem Thermostat zuwandte. Sie drehte am Schalter herum.<br />

»Renée«, sagte sie schließlich, »du bist sauer. Das ist okay. Du darfst sauer<br />

sein.«<br />

Ich fuhr herum. »Oh, danke. Vielen herzlichen Dank, dass du mir<br />

freundlicherweise gestattest, sauer zu sein.«<br />

»Du klingst so wütend.«<br />

»Ich klinge nicht wütend, Mama, ich bin wütend!«<br />

Ich griff nach meinem Rucksack.<br />

»Setz dich bitte.« Meine Mutter ließ sich auf dem Sofa nieder. Es war ein<br />

hässliches Sofa, braun und fleckig. Sie klopfte auf das Kissen neben sich. »Komm.«


»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich zu dir setze und mir anhöre, dass<br />

ich das Buch mit Absicht in meinem Wäschesack vergessen habe, damit du es<br />

findest? Das ist es doch, was du sagen willst, stimmt’s?«<br />

Statt einer Antwort fragte sie: »Hast du das Internetcafé gefunden?«<br />

»Mama!«<br />

»Ah, ich verstehe. Deswegen bist du so sauer.«<br />

»Hörst du mir eigentlich zu? Ich hab gesagt, ich bin sauer, weil ich mich über<br />

dich ärgere. Ich ertrage es nicht, wenn du in meinem Leben rumspionierst.«<br />

»Es tut mir Leid, dass das passiert ist, Renée. Ehrlich. Aber ich hab nicht<br />

rumspioniert. Ich habe nur ein rein berufliches Interesse an dem Werk einer<br />

populären Sexualwissenschaftlerin gezeigt. Das muss ich doch bei meinem Job.«<br />

»Damit entschuldigst du immer alles! ›Bei meinem Job.‹«<br />

Ihr Job! Grrr!<br />

Okay. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ihr denkt: »Die Kleine da hat ein großes<br />

Autoritätsproblem.« Und wisst ihr was? Ihr habt Recht. Ich hab tatsächlich eins. Und<br />

glaubt mir, ihr hättet auch eins, wenn eure Mutter Dr. Edda Mommsen-Brody wäre,<br />

dem Rest der Welt bekannt als Dr. Mom, unangefochtene Autorität in Sachen<br />

Elternfragen. Nur weil sie sechs erfolgreiche Bücher über Erziehung geschrieben und<br />

alle vierzehn Tage eine Eltern-Kolumne in der Veronika veröffentlicht, glaubt diese<br />

Frau doch tatsächlich, seit der Erfindung der Wegwerfwindel wäre in Sachen<br />

Kinderaufzucht nichts Großartigeres passiert als sie. Und was das Schlimmste ist:<br />

Alle anderen denken genauso. Das reicht, um jede geistig normal entwickelte<br />

Zehntklässlerin in den Wahnsinn zu treiben, zurück ins Bett – oder aus einem<br />

Dreisternehotel. Ich wählte Letzteres.<br />

»Ich wünschte, du würdest ein anderes Ventil für deine Wut finden«, sagte<br />

meine Mutter.<br />

»Werd ich auch!«, sagte ich drohend, warf meinen Rucksack über die Schulter<br />

und ging zur Tür. »Ganz bestimmt! Wart’s nur ab!«<br />

Und so hab ich alles aufgeschrieben, die wahre Geschichte, und zwar meine<br />

Version, die von Renée Bella Brody, fünfzehn. Und dieses Buch, das verspreche ich<br />

euch, wird nicht in einem Wäschesack landen!


Erstes Kapitel<br />

In der Hölle der Hormone<br />

MEINE GESCHICHTE BEGINNT ein paar Wochen vor dem Tag, an dem ich meine Mutter<br />

in jenem schäbigen Mannheimer Hotelzimmer mit Sammy erwischte. Sie fing beim<br />

Schwimmtraining an. Und zwar an dem Nachmittag, als Philipp mich im<br />

Schwimmbecken packte, unter Wasser zog und küsste.<br />

Philipp sieht verdammt gut aus. Stil hat er auch noch. Aber er ist nicht einfach<br />

nur ein schöner Kleiderständer. Er ist einer der wenigen Jungs an der Schule, der<br />

echtes Charisma hat. Das steckt in der Chemie, glaub ich. Wenn ich zufällig in einen<br />

Raum geriete, in dem er mit hundert anderen Jungs stünde, würde ich auch mit<br />

verbundenen Augen automatisch auf ihn zusteuern – sogar rückwärts. Und auf<br />

Stöckelschuhen! So stark ist seine Ausstrahlung. Ein Supermagnet.<br />

Obwohl ich Philipp schon ewig kenne – seit ich denken kann, ist er an der Mark-<br />

Twain-Schule eine Klasse über mir –, hatte ich kaum etwas mit ihm zu tun. Bis<br />

letzten Herbst, da wurde er Mitglied in der Schwimm-AG.<br />

Nach einem üblen Skateboardunfall, der ihm eine tiefe Narbe auf dem linken<br />

Arm und eine zweite quer durch die rechte Augenbraue bescherte, tauschte er das<br />

Skateboard gegen das Sprungbrett ein. Ins Gespräch gekommen waren wir trotzdem<br />

noch nicht – bis zu dem Tag vor ein paar Wochen, kurz vor Ende des Schuljahres.<br />

Ich saß im Bus, auf dem Weg nach Hause, schaute aus dem Fenster und hing<br />

meinen Gedanken nach. Plötzlich spürte ich etwas, das größer war als ich, eine<br />

ungeheuere Anziehungskraft in der Luft, die mich zwang, meinen Kopf zu drehen.<br />

Und da war er. Als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert, saß er an meiner Seite<br />

und lächelte. Mit diesen unglaublich blauen Augen. Ich holte tief Luft, als ob ich<br />

gerade in eine riesige Welle eintauchen wollte und nicht wusste, wie lange ich unter<br />

Wasser bleiben müsste. Es war aufregend. Und irgendwie auch ein bisschen<br />

beängstigend.<br />

»Du warst ja gar nicht bei den Churchill-Schwimmwettkämpfen«, sagte er.<br />

»Ging nicht«, antwortete ich. Was gelogen war: Es wäre sehr wohl gegangen.<br />

Ich hatte nicht gewollt. Ich hatte keine Lust auf Fritzi gehabt und die ist in der<br />

Churchill-Mannschaft.


Fritzi und ich waren mal befreundet. Meine Mutter erzählt gern, wir seien schon<br />

Freundinnen gewesen, als wir noch nicht mal auf der Welt waren, weil sie zusammen<br />

mit Fritzis Mutter den Geburtsvorbereitungskurs gemacht hat. Auch danach waren<br />

unsere Mütter wie ein Team. Zwangsläufig verbrachten Fritzi und ich ebenfalls viel<br />

Zeit miteinander. Was wir ganz schön fanden. So richtig eng wurden wir jedoch erst<br />

als Teenager, als aus unserer Liebe zu Märchenprinzen eine Leidenschaft für Könige<br />

wurde, sprich: für die Kings of Prussia. Die größte Rockband aller Zeiten in<br />

Deutschland, Europa, sämtlichen anderen Kontinenten und dem Rest des<br />

Universums. Darüber waren wir uns einig. Strittig war nur, wer der bessere Musiker<br />

war: Leadsänger und Songwriter Gregor Rogatzki, alias The Great Gatzki (meine<br />

allererste Wahl), oder Komponist und Gitarrist Arno Noni Nissen (Fritzis Favorit).<br />

Also, obwohl wir in verschiedene Schulen gingen – Fritzi in die Churchill, die<br />

deutsch-britische Schule, und ich in die Twain, die deutsch-amerikanische –, wir<br />

waren gute Freundinnen. Vielleicht wären wir sogar beste Freundinnen geworden.<br />

Aber letzten Herbst war es dann plötzlich vorbei.<br />

»Du wärst bestimmt Erste geworden«, sagte Philipp. »Du bist schneller als<br />

jedes Churchill-Mädchen.«<br />

Ja, das stimmt. Ich bin tatsächlich schnell. Ich wusste aber nicht, dass er das je<br />

bemerkt hätte. Mein Magen schlug einen dreifachen Salto.<br />

Ich betrachtete Philipp genauer. Trotz seiner Narbe quer durch die Augenbraue<br />

– oder vielleicht gerade deswegen – war er das perfekte männliche Titelmodel.<br />

Hinreißend, aber nicht makellos. Sein Körper war kräftig, aber nicht von<br />

hochgetunten Muskeln verunstaltet, die sich bei der kleinsten Bewegung aufblähen.<br />

Trotzdem sahen seine Arme stark aus. Nur sein Haar war einen Tick zu kurz. Unser<br />

Schwimmtrainer, Herr Trockenbrodt, hatte Philipp zwei Wochen zuvor überredet, sich<br />

die blonden Dreadlocks abzuschneiden. Er sagte, er hätte sie lange genug geduldet,<br />

aber sie würden das Ergebnis der ganzen Mannschaft verschlechtern. Ich glaube,<br />

Herr Trockenbrodt hat damit übertrieben, aber Philipp zeigte außerordentlichen<br />

Teamgeist und ließ sich die Haare schon am nächsten Tag abschneiden.<br />

Nach Philipps Bemerkung über das Churchill-Wettschwimmen quatschten wir<br />

ein bisschen über unsere Ferienpläne. Ich erzählte von meiner geplanten New-York-<br />

Reise und er, dass er eine Sprachschule in Barcelona besuchen würde. An mehr<br />

erinnere ich mich nicht. Die dreifachen Saltos lenkten mich wahrscheinlich zu sehr<br />

ab. Oder ich war von Philipps Erscheinung so geblendet, dass ich mich nicht mehr an


jedes Detail erinnere. Er trug nämlich eine neonorangefarbene Weste – so eine, die<br />

sonst Bauarbeiter haben, oder Bergleute, oder Männer, die Bahngleise reparieren –,<br />

und diese Weste war so grell, dass vor meinen Augen Punkte tanzten.<br />

Eine Woche später geschah es dann also, beim Schwimmtraining. Ich war<br />

bereits seit mehr als fünfundvierzig Minuten im Wasser, hatte Bahn um Bahn<br />

zurückgelegt, Runde für Runde, Zug um Zug.<br />

Wenn ich schwimme, passiert etwas in mir. Nach ein paar Minuten bin ich<br />

plötzlich ganz woanders. Schwer zu sagen, wo, aber es ist ein Ort, an dem ich mich<br />

immer weiter vorwärts bewege, irgendwohin, wo alles von mir abfällt – Tageszeit,<br />

Kopfschmerzen, Sorgen – und ich Teil des Wassers werde, des Lichts, des mich<br />

umgebenden dumpfen Lärms.<br />

konnte.<br />

Ich liebe das. Und brauche es inzwischen auch. Mehr als ich mir je vorstellen<br />

Aber es ist anstrengend. Körperlich. Und geistig. Nach dem Schwimmen<br />

brauche ich immer ein paar Minuten, um wieder in der Erdatmosphäre anzukommen.<br />

An jenem Montag setzte ich mich neben die Leiter auf den Beckenrand, ganz in der<br />

Nähe des Springturms und ließ die Beine im Wasser baumeln. Das war die beste<br />

Methode, um wieder zu mir zu kommen. Und die beste Methode so zu tun, als würde<br />

ich meinen eigenen Gedanken nachhängen, während ich doch eigentlich Philipp bei<br />

seinen Sprüngen vom Dreimeterbrett beobachtete. Ich sah zu, wie er zuerst einen<br />

gestreckten Kopfsprung rückwärts machte, und dann einen Delfinsalto, beide Male<br />

stand er auf dem Sprungbrett rücklings zu mir und dem Becken. Ob er überhaupt<br />

wusste, dass ich ihn beobachtete? Beim dritten Sprung stand er mit dem Blick nach<br />

vorn. Himmel, sah der gut aus in seinen schwarzen Stretchshorts! Geschmeidig und<br />

selbstbewusst. Die meisten Jungs in der Schwimm-AG tragen knappe Badehosen,<br />

die aussehen wie Bikini-Unterteile. Thanks, but no thanks.<br />

Egal, nun stand Philipp also auf dem Sprungbrett, gerade wollte er springen –<br />

da drehte er seinen Kopf nach links und warf mir einen Blick zu. Wusch! – breitete<br />

sich eine Wärmewelle in meinem Körper aus, vom Bauch bis in die Brust. War ich<br />

froh, dass ich meinen schwarzen Badeanzug trug, und nicht den roten. Der<br />

Schwarze sitzt um den Busen einfach besser.<br />

Mit einem gestreckten Auerbach schoss Philipp ins Wasser, kam wieder hoch,<br />

kraulte zu der Leiter auf der anderen Beckenseite und stieg aus dem Wasser.


Als er zum vierten Mal oben stand, er lächelte mir vor dem Sprung zu. Jetzt<br />

breitete sich die Wärme bis hinunter in meine Füße aus, die noch im Wasser<br />

baumelten. Mittlerweile war mir so heiß, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn<br />

meine Zehen das Wasser wie ein Tauchsieder zum Kochen gebracht hätten. Als<br />

Philipp dann mit einer halben Schraube sauber eintauchte, ging mir endlich auf, dass<br />

er diese Kunststücke vielleicht nur für mich vorführte. Und als ich die Kontur seines<br />

Körpers unter Wasser auf mich zugleiten sah, überlegte ich, ob er sich zu mir<br />

genauso hingezogen fühlte wie ich mich zu ihm.<br />

er.<br />

Einen knappen Meter vor mir tauchte er auf. »Du bist ja ganz trocken«, sagte<br />

»Na und?«, sagte ich, überrascht, dass ich trotz meiner Aufregung überhaupt<br />

ein Wort rausbrachte.<br />

Philipp spritzte mich nass.<br />

»Hör auf, du Scheusal!«, kreischte ich.<br />

Noch nie war ich so entzückt gewesen!<br />

Er kitzelte meine rechte Fußsohle. Ich hielt mich an der Leiter fest und<br />

versuchte ihn abzuwehren. Er kitzelte meinen linken Fuß, dann zog er daran. Ich gab<br />

auf und ließ mich ins Wasser plumpsen. Er packte mich an den Hüften und zog mich<br />

zu sich. Und ehe ich mich versah, hielt ich mich an seinen Schultern fest. Um das<br />

Gleichgewicht nicht zu verlieren, griff er nach der Leiter. Dabei fiel mir seine Narbe<br />

am Arm ins Auge. Noch nie war ich ihr – und ihm! – so nahe gekommen. Die Narbe<br />

war ein fünfzehn Zentimeter langer Striemen und noch ganz rosa.<br />

»Zweiunddreißig«, sagte er. »Es waren zweiunddreißig Kreuzstiche – falls du<br />

gerade zählst.«<br />

Ich machte große Augen. »Das hat bestimmt wehgetan.«<br />

»Hab ich nicht mitgekriegt. Die haben mich gedopt. Du hättest die Wunde<br />

sehen sollen, bevor sie genäht wurde. Mein Arm sah wie Hackfleisch aus. Kannst<br />

gern mal anfassen, wenn du willst.«<br />

Ich blickte ihn fragend an.<br />

»Nein wirklich, ist in Ordnung«, sagte er.<br />

Die Narbe unter meinen Fingerspitzen fühlte sich seltsam an. Das Gewebe<br />

zwischen den Stichen war gleichzeitig weich und fest, die Stiche selbst kleine<br />

erhabene Punkte. Wie Blindenschrift. Ich-habe-gelitten, konnte man auf der Haut<br />

lesen. Sehr sexy.


»Tut’s noch weh?«, fragte ich, während meine Finger wie hypnotisiert über die<br />

Narbe strichen, auf und ab, hin und her.<br />

»Uh-uuh«, machte er leise. Es klang fast wie ein tiefer Seufzer. Er hatte die<br />

Augen geschlossen.<br />

Philipps rechte Hand ließ von meiner Hüfte ab und suchte meine Hand. Einen<br />

Moment lang trieben wir so, losgelöst von der Zeit. Ein vor Nässe glänzender, braun<br />

gebrannter Arm lag auf seiner Schulter. Unsere ineinander verschlungenen Beine<br />

paddelten im Gleichtakt. Sein fester Körper presste sich gegen meinen, mein weicher<br />

gegen seinen. Dann verhakten sich unsere Finger und er zog mich hinab.<br />

Als wir untertauchten, ließen wir die zappelnden Körper der anderen weit über<br />

uns. Luftblasen. Gedämpfte Stimmen. Unsere Köpfe bohrten sich durch das<br />

dickflüssige türkisfarbene Wasser, tiefer, tiefer und immer tiefer bis auf den Grund<br />

des Beckens.<br />

Meine Ohren ploppten zu.<br />

Unsere Münder trafen aufeinander.<br />

Philipp legte die Hände auf meinen Busen. Hey – der ging aber ran! Aber es<br />

gab keinen Anlass zur Klage: Es fühlte sich einfach zu gut an.<br />

Und dann, bevor ich überhaupt diesen wahrhaft feuchten Kuss und das Gefühl<br />

seiner Finger, die durch den Badeanzug meine Brust betasteten, genießen konnte,<br />

schossen wir schon wieder an die Oberfläche.<br />

Nach Luft schnappend tauchten wir auf. Überall Gelächter. Schreie. Eine<br />

Schaumstoffwurfscheibe sauste an uns vorbei. Herr Trockenbrodt pfiff.<br />

»Ups!«, machte Philipps Kumpel Philip Eins, als wir – plop! – ganz in seiner<br />

Nähe auftauchten. Philip Eins (weil er nur ein P am Ende hat) und mein Philipp alias<br />

Philipp Zwei (zwei P am Ende) waren dicke Freunde.<br />

»Wo habt ihr denn gesteckt?«, fragte Philip Eins. »Eben wart ihr noch da und<br />

dann wart ihr weg.«<br />

Ha ha.<br />

Philip Eins johlte und schlug Philipp Zwei auf den Rücken. Der revanchierte<br />

sich, indem er den Kopf von Philip Eins untertauchte. Philip Eins wand sich aus der<br />

Umklammerung und schwamm fort.<br />

»Am Mittwoch gehen wir ins Kino. Um zu feiern«, sagte Philipp Zwei zu mir.<br />

»Feiern?«<br />

»Ferien.«


»Ach so.«<br />

Da kann man sehen, was Philipp bei mir anrichtete. Wie konnte ich nur<br />

vergessen, dass die Schule fast vorbei war? Früher bin ich ganz gern hingegangen,<br />

aber dieses Jahr war knochenhart. Gut, dass bald Ferien waren.<br />

»Kommste mit?«, fragte er.<br />

Ob ich mitkomme? Was für eine Frage! Hunderteins Prozent hoch zehn!<br />

»Vielleicht«, sagte ich.<br />

Mein Herz hüpfte von einem Tausendmeterbrett.<br />

Meine Ohren ploppten wieder auf.<br />

Ich hing an der Angel.<br />

Ein Date! Am Mittwoch! Mit Philipp! Meine Füße kamen gar nicht mehr auf dem<br />

Erdboden an, so schwebte ich vor mich dahin. Ich musste es jemandem erzählen.<br />

Aber wem? Vor acht Monaten hätte ich keine Sekunde zu Hause sein können, ohne<br />

mein Handy zu schnappen und Fritzi ein SMS zu schicken: Must c u! Und sie hätte<br />

mir sofort geantwortet: Give me 5! Dann wäre ich auf mein Skateboard gesprungen<br />

und die Clausewitzstraße Richtung Norden zur Giesebrechtstraße gerast. Und sie<br />

wäre vor ihrem Haus in der Niebuhrstraße auf ihr Skateboard gehüpft und Richtung<br />

Westen geflitzt. Ich sehe ihr langes blondes Haar förmlich vor mir. Genau fünf<br />

Minuten später hätten wir uns an dem Brunnen gegenüber vom Café Richter<br />

getroffen.<br />

Wenn wir noch Freundinnen wären, hätte es sich genauso abgespielt. Aber wir<br />

waren’s nicht mehr. Also musste Alina herhalten, meine augenblicklich beste<br />

Freundin.<br />

Alina war nicht sehr beeindruckt. Für sie war ein Flirt unter Wasser Kinderkram.<br />

Darüber war sie längst hinaus und schon beim Ernst – oder beim Spaß? – des<br />

Lebens angelangt. Schließlich ist sie seit sechs Monaten keine Jungfrau mehr.<br />

Bisher war Alina allerdings immer ziemlich geizig mit Auskünften in Sachen<br />

Sex, auch wenn ich sie richtig auszuquetschen versuchte. Doch die Chancen, dass<br />

ich selbst bald in die Geheimnisse des Frauseins eingeweiht würde, standen ja nicht<br />

schlecht, und so hoffte ich, sie würde endlich mit ein paar Fakten rausrücken.<br />

Alina stand vor dem Spiegel und übte eine Schrittkombination aus ihrem<br />

Modern-Dance-Kurs. Sie will mal Schauspielerin werden und hat bereits bei zwei


Musicalcastings in Berlin und Hamburg mitgemacht. Genommen wurde sie zwar<br />

nicht, aber sie gibt nicht auf. Und übt weiter.<br />

»Beschreib es mal«, sagte ich, während sie ihre Hüften zweimal nach rechts<br />

und zweimal nach links wippen ließ.<br />

»Was beschreiben?«, fragte Alina.<br />

»Es. Beschreib es.«<br />

»Oh«, sagte sie. Das klang so begeistert, als sollte sie Matheaufgaben machen.<br />

»Na ja ... es ist ... gut.«<br />

Während sie sprach, heftete sie die Augen auf den Spiegel, mich sah sie kaum<br />

an. Tatsächlich starrt sie ziemlich oft in den Spiegel, aber ich denke, wenn ich so<br />

aussehen würde wie sie, würde ich mich auch dauernd bewundern. Nicht, dass ich<br />

nicht gut aussehe. Ich glaube, ich bin ganz in Ordnung. Ziemlich groß, halblanges<br />

widerspenstiges dunkles Haar, dunkle Augen und helle Haut. Das Einzige an mir,<br />

das mir nicht gefällt, sind meine Lippen, die müssten voller sein. So wie die von<br />

Alina. Alina hat auch einen richtig schönen Busen: groß und frech nach oben. Meiner<br />

springt einem lange nicht so schnell ins Auge. Manchmal finde ich allerdings, dass<br />

Alina ein bisschen zu sehr mit ihrem Busen angibt, auch wenn der zusammen mit<br />

ihrem hennaroten Haar und den großen blauen Augen wirklich toll aussieht. Das<br />

Coolste an Alina ist aber das Piercing in ihrer linken Augenbraue – ein zwölf Gramm<br />

schwerer Silberring – und der Glitzerstecker in ihrem linken Nasenflügel.<br />

Seit einiger Zeit spielte ich ja auch mit dem Gedanken, mir ein paar Piercings<br />

machen zu lassen. Vielleicht sogar ein Tattoo. Ein kleines. Da, wo kaum einer es<br />

sieht. Auf dem Po zum Beispiel. Einen Schmetterling. Oder eine kleine Sonne.<br />

Vielleicht einen Halbmond. Ein englischer Cousin von Fritzi, der in einem Aquarium<br />

arbeitet, hat sich einen Piranha in den Oberarm ätzen lassen. Er sagt, es habe<br />

höllisch wehgetan, aber nicht so sehr wie echte Piranhabisse. Trotzdem wollte ich<br />

doch lieber erst mal mit den Piercings anfangen. Ich dachte an Stecker und/oder<br />

Ringe im Ohr. Ein Ring im Bauchnabel wäre auch nicht schlecht, nur bin ich absolut<br />

sicher, dass Herr Trockenbrodt davon nicht sehr begeistert wäre. Meine Mutter erst<br />

recht nicht. »Du hast genug Silber am Körper, um einen Tisch für sechs Leute zu<br />

decken«, würde sie sicher sagen. Und dann eine Kolumne darüber schreiben: Von<br />

der Silbergabel zum Silbernabel.<br />

»Okay, es ist also gut«, sagte ich zu Alina. »Aber wie gut?«<br />

»Na ja, es ist ... gut-gut.« Alina beugte ihre Knie zum Demi-Plié.


»Mehr«, sagte ich.<br />

»Mehr was?« Sie erhob sich auf die Zehenspitzen.<br />

Ihr müsst wissen: Alina war nicht immer die Hellste. Manchmal frage ich mich<br />

wirklich, was ich an ihr finde.<br />

»Mehr Beschreibung«, sagte ich.<br />

Alina streckte ihre Beine. »Ach so. Na ja, es ist ... sehr gut-gut.«<br />

»Äußerst präzise. Du solltest Schriftstellerin werden.«<br />

»Haha.«<br />

Sie drehte ihre Beine zum Grand-Plié, richtete sich mittendrin jedoch auf und<br />

warf mir einen ängstlichen Blick zu. »Sag mal, du quetschst mich doch nicht für deine<br />

Mutter aus, oder?«<br />

»Nee – diesmal schreib ich selbst«, nahm ich sie auf den Arm. »Für die<br />

Schülerzeitung. Sex in the City School. Aber natürlich ändere ich deinen Namen.«<br />

»Mich würden trotzdem alle erkennen. Ich meine, wie viele Schlampen, die<br />

auch noch gut aussehen, gibt’s schon an unserer Schule?«<br />

schreiben.<br />

Wir mussten so lachen, dass ich überlegte, die Geschichte wirklich zu<br />

»Wie auch immer«, sagte sie. »Ich wünschte nur, du hättest endlich Sex, statt<br />

immer nur drüber zu reden.«<br />

Sie hatte natürlich Recht. Learning by doing ist einfach unschlagbar.<br />

»Bingo«, sagte ich. »Aber vielleicht kauf ich mir trotzdem noch ein Buch – nur<br />

für den Notfall.«<br />

Alina dachte einen Moment nach, dann sagte sie: »Du meinst einen<br />

Ratgeber?«<br />

gut.«<br />

»Vielleicht.«<br />

»Also ... wenn du Hilfe brauchst ...«<br />

Ich lachte. »Danke, ich kann lesen.«<br />

»Aber ich kann dir sagen, ob die Beschreibungen stimmen.«<br />

»Klar«, sagte ich. »Du könntest sie für mich beurteilen. Gut. Gut-gut. Sehr gut-<br />

Sie drohte mir mit dem Finger. »Pass auf, Renée.«<br />

»Nein, ehrlich«, sagte ich. »Ich brauche keine Hilfe. Ob er gut ist oder nicht, das<br />

krieg ich schon selbst raus. Ich werde es fühlen, wenn ich drin lese.«<br />

»Fühlen?«


»Ja. Da unten.«<br />

Sie sah nach unten, dann wieder hoch. »Wo unten?«<br />

»Also wirklich«, sagte ich. »Wenn du nicht weißt, was da unten ist, solltest du<br />

dir vielleicht auch einen Ratgeber zulegen.«<br />

Wir bekamen noch einen Lachanfall. Tatsächlich lachte Alina so sehr, dass sie<br />

überlegte, ob nicht sie den Artikel für die Schülerzeitung schreiben sollte.<br />

Die Wahrheit ist: Als ich mit Alina sprach, hatte ich bereits einen Sexratgeber.<br />

Sammy. Ich wollte es ihr bloß nicht gleich sagen. Fragt mich nicht, warum. Vielleicht<br />

weil ich damals dachte, sie muss ja nicht immer alles über mich wissen.<br />

Sammy hatte ich mir für meine Reise nach New York gekauft, wo so ein<br />

Ratgeber bestimmt nützlich sein würde. Hoffentlich! Ich zählte schon die Tage, die<br />

Stunden, die Minuten und die Sekunden bis zur Abreise. Als Philipp mich tief unten<br />

im Schwimmbecken küsste, trennten mich genau sechs Tage, vier Stunden und<br />

zwölf Minuten von Manhattan und der Freiheit. In Anbetracht meiner gerade<br />

aufblühenden Romanze hatte das natürlich auch was Tragisches. Nichtsdestotrotz<br />

war ich fest davon überzeugt, dass das wilde Leben in New York meine Sehnsucht<br />

nach Philipp bestimmt ein Weilchen ertragbar machen würde.<br />

In New York wollte ich meine Exbabysitterin Nelly besuchen. Vor zwei Jahren<br />

hatte sie ihren Abschluss an der Twain gemacht und ein Stipendium an der<br />

Columbia-Universität bekommen. Dort studiert sie jetzt Physik. In diesem Jahr wollte<br />

sie nicht wie sonst ihre Ferien in Berlin verbringen, sondern das Appartement ihres<br />

Onkels auf Manhattans Upper West Side hüten. Und dabei würde ich ihr helfen.<br />

Nelly war die große Schwester, die ich mir immer gewünscht hatte. Selbst als<br />

ich keinen Babysitter mehr brauchte, waren wir in Kontakt geblieben. Ein bisschen ist<br />

sie mein Vorbild – obwohl ich keinerlei Absicht habe, wie sie Kosmologin zu werden.<br />

Ich bin wirklich nicht gerade auf den Kopf gefallen, aber wenn Nelly von Roten<br />

Riesen und Blauer Spektralverschiebung redet, versuche ich das gar nicht erst zu<br />

begreifen, sondern genieße einfach nur den Klang der Worte.<br />

Was ich an Nelly so mag, ist, dass sie einen immer wieder zum Staunen bringt.<br />

Das war schon so, als ich klein war. Eines Abends zum Beispiel erzählte sie mir beim<br />

Zubettbringen, dass sie jetzt ihre Trigonometrie-Hausaufgaben machen würde. Ich<br />

hatte keine Ahnung, was Trigonometrie war, aber es klang nicht sehr aufregend, also<br />

ging ich freiwillig ins Bett.


Zwei Stunden später wurde ich wach und ging Nelly suchen. Ich fand sie mit<br />

Max, einem Jungen aus der Highschool, der Länge nach auf unserem Sofa.<br />

Mucksmäuschenstill sah ich eine Weile zu, wie die zwei Trigonometrie machten. Ich<br />

glaube, damals habe ich zum ersten Mal begriffen, dass es Sachen im Leben gibt,<br />

die einfach interessanter sind, als zu schlafen.<br />

Nelly in New York zu besuchen war meine Idee gewesen. Ulf Krauss, der<br />

Verleger meiner Mutter, wollte sie auf eine Lesereise schicken, aber sie hatte<br />

abgelehnt – »wegen Renée«, wie sie sagte.<br />

Also, die Sache stellte ich natürlich sofort klar!<br />

»Um mich mach dir keine Sorgen«, sagte ich zu ihr. »Es wird dir gut tun, mal<br />

rauszukommen.«<br />

»Mir gut tun?«<br />

»Ach Mama, bitte! Du weißt genau, was ich meine!«<br />

Erstaunlicherweise gab meine Mutter nicht nur für die Lesereise grünes Licht,<br />

sondern auch für meinen New-York-Besuch bei Nelly. (Vermutlich hatte sie Nelly nie<br />

auf unserem Sofa beim Trigonometriemachen erwischt.)<br />

Kaum hatte meine Mutter sich entschieden, nahmen ihre amerikanischen<br />

Freundinnen, Becky Bernstein und Nellys Mutter, Lucy Bloom-Edelmeister, sie zu<br />

einem Einkaufsbummel mit. Zur Lesereise wollten sie meine Mutter endlich von<br />

ihrem Waldorflehrerin-Look befreien, den sie in den letzten Monaten angenommen<br />

hatte. Lucy hat einen wahnsinnig guten Geschmack, und Becky, deren zweiter Name<br />

»Schnäppchen« lautet, weiß immer, wo’s die besten Klamotten zu den günstigsten<br />

Preisen gibt. Sie versuchten ihr Bestes, den Modesinn meiner Mutter wieder zu<br />

erwecken, aber leider ohne großen Erfolg. Immerhin schafften sie es, sie mir eine<br />

Zeit lang vom Hals zu halten – Luft!<br />

New York! Vier ganze Wochen lang würde ich das ewige Tap-Tap-Tappeti-Tap<br />

meiner Mutter auf den Computertasten nicht ertragen müssen. Ihre schlechte Laune,<br />

ihre wallenden Capes, ihre blumengemusterten Hosen und vor allem ihren<br />

zerschlissenen Frotteebademantel, den sie tagein, tagaus trug. Igitt. Vielleicht würde<br />

sie ja sogar so vernünftig sein, ihn in meiner Abwesenheit wegzuwerfen.<br />

»Was stört dich an meinem Bademantel?«, wollte meine Mutter wissen. »Beim<br />

Arbeiten will ich es bequem haben.«<br />

»Dann zieh einen Jogginganzug an oder so was«, sagte ich. »Ich meine, ich<br />

komme aus der Schule und du läufst immer noch im Bademantel rum. Ich kann


niemanden mit nach Hause bringen. Die denken doch, du wärst gerade erst<br />

aufgestanden.«<br />

»Vielleicht bin ich das ja auch«, sagte sie. Ihre Augen forderten mich zum<br />

Kampf heraus.<br />

»Aber muss das jeder wissen? Die Nachbarn? Der Briefträger? Meine<br />

Freunde? Das ist peinlich!«<br />

»Sei nicht albern«, sagte sie und riss einen Mandelmüsliriegel auf. »Und<br />

überhaupt, es ist mein Körper. Ich schlafe so lange wie nötig und ziehe an, was ich<br />

will. End of story.«<br />

Langsam wurde meine Mutter sauer. Gut, dachte ich mir, jetzt piesacke ich sie<br />

noch ein bisschen. Aber dann entdeckte ich dieses gewisse Glitzern in ihren Augen,<br />

diesen Das-könnte-eine-witzige-Glosse-abgeben-Blick. Ich sah schon, wie es in<br />

ihrem Gehirn tickte und sie sich im Geist Notizen machte. Das Frottee-Verbot war<br />

vielleicht schon der Titel für ihre nächste Kolumne. Jetzt reichte es mir. Bevor sie<br />

noch mehr aus mir quetschen konnte, lief ich aus der Küche. Ich meine, wer will sich<br />

schon die ganze Zeit Sorgen darüber machen, ob das, was man zufällig beim<br />

Abendessen sagt, zum Frühstück in der Zeitung steht? Oder?<br />

Okay, ich gebe es zu, es gab mal eine Zeit, da machte es mir nichts aus, dass<br />

meine Mutter über mich schrieb. Sicher, ein paar der Geschichten waren peinlich,<br />

aber ich war stolz darauf, im Mittelpunkt zu stehen. Doch wenn es jetzt etwas gab,<br />

was ich auf gar keinen Fall wollte, dann, dass Dr. Mom über mein Sexleben schrieb.<br />

Das würde mich umbringen! Tausendfach! Es ist schlimm genug, dass die ganze<br />

Welt weiß, wann ich meinen ersten Zahn verloren, meine Tage das erste Mal<br />

bekommen und meinen ersten Pickel ausgedrückt habe. Aber niemand wird je<br />

erfahren, wann ich es das erste Mal mache. Hun-dert-pro-zen-tig nicht!<br />

»Sei nicht albern, Renée«, sagte meine Mutter vor ein paar Wochen zu mir.<br />

»Warum sollte ich darüber schreiben? Glaubst du etwa, ich kenne meine Grenzen<br />

nicht? Das ist doch deine Privatangelegenheit.«<br />

»Aha. Und meine Pickel? Und meine Tage? Sind die etwa nicht privat? Warum<br />

muss jeder wissen, wann ich meinen Eisprung habe?«<br />

»Ich wusste nicht, dass dich das so stört.«<br />

»Tut es aber.«


»Na, dann werde ich vorsichtiger sein. Es tut mir Leid.« Doch dann konnte sie<br />

kaum ein Lächeln unterdrücken und fügte hinzu: »Aber du musst zugeben: Die<br />

Geschichten waren gut.«<br />

»Kapierst du’s denn nicht?«, rief ich. »Das ist das Problem mit dir. Du denkst,<br />

irgendwas könnte eine Wahnsinnsstory abgeben, und plötzlich gehört es dir. Habt ihr<br />

Schriftsteller überhaupt keine Skrupel? Hab ich gar keine Rechte?«<br />

Wenn man eine skrupellose Mutter hat, muss man höllisch aufpassen. Zum<br />

Beispiel auf etwas wie Sammy. Ich konnte das Buch nicht einfach offen herumliegen<br />

lassen. Wenn doch, würde ich in der nächsten Veronika unter Garantie eine Kolumne<br />

mit dem Titel Rosetti berät Renée lesen. Um Sammy zu kaufen, ging ich sogar extra<br />

in eine anonyme Riesenbuchhandlung. Dort besteht weniger Gefahr,<br />

Aufmerksamkeit zu erregen, oder von einer der Buchhändlerinnen erkannt zu<br />

werden. Ich sag’s nicht gern, aber vor ein paar Jahren habe ich mich zusammen mit<br />

Dr. Mom fürs Cover von Die Mamaprotokolle fotografieren lassen. Und natürlich<br />

wurde genau dies Buch zum Bestseller. 247.652 Exemplare sind allein von der<br />

Hardcoverausgabe verkauft. Was bedeutet: ein Bild von mir auf dem Titel von<br />

247.652 Büchern! Und dann gibt’s noch die Taschenbuchausgabe. Und<br />

Übersetzungen in elf Sprachen – acht davon mit unserem Foto! Grrr!<br />

»Damals warst du elf«, sagte meine Mutter, als wir neulich darüber sprachen,<br />

»und jetzt bist du fünfzehn. Kein Mensch erkennt dich mehr.«<br />

»Buchhändlerinnen schon – die haben alle Adleraugen!«<br />

Kaum war ich von Alina-es-ist-sehr-gut-gut wieder zu Hause, nahm ich mir Wie man<br />

richtig küsst vor. Ich schlug das Buch auf und landete im Kapitel In der Hölle der<br />

Hormone.<br />

Jeder weiß, las ich, dass heranwachsende Jungs nur eins im Sinn haben. Vom<br />

Testosteron gebeutelt, denken, atmen und träumen sie nur von Sex. Und die<br />

Mädchen? Von ihren Hormonen, die verrückt vor Verlangen auf der Suche nach den<br />

Y-Chromosomen dieser Welt sind, hört man wenig. Was nicht bedeutet, dass<br />

Mädchen kein Sexualleben haben. Und mit ein wenig Glück wirst auch du deins<br />

entdecken – wenn du es nicht schon getan hast.<br />

Ich hatte!<br />

Natürlich wusste ich auch eine ganze Menge von den theoretischen Sachen,<br />

über die Sammy schreibt, von Hormonen und Empfängnisverhütung und wo was im


Körper steckt. Nicht umsonst habe ich zwei intensive Sexualkundekurse über mich<br />

ergehen lassen. Das erste Mal in der siebten Klasse, als wir in Bio so nützliche Dinge<br />

lernten wie ein Kondom auszupacken und es über eine Banane zu ziehen. Frau<br />

Grubmann, unsere Biologielehrerin, zeigte uns allerdings nie solche Bilder wie die,<br />

die es in Sammy gibt.<br />

Ich blätterte durch Wie man richtig küsst, bis ich zu den Abbildungen des<br />

männlichen Glieds kam. Zweiundzwanzig Illustrationen gab es da – ich zählte durch.<br />

Elf hängend, elf stehend. Aufmerksam studierte ich, wie einige in schlaffem Zustand<br />

nach rechts oder links baumelten, wie verschrumpelt sie aussahen. Im erigierten<br />

Zustand bogen sich einige nach oben, manche zeigten sogar nach unten, andere<br />

schossen wie Riesenchampignons nach vorn oder standen kerzengerade wie dicker<br />

Beelitzer Spargel.<br />

Ich legte das Buch wieder hin und versuchte mich daran zu erinnern, wie<br />

Timmy Haases Steifer ausgesehen hatte. Aber ich wusste es nicht mehr. Jedenfalls<br />

nicht so genau.<br />

Timmy war in meinem zweiten Sexualkundekurs. Dieser Kurs fand immer mal<br />

wieder auf dem Fußboden von Alinas Wohnzimmer statt. Wenn ihre Mutter ausging,<br />

durfte Alina Freunde (sprich: Jungs) einladen. Manchmal kam ich auch. Am Anfang<br />

schauten wir immer Videos und eine Stunde später lag ich knutschend mit meinem<br />

Typen auf dem Teppich, während Alina und ihr Typ – meistens Diego – sich in ihr<br />

Zimmer zurückzogen.<br />

Eines Abends machten Timmy und ich mal wieder so rum. Bevor ich wusste,<br />

wie mir geschah, hatte er mir seinen Steifen in die Hand bugsiert. Es war der erste,<br />

den ich jemals anfasste. Den von Mischa Hacker hab ich ein-, zweimal durch seine<br />

Unterhose angefasst. Okay, dreimal. Aber das hier war etwas anderes. Der war<br />

richtig in meiner Hand.<br />

Interessiert hielt ich ihn fest.<br />

Aber dann wusste ich nicht, was ich tun sollte. Allgemein natürlich schon, aber<br />

nicht im Detail. Dazu hatte Frau Grubmann uns nichts beigebracht. Aus der Schule<br />

wusste ich alles über Kondome und Bananen, aber über einen lebendigen,<br />

pulsierenden Penis? In meiner Hand? Wie viel Druck sollte ich ausüben? Musste<br />

man das ganze Ding reiben oder nur eine bestimmte Stelle? Ich hatte eine<br />

Lieblingsstelle, vielleicht er auch?


Timmy merkte meine Unerfahrenheit jedoch nicht mal. Er kam fast sofort. Und<br />

dann wurde er innerhalb von Sekunden – die Geschwindigkeit war verblüffend –<br />

schlapp und weich. In meiner Hand! Klebrig vom Sperma erinnerte mich das an die<br />

großen Glibberquallen, in denen Fritzi und ich immer rumstocherten, wenn sie in<br />

Cornwall ans Ufer gespült wurden. Matschig und wabbelig.<br />

Nach dem Erlebnis mit Timmy beschloss ich, mir einen Sex-Ratgeber<br />

zuzulegen. Ich wollte, musste mich genauestens informieren.<br />

Ich klappte Sammy zu und legte mich auf mein Bett. Wie wohl Philipps Steifer<br />

aussah? Sich anfühlte? Vielleicht konnte er mich nach seinem Sprachkurs in<br />

Barcelona noch ein paar Tage in New York besuchen. Ich würde in der<br />

Internationalen Ankunftshalle des Kennedy Airport auf ihn warten, und ihn unter<br />

Tausenden an seiner neonorangefarbenen Weste erkennen. Dann würden wir den<br />

Flughafenbus in die Stadt nehmen. Den ganzen Weg nach Manhattan würden wir<br />

uns in die Augen schauen – aber uns nicht küssen. Nicht in der Öffentlichkeit. Nicht<br />

in einem Bus. Nicht in New York. Für so was sind die Amerikaner viel zu prüde.<br />

Ich verlagerte mein Gewicht und Sammy fiel zu Boden. Aber das nahm ich nur<br />

noch halb wahr. Ich legte den Kopf auf das Kissen und einen Finger auf meine<br />

Lieblingsstelle ...<br />

Sex in einem Tagtraum ist viel bequemer als das Rumgeknutsche bei Alina auf dem<br />

Fußboden. Vor allem wegen des kratzigen Wohnzimmerteppichs. Davon abgesehen<br />

macht mir Knutschen echt Spaß, auch wenn ich eins zugeben muss: In meiner<br />

Fantasie hat die Liebe noch mehr Zartheit, Raffinesse. Und Erotik. Im wirklichen<br />

Leben ist nicht immer alles so perfekt, wie man es gern hätte. Zum Beispiel habe ich<br />

jedes Mal Angst, dass Alinas Mutter plötzlich auftaucht. Das wäre so peinlich – ich<br />

würde sterben! Oder ich mach mir einen Kopf darum, meine Zunge beim Küssen zu<br />

viel (oder zu wenig) zu bewegen. Oder der Typ drückt mich oder tut mir sonst weh,<br />

wie bei dem einen Mal mit Timmy. Sein mit Nieten gespickter Gürtel lag auf dem<br />

Boden. Als er es irgendwie schaffte, sich auf mich zu legen, kippte ich direkt darauf.<br />

Das fühlte sich an, als würde meine Wirbelsäule an zwanzig Stellen gleichzeitig<br />

durchbohrt. Oder wie damals bei der Geschichte mit Mischa Hacker und dem<br />

Kapuzen-Sweatshirt. Mischa wollte mir das Sweatshirt über den Kopf ziehen und<br />

meine Arme waren schon draußen. Aber dann schnürte er mir mit der Kapuzenkordel


fast die Luft ab. Wir versuchten den Knoten aufzukriegen, schafften es nicht und<br />

machten einfach so weiter, aber das Sweatshirt hing wie ein Lappen um meinen Hals<br />

und war ständig im Weg. Schließlich hörten wir auf: Irgendwie war uns die Lust<br />

vergangen. Zu Hause musste ich die Kordel mit einer Schere aufschneiden. Mist,<br />

dachte ich, warum war mir das vorhin nicht eingefallen? Aber wenn jemand an<br />

deinem Busen angedockt ist und man schon ganz kribbelig zwischen den Beinen ist,<br />

fällt das praktische Denken wohl flach.<br />

Was ich sagen will, ist: In meiner Fantasie sind meine Partner immer perfekt.<br />

Und ich auch. Ich bin irgendwie so selbstbewusst und ich bestimme die Spielregeln.<br />

Wenn mir etwas gefällt – zum Beispiel Flirten –, tue ich es. Mag ich etwas nicht –<br />

zum Beispiel in die Duftwolke einer muffeligen Achselhöhle zu geraten –, findet es<br />

nicht statt. Regie, Schnitt, Kostüme und Ausstattung: Alles habe ich in der Hand. Ich<br />

bin der Star und – natürlich – die Drehbuchautorin. In einer Situation, in der der Sex<br />

absolut toll ist und eigentlich nicht besser werden kann, ich es aber trotzdem noch<br />

toller haben will, führt Drehbuchautorin Renée einfach einen neuen Darsteller ein,<br />

zum Beispiel DJ Joey McDee aus Brooklyn, New York. Er hat lange, rastlose Finger,<br />

die buchstäblich über sein Mischpult tanzen. Er trägt ein schwarzes ärmelloses T-<br />

Shirt, fünf winzige Silberringe in jedem Ohr und hautenge schwarze Lederhosen.<br />

Absolut cool gehe ich zu ihm hin, gebe ihm die nagelneue Kings-of-Prussia-CD und<br />

bitte ihn, das Stück Hugs and Küsse aufzulegen. Wie bei fast allen Kings-of-Prussia-<br />

Songs ist der englische Text durch ein paar deutsche Wörter aufgepeppt. Joey<br />

schaut erst die CD an, dann schaut er mich an. »Was bitte sind Küsse?«, fragt er.<br />

Und ich zeige es ihm. Mehrmals. Mit Zunge. Und er nimmt mich fest in die Arme –<br />

hugs kennt er natürlich schon.<br />

Ich versinke in Joeys grünen Augen. Augen wie Laserstrahlen, die meine<br />

Kleider wegbrennen, Schicht für Schicht. Zuerst meine Jacke, dann meine Bluse,<br />

dann meinen BH. Augen, die mich entkleiden wie sanfte Fingerspitzen ...<br />

Kein Wunder, dass ich so scharf auf New York war. Tausende von Männern<br />

warteten sehnsüchtig auf meine Ankunft. Aber davor hatte ich noch ein echtes,<br />

wirkliches Date mit Philipp. Zusammen mit Alina, Diego, Laura Rummler, Jakob<br />

Kohlmeier und Philip Eins wollten wir ins Kino gehen.<br />

Meiner Mutter erzählte ich natürlich nichts davon. Ich hatte mir angewöhnt,<br />

Verabredungen vor ihr zu verheimlichen. Ich erzählte ihr, dass ich mit Alina<br />

weggehen würde und dass es spät werden könnte. Wenn sie gewusst hätte! Was für


eine Kolumne hätte sie dann wieder geschrieben? Vielleicht: Liebe in den Zeiten von<br />

Caffè Latte.<br />

Nach dem Kino gingen wir ins Starbucks. Eingequetscht saß ich zwischen Philip Eins<br />

und Philipp Zwei. Uns gegenüber unterhielten sich Alina und Laura aufgeregt über<br />

das Konzert der Kings of Prussia Ende Juli. Das war wirklich der einzige<br />

Wermutstropfen an meiner New-York-Reise: Ich würde The Great Gatzki in der<br />

Waldbühne verpassen.<br />

»Wie können die nur mitten im Sommer ein Konzert geben, wenn kein Schwein<br />

in Berlin ist?«, sagte ich. »Das ist doch total beknackt.«<br />

»Also, ich bin da«, sagte Alina und zuckte mit den Schultern.<br />

»Zu blöd, dass sie die Concorde aus dem Verkehr gezogen haben«, sagte ich.<br />

»Sonst würde ich übers Wochenende herjetten. Aber das ist ...« Meine Stimme<br />

stockte. Unter dem Tisch rechts von mir presste Philipp Zwei seinen Schenkel gegen<br />

meinen. Und Philip Eins, der links von mir saß, tat das Gleiche. Ich glaube nicht,<br />

dass die anderen am Tisch etwas davon mitbekamen. Genauso wenig, wie Philip<br />

Eins bemerkte, was Philipp Zwei tat. Und umgekehrt. Egal: Ihre Ahnungslosigkeit<br />

machte die Sache für mich natürlich besonders prickelnd. Erst als ich merkte, wie ich<br />

rot wurde und immer heftiger atmen musste, wurde es mir etwas unheimlich. Würde<br />

nicht doch jemand merken, was da unter der Tischplatte abging? Vielleicht sollte ich<br />

lieber vorsichtig sein und den Spaß beenden? Doch dann, plötzlich, merkte ich, wie<br />

Philipp Zwei die Hand auf meinen Oberschenkel legte, unter meinem Rock. Warm<br />

war sie, diese Hand, schön fühlte sie sich an. Als ob sie dort hingehörte. Jetzt konnte<br />

und wollte ich das Vergnügen nicht beenden, rührte mich nicht, konnte mich nicht<br />

mehr bewegen. Ich wollte genau so sitzen bleiben, für immer und ewig,<br />

eingequetscht zwischen Philip Eins und Philipp Zwei, die warme Hand von Philipp<br />

Zwei auf meinem Schenkel und einen Caffè Latte vor mir.<br />

Aber dann spürte ich links die Hand von Philip Eins auf meinem anderen<br />

Schenkel. Nur war seine Hand kalt und rau. Philip Eins ist Mitglied in einem<br />

Ruderclub am Wannsee und seine Handflächen sind schwielig und voller Blasen.<br />

Unnötig zu sagen, dass die Hand von Philip Eins den Zauber brach. Ich<br />

verlagerte mein Gewicht. Mit einem Ruck setzten sich beide Philip(p)s wieder gerade<br />

hin.


sagte ich.<br />

Ich stand auf, griff meine Tasche und räusperte mich. »Bin gleich wieder da«,<br />

Alina sah mich an, sie hatte nichts bemerkt. Ich schon. Auf dem Weg zum<br />

Damenklo fühlte ich die Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. War ich froh, dass<br />

sich bei Mädchen die Erregung nicht gleich so unübersehbar zeigt wie bei Jungs.<br />

Stellt euch mal vor, eure Brüste würden plötzlich steif, wenn ihr erregt seid. Würden<br />

verrückt spielen und zehn Zentimeter emporwachsen. Bei dem Gedanken musste ich<br />

kichern.<br />

Unterwäschedesigner müssten dann völlig neue, extrem dehnbare BHs<br />

entwerfen. Gipfelstürmer wäre ein witziger Name dafür. Ich musste plötzlich an Fritzi<br />

denken. Wenn sie mit mir im Café gewesen wäre, hätte sie bestimmt nicht nur<br />

mitgekriegt, was unter dem Tisch vor sich ging, sie wäre auch mit mir aufs Klo<br />

gegangen und hätte jedes Detail aus mir rausgequetscht. Und dann hätten wir<br />

Namen für die elastischen BHs erfunden. Erekta-Bra, Höhenflieger, Busenständer<br />

(Kurz: BS). Wir hätten uns halb totgelacht. Und wären sehr erleichtert gewesen, dass<br />

niemand mitbekam, vor allem keine Jungs, was in der Hölle der Hormone mit uns<br />

geschah.<br />

Als ich zu unserem Tisch zurückkehrte, war bereits alles im Aufbruch. Philipp musste<br />

gehen, weil er seine Großeltern auf dem Land besuchen wollte und deshalb früh<br />

aufstehen musste. Das war hart: So bald schon verließ er Berlin?<br />

»Wann kommst du wieder?«, fragte ich. Hoffentlich Freitag oder wenigstens<br />

Samstag.<br />

»Sonntagabend.«<br />

Eine Welle der Enttäuschung breitete sich in mir aus. Sonntagabend? Dann<br />

würde ich ihn erst nach New York wieder sehen – bis dahin war es eine Ewigkeit!<br />

Philipp muss meine Enttäuschung gespürt haben. Vielleicht stand sie auch in<br />

fetten Druckbuchstaben auf meiner Stirn. Auf jeden Fall sagte er: »Ich bring dich<br />

noch zum Bus.«<br />

Meine Laune besserte sich. Vielleicht würden wir uns ja zum Abschied küssen?<br />

Aber als wir aus dem Café kamen, sahen wir meinen Bus schon um die Ecke<br />

biegen und zur Haltestelle an der nächsten Kreuzung fahren. Philipp griff nach<br />

meiner Hand. Ich hätte alles dafür gegeben, den Bus zu verpassen, um mit ihm auf<br />

den nächsten warten zu können. Aber er flog mit mir durch die warme Berliner Nacht.


Keine Sekunde zu früh, atemlos, den ungeduldigen Blick des Busfahrers im Nacken,<br />

verabschiedeten wir uns. Philipps Kuss war ungeschickt, zungenlos, aber lang<br />

genug, um den Kaffee auf seinen Lippen zu schmecken.<br />

»Grüß New York von mir«, sagte er.<br />

»Ich mail dir«, sagte ich.<br />

Ich sauste zum Oberdeck. Als der Bus mit einem Ruck losfuhr, stürzte ich zum<br />

Fenster am Busende, um noch einmal Philipp sehen zu können. Aber durch die<br />

Spiegelung in den Scheiben konnte ich kaum etwas erkennen. Verzweifelt suchten<br />

meine Augen nach der orangefarbenen Weste, diesem einen von Billionen<br />

Farbflecken inmitten der leuchtenden Berliner Nacht.<br />

Aber Philipp war verschwunden.<br />

Ich spürte eine Hand auf der Schulter und drehte mich um.<br />

»Überraschung«, sagte Philipp und strahlte mich an.<br />

Ich bekam den Mund nicht zu, was praktisch war, da er mich dann küsste.<br />

Diesmal war es ein langer Kuss. Aber leider irgendwie schlabberig. Ziemlich<br />

enttäuschend. Philipps Zunge war überall, fuhr suchend in meinem Mund herum.<br />

Und seine Lippen saugten sich so fest an meine, dass es fast wehtat. Ich versuchte<br />

seine Zunge mit meiner zu bändigen, aber er kapierte nicht, was ich wollte. Und um<br />

ehrlich zu sein: Obwohl es mir schmeichelte, dass er mich küssen wollte, war mir<br />

schon vorher beim Kuss vor dem Busfahrer ein bisschen unwohl gewesen. Hier im<br />

Bus, vor all den Leuten, war es mir nun richtig peinlich.<br />

Vorsichtig löste ich mich von ihm. Hab ich was falsch gemacht?, fragten seine<br />

Augen. Er tat mir Leid. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass ich so genaue<br />

Vorstellungen vom Küssen habe.<br />

»Deine Lippen schmecken gut«, sagte ich, um sein Selbstbewusstsein wieder<br />

aufzupäppeln. »Wie Caffè Latte.«<br />

Philipp lachte erleichtert. Und dann nahm er meine Hand. Und dann schauten<br />

wir uns an. Er sah so gut aus. Einfach umwerfend. Wen kümmerte es schon, dass<br />

seine Zunge noch ein bisschen untrainiert war?<br />

Am Adenauer Platz stiegen wir aus. Ich überlegte, ob er mich wohl noch einmal<br />

küssen würde, bevor er hinunter zur U-Bahn ging. Ich hätte nichts dagegen gehabt.<br />

Vielleicht klappte es ja diesmal besser.


standen.<br />

»Danke fürs Begleiten«, sagte ich, als wir vor dem Eingang zur U-Bahn<br />

»Ist doch klar«, sagte er.<br />

Unsere Augen saugten sich aneinander fest. Zwischen uns und einem neuen<br />

Kuss fehlten nur noch ein paar Zentimeter.<br />

»Habta mal ’n bisschen Kleingeld?«, lallte es da hinter uns.<br />

Es war ein Mann im Wintermantel. Mitten im Sommer. Sicher ein Obdachloser.<br />

Philipp hatte ein paar Cent in der Tasche. Er gab sie dem Mann. Der nickte und ging<br />

dann die Stufen zur U-Bahn hinunter. Sein ranziger Geruch hing noch in der Luft.<br />

Nicht sehr romantisch.<br />

»Also«, sagte Philipp und rümpfte die Nase, »wir sehen uns.«<br />

»Ich schreib dir«, versprach ich.<br />

Am nächsten Morgen beim Frühstück bemerkte ich, wie meine Mutter mich prüfend<br />

ansah. Ich wurde rot. Ahnte sie etwa, was am Abend zuvor passiert war? Mit Philipp?<br />

Wie auch immer, ich schwor mir hoch und heilig: Wenn die Zeit kommt und ich es tun<br />

würde, brauchte ich einen Sicherheitsabstand von mindestens fünfhundert<br />

Kilometern zwischen ihr und mir. Wenn nicht mehr!<br />

Das Klingeln des Telefons zerriss meine Gedanken.<br />

Meine Mutter ging in ihrem Arbeitszimmer ans Telefon. Ich schlürfte weiter<br />

meinen Tee, aber der Ton ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Sie schien besorgt.<br />

Offensichtlich war irgendetwas nicht in Ordnung. Ich stand auf. Mein Herz klopfte so<br />

schnell, dass es schneller an der Zimmertür war als ich.<br />

»Lucy, beruhige dich«, hörte ich sie sagen. »Ich bin sicher, alles wird gut ... Halt<br />

uns auf dem Laufenden.«<br />

Lucy? Nellys Mutter? Was mochte passiert sein? Vielleicht ja nichts. So tough<br />

Lucy auftrat: Passierte mal was, reagierte sie gerne leicht hysterisch.<br />

Meine Mutter legte auf und drehte sich zu mir. »Nelly hatte einen Unfall.«<br />

»Einen Unfall?«, stieß ich hervor und hielt mich an einem Regal fest.<br />

»Nein, nein. Es ist nichts Schlimmes, Liebling.« Meine Mutter legte mir<br />

beruhigend die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Nelly ist in Ordnung. Es ist<br />

nur das Bein.«<br />

»Das Bein?«


»Sie hat sich das Bein gebrochen. Beim Fußballspielen. Sie liegt im<br />

Krankenhaus. In New York.«<br />

liegen?<br />

»Im Krankenhaus?« Nelly war unverwundbar. Wie konnte sie im Krankenhaus<br />

»Nur für ein, zwei Tage, Schatz«, sagte meine Mutter beruhigend. »Bis alles<br />

durchgecheckt ist. Aber sie glauben nicht, dass es irgendwelche Komplikationen<br />

gibt.«<br />

»Gott sei Dank«, sagte ich erleichtert.<br />

Wir setzten uns wieder an den Tisch. Ich nahm einen Schluck Tee. Meine<br />

Mutter nahm einen Schluck Kaffee. Ein paar Sekunden vergingen. Und dann –<br />

endlich – begriff ich. Ich sah meine Mutter an. Sie wich meinem Blick aus.<br />

»Und?«, fragte ich.<br />

»Nelly kann nicht zu ihrem Onkel. Es gibt dort keinen Fahrstuhl. Und ihr Zimmer<br />

im Studentenwohnheim ist schon belegt.«<br />

»Was bedeutet das im Klartext?«, fragte ich. Ich ahnte Schlimmes.<br />

Meine Mutter holte tief Luft. »Ich denke, das bedeutet«, sagte sie, die Stimme<br />

ganz leise, »dass deine Reise nach New York leider ausfällt.«<br />

Zweites Kapitel<br />

Nein!<br />

MEINE MUTTER IST eine große Befürworterin des Wortes ja. In ihrem ersten Buch Mein<br />

Leben im Kinderzimmer – dem Versuch, einen ernsthaften Erziehungsratgeber zu<br />

schreiben, bevor sie als Familienhumoristin berühmt wurde – heißt es: Warum sich<br />

ärgern über Kinderärger? Es ist doch angenehmer, wenn Ihr Sohn vor Freude<br />

Luftsprünge macht als vor Wut an die Decke springt. Eine warmherzige Umarmung<br />

macht bestimmt sowohl Ihnen als auch Ihrer kleinen Tochter mehr Spaß als ein<br />

hitziger Streit. Das heißt nicht, dass Sie Ihren Kindern alles erlauben sollen: Aber<br />

gehen Sie unnötigen Konfrontationen aus dem Weg. Wenn Sie nicht ›ja‹ sagen<br />

können, dann vermeiden Sie trotzdem ein definitives ›nein‹. Versuchen Sie das, was<br />

Sie wollen, positiv auszudrücken. Sie glauben vielleicht, ›nein‹ zu sagen sei leichter<br />

als lange Erklärungen. Aber in den meisten Fällen ist genau das der falsche Weg.


Danke, Dr. Mom. Dank dir hab ich jahrelang in der irrigen Annahme gelebt,<br />

dass ich immer alles bekomme, was ich will. Mann, war ich blöd!<br />

»Mama«, habe ich beispielsweise gesagt, »kann ich zu Laura gehen?«<br />

Auf so was hätten die meisten Mütter geantwortet: »Bist du taub? Ich hab dir<br />

doch gesagt, dass du keinen Schritt aus dem Haus machst, bevor die Schularbeiten<br />

nicht erledigt sind!«<br />

Meine Mutter war aber nicht wie andere Mütter. »Aber ja, natürlich, mein<br />

Schatz«, hat sie geantwortet. »Natürlich kannst du zu Laura. Sobald du mit den<br />

Hausaufgaben fertig bist.«<br />

»Ja? Ich darf? Super!«, jubelte ich, stürzte mich auf meine Hausaufgaben und<br />

latschte dann später brav zu meiner Freundin. »Mama«, bettelte ich im<br />

Spielzeugladen. »Kann ich das Puppenhaus da drüben haben? Bitte Mama! Bitte,<br />

bitte!«<br />

Die meisten Mütter hätten gesagt: »Nein, kommt nicht in Frage! Dieser Mist<br />

kostet über hundert Euro!«<br />

Aber meine Mutter pflegte in so einem Fall zu sagen: »Ein Puppenhaus? Na ja,<br />

ich werd’s mir überlegen.«<br />

Und ich wartete glücklich darauf, dass sie es sich überlegte, denn sie hatte ja<br />

nicht nein gesagt, oder?<br />

Aber schließlich kam ich hinter ihre Tricks. Und damit war die Erziehung nicht<br />

mehr ganz so einfach für Dr. Mom. Sorgenfalten erschienen auf ihrer Stirn und<br />

Steine bildeten sich in ihrer Galle. Schwarze Flecken tanzten vor ihren von Migräne<br />

geplagten Augen. Dennoch strengte sie sich an, das N-Wort nicht zu benutzen.<br />

Kompromiss war ihr neues Zauberwort. Auf den Schock, den ihr jüngstes,<br />

unqualifiziertes, unverhältnismäßiges, unerbittliches Nein bei mir auslöste, war ich<br />

deshalb nicht vorbereitet.<br />

»Nein, Renée! Nein! Auf gar keinen Fall! Nein!«, schleuderte sie mir entgegen.<br />

»Aber ...«<br />

»Eine Fünfzehnjährige? Allein in New York? Niemals! Wir sind hier in keinem<br />

Hollywoodfilm! Das ist das wirkliche Leben.«<br />

Wir waren in der Küche. Es war sechs Uhr abends, einige Stunden nach Lucys<br />

Anruf. Meine Mutter, immer noch im Bademantel, bereitete das Abendbrot vor.<br />

»Kannst du es dir nicht doch noch einmal überlegen?«, fragte ich.


Meine Mutter putzte grüne Bohnen. Sie legte das Messer auf den Tisch. »Da<br />

gibt es nichts zu überlegen. New York ist ein gefährliches Pflaster. Vor allem für<br />

Nicht-New-Yorker. Und erst recht für ein so junges Mädchen wie dich. Noch dazu<br />

Ausländerin. Keine Diskussion mehr.« Sie nahm ihr Messer, aber bevor sie mit den<br />

Bohnen weitermachte, setzte sie noch hinzu: »End of story.«<br />

Meine Mutter sagte ständig end of story. Das hatte sie von Lucy und Becky<br />

aufgeschnappt. Es klang so seltsam, wenn sie es sagte, und jetzt, in dieser Situation,<br />

brachte es mich richtig auf die Palme. Vielleicht waren wir wirklich am Ende<br />

angelangt. Und doch wollte ich mich nicht so leicht geschlagen geben. Ich stand da<br />

und überlegte meinen nächsten Schritt.<br />

Den ganzen Nachmittag hatte ich über andere Möglichkeiten nachgedacht.<br />

Viele waren es nicht. Plan A (Renée allein in New York) konnte nicht durchgeführt<br />

werden. Also musste Plan B in Kraft treten.<br />

Ich sah meine Mutter an. Bestimmt hatte sie noch einen Trumpf im Ärmel. Ich<br />

legte die Schalter um. All systems go!<br />

»Du hast wahrscheinlich wirklich Recht«, sagte ich, ging hinüber zur<br />

Besteckschublade und holte ein Messer heraus. »New York ist nicht der richtige Ort<br />

für mich. Allein.« Ich setzte mich an den Tisch und nahm eine grüne Bohne. »Es ist<br />

ja eine gefährliche Stadt.« Ich schnitt die Bohnenenden ab.<br />

»Danke für die Hilfe, Schatz«, sagte meine Mutter. »Aber die Antwort auf deine<br />

nächste Frage ist auch nein.«<br />

»Wovon sprichst du?«<br />

»Nein«, wiederholte sie mit etwas mehr Nachdruck.<br />

»Nein was?« Sie konnte unmöglich wissen, was ich vorhatte.<br />

»Nein, du kannst nicht allein zu Hause bleiben, während ich auf Lesereise<br />

gehe«, sagte sie.<br />

Okay, meine Mutter hat ihren Doktor ja nicht geschenkt bekommen, sie ist alles<br />

andere als blöd. Aber trotzdem: Konnte sie jetzt auch noch Gedanken lesen? Wusste<br />

sie, dass Philipp am Sonntagabend zurückkommen und erst am Donnerstag nach<br />

Spanien fahren würde? Es war schlimm, dass ich mir New York abschminken musste<br />

– aber vier Tage allein mit Philipp, während meine Mutter irgendwo in der Pampa<br />

war, wären eine echte Alternative gewesen.<br />

»Warum nicht?«, wollte ich wissen.<br />

»Da könnte ja was-weiß-ich passieren.«


Yep. Sie konnte Gedanken lesen.<br />

»Du hast kein Vertrauen zu mir!«, sagte ich.<br />

»Darum geht’s nicht!«<br />

»Worum denn?«<br />

Meine Mutter stand auf, ging zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn an.<br />

Sie wusch die Bohnen im kalten Wasser und wandte mir den Rücken zu. Ihre<br />

Stimme war betont heiter.<br />

»Ich hab mit Fritzi und Gisela gesprochen. Beide würden sich sehr freuen,<br />

wenn du mit nach Cornwall kämst.«<br />

Ich wusste doch, dass sie mir mit irgendeinem Schwachsinn kommen würde.<br />

»Ich will aber nicht!«, schrie ich. »Wie konntest du sie anrufen, ohne mich zu<br />

fragen?«<br />

Meine Mutter sah mich an. »Fritzi vermisst dich, Schatz.«<br />

»Ist mir scheißegal!« Ich stand auf.<br />

»Du hast ihr Cottage doch immer so gemocht«, sagte meine Mutter leise.<br />

Ich ging aus der Küche. Ein Klumpen aus Tränen saß in meinem Hals. Ich<br />

versuchte ihn zu schlucken, aber er saß fest. Ich ließ mich aufs Bett fallen und<br />

vergrub den Kopf unter dem Kissen.<br />

Etwas später, als der Klumpen aus Tränen so klein geworden war, dass ich ihn<br />

endlich, ohne loszuheulen, schlucken konnte, legte ich die Kings of Prussia auf. So<br />

laut, dass meiner Mutter die Ohren wehtaten, aber mein Trommelfell nicht platzte.<br />

Die Kings of Prussia sind schlicht die beste Band der Welt, machen eine Mischung<br />

aus allem, was gut ist in der Musik: ein bisschen Punk, ein bisschen Ska, eine Prise<br />

Poesie, eine Scheibe Sozialkritik, etwas Swing, ja sogar Liebesballaden. Und jede<br />

Menge Gitarreneinsätze. Von allem nur das Beste. Glaubt mir, die Kings of Prussia<br />

sind nicht königlich – sie sind göttlich!<br />

Meine Mutter grillte auf der Terrasse Schweinekoteletts. Wahrscheinlich wollte sie<br />

mich wegen der verpfuschten Reise trösten. Sie weiß, wie sehr ich Grillkoteletts<br />

liebe, nur Wan-Tan-Suppe mag ich noch lieber. Auf Platz drei kommt Marzipan.<br />

»Ich habe mir überlegt, dass du in der Zeit bei Oma Ulli sein könntest«, begann<br />

meine Mutter, als wir uns zum Essen setzten. »Sie kann wegen Martha nicht<br />

herkommen, weil sie Martha nicht allein in Hannover lassen will.«


Oma Ulli hatte vor ein paar Monaten ihre gebrechliche alte Tante Martha bei<br />

sich aufgenommen, nachdem Martha, die allein lebte, schwer gestürzt war.<br />

»Da gibt’s doch keinen Platz für mich«, sagte ich zu meiner Mutter. Ich liebe<br />

meine Oma Ulli, aber der Gedanke daran, drei Wochen lang bei ihr auf der<br />

Wohnzimmercouch zu schlafen, behagte mir überhaupt nicht.<br />

»Das kommt alles so kurzfristig. Wir haben keine große Wahl«, sagte meine<br />

Mutter. Dann schwieg sie einen Moment und holte tief Luft. »Und was ist mit Alina<br />

und ihrer Mutter? Vielleicht kannst du mit ihnen in den Urlaub fahren.«<br />

»Alina?«, fragte ich ungläubig. »Alina?«<br />

Meine Mutter wusste wirklich nicht mehr weiter. Sie war alles andere als ein<br />

Alina-Fan. Wir hatten letztes Weihnachten sogar einen kleinen Streit wegen ihr. Es<br />

ging um Sex. Wir hatten auch vorher schon über Sex gesprochen. Immerhin ist Dr.<br />

Mom ja Ehrenpräsidentin im Club der Großartigsten Mütter der Welt, und wie jedes<br />

Mitglied dieses Clubs glaubt sie, die Erfindung der Aufklärung ginge ganz allein auf<br />

sie zurück. Doch es war das erste Mal, dass sie sich dabei über mich ärgerte. In<br />

einem schwachen Moment war ich so dumm gewesen und hatte meiner Mutter<br />

erzählt, dass Alina schon mit einem Jungen geschlafen hatte.<br />

»Und Alinas Mutter fand das total in Ordnung«, hatte ich erzählt. »Sie ist so<br />

cool, sie ist sogar mit Alina zum Arzt gegangen, um ihr die Pille verschreiben zu<br />

lassen.«<br />

»Das nennst du cool?«, sagte meine Mutter.<br />

Ich sah meine Mutter erstaunt an, sie war sonst nicht so schnell mit ihrem Urteil.<br />

»Alina ist erst vierzehn«, sagte sie. Sie fühlte sich verpflichtet, mir eine<br />

Erklärung zu geben. »Das ist einfach zu früh.«<br />

»Wer sagt das?«<br />

Die Augen meiner Mutter verengten sich.<br />

»Und wenn sie will?«, setzte ich noch eins drauf.<br />

Nun weiteten sich ihre Augen.<br />

Vielleicht war ich zu weit gegangen.<br />

»Renée, willst du mir damit zu verstehen geben, dass du es willst?«, fragte sie.<br />

Oh nein! Wieso hatte ich dieses Thema überhaupt angeschnitten? Am liebsten<br />

hätte ich mich in Luft aufgelöst. Auf der Stelle. Ich konnte mit ihr nicht über Sex<br />

reden. Mit Alina ja. Und mit Fritzi. Sogar mit Frau Grubmann. Aber nicht mit Dr. Mom!<br />

Ich sah schon die Überschrift ihrer Kolumne vor mir: ›Sex‹, sagte sie!


Fast wollte ich schon klein beigeben – um des lieben Friedens willen, und auch,<br />

um meine Privatsphäre zu schützen, da sagte sie: »Du hast erst etwas davon, wenn<br />

dein Kopf die Entwicklung deines Körpers eingeholt hat. In dem Gebiet kenne ich<br />

mich aus.«<br />

»Ach? Willst du damit sagen, dass du mit vierzehn Sex hattest, aber nichts<br />

davon gehabt hast?«<br />

Sie rollte mit den Augen. »Als ich vierzehn war, hatte ich Ideale. Ich habe meine<br />

Energie da reingesteckt, anderen zu helfen. Ich hab zum Beispiel ehrenamtlich als<br />

Schwesternhelferin gearbeitet.«<br />

»Wow«, sagte ich. »Ich wette, das hat bestimmt mehr Spaß gemacht als Sex.«<br />

Ich hatte das gar nicht komisch gemeint, aber meine Mutter fing an zu lachen.<br />

Sie hatte in letzter Zeit nicht viel gelacht, es hörte sich nett an. Und bevor ich es<br />

begriff, lachte auch ich.<br />

»Oh ja! Ich muss Alina unbedingt davon erzählen«, sagte ich, als wir uns wieder<br />

etwas beruhigt hatten. »Sie wird es bestimmt toll finden, als Schwesternhelferin die<br />

Kacke von fremden Pos abzuwischen.«<br />

Meine Mutter warf ein Sofakissen nach mir. »Du bist absolut respektlos! Raus<br />

mit dir!«, rief sie und hatte schon wieder einen Lachanfall.<br />

Ich grinste und machte meinen Abgang.<br />

Diesmal hatten wir die Kurve gekriegt. Aber wie würde es beim nächsten Mal<br />

sein? Seither haben wir jedenfalls nie wieder über Sex gesprochen. Und auch nicht<br />

mehr über Alina oder ihre Mutter. Umso überraschender, dass ich jetzt plötzlich mit<br />

den beiden in die Ferien fahren sollte.<br />

»Geht nicht«, sagte ich. »Alina verreist nicht mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem<br />

Vater und seiner neuen Frau. Nach Sardinien. Ihr Vater möchte gerne, dass die<br />

beiden miteinander vertraut werden. »Ich glaube kaum, dass sie mich dabeihaben<br />

wollen«, sagte ich und nagte einen Kotelettknochen ab.<br />

Meine Mutter stöhnte laut. »Dann bleibt keine andere Wahl als ...«<br />

»Nein!«, rief ich. »Auf gar keinen Fall! Nein!«<br />

»Renée, es gibt keine Alternative. Um dich in einem Ferienlager oder zu einem<br />

Schüleraustausch anzumelden, ist es zu spät ...«<br />

»Nein! Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will einfach nicht!«<br />

»Dann fahr mit Fritzi nach England.«<br />

»Nein!«


Ich wollte meine Zeit nicht mit Fritzi und ihren Eltern verbringen. Ihre Sind-wir-<br />

nicht-eine-glückliche-Familie-Gesichter machten mich krank. Ich wollte auch nicht auf<br />

einer Couch im Wohnzimmer meiner Oma schlafen. Ich wollte nach New York. Oder<br />

allein in Berlin bleiben, mit Philipp. Musste ich jetzt wirklich mit meiner Mutter auf<br />

Lesereise gehen? Wie sollte ich das überleben? Wie sollte ich es überstehen, drei<br />

ganze Wochen mit Dr. Mom zusammengekettet zu sein?<br />

»Renée, sei doch mal ein bisschen offen. Lass dich doch überraschen«, sagte<br />

meine Mutter und nahm sich eine zweite Portion Bohnen. »Du kriegst was von der<br />

Welt zu sehen.«<br />

»Die Welt. Na toll. Schwedt an der Oder. Das war schon immer mein Traum.«<br />

»Okay, es sind auch ein paar Buchhandlungen in Kleinstädten dabei. Aber<br />

einige Großstädte sind auch dabei. Mannheim, Leipzig, München, Hamburg.«<br />

»Mannheim!«, sagte ich und rollte mit den Augen.<br />

»Und die Ostsee, Renée. Der Darß. Es wird dir gefallen. Und eine ganze<br />

Woche in den Alpen, auf Schloss Koppenbach.«<br />

Meine Mutter sprach oft von Schloss Koppenbach. Sie hatte mir mal einen<br />

Zeitungsartikel gezeigt. Ein alter Schulfreund von ihr aus Hannover, Niels Riethmann,<br />

ein intellektueller Typ mit Nickelbrille, hatte den ganzen Schlosskomplex von einem<br />

bayerischen Onkel geerbt. Innerhalb von zwei Jahren hatte er ihn in ein luxuriöses<br />

Wellnesshotel mit gehobenem Kulturprogramm verwandelt. Es gab klassische<br />

Konzerte, Jazzsessions und literarische Abende. Medizinische Koryphäen hielten<br />

Vorträge über die Heilkraft von Pflanzen.<br />

»Klingt echt aufregend«, sagte ich.<br />

Dann zog ich alle Register. Wenn ich zu Hause in Berlin bleiben dürfte,<br />

versprach ich, sie alle zwei Stunden anzurufen. Versprach, mein Handy immer<br />

angeschaltet zu lassen. Schwor, dass kein einziger Junge jemals auch nur den<br />

kleinen Zeh in die Wohnung setzen würde. (Ob ich das Versprechen halten konnte,<br />

wusste ich nicht, aber darüber konnte ich mir ja später einen Kopf machen.) Ich<br />

versprach, mir jeden Tag drei ausgewogene Mahlzeiten zuzubereiten, dreimal mit<br />

Obst und zweimal mit Gemüse dabei. Ich versprach sogar, ihr einen neuen<br />

Frotteebademantel zu schenken.<br />

Doch sie rollte nur mit den Augen und seufzte.<br />

Und dann, als das Essen vorbei war. Das allerschlimmste Horrorszenario.<br />

»Bitte!«, bettelte ich.


»Es reicht, Renée! Es reicht. Nein! End of story!«<br />

Meine Mutter massierte sich leidvoll die Stirn. Geschah ihr nur recht. Warum<br />

war sie so vernagelt? Und warum trug sie um acht Uhr abends immer noch diesen<br />

miefigen Bademantel?<br />

»Wir haben das alles x-mal durchgekaut!« Ungeduldig sprang meine Mutter<br />

vom Tisch auf und räumte die Gläser ab. Dabei schwappte ein Rest Wein auf ihren<br />

Bademantel.<br />

»Warum lässt du dir nichts sagen?«, sagte ich.<br />

Meine Mutter knallte die Gläser auf den Tresen und ich hörte einen Knacks. Sie<br />

drehte sich zu mir. »Ich soll mir etwas sagen lassen? Ich? Und was ist mit dir? Du<br />

bist fünfzehn! Wenn hier jemand etwas gesagt kriegt, dann du! Ich kann dich nicht<br />

allein in der Stadt lassen. Wenn etwas passiert, das würde ich mir nie verzeihen.«<br />

»Was soll schon passieren?«<br />

Sie fuhr herum, stürzte sich auf das Spülbecken und drehte das Wasser an. Mit<br />

einem angefeuchteten Lappen versuchte sie den Weinfleck aus dem Bademantel zu<br />

rubbeln. Dann kam sie wieder zum Tisch, griff sich einen Teller und ging zum<br />

Geschirrspüler.<br />

»Du behandelst mich wie ein Kind!«, schrie ich.<br />

Mit dem Teller in der Hand drehte sie sich wieder zu mir und schrie noch lauter<br />

zurück: »Weil du eins bist!«<br />

»Daddy hätte mir erlaubt, allein hier zu bleiben! Das weiß ich. Das weiß ich<br />

ganz genau!«<br />

Beim Wort Daddy brachen alle Dämme. Ich sprach es so gut wie nie aus. Und<br />

als ich hörte, wie dieses Daddy einfach so aus meinem Mund purzelte, ungebeten,<br />

dachte ich, ich würde zerspringen. Wie das Glas auf dem Tresen. »Warum bist nicht<br />

du gestorben?«, rief ich. »Warum musste er sterben? Warum er? Warum Daddy?«<br />

Meine Mutter erstarrte. Noch immer hielt sie den Teller in der Hand.<br />

Schweineknochen und Fettaugen schwammen in einer Lache rötlicher Soße.<br />

Obenauf lagen eine Gabel und ein Messer. Meine Mutter öffnete den Mund, aber<br />

nichts kam heraus.<br />

Und dann sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte.<br />

Angewidert, wütend, drehte ich mich um und stürmte aus der Küche. Hinter mir<br />

hörte ich, wie Messer und Gabel vom Teller rutschten. Scheppernd landeten sie auf<br />

dem Fliesenboden.


Am nächsten Morgen klopfte meine Mutter an meine Tür. Sie war ungeschminkt, trug<br />

nicht mal Lippenstift, ihr Haar hatte sie zum Zopf geflochten, ihre Augen waren<br />

verquollen. »Ich fahre nach Weißensee«, sagte sie gelassen. »Willst du mit?«<br />

»Nein, danke.«<br />

Sie nickte. Und ging.<br />

Ich setzte mir wieder die Kopfhörer auf. Die Kings of Prussia. Wenigstens<br />

konnte ich jetzt zu ihrem Konzert. Mein Trostpreis.<br />

Ich fahre nach Weißensee. Willst du mit? Das fragte sie mich immer. Und<br />

immer sagte ich nein.<br />

Ich fuhr nie mit nach Weißensee. Thanks, but no thanks – auf Friedhöfe kann<br />

ich gut verzichten. Nach der Andacht bin ich nicht hingegangen. Als der Grabstein<br />

aufgestellt wurde, nicht. Nicht, nachdem meine Mutter von den schönen roten,<br />

goldenen und gelben Blättern dort erzählte, nicht, als sie nach Hause kam und sagte,<br />

es sei dort so friedlich, und still, mit dem frisch gefallenen Schnee, und ganz sicher<br />

nicht, als sie sagte, alles dort grüne und blühe, eine schöne letzte Ruhestätte<br />

eigentlich. Nee nee. Ich war nie dort. Und ich werde nie hingehen. End of story.<br />

Drittes Kapitel<br />

Meine Familie, meine Geister<br />

DIE NORDDEUTSCHE TIEFEBENE flog vorbei. Flaches, graugrünes Land. Ein paar<br />

Bäume und ein vom Regen schmutziger Himmel. Ich machte ein Foto. Komisch: Das<br />

Bild im Display sah genauso aus wie das, was ich zehn Minuten vorher gemacht<br />

hatte. Weniger komisch: Das nächste Foto würde wahrscheinlich genauso aussehen.<br />

Trüb und öde.<br />

Ich gähnte, dann blickte ich den Gang hinunter zu dem Mann im weißen<br />

Leinenanzug, der ein paar Reihen entfernt von uns etwas in seinen Laptop tippte.<br />

Für mich war er viel zu alt, so gegen Ende dreißig, aber er sah sehr gut aus. Gleich<br />

als er in unseren Wagen stieg, war er mir aufgefallen: sein sommerlicher,<br />

zerknitterter weißer Leinenanzug, sein langer schwarzer Pferdeschwanz – The Great<br />

Gatzki hatte auch so einen. Manche Männer sind einfach mit Geschmack gesegnet.


Und mit einer guten Figur. Wie Philipp hatte der Mann im weißen Leinenanzug breite<br />

Schultern und schmale Hüften. Und er war auch ungefähr gleich groß, wobei Philipp<br />

wahrscheinlich noch größer würde.<br />

Der Mann im weißen Leinenanzug hatte meinen Blick wohl gespürt. Er hob den<br />

Kopf und unsere Augen trafen sich.<br />

Ich schaute weg.<br />

Meine Mutter schien heute etwas angespannt. Sie richtete sich auf und schaute<br />

mich über den Rand ihrer Brille an, dann las sie weiter in dem New Yorker, den ich in<br />

Berlin am Bahnhof gekauft hatte. Um sie daran zu erinnern, was sie mir angetan<br />

hatte.<br />

Ich ließ mich in meinen Sitz zurückfallen. Vor dem Fenster immer das Gleiche:<br />

platte, graugrüne Erde, Bäume und ein schmutziggrauer Himmel. Ich sah auf die Uhr.<br />

Genau jetzt war Philipp auf dem Weg nach Barcelona. Wir hatten uns noch nicht<br />

einmal verabschiedet. Jedenfalls nicht richtig.<br />

Ich nahm meinen Discman heraus und legte das dritte Album der Kings of<br />

Prussia, The Garden of Delight, auf.<br />

Ich versenkte mich in meinen Lesestoff: den Tour-Plan meiner Mutter, während<br />

The Great Gatzki Liebesballaden sang.<br />

Sitting by the Sonnenblumen<br />

I try with all my might<br />

To bring back our garden of delight.<br />

Oben auf der ersten Seite stand groß: Dr. Mom liest. Der Plan enthielt alle<br />

Termine: wo sie von wem abgeholt werden würde, die Adressen ihrer Hotels,<br />

Veranstaltungsorte mit Telefonnummern, Zugverbindungen, alternative Routen.<br />

Heute war Donnerstag, Tag fünf. Planmäßig waren wir unterwegs von<br />

Tangermünde nach Stadthagen. In Hannover wollten wir als Zwischenstopp eine<br />

ausgedehnte Mittagspause mit Oma Ulli einlegen und um acht Uhr abends hatte<br />

meine Mutter eine Lesung in ...<br />

Aha! Vielleicht war es das. Oma Ulli! Vielleicht war meine Mutter deshalb so<br />

angespannt.<br />

Meine Mutter spürte meinen Blick und sah auf.<br />

»Was ist?«, fragte sie.


»Du bist so nervös heute Morgen.«<br />

Sie zuckte mit den Schultern. »Lesereisen sind anstrengend.«<br />

Wem sagte sie das. Die vergangenen vier Tage waren wir die Provinz einmal<br />

rauf und runter getourt, hauptsächlich im Osten, kreuz und quer, von Süd nach Nord<br />

und von Nord nach Süd. Am Sonntag waren wir von Berlin nach Leipzig gefahren.<br />

Am Montag reisten wir dann wieder Richtung Norden nach Magdeburg. Am Dienstag<br />

nahmen wir den Zug und fuhren eine Stunde südwestlich nach Halberstadt. Gestern<br />

waren wir in Tangermünde. Die Reise war eine nicht enden wollende Folge von<br />

größeren und kleineren Städten, Hotels und Bahnhöfen. Gut, dass meine Mutter mir<br />

ihre Kamera gegeben hatte. So wusste ich zumindest immer, wo ich in der Nacht<br />

zuvor gewesen war – wenn ich mich denn erinnern wollte. Ich schloss die Augen, um<br />

mich auf die Kings of Prussia zu konzentrieren.<br />

Lying by the dying Veilchen<br />

I try with all my might<br />

To bring back our garden of delight.<br />

Ich schaute wieder auf den Plan, strich alle Orte durch, in denen wir schon gewesen<br />

waren, und studierte die kommenden. Morgen ging’s nach Mannheim. Dann<br />

Hamburg. Am Sonntag würden wir nach Nordosten fahren, nach Zingst auf dem<br />

Darß. Darauf folgte der bayerische Teil der Reise. München. Und schließlich eine<br />

ganze Woche auf Schloss Koppenbach, eineinhalb Zugstunden von München<br />

entfernt in den Alpen. Im Schloss fand eine Tagung statt, an der meine Mutter<br />

teilnehmen würde. Außerdem hatte sie noch ein paar Lesungen in der näheren<br />

Umgebung.<br />

Ich wickelte einen Big Red aus und schob ihn mir in den Mund.<br />

Wie konnte mir das passieren? Mir, Renée Bella Brody? Wie konnte ich mich<br />

drei ganze Wochen von einem Bummelzug zum nächsten schleppen lassen, der uns<br />

von einer grauen, grässlichen Stadt zum nächsten Kuhkaff brachte. Drei Wochen<br />

lang Koffer ein- und auspacken, marode Hotelbetten, das Schnarchen meiner Mutter,<br />

ihr Atmen in meinem Rücken. Drei Wochen lang mit anhören, wie Dr. Mom<br />

zermürbten Eltern erzählt, wie sie sprechen müssen, damit die Kinder ihnen zuhören,<br />

und wie sie zuhören müssen, damit die Kinder mit ihnen sprechen.<br />

Ich drehte die Musik etwas lauter:


Waiting near the wispy Weiden<br />

I try with all my might<br />

To bring back our garden of delight<br />

Oooh, call in the night.<br />

Ich blickte auf. Der Mann im weißen Leinenanzug sah mich schon wieder an. Ich<br />

schaute runter auf den Tisch und griff nach dem Psychologie-Heute-Heft meiner<br />

Mutter.<br />

Kurze Zeit später stand der Mann im Leinenanzug auf. Meine Augen klebten an<br />

der Zeitschrift.<br />

Als er vorbeiging, roch es heftig nach seinem Eau de Cologne. Meine Mutter las<br />

immer noch im New Yorker.<br />

Ich blickte auf die Uhr. Noch vierzig Minuten bis Hannover.<br />

Jetzt fiel die ganze Band in den Schlussrefrain ein, Arno, Wilko und Jona.<br />

Roaming near the dear red Rosen<br />

I try with all my might<br />

To remember our garden of delight.<br />

Ich starrte aus dem Fenster. Es war schmutzig, die Scheibe von gleichmäßigen<br />

grauen Streifen durchzogen. Offensichtlich hatte jemand mit einem dreckigen<br />

Lappen geputzt.<br />

Obwohl Philipp heute unterwegs nach Spanien war und eh nicht so gern<br />

telefonierte, holte ich mein Handy raus. Philipp vergaß seins ständig, hatte es sogar<br />

bei seinen Großeltern nicht dabeigehabt. Als klar war, dass ich mit meiner Mutter auf<br />

Lesereise gehen musste, hatte ich ihm auf die Mailbox gesprochen. Vielleicht<br />

konnten wir uns ja doch noch vor seiner Abreise treffen? Aber keine Antwort.<br />

Schließlich erreichten wir uns dann am Sonntagabend am Telefon. Ich war bereits in<br />

Leipzig und er gerade von seinen Großeltern zurückgekommen. Er wusste noch nicht<br />

einmal, dass ich angerufen hatte: Sein Akku war leer gewesen und er lud ihn gerade<br />

erst in diesem Moment auf. Das muss man sich mal vorstellen: Mit dem einzigen<br />

sechzehnjährigen Jungen auf der Welt, der keine innige Beziehung zu seinem Handy<br />

pflegt, muss ich etwas haben!


Wahrscheinlich hatte ich insgeheim gehofft, dass Philipp über meine<br />

veränderten Ferienpläne überglücklich sein würde, dass er mich nach meiner Route<br />

fragen und sich unbedingt irgendwo unterwegs mit mir treffen wollte, bevor er nach<br />

Spanien flog. In Magdeburg vielleicht. Oder in Halberstadt. War doch alles möglich.<br />

Aber es kam ihm gar nicht in den Sinn.<br />

»Du bist in Leipzig?«, sagte er. »Schön.«<br />

»Na ja.«<br />

Schweigen.<br />

»Es ist ein bisschen ... also ... einsam«, sagte ich dann. »Meine Mutter muss<br />

die ganze Zeit arbeiten.«<br />

»Verstehe.«<br />

Wieder Schweigen.<br />

»Morgen bin ich in Magdeburg«, sagte ich und hob meine Stimme am Ende wie<br />

zu einer Frage.<br />

»Oh, Magdeburg«, sagte er. »Cool.«<br />

»Ja, ziemlich cool.«<br />

Schweigen.<br />

»Mit dem ICE ist man da von Berlin aus in nur einer Stunde«, sagte ich.<br />

»Ach, wirklich?«<br />

Und das war’s.<br />

Zwei Tage brauchte ich, um meine Enttäuschung zu überwinden. Schließlich<br />

beschloss ich, dass Philipp von seinem Besuch bei den Großeltern völlig ausgelaugt<br />

gewesen sein musste, oder vielleicht waren ja auch seine Eltern im Zimmer, als ich<br />

anrief. Oder ein Freund. Na klar! Ich wette, Philip Eins war gerade da und mein<br />

Philipp wollte nicht, dass der mitbekam, mit wem er telefonierte.<br />

Also verzieh ich ihm und schickte ihm gestern Abend von Tangermünde aus<br />

eine Mail.<br />

Vielleicht lag ihm Schreiben ja mehr.<br />

Das war wirklich zu hoffen.<br />

Fahrende Züge sind für Handys der Tod: Kein Empfang. Dabei wartete ich auf eine<br />

SMS von Alina. Normalerweise simsten wir uns mindestens einmal am Tag.<br />

Am Montag schickte ich ihr »Langeweile in Leipzig«. Sie schrieb zurück »Sex<br />

auf Sardinien«. Es war ein bisschen wie Pingpong. Ich: »Hilfe – Halberstadt!« Sie:


»Männer am Mittelmeer.« Ich: »Magdeburg und Mutterzoff.« Sie: »Irre nach Italos.«<br />

Mann, die hatte echt nur eins im Kopf.<br />

Im Fenster: Noch mehr vom Ewiggleichen.<br />

The Great Gatzki war gerade bei Hugs and Küsse:<br />

Hugs and Küsse because I miss ya<br />

Hugs and Küsse because I need ya.<br />

Ich blätterte in Psychologie Heute. Auf der letzten Seite fand ich eine Anzeige<br />

für die Tagung auf Schloss Koppenbach, Erziehung im neuen Millennium.<br />

»Sind alle auf dem Schloss Psychologen?«, fragte ich meine Mutter und<br />

machte die Musik etwas leiser. »Oder Sozialarbeiter? Und Familienberater?« Der<br />

Gedanke daran ließ mich schaudern.<br />

»Um Gottes willen, nein! Wir sind etwa fünfundsiebzig Tagungsteilnehmer. Aber<br />

die normalen Hotelgäste können auch zu den Veranstaltungen kommen. Niels sagte,<br />

das Hotel sei ausgebucht, also müssen da noch ungefähr zweihundert Leute mehr<br />

sein. Davon hoffentlich viele Eltern, die sich für unsere Arbeit interessieren.«<br />

Ich drehte The Great Gatzki wieder laut und machte eine Kaugummiblase. Sie<br />

platzte auf meiner Oberlippe und ich schob sie mit der Zunge zurück in den Mund.<br />

Mmmm. Meine Lippen fühlten sich seidig, weich und prall an.<br />

Ich zog meinen Taschenspiegel heraus und warf einen Blick hinein. Ja, definitiv:<br />

Meine Lippen sahen viel voller aus. Meine neue Lippenvergrößerungscreme für volle,<br />

sinnliche Lippen war einfach fantastisch. LipLuv. Das Beste, was man für 19,90 Euro<br />

bekam, wenn man nicht gerade Silikon spritzen wollte. Vielleicht liegt es an meinen<br />

Lippen, dass der Mann im weißen Leinenanzug mich anschaut.<br />

Ich legte frischen Lipgloss auf.<br />

Hugs and Küsse because I love ya<br />

Hugs and Küsse because I want ya.<br />

»Wie findest du meine Lippen?«, fragte ich meine Mutter.<br />

»Ach, Renée«, sagte sie und schaute kurz auf meine Lippen. »Sei nicht albern.<br />

Deine Lippen sehen aus wie immer. LipLuv! Wenn etwas so klingt, als sei es zu<br />

schön, um wahr zu sein, dann ist es zu schön, um wahr zu sein.«


Was war das denn schon wieder für ein Spruch – darum ging’s doch gar nicht!<br />

»Wenn etwas so klingt, als sei es zu schön, um wahr zu sein, dann ist es zu schön,<br />

um wahr zu sein«, spottete ich. »Schreib da drüber doch einfach ein Buch.« Ich<br />

schoss hoch, drehte mich um und stieß – Kopf voran – mit einem weißen<br />

Leinenanzug zusammen.<br />

Mist!<br />

»Tschuldigung«, murmelte ich zur Leinenschulter, die nun mit Lipgloss<br />

verschmiert war.<br />

Ich flüchtete mich in Richtung Klo, aber leider nicht schnell genug: »Verzeihen<br />

Sie die Störung«, hörte ich den Mann im weißen Leinenanzug zu meiner Mutter<br />

sagen, »aber ich wollte Ihnen unbedingt sagen, dass meine Frau und ich all Ihre<br />

Bücher haben. Sie haben uns so geholfen, unseren kleinen Sohn besser zu<br />

verstehen.«<br />

albern.<br />

O Gott – das war ja oberpeinlich! Meine Mutter hatte wirklich Recht: Ich war<br />

Ich konnte sein Gesicht jetzt nicht sehen, aber sicher sah der Mann im weißen<br />

Leinenanzug gerade genauso bescheuert aus wie alle, wenn sie sich meiner Mutter<br />

vorstellen. Einfach dämlich. Übereifrig. Wie große, schlabbernde Hunde. Freundlich<br />

bis zum Erbrechen. Kennen dich nicht mal, stürzen sich aber gleich auf dich,<br />

schnüffeln rum, geben Pfötchen, lecken dir mit ihren dicken feuchten Sabberzungen<br />

übers Gesicht, so begeistert sind sie, Dr. Edda Mommsen-Brody, die großartigste<br />

Mutter der Welt, kennen zu lernen.<br />

Ha! Die Vorstellung war einfach grotesk. Die großartigste Mutter der Welt.<br />

Wenn die nur wüssten! Wüssten, wie Dr. Mom mit ihrer Perfektion die eigene Tochter<br />

quält. Mit dem Anschein von Perfektion – denn meine Mutter war alles andere als<br />

perfekt. Wenigstens nicht mehr. Ich meine, man muss ja nur mal an ihren Zustand im<br />

letzten Herbst denken. Nach dem Unfall.<br />

Ich reg mich ja jetzt noch ziemlich über den miefenden Frotteebademantel auf,<br />

den sie tagein, tagaus zu Hause trägt. Trotzdem ist eine Mutter im<br />

Frotteebademantel ein Riesenfortschritt im Vergleich zu einer Mutter, die sich einen<br />

ganzen Monat lang im Bett vergräbt, ohne auch nur einmal die Wäsche zu wechseln.<br />

Ein, zwei Wochen vor Trauer im Bett zu liegen – das kann man ja noch akzeptieren.<br />

Aber meine Mutter brauchte mehr als vier Wochen, um endlich wieder aus dem Bett<br />

zu steigen und zumindest mal den ekligen Bademantel anzuziehen. Aus dem Haus


ging sie aber kaum. Noch nicht mal zum Einkaufen. Vom ersten Tag an machte ich<br />

den Haushalt.<br />

»Aber Renée«, sagte sie und setzte sich in ihrem Bett auf, »das musst du nicht.<br />

Gisela sagte, sie würde das tun.«<br />

»Ist schon in Ordnung«, sagte ich und räumte ihren schmutzigen Becher weg.<br />

Sie wollte doch ihre Freundin Gisela genauso wenig in der Wohnung haben wie ich.<br />

Sie zuckte mit den Schultern, seufzte, gab mir EC-Karte, Geheimzahl und<br />

schließlich ihre Einkaufsliste: Pfefferminztee, Salzbrezeln und Taschentücher. Das<br />

war’s. Davon lebte sie. Wochenlang. Die Wohnung verließ sie nur alle paar Tage, um<br />

zu einer Kollegin zu gehen, Ingrid Goethe, eine Therapeutin.<br />

»Solltest du nicht vielleicht auch mit jemandem sprechen?«, fragte sie mich.<br />

»Worüber?«, antwortete ich, leerte eine neue Tüte Salzbrezeln in eine Schüssel<br />

und stellte sie auf ihren Nachttisch.<br />

»Es gibt gute Therapeuten, die Erfahrungen mit Jugendlichen in deiner<br />

Situation haben. Die wissen, wie man mit Trauer ...«<br />

»Hör mal, Mama!« Ich erhob die Stimme, um den Klumpen aus Schmerz,<br />

diesen Tränenklumpen, der meine Kehle verstopfte, zurückzudrängen. »Ich hab dir<br />

schon gesagt, es ist alles okay! Ich brauche niemanden. Darf ich dich daran erinnern:<br />

Ich bin diejenige, die jeden Morgen aufsteht. Ich komm schon klar. Allein.«<br />

»Mein Liebes, es ist nicht gut, wenn du es nicht rauslässt.«<br />

»Wenn ich was nicht rauslasse?«<br />

Ich knüllte die hundertste Salzbrezeltüte zu einem Ball zusammen und schmiss<br />

sie Richtung Papierkorb. Dabei öffnete sich der Ball und Krümel und Salzkörner<br />

rieselten auf das Parkett.<br />

»Oh nein«, sagte meine Mutter und ließ sich erschöpft zurückfallen. Salz auf<br />

dem Fußboden war zu viel für sie.<br />

Für mich auch.<br />

Ich stampfte aus dem Zimmer. Unter den dicken Sohlen meiner Stiefel hörte ich<br />

Salz und Krümel knirschen. Die Kratzer im Parkett konnte ich fast vor mir sehen.<br />

Du musst es einfach rauslassen. Ich konnte das nicht mehr hören. Meine<br />

Mutter. Fritzis Mutter Gisela. Oma Ulli. Die Schulpsychologin.<br />

»Kennst du den Unterschied zwischen Schmerz und Trauer?«, fragte mich<br />

Serena Kirschner, unsere Schulpsychologin, und zog an ihrer Zigarette.


Ich antwortete nicht. Sah nur ihre Hände an. Ihre Nagelhaut war rissig und die<br />

Nägel kurz geschnitten. Zu kurz. Bestimmt kaute sie die Nägel und feilte sie ab,<br />

damit es keiner merkte. Außerdem waren ihre Fingerspitzen gelb verfärbt. Entweder<br />

hatte sie Gelbsucht oder es kam vom Nikotin. Eine Schulpsychologin, die Nägel kaut<br />

und raucht. Tolles Vorbild.<br />

»Wenn jemand, den man liebt, fort ist, fühlen wir Schmerz«, sagte Frau<br />

Kirschner und nahm einen weiteren Zug. »Trauern wiederum bedeutet, dem<br />

Schmerz Ausdruck zu verleihen. Ihn rauszulassen. Ihn zu akzeptieren. Sich mit ihm<br />

zu versöhnen. Die Wunde heilen zu lassen.«<br />

Ich sagte nichts. Ich hatte mich an mein Schweigen gewöhnt. Die Menschen um<br />

mich herum ebenfalls.<br />

»Weinen ist eine Art zu trauern«, sagte sie. »Eine der besten. Aber es gibt viele<br />

andere Möglichkeiten. Manche Menschen pflanzen Bäume für ihre Lieben, die nun<br />

tot sind. Andere malen Bilder.« Dann schlug sie vor, ich sollte ein paar Zeilen an<br />

meinen Vater auf einen biologisch abbaubaren, mit Treibgas gefüllten Ballon<br />

schreiben und ihn zum Himmel aufsteigen lassen.<br />

»In Amerika macht man das«, sagte sie.<br />

Superidee: Sonntagfrüh, ich, oben auf dem windigen Teufelsberg mit den<br />

Drachenjunkies. »Hey Dad«, würde ich Richtung Himmel rufen, »hörst du mich? Tut<br />

mir Leid, dass ich mich nicht von dir verabschieden konnte. Aber hier kommt ein<br />

Ballon für dich geflogen, der ist hundert Prozent biologisch abbaubar und es steht<br />

was für dich drauf.«<br />

Thanks, but no thanks.<br />

Ich stand auf. »Sind wir jetzt fertig, Frau Kirschner? Kann ich jetzt gehen?«<br />

Frau Kirschner zog an ihrer Zigarette, dann nickte sie. Und ich ging.<br />

Gisela, Fritzis Mutter, schenkte mir ein Tagebuch. »Da könntest du alles<br />

reinschreiben«, sagte sie. »Ich weiß, dass du gern schreibst.«<br />

»Ich hab genug Hausaufgaben«, sagte ich und beließ es dabei. Aber das in<br />

Hanfleinen gebundene Buch nahm ich trotzdem gern mit. So viel schönes blankes<br />

Papier sollte nicht in irgendeiner fremden Schublade landen.<br />

Herr Trockenbrodt, der Schwimmtrainer, war der Einzige, der mir einen wirklich<br />

vernünftigen Rat gab.<br />

»Schwimm«, sagte er. »Nur das will ich von dir.«<br />

»Schwimmen?«


»Ja. Nur schwimmen.«<br />

Und das tat ich. Herr Trockenbrodt ließ mich Runde um Runde schwimmen. Ich<br />

musste nicht an Wettkämpfen teilnehmen, mich nicht um meinen Stil kümmern, nicht<br />

auf Zeit schwimmen und keine Gruppenspiele mitmachen. Manchmal machte ich mit.<br />

Aber nicht, weil ich gemusst hätte. Ich musste nur zum Training kommen. Und<br />

schwimmen.<br />

Als ich zu meinem Platz zurückkehrte, machte der Mann im weißen Leinenanzug<br />

sich zum Aussteigen fertig. Meine Mutter hatte nun den Laptop vor sich und<br />

knabberte auf einem ihrer Mandelmüsliriegel herum. Als sie letzten Dezember,<br />

rechtzeitig zu Weihnachten, endlich aus dem Bett gestiegen war und wieder etwas<br />

gesündere Mahlzeiten zu sich nahm, hatte ihre Salzbrezelsucht nachgelassen. Dafür<br />

kamen die Mandelmüsliriegel dran.<br />

»Willst du einen?«, fragte meine Mutter und hielt mir einen Müsliriegel hin.<br />

»Igitt«, sagte ich. Also wirklich. Wie kann sie dieses Körnerzeug nur essen?<br />

Ich blätterte wieder in Psychologie Heute. Eine nüchtern aussehende Frau um<br />

die fünfzig lächelte mich angestrengt an. Um den Hals trug sie einen fließenden, rosa<br />

Schal. Dr. Reintraut Mehlitz, las ich, bietet ein außerordentlich effektives<br />

Coachingprogramm für Menschen jeder Alters- und Berufsgruppe zum Thema<br />

Zielsetzung. In Basiskursen führt sie ihre Klienten durch einen leicht verständlichen<br />

Zielsetzungsprozess, die Aufbaukurse dienen dazu, die einmal gesteckten Ziele fest<br />

im Auge zu behalten und weiterzuverfolgen, bis sie erreicht sind.<br />

Gähn. Schnarch. Zzzzz.<br />

Ich schloss die Augen. Wirklich schade, dass ich mir meine Zeit im Zug nicht<br />

ein wenig mit Sammy vertreiben konnte. Sie hätte mich zumindest wach gehalten.<br />

»Was liest du da?«, fragte meine Mutter mit Blick auf ihr Psychologie Heute.<br />

Ich verdrehte die Augen. »Ziele«, sagte ich und ahmte eine<br />

Nachrichtensprecherin nach: »Einer der größten Fehler, den man bei der Verfolgung<br />

seiner Ziele machen kann, ist, sich zu verzetteln. Stattdessen sollte man seine Kräfte<br />

– wie einen Laserstrahl – ausschließlich auf eine Idee, ein Projekt oder ein Ziel<br />

richten.«<br />

Anstandshalber lächelte meine Mutter über meine Parodie. »Reintraut wird<br />

auch bei der Tagung sein. Sie hält einen Vortrag.«<br />

»Oh, lass mich raten: Wie erzeuge ich zielsicher Langeweile?«


»Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen«, seufzte meine Mutter.<br />

»Wegen Oma Ulli«, neckte ich.<br />

»Also wirklich, Renée!«<br />

»War nur’n Witz.«<br />

Bestimmt war es Oma Ulli.<br />

Meine Mutter wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Klickety-klack-klickety-klack<br />

machten ihre Finger auf der Tastatur. Was mochte sie da schreiben? Jedenfalls<br />

keine Kolumne. Normalerweise schrieb sie immer alle sechs Monate zwölf Stück auf<br />

einmal. Die nächsten waren erst wieder im November dran.<br />

Ich schob das Heft weg. Ziele! So’n Quatsch! Wozu Ziele, wenn aus heiterem<br />

Himmel alles in Scherben gehen kann?<br />

Andererseits hat es auch sein Gutes, wenn man weiß, was man will. Ich zum<br />

Beispiel wusste ganz genau, dass ich mit Philipp schlafen wollte, also konnte ich<br />

mich gezielt darauf vorbereiten. LipLuv war der erste Schritt in die Richtung.<br />

Piercings ein weiterer. Die Recherche in Sache Sex (Sammy) lief ja bereits.<br />

Ich schielte auf den Laptop. Meine Mutter beantwortete gerade eine Mail.<br />

Wahrscheinlich schrieb sie an Ulf Krauss, diese Laus, ihren Verleger. Meine Mutter<br />

hat auf der ganzen Welt Freunde, Leute, die sie von Konferenzen kennt, Leute, die<br />

ihre Bücher lesen oder verlegen, und mit allen hält sie Kontakt via E-Mail. Aber von<br />

Ulf Krauss hat sie mit Abstand die meisten. Um die zweihundertzwanzig. Das weiß<br />

ich, weil ich vor einigen Wochen, als mein Computer in der Reparatur war und ich<br />

ihren benutzen durfte, den Ordner im offenen Mailprogramm gesehen habe. Ob sie<br />

ihm wohl genauso viele E-Mails zurückgeschrieben hatte? Ich schaute unter<br />

»gesendet« nach, ordnete die Einträge alphabetisch, und tatsächlich, da waren die<br />

Mails an ihn. Einige Betreffzeilen klangen total langweilig (Re: Buchumschlag, Re:<br />

Lesereise?, Re: No Subject), aber ein paar versprachen mehr (Re: Wow! Mehr!<br />

Sofort!, Re: Wir sehn uns in Hamburg).<br />

Meine Neugierde war geweckt. War Ulf Krauss der Grund, warum sie neulich in<br />

Hamburg übernachtet hatte? Wie konnte sie nur? Nach all dem, was passiert ist? Es<br />

war noch nicht mal ein Jahr her. Und außerdem, Ulf Krauss war sechzig! Und sein<br />

Bauch! Total abtörnend. Wie ein Fußball, aus dem die Luft rausgegangen ist,<br />

schwappt er über seine Hose. Das ist eklig – überhaupt nicht wie bei meinem Vater,<br />

dessen Bäuchlein nur ein klein bisschen wackelte, wenn er lachte. Gott. Meine


Mutter und Ulf Krauss. Dabei hatte sie mir so gut wie hochheilig versprochen, dass<br />

sie nichts mit Männern anfangen würde. Zumindest nicht für lange Zeit.<br />

Vor ungefähr zwei Monaten platzierten Becky und Lucy bei einer Dinner-Party<br />

meine Mutter neben einen geschiedenen Bekannten der beiden – absichtlich,<br />

natürlich. Als ich davon Wind bekam, reagierte ich panisch. Und da sagte meine<br />

Mutter, dass sie alles Mögliche im Kopf hätte, nur keinen neuen Mann.<br />

»Schatz«, hatte sie gesagt, »Es gibt auf der Welt nur sehr wenige Männer wie<br />

deinen Vater. Wenn du einen, nur einen Bo im Leben triffst, kannst du dich glücklich<br />

schätzen. Und das tue ich. Ich habe Glück gehabt. Und du auch, so einen Vater<br />

gehabt zu haben.«<br />

Ich weiß noch, wie sich meine Kehle zusammenzog, als sie das sagte, als ob<br />

ein harter Klumpen in meiner Luftröhre steckte. Aber dann strich mir meine Mutter<br />

über die Stirn, so wie sie es früher immer gemacht hatte, als ich noch klein war und<br />

nicht einschlafen konnte, und es ging mir besser.<br />

»Ich brauche keinen neuen Mann in meinem Leben. Mein Leben ist ausgefüllt.<br />

Ich habe alles, was ich brauche«, sagte sie. »Ich habe dich. Ich habe meine Arbeit.<br />

Ich habe meine Freundinnen ...«<br />

»Deine Freundinnen, die Kupplerinnen«, sagte ich.<br />

Sie lachte. »Ja, meine Freundinnen, die Kupplerinnen. Und ... und ich habe<br />

mehr als genug zum Leben. Genug zu essen ...«<br />

»Salzbrezeln zum Beispiel.«<br />

»Richtig. Meine Salzbrezeln. Und nicht zu vergessen: meine Müsliriegel.«<br />

Und dann lachte ich auch.<br />

Und wir sprachen nie wieder über Männer.<br />

Aber was, bitte schön, hatten zweihundertzwanzig Mails von Ulf Krauss in<br />

ihrem Computer zu suchen? Das wollte ich wissen. Als ich am nächsten Tag ihre<br />

Mails auf ihrem Laptop abrufen wollte, entdeckte ich, dass sie ihr Mailprogramm mit<br />

einem Passwort geschützt hatte. Sie befürchtete wohl einen Eingriff in ihr Privatleben<br />

oder wollte mich einfach nicht in Versuchung führen. Ich schämte mich und hatte ein<br />

schrecklich schlechtes Gewissen, aber ich muss zugeben: Ich hab trotzdem<br />

versucht, das Passwort zu knacken. Ich gab ihren Geburtstag ein, ihren<br />

Mädchennamen, meinen Namen und meinen Geburtstag. Danach versuchte ich es<br />

mit dem Namen meines Vaters – Boris »Bo« Ralph Brody –, und dann tippte ich auch<br />

noch den Namen seines Tonstudios ein: Botown. Nichts funktionierte.


Ich sah über die Schulter meiner Mutter, konnte aber nicht erkennen, ob sie an Ulf<br />

Krauss schrieb oder nicht. Der Zug fuhr langsam. Wir waren kurz vor Wolfsburg. Ich<br />

zog mein Handy raus und sah auf das Display: keine Nachricht. Aber jemand hatte<br />

angerufen, ohne etwas auf die Mailbox zu sprechen. Ich guckte bei den entgangenen<br />

Anrufen nach. Meine Mutter spürte wohl meine Aufregung und drehte sich zu mir um.<br />

Zu meiner großen Enttäuschung stammte der Anruf nicht von Philipp, sondern von<br />

Fritzi. Was wollte die denn? Bei ihrem letzten Anruf, und das war eine Ewigkeit her,<br />

hatte ich gesagt, dass ich keine Zeit hätte und sie zurückrufen würde. Hatte ich zwar<br />

nie getan, aber manche Leute geben eben nie auf.<br />

»Wer war’s?«, fragte meine Mutter.<br />

»Weiß nicht. Wahrscheinlich hat sich jemand verwählt«, sagte ich.<br />

Wir fuhren nun am Gebäudekomplex der Autostadt vorbei. Wolfsburg. Heimat<br />

von Volkswagen. Das war immer mein liebster Teil der Reise von Berlin zu Oma Ulli<br />

gewesen. Ich mochte, wie das blanke, klare Glas und der silberne Stahl der Pavillons<br />

in der Sonne glitzerten, mochte die roten Ziegel der alten Fabrikgebäude, die grüne<br />

Hügellandschaft. Das erinnerte mich immer an die Miniaturstädte, die mein Vater und<br />

ich aus den Platinen und Elektrochips bauten, die wir in seinem Tonstudio „Botown“<br />

fanden.<br />

Eines Tages, ich war ungefähr acht, entdeckte ich in Botown ein kaputtes<br />

Faxgerät, das mein Vater auseinander genommen hatte. Verheißungsvoll glitzernd<br />

lag die Platine vor mir. Ich nahm sie in die Hand. Sie sah aus wie eine Stadt aus der<br />

Vogelperspektive. Wie Los Angeles, wenn man von den Hollywood Hills oder von<br />

einem Hochhaus darauf schaut.<br />

Danach begann ich ausrangierte Geräte auseinander zu nehmen. Dabei bekam<br />

ich leider kaum was über Elektronik mit – was mein Vater gern gehabt hätte –, wurde<br />

dafür aber sehr geschickt mit Werkzeugen. Ich bestaunte die Kabel im Innern der<br />

Maschinen und verflocht sie zu Spaghettischnüren in Knallorange, Bonbonrosa,<br />

Ozeanblau und Sonnengelb. Die seltsamen Strukturen und Pfade auf den Platten,<br />

die Schaltpläne, konnten mich stundenlang fesseln. Für Ingenieure und Elektriker<br />

sind diese Muster wie ein technischer Straßenplan, für mich waren es Wanderwege,<br />

Teiche, Flüsse. Manchmal kratzte ich in die Platinen Straßennamen, wie ich sie aus<br />

den Vororten Südkaliforniens kannte, wo mein Vater aufgewachsen war: Voltage<br />

Valley, Battery Bend, Oscillator Alley, LED Lane.


Als wir damit fertig waren, Teile zusammenzusetzen und neue hinzuzufügen,<br />

sah unsere erste neue Platine tatsächlich aus wie der Fabrikkomplex in Wolfsburg<br />

aus der Vogelperspektive. Ich nannte sie Voltsburg. Die zweite hieß Schaltstadt.<br />

Eines unserer Werke erinnerte mich an den John Wayne Airport in Santa Ana in<br />

Kalifornien, deshalb nannte ich es Aeroporta Santa Analoga. Die letzte Ministadt, die<br />

mein Vater und ich gemeinsam bauten, ähnelte einer dieser südkalifornischen<br />

Retortenstädte wie Rancho Santa Margarita, wo meine Grandma Myrna lebt. In<br />

unserem Rancho Santa Modulator gab es sogar einen Golfplatz.<br />

»Ich bin der Techniker in der Familie«, pflegte mein Vater zu sagen, »deine<br />

Mutter ist die Intellektuelle. Und du bist die Künstlerin. Die Dichterin.«<br />

»Wiedersehen«, rief der Mann im weißen Leinenanzug meiner Mutter zu, als er den<br />

Wagen verließ.”<br />

Meine Mutter lächelte ihm zu. »Er hat erzählt«, sagte sie dann, »dass er mit<br />

seiner Frau bei der Leipziger Lesung war.«<br />

Leipzig. Grrr! Als meine Mutter Bücher signierte, erkannte mich jemand vom<br />

Cover der Mamaprotokolle und wollte doch tatsächlich ein Autogramm von mir. Und<br />

dann noch jemand. Das war unter Garantie die letzte Lesung von Dr. Mom, auf die<br />

ich gegangen bin.<br />

Meine Mutter hatte wie meistens vier Geschichten gelesen, Familienanekdoten.<br />

Ihre Texte sind schon ziemlich witzig, wenn man sie liest, aber wenn Dr. Mom sie vor<br />

Publikum vorträgt, wirken sie noch viel komischer. Selbst langweilige Fragen<br />

beantwortet sie voll Humor und schafft es jedes Mal, die Leute zum Lachen zu<br />

bringen. Es ist schon erstaunlich, wie diese komische Seite vor Publikum zu Tage<br />

tritt. Sie inszeniert sogar die Bühne, ihr Lieblingsrequisit ist eine Vase mit<br />

Leuchttulpen, die mein Vater ihr mal vor langer Zeit geschenkt hat.<br />

Während der Lesung beobachtete ich sie, sah das Strahlen in ihren Augen,<br />

sah, wie lebendig sie war, wie glücklich es sie machte, mit zweihundert Müttern und<br />

Vätern zu scherzen, und ich begriff, wie sehr sie sich seit letztem Herbst verändert,<br />

wie viel sie verloren hatte. Diese Edda wollte ich zurück, die lustige Edda, die uns<br />

zum Lachen brachte, die mich zum Lachen brachte. Nicht die Edda, die den ganzen<br />

Tag in einem ekligen Bademantel herumsaß und Mandelmüsliriegel knabberte.<br />

»Renée?«, hörte ich meine Mutter sagen.


Erschrocken drehte ich mich zu ihr um.<br />

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.<br />

»Klar.«<br />

»Du siehst irgendwie ... traurig aus.«<br />

»Bin ich aber nicht«, antwortete ich mürrisch.<br />

Jemand klopfte ans Fenster. Wir fuhren zusammen. Der Mann im weißen<br />

Leinenanzug winkte vom Bahnsteig zum Abschied. Meine Mutter winkte zurück, und<br />

er drehte sich um und verschwand in der Menge.<br />

»Wie kannst du nur?«, sagte ich.<br />

»Du solltest netter zu meinen Lesern sein, Renée«, neckte sie mich. »Denk nur:<br />

Sie finanzieren dir mal dein Studium.«<br />

»Haha!“ machte ich, wobei sie wahrscheinlich sogar Recht hatte. Insbesondere<br />

wenn ich in den USA studieren würde. Und genau das war der Wunsch meines<br />

Vaters. Er wollte, dass ich an eine richtig tolle Universität gehe, wie Berkeley, wo er<br />

selbst Student war und meine Mutter promovierte.<br />

Ich sehe ihn vor mir, wie er sich zu meiner Mutter umdrehte, ihr liebevoll den<br />

Hintern tätschelte und sagte: »Berkeley. Erinnerst du dich, Edda? Da fing es an.«<br />

»Es«, das waren sie, meine Eltern, als Einheit. Und schließlich dann ich.<br />

Boris Ralph Brody, genannt “Bo” gebürtig in Mission Viejo in Südkalifornien, leitete<br />

ein Tonstudio oben im Norden, in San Francisco, als er meine Mutter, eine<br />

Doktorandin mit einem Berkeley-Stipendium, kennen lernte. »Er war witzig, ohne<br />

jemals darum bemüht zu wirken«, erzählte sie mir einmal. »Sogar wenn er ernst war,<br />

brachte er einen zum Lachen. Er war so unbeschwert.«<br />

»Na klar«, sagte mein Vater dann. »Sie hatte diese intellektuellen deutschen<br />

Typen satt. Die großen, blassen Kerle mit den langen, fettigen Haaren, den<br />

Drahtgestellbrillen, den Birkenstocklatschen, den langen, schmutzigen<br />

Fingernägeln.«<br />

Wenn mein Vater das sagte, mussten wir lachen, denn diese Beschreibung<br />

passte haargenau auf seinen besten Freund Arthur Anderson, Fritzis Vater, der<br />

allerdings Engländer war und außerdem kein Uni-Typ. Als Landschaftsgärtner bekam<br />

er die Erde kaum aus den Nägeln. Ganz nebenbei, Birkenstocks trug er nur im<br />

Sommer, in den Ferien in Cornwall.


Aber es stimmt, dass mein Vater anders war als der typische Deutsche. Sein<br />

Haar war dunkel, fast schwarz, lockig und dicht. Und er war nicht sehr groß, ein<br />

wenig rundlich, wie ein freundlicher Bär, mit rötlichen Wangen.<br />

»Ich mag’s, wenn was dran ist«, pflegte meine Mutter zu sagen und kniff ihn in<br />

die Speckröllchen an seinem Bauch.<br />

Edda hingegen hatte nicht eine Fettzelle am Körper.<br />

»Außer vorne oben«, sagte mein Vater.<br />

Ihm zufolge war Edda der Inbegriff des deutschen Fräuleins. Glatte blonde<br />

Haare. Blaue Augen. Groß. Schlank. Außen tough und innen weich. »Und schöne<br />

dicke Möpse.«<br />

»Bo!«, protestierte meine Mutter dann. «Wie kannst du nur in Gegenwart deiner<br />

Tochter so reden? Wenn du schon ordinär sein musst, könntest du nicht wenigstens<br />

›große Brüste‹ sagen?«<br />

»Könnte ich schon, Schatz – wenn du welche hättest. Hast du aber nicht. Du<br />

hast Möpse. Große schöne Möpse. Und ich liebe sie.«<br />

Und dann sagte er zu mir: »Hör mal. Deine Mutter hat ein Superhirn und das<br />

liebe ich auch. Aber das weiß sie schon. Es sind die Möpse, an die ich sie immer<br />

erinnern muss.«<br />

Meine Mutter kicherte, packte mich und sagte: »Hör bloß nicht auf deinen Vater.<br />

Er ist unverbesserlich. Er hängt zu viel mit Rockmusikern rum.«<br />

Zu seiner Ehrenrettung muss gesagt werden, dass mein Vater mit diesen<br />

Sprüchen in meiner Gegenwart irgendwann aufhörte. So vor ungefähr zwei oder drei<br />

Jahren. Ungefähr zu der Zeit, als ich selbst Möpse bekam. Ich meine natürlich<br />

Brüste. Damals hörte er auch damit auf, mich hochzuheben und wie ein wild<br />

gewordener Zirkusartist herumzuschwingen. »Ach«, sagte er, gerührt und mit Tränen<br />

in den Augen, »meine kleine Rebella wird erwachsen.«<br />

Rebella. Das war der Kosename meines Vaters für mich. Seit ich zwei war und<br />

ein richtiger Wirbelwind. Renée Bella. Abgekürzt: Rebella. Auch nach der Trotzphase<br />

blieb der Spitzname an mir kleben. Und ich habe ihn immer geliebt. Rebella. Der<br />

Name erinnerte mich daran, was ich immer war und immer sein werde. Daddys<br />

kleines Mädchen. Rebella.


Als der Zug weiter Richtung Hannover fuhr, setzte ich mir wieder Kopfhörer auf und<br />

hörte Let Me Be Your Heinzelmännchen. Das war einer meiner Lieblingssongs von<br />

der ersten CD Work Through the Night. Der CD, die die Band über Nacht in die<br />

internationalen Charts gebracht hatte.<br />

Let me be your Heinzelmännchen<br />

I can be so fine and handsome<br />

Let me find some wood for you<br />

Light your fire the whole night through<br />

Loving you the whole night through.<br />

Oooo. Oooo.<br />

Mein Vater machte sich über Gatzki und Co. gerne lustig. Ich werde nie vergessen,<br />

wie er eines Abends vor ungefähr fünf Jahren nach Hause kam und zu meiner Mutter<br />

und mir sagte: »Heute waren ein paar Berliner Jungs im Studio. Nennen sich die<br />

Kings of Prussia. Die machen mich krank. Musik wie ’ne Endlosschleife. Immer die<br />

gleichen drei Akkorde und ein paar läppische Na-Na-Na-Harmonien dazu. Kings of<br />

Prussia, wenn ich das schon höre … Königliche Furzkanonen, das würde passen!«<br />

Er zog sich die Schuhe aus. »Und dann musste ich mir den ganzen Tag diese<br />

bescheuerten Texte anhören. Jeder Kirchenchor hat geistreichere Sachen drauf.«<br />

Er lag auf dem Sofa, legte die Füße auf die Polster und den Kopf in den Schoß<br />

meiner Mutter. »Aber die werden wie eine Bombe einschlagen«, sagte er. »Damit<br />

muss ich leben.« Er hob seinen Kopf und sah mich an. »Ihr Grünschnäbel werdet die<br />

Texte für tiefgründig halten.« Er verdrehte die Augen, griff nach der Fernbedienung<br />

und stellte klassische Musik an – zur Beruhigung. Rock und Pop, das war sein Job,<br />

aber zu Hause hörte er nur Mendelssohn Bartholdy, Schumann und Chopin. Er liebte<br />

sie alle. Vor allem Chopin. »Ich kann mich nicht länger konzentrieren«, sagte meine<br />

Mutter und ließ sich in den Sitz zurückfallen. Sie nahm ihre Brille ab und rieb sie mit<br />

einem Tuch sauber.<br />

Ich schloss die Kamera an ihrem Laptop an. Ich wollte für Philipp ein hübsches<br />

Foto von mir aussuchen.<br />

»Hoffentlich ist es keine Migräne«, sagte meine Mutter und rieb Daumen und<br />

Zeigefinger auf ihrer Nasenwurzel. Dann langte sie in ihre Tasche und zog eine<br />

kleine Flasche Mineralwasser und eine Packung Kopfschmerztabletten heraus.


»Vielleicht kann Oma Ulli die Kopfschmerzen wegmassieren«, sagte ich.<br />

Meine Mutter verzog das Gesicht. »Ich wette, sie wird es versuchen.«<br />

Ich wandte mich wieder dem Laptop zu. Staunend sah ich zu, wie ein Foto nach<br />

dem anderen auf dem Bildschirm erschien, ein Wasserfall aus Bildern. Faszinierend.<br />

Die letzten Bilder zeigten eine Kirche, die ich noch nie gesehen hatte, und dann<br />

eine Orgel.<br />

»Wo war das denn?«, fragte ich.<br />

Meine Mutter beugte sich vor. »Der Dom in Magdeburg. Du hattest keine Lust<br />

mitzukommen, erinnerst du dich?«<br />

Das tat ich. Es klingt noch in meinen Ohren, wie ich sagte: »Ich geh doch sonst<br />

nie in die Kirche, warum also in den Ferien?« Während sich meine Mutter als<br />

Freizeithistorikerin im Magdeburger Dom betätigte, war ich auf der Suche nach einer<br />

Lippenvergrößerungscreme gewesen, hatte LipLuv gefunden und ging dann in<br />

unserem Hotelpool schwimmen.<br />

Schließlich fand ich im Laptop ein schönes, ziemlich untypisches Porträt von<br />

mir. In Gedanken versunken sitze ich da, schaue in die Ferne, weder lächelnd noch<br />

ernst. Einfach da. Nachdenklich. Ich mochte es sehr, auch wegen des vielen Rosa<br />

und Rot. Ich trug mein rosa geblümtes rückenfreies Top und die roten<br />

Glitzerohrringe, die Fritzi mir letzten Sommer aus London mitgebracht hatte. Und ich<br />

sitze<br />

vor einem riesigen Erdbeereisbecher. Alles war rosa, sogar meine Wangen. Und<br />

mein Lippenstift. Das Bild haben wir am Donnerstag in einem Café in Halberstadt<br />

gemacht, wo meine Mutter mich praktisch gezwungen hatte, das alte jüdische Viertel<br />

mit ihr anzuschauen.<br />

»Ich hab keine Lust!«, hatte ich im Pensionszimmer protestiert. »Alte Häuser<br />

anglotzen ist öde.«<br />

»Mensch, Renée, sei nicht so vernagelt! Das ist doch deine Geschichte.«<br />

Und sie meinte nicht die deutsche Geschichte. Sie meinte meine. Die<br />

Geschichte meiner Familie. Ein Teil meiner Ururgroßeltern väterlicherseits, Benjamin<br />

und Alma Nussbaum, stammten nämlich aus Halberstadt.<br />

»Keiner von meinen Freunden muss auf den Spuren seiner Ahnen rumlatschen!<br />

Warum ich?«, widersprach ich. »Du brauchst doch nur Stoff für deine blöden<br />

Kolumnen! Renée buddelt nach ihren Wurzeln oder so was.«<br />

»Unsinn! Du bist einfach nur stur.«


Das stimmt. Ich war stur. Vielleicht, weil sie es so sehr wollte. Weil sie mir keine<br />

Wahl ließ.<br />

Wie auch immer, ich ging mit.<br />

Und eigentlich war es auch gar nicht so übel. Aber gesagt hab ich ihr das<br />

natürlich nicht.<br />

Im Café gab mir meine Mutter eine Nachhilfestunde in Familiengeschichte. Ich sollte<br />

den Nussbaum-Stammbaum in allen Details intus haben und fühlte mich wie bei<br />

einem Prep-Kurs für den PISA-Test.<br />

»Benjamin Nussbaum, oder genauer Dr. Benjamin Nussbaum«, begann sie,<br />

»war Metallurge. Er und seine Frau Alma sind deine Ururgroßeltern väterlicherseits.<br />

Und ihre Tochter war ...?«<br />

»Bella«, sagte ich und erinnerte mich an ein Bild, das bei meiner Grandma<br />

Myrna hängt.<br />

»Genau. Von ihr hast du deinen zweiten Vornamen. Bella. Sie wurde 1898<br />

geboren. Zu der Zeit war Halberstadt eine florierende Stadt, in der viele Juden lebten.<br />

Benjamins Kupferfabrik gehörte zum Beispiel einer jüdischen Familie. Und als die<br />

Inhaber jemanden für die Leitung ihrer neuen Niederlassung in Chicago brauchten,<br />

schickten sie Benjamin rüber. Und wer ging mit?«<br />

Ich verdrehte die Augen. »Seine Frau Alma und die Tochter Bella«, sagte ich.<br />

»Daddys Großmutter.«<br />

»Genau.«<br />

Bestimmt würde es mir leichter fallen, all die Namen zu behalten, wenn ich erst<br />

mal den Ort vor mir sah.<br />

»Bella«, erzählte meine Mutter weiter, »heiratete dann einen Amerikaner. Einen<br />

Juden, der aus Polen eingewandert war. Sydney. Sydney wer?«<br />

»Mama, es reicht, bitte!«<br />

»Sydney Brody. Und deren Sohn, Bella und Sydney Brodys Sohn, war Murray,<br />

dein ...«<br />

»Mama!«<br />

»Er war dein Großvater väterlicherseits«, lachte sie, amüsiert über meine<br />

Ungeduld. »Grandpa Murray. Er starb, bevor du auf die Welt kamst. Der Sohn von<br />

Bella und Sydney. Grandma Myrnas Mann. Daddys Vater.«<br />

Ich stöhnte.


»Interessant«, sagte eine Stimme. Wir sahen hoch. Es war die Kellnerin. Wie<br />

lange stand sie da schon?<br />

Wir lachten und bestellten.<br />

Als die Kellnerin wieder weg war, meine Mutter zog einen Stadtplan von<br />

Halberstadt aus der Tasche. »Westendorf«, sagte sie suchend und nahm die Brille<br />

ab, um besser sehen zu können. »Das Haus der Nussbaums lag an einem Fußweg<br />

namens Plantage. Er führte mitten durch einen Park hinter der Straße Westendorf,<br />

die nur ein paar Minuten von der Mikwe entfernt war.«<br />

Ich wusste, was eine Mikwe war – das rituelle Bad, zu dem jüdisch-orthodoxe<br />

Frauen sieben Tage nach dem Ende ihrer Menstruation gehen. Offensichtlich wollte<br />

Gott, dass sie sich vor dem ersten Sex nach ihren Tagen gründlich reinigten.<br />

»Wusstest du, dass Daddy mit Grandma Myrna hier in Halberstadt war?«, sagte<br />

meine Mutter und suchte mit dem Finger auf der Karte immer noch nach diesem<br />

Westendorf. »Ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer. Sie wollten Bellas Haus<br />

finden.«<br />

»Wirklich?«<br />

»Du warst damals drei oder vier. Und du warst krank, deshalb bin ich mit dir zu<br />

Hause geblieben. Aber dein Vater und Myrna sind gefahren. Myrna war ganz erpicht<br />

darauf. Sie sagte, sie hätte ihre Schwiegermutter gern gehabt, und wollte endlich<br />

sehen, wo sie aufgewachsen war. Und Daddy, dieser sentimentale Kerl, wollte<br />

natürlich so gern ... sehen, wo ...«<br />

Die Stimme meiner Mutter brach ab. Sie biss auf ihre Unterlippe und versuchte<br />

die Tränen zurückzuhalten. Oh nee! Das fehlte mir gerade noch. Ich griff nach<br />

meinem Wasserglas. Ihre Tränen fühlte ich jetzt in mir, in meinem Hals. Ich spülte<br />

den Klumpen mit Wasser hinunter. Ein Schluck, noch ein Schluck. Noch einer. Meine<br />

Mutter zog ein Tempo aus ihrer Tasche (sie schleppte das Zeug immer noch<br />

tonnenweise mit sich herum – für alle Fälle) und trocknete sich die Augen. Ich<br />

brauchte kein Taschentuch.<br />

»Daddy erzählte, wie Bella an dem alten Haus gehangen hatte«, sagte meine<br />

Mutter und schnäuzte sich, »dass sie oft von dem Garten sprach. Sie erinnerte sich<br />

an eine riesige Kastanie. Und an den Geruch des Flieders vor ihrem Fenster. Daddy<br />

sagte, sie hätte immer Fliederparfüm getragen. Das war ihr Lieblingsduft. Und seiner<br />

auch.« Meine Mutter sah mich an, ihre Augen waren immer noch feucht. »Weißt du,<br />

bevor du geboren warst, waren wir einmal im KaDeWe ein Geschenk kaufen, ein


Parfüm. Wir testeten dies und jenes, und plötzlich wurde er ganz aufgeregt. ›Das ist<br />

Bella‹, sagte er. ›Ich kann sie riechen! Das ist ihr Parfüm.‹ Er wollte, dass ich es mir<br />

kaufe, aber ich weigerte mich. Der Duft erinnerte mich an die alten Damen in meiner<br />

Kinderzeit, die immer in Cafés herumsaßen und Cognac tranken. Und außerdem,<br />

welche junge Frau möchte so riechen wie die Großmutter ihres Mannes?«<br />

»Glaubst du, der Flieder ist noch da? Und die Kastanie? Das Haus. Das wäre<br />

lustig!«, sagte ich. Jetzt interessierte es mich doch, zu sehen, wie Bella gelebt hatte.<br />

Vielleicht konnten wir ja anklopfen und einen Blick in ihr Haus werfen.<br />

»Das Haus stand damals zwar noch, aber es war eine Ruine. Auch die Altstadt<br />

muss ziemlich trostlos ausgesehen haben. Im Krieg war der Park bombardiert<br />

worden. Was stehen blieb, verfiel später. Die Ostdeutschen waren an der Geschichte<br />

Halberstadts nicht sehr interessiert, jüdisch oder nicht.«<br />

»Auch die Mikwe? Die hätte ich gern gesehen.«<br />

»Dein Vater und Myrna konnten sie nicht finden. ›Ein was?‹, haben die Leute<br />

gesagt. ›Ein jüdisches Badehaus? In Halberstadt? Juden in Halberstadt?‹ Daddy<br />

erzählte, man hätte sie wie Verrückte angeschaut.« Schweigend löffelten meine<br />

Mutter und ich unsere Eisbecher, jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Mir fiel<br />

wieder das Foto von Bella ein, das bei meiner Grandma Myrna hängt. Darauf trägt<br />

sie eines dieser formlosen Charleston-Kleider, aber man sieht doch, dass sie drall<br />

war und ziemliche Kurven hatte. Das Bild war aufgenommen worden, kurz bevor sie<br />

mit Murray, meinem zukünftigen Großvater, schwanger wurde. Mit dem Arm um ihren<br />

Mann, Sydney Brody, steht sie vor der Apotheke, die Sydney gerade in San Diego<br />

eröffnet hatte.<br />

»Also, war sie schön? Oder war sie schön?«, hatte mein Vater immer wieder<br />

gesagt.<br />

»Na ja – sie hatte auf jeden Fall große Möpse«, sagte ich.<br />

»Renée!«, rief meine Großmutter schockiert.<br />

Böse sah meine Mutter meinen Vater an. »Da siehst du’s, Bo. Hab ich’s dir<br />

nicht gesagt?«<br />

Mein Vater lachte sich schlapp. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen übers<br />

Gesicht liefen. Er lachte überhaupt viel und gern. Dann musste er immer seine Brille<br />

abnehmen und die Augen mit einem Tuch trocknen. Und mit einem anderen Tuch<br />

putzte er seine Brille. Das Schildpattgestell gab ihm einen intellektuellen Touch.<br />

Überhaupt sah er nicht aus wie die meisten Typen im Musikgeschäft, trug weder


Lederklamotten noch Strubbelhaar noch Gürtel mit Nieten oder Spikes, die mehr wie<br />

Folterinstrumente aus der Spanischen Inquisition aussahen als ein Modeaccessoire.<br />

Klick!<br />

Ich guckte meine Mutter an. Sie hatte gerade einen Schnappschuss von mir<br />

gemacht. Die Komposition aus Rosa und Erdbeereis.<br />

Als meine Mutter und ich zehn Jahre nach meinem Vater und meiner Großmutter<br />

nach Halberstadt kamen, freuten wir uns, dass die paar historischen Gebäude, die<br />

den Krieg und die Vernachlässigung in der DDR überstanden hatten, inzwischen<br />

restauriert worden waren.<br />

»Es sieht gar nicht mehr nach Osten aus«, sagte meine Mutter. Sie hatte Recht.<br />

Wir waren durch kleinere ostdeutsche Städte mit dem Zug gefahren, viele waren<br />

grau und farblos, ganze Stadtteile voll zerfallener Häuser, dunkel, mit ungepflasterten<br />

Straßen, in den Fabriken kein Glas in den Fenstern, stattdessen gähnende Löcher,<br />

wie Augenhöhlen in einem Totenschädel. Genauso sah das Haus von Alma und<br />

Benjamin in der Plantage Nr. 6 aus – das Skelett einer ehemals prächtigen Villa. Kein<br />

richtiger Garten, kein Fliederbusch, keine Spitzenvorhänge. Aber die Kastanie war<br />

noch da. Das zumindest war tröstlich.<br />

Die Altstadt von Halberstadt hingegen glich einem schönen alten Bild: bunt<br />

gestrichene Häuser mit roten Dächern und Fachwerk. Es sah schön aus, wirkte aber<br />

eigenartig verlassen, wie eine Geisterstadt.<br />

»Das passt«, sagte meine Mutter. »Hier gibt’s so viele Geister.«<br />

Wir schlenderten durch die engen Gassen und grüßten die stummen Geister.<br />

Juden wie die Nussbaums, die hier einmal glücklich gelebt und dann glücklich ein<br />

neues Leben in einer neuen Welt begonnen hatten. Juden, die mit ein paar hastig<br />

gepackten Habseligkeiten in Todesangst geflohen waren. Und Juden, die es nicht<br />

mehr geschafft haben, sich zu retten, die man wie Vieh zusammengetrieben und<br />

ermordet hatte. So viele Geister.<br />

Meine Geister. Meine Familie.<br />

Wir haben die Mikwe gefunden! Als im jüdischen Viertel vor ein paar Jahren<br />

Ausgrabungen gemacht wurden, hatte man sie freigelegt und das alte Badehaus zu<br />

einem Museum gemacht. Die Mikwe war eine gigantische Badewanne, fast ein<br />

Schwimmbecken. Als ich so dastand und hineinschaute, ich versuchte mir meine


Ururgroßmutter Alma hier vorzustellen. Sieben Tage nach dem Ende ihrer Regel<br />

tauchte sie ins Wasser. Sauber gewaschen und kurz vor dem Eisprung (die Gesetze<br />

der alten Juden waren gar nicht blöd!), würde sie nach Hause gehen und Sex mit<br />

ihrem Ehemann Benjamin haben. Sie würde Bella bekommen, die wiederum Murray<br />

bekam, der Bo bekam, der wiederum mich zeugte.<br />

Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig seltsam fühlte, als ich so dastand.<br />

Man muss sich das mal vorstellen: Ohne die Mikwe, diese unterirdisch, mit<br />

Harzwasser gespeiste Badewanne, würde es mich heute gar nicht geben.<br />

Was wohl meine Ururgroßmutter gedacht haben mochte, als sie ins Wasser<br />

tauchte? Wusste sie, dass ihr Eisprung bevorstand? Freute sie sich darauf, mit<br />

Benjamin, Dr. Benjamin Nussbaum, dem Metallurgen zu schlafen? Oder biss sie nur<br />

die Zähne zusammen, zog sich aus und ließ es über sich ergehen? Liebte sie ihn?<br />

War sie scharf auf ihn? Ich war fasziniert. Ich meine, wie viele Leute kriegen schon<br />

den Ort zu sehen, wo ihre Ururgroßmutter davon geträumt hat, was sie am Abend mit<br />

ihrem Mann im Schlafzimmer machen würde?<br />

Ein unangenehmes Rascheln riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah meine Mutter<br />

an. Schon wieder ein neuer Müsliriegel! Das war heute ihr zweiter. Sie biss ein Stück<br />

ab. Und kaute. Einmal ... zweimal ... dreimal ... bis hin zu hundertzwölfmal gekaut ...<br />

hundertdreizehn ... Schließlich hörte sie auf zu kauen ... nein, halt! Ihre Zähne<br />

setzten sich noch mal in Bewegung ... und dann ... Schluss.<br />

Pro Riegel musste sie hundertvierzehnmal kauen. Bei mindestens zwei Riegeln<br />

am Tag zweihundertachtundzwanzigmal. Das entsprach<br />

zweitausendzweihundertachtzig in zehn Tagen. In zwanzig Tagen würde sie also<br />

mindestens viertausendfünfhundertsechzigmal Mandelmüsliriegel kauen. Kamen<br />

noch zweihundertachtundzwanzig für Tag einundzwanzig hinzu, das machte genau<br />

viertausendsiebenhundertachtundachtzig – und ich war dazu verdammt, jede<br />

einzelne Kaubewegung mitzuerleben!<br />

»Möchtest du einen?«, fragte meine Mutter.<br />

»Du weißt doch, dass ich Müsliriegel nicht ausstehen kann.« Konnte sie<br />

Gedanken lesen? Das war ja direkt unheimlich.<br />

»Renée, lass uns versuchen, das Beste aus unserer Reise zu machen«, sagte<br />

sie. »Okay? Ich möchte nicht, dass noch einmal so etwas passiert wie gestern in<br />

Tangermünde.«


Tangermünde. Das war gestern. Mittwoch. Am Sonntag waren wir in Leipzig.<br />

Montag Magdeburg. Dienstag Halberstadt. Mittwoch Tangermünde.<br />

Wir kamen mittags an. Die Stadt sah aus wie aus einem Märchenbuch: hohe<br />

Stadttore, kunstvoller gotischer Backstein, gewundene Sträßchen, Fachwerkhäuser.<br />

Ich freute mich darauf, dort herumzuspazieren, die verborgenen Stufen zu einem<br />

Verlies zu entdecken und die mittelalterlichen Folterinstrumente zu fotografieren. Ich<br />

überlegte, ob irgendwo ein Keuschheitsgürtel ausgestellt sein mochte. Das wäre<br />

doch mal was!<br />

Aber dann, als wir in der Touristeninformation waren, entdeckte ich auf einer<br />

Landkarte, dass Berlin keine hundert Kilometer von Tangermünde entfernt war. Ohne<br />

ein Wort zu sagen, packte ich meinen Rucksack und stürmte aus dem Büro, meine<br />

Mutter mir nach.<br />

»Renée, was ist los? Was soll das?«, wollte sie wissen.<br />

Die Wahrheit war, ich hätte es ihr nicht erklären können, selbst wenn ich gewollt<br />

hätte. Jetzt, mit ein wenig Abstand, glaube ich, dass ich mich einfach ärgerte. Und<br />

zwar über mich selbst. Die ganze Zeit hatte ich gehofft, dass Philipp mich einen Tag<br />

besuchen, mich einfach überraschen würde. Wie im Bus in Berlin. Dass er plötzlich<br />

wie ein edler Ritter in goldener Rüstung auftauchen und durch den mittelalterlichen<br />

Burggraben zu meinem Hotel reiten würde. Und als ich dann auf der Karte in der<br />

Touristeninformation sah, dass Berlin nur einen Katzensprung entfernt war, gab mir<br />

das einen richtigen Schlag. Warum war er nicht gekommen? Es wäre so einfach<br />

gewesen. Und dann ging mir auf: Wäre ich nicht so versessen darauf gewesen, dass<br />

er mich besucht, hätte ich draufkommen können, ihn zu besuchen.<br />

Aber dafür war es jetzt zu spät.<br />

»Was ist denn los?«, beharrte meine Mutter.<br />

»Ich will nach Hause«, sagte ich. »Ich fühle mich hier wie eingekerkert.«<br />

»Und ich bin die böse Hexe, die dich eingeschlossen hat, richtig? Ach, Renée«,<br />

sagte sie seufzend. »Das haben wir doch alles schon durchgekaut. Ich will nicht,<br />

dass du in Berlin allein bist. Kannst du die Situation nicht einfach akzeptieren? Am<br />

Sonntag sind wir am Meer. Relax.«<br />

»Du kannst relaxen. Ich gehe jetzt zurück in die Folterkammer.«<br />

»Wie bitte?«<br />

»Ich geh ins Hotelzimmer.«


Auf dem Weg zurück ins Tangermünder Hotel überlegte ich, ob ich nicht<br />

vielleicht doch nach Berlin fahren sollte. Einfach abhauen. Aber dann fiel mir ein,<br />

dass keiner meiner Freunde in der Stadt war. Philipp nicht, Alina nicht. Selbst meine<br />

Exfreundinnen Annika und Laura waren irgendwo unterwegs. Nicht zu vergessen<br />

Fritzi, die mir eine Mail geschickt hatte. Ich hatte sie entdeckt, als ich nachsah, ob mir<br />

irgendjemand (sprich Philipp) geschrieben hatte. Wie immer löschte ich Fritzis Mail,<br />

ohne sie gelesen zu haben. Ich schrieb Philipp: Tangermünde ist unglaublich! Als ob<br />

man in eine Zeitmaschine steigt und im Mittelalter aufwacht. Wünschte, du wärst hier:<br />

An die meisten Typen in dieser Stadt kommt man nämlich nicht ran. Sie tragen alle<br />

Rüstung. Haha.<br />

In Tangermünde standen die Sterne einfach nicht gut für mich: Das Schwimmbad<br />

war hoffnungslos überfüllt.<br />

Nach dem Schwimmversuch döste ich etwas und guckte fern. Gelangweilt griff<br />

ich mir Sammy und las das Kapitel: So wird ein Strip erst richtig hip! Und danach:<br />

Kann Sex allein auch besser sein? Ich probierte ein paar der Tipps aus letzterem<br />

Kapitel aus, döste dann noch ein wenig, holte mir eine doppelte Portion Wan-Tan-<br />

Suppe von einem China-Imbiss und duschte. Als ich rauskam, war der Spiegel vom<br />

Dampf beschlagen. Ich malte ein Herz auf das Glas. Und dann einen Pfeil durch das<br />

Herz. In das Herz schrieb ich Philipp & Renée 4 ever.<br />

Für immer?<br />

Ich strich das ever aus und schrieb now. Philipp & Renée 4 now. Ja, das war<br />

besser. Etwas realistischer. Nur keine zu hohen Erwartungen.<br />

Aber war es denn wirklich für jetzt? Warum war er nicht nach Magdeburg<br />

gekommen? Oder nach Halberstadt?<br />

Ich zog mein Nachthemd an und machte mich fertig fürs Bett.<br />

Als ich mir ein paar Minuten später im Bad die Haare bürstete, waren der<br />

Dampf und mein Herz spurlos in der dünnen Luft von Tangermünde verschwunden.<br />

Am nächsten Morgen wachte ich auf, als meine Mutter ins Bad ging.<br />

»Alles klar?«, rief sie gegen das Rauschen der Dusche an.<br />

Ich sagte nichts, sondern dachte: Nein, nichts ist klar. Philipp hat nicht<br />

angerufen.


»Es scheint heute wieder kühl zu werden«, sagte meine Mutter. »Und denk<br />

dran, wir treffen Oma Ulli zum Mittagessen.« Sie drehte sich zu mir um. »Zieh dir<br />

bitte was Hübsches an.«<br />

»Was soll das denn heißen? Zieh dir was Hübsches an?«<br />

Meine Mutter stellte das Wasser ab und wrang ihr Haar aus. Sie antwortete<br />

nicht gleich. »Renée, ich mein ja nur«, sagte sie dann und stieg aus der<br />

Duschkabine, »du siehst Oma Ulli nicht so oft. Also könntest du ruhig etwas Nettes<br />

anziehen.«<br />

»Hör doch auf! Dir geht’s gar nicht um Oma Ulli. Dir gefällt’s nicht, wie ich mich<br />

anziehe. Hast du Angst, wegen mir aufzufallen?«<br />

Ich sah, wie meine Mutter innerlich bis zehn zählte, bevor sie antwortete. Sie<br />

nahm ihr Handtuch und sagte gelassen: »Warum ziehst du nicht das Seidenkleid an,<br />

das Grandma Myrna dir geschickt hat? Es ist hübsch, und es macht eine gute Figur –<br />

ohne dass du halb nackt dastehst.«<br />

Ich hätte das Kleid noch nicht mal auf die Reise mitgenommen. Meine Mutter<br />

hatte es in ihren Koffer gepackt, für alle Fälle. Es war ein seidenes Hemdblusenkleid,<br />

bedruckt mit grellbunten Blumen. Sehr kalifornisch. Ich sehe darin wie eine<br />

minderjährige Hausfrau aus San Diego aus, die gerade einen Sonntagsausflug nach<br />

Seaworld macht. Im klassischen Sinn war es aber eigentlich ganz hübsch und –<br />

unter uns –, ich hatte es heute ursprünglich für meine Großmutter anziehen wollen.<br />

Hatte ich.<br />

»Ich zieh an, was ich anziehen will«, sagte ich. »Und ganz bestimmt nicht<br />

Grandma Myrnas Kleid.«<br />

Ich stürmte aus dem Bad und schnappte mir meinen Jeansrock. Er war gerade<br />

lang genug, um meinen Hintern zu bedecken – aber kurz genug, dass man zweimal<br />

guckte. Der Saum war ausgefranst, was schön trashig wirkte und super zu meinem<br />

bauchfreien, ärmellosen Che-Guevara-Oberteil passte.<br />

Ich ging zurück ins Bad. »Das ziehe ich an«, sagte ich demonstrativ.<br />

Meine Mutter setzte ihre Brille auf, schaute meinen Rock und das Top an,<br />

zuckte mit den Schultern und begann ihr Haar zu fönen.<br />

Ich drehte mich zum Spiegel, um meine Zähne zu putzen ... und bekam fast<br />

einen Herzanfall!<br />

Direkt vor uns auf dem Badezimmerspiegel waren mein Herz und mein Pfeil:<br />

Renée & Philipp 4 now. Oh nein! Durch den Dampf der Dusche war die Schrift wieder


aufgetaucht! »Scheiße!«, rief ich und griff ein Handtuch. Mit einem Wischer war das<br />

Herz weg. Zurück blieb nur das zweite P von Philipp.<br />

Endlich kam unser Zug in Hannover an. Auf dem Bahnsteig winkte uns Oma Ulli mit<br />

zwei Rosen zu.<br />

»Sie weiß, dass wir nur unterwegs sind, aber sie bringt Blumen«, sagte meine<br />

Mutter und seufzte.<br />

Oma Ulli umarmte mich. Oder besser gesagt: zerquetschte mich. Sie war nicht<br />

groß, aber breit, und ihre Brust war eine echte Waffe.<br />

»Du siehst ja halb verhungert aus«, sagte sie zu mir, öffnete die Arme und<br />

ersparte mir damit einen schrecklichen Erstickungstod. Zu meiner Mutter sagte sie:<br />

»Kriegt das Kind denn nichts zu essen?«<br />

»Mutti, bitte!«, sagte meine Mutter und hob unser Gepäck auf einen Kofferkuli.<br />

Ich zwinkerte meiner Großmutter zu. Weiter so, Oma, dachte ich. Mach ihr die<br />

Hölle heiß!<br />

Oma Ulli zwinkerte zurück. Für eine Siebzigjährige war sie ziemlich stark<br />

geschminkt: Lidschatten, Wimperntusche, Rouge, knallroter Lippenstift. Dazu trug sie<br />

noch jede Menge Modeschmuck: eine ebenso knallrote Kette mit walnussgroßen<br />

Glasperlen und ungefähr zwanzig Armreifen an jedem Handgelenk. Sie klingelten,<br />

als sie mir meine Rose entgegenstreckte.<br />

Ich roch daran. »Mmmm, die duften gut.«<br />

»Von Opas Rosenstrauch aus der Laubenkolonie.«<br />

»Mutti«, sagte meine Mutter angespannt. »Das ist eine nette Geste, aber<br />

zufälligerweise habe ich keine Vase im Koffer.«<br />

»Hast du doch!«, sagte ich und dachte an die Vase mit den Tulpen, die sie auf<br />

der Bühne benutzte.<br />

Meine Mutter schaute ungeduldig zum Himmel. »Das ist eine Bühnenrequisite.<br />

Und außerdem nicht wasserfest.«<br />

Oma Ulli beachtete sie nicht. »Dein Großvater hat den Rosenstrauch am Tag<br />

deiner Geburt gepflanzt«, sagte sie zu mir und hielt meine Hand fest. »Wenn diese<br />

Rose verwelkt ist, dann schneide die Blüte ab und leg sie in ein Buch zum Pressen.<br />

Wenn du dann irgendwann später zufällig auf sie stößt, versuch dich daran zu<br />

erinnern, wie du heute warst und wie sehr du seither gewachsen bist, wie du dich<br />

verändert hast.«


»Ach, Oma«, sagte ich bewegt, »das ist so lieb von dir.«<br />

Ich hatte diese Geschichte schon tausend Mal gehört und kann das mit<br />

mindestens doppelt so viel gepressten Rosen beweisen. Trotzdem war ich gerührt.<br />

Oma Ulli legte ihren Arm um meine Taille, und dann legte ich meinen Arm um<br />

ihre, und wir gingen zusammen zum Fahrstuhl.<br />

»Wie geht’s Tante Martha?«, fragte meine Mutter.<br />

»Den Umständen entsprechend.«<br />

Sie sprachen so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte, obwohl ich unter<br />

meinen Fingern Oma Ullis Stimme vibrieren spürte. Ich sah auf ihren Bauch, aber er<br />

war unter dem Zelt verborgen, das sie trug. Es war eine Art Kaftan aus Polyester mit<br />

langen Schlitzen in den Ärmeln, die etwas Haut sehen ließen. Ein langes, fließendes<br />

blau-weißes Gewand mit griechischen Motiven darauf: der Akropolis, vielen Säulen,<br />

Retsinaflaschen, Ziegen, Weinblättern und ein paar Göttern – Athene, Aphrodite,<br />

Poseidon. Ein bisschen unruhig, nicht? Jedenfalls verbarg der Schnitt dieses<br />

Gewandes das meiste von ihr. Mit Ausnahme ihres Busens – der ließ sich einfach<br />

nicht verstecken. Kurz überlegte ich, wie sie sich BHs kaufte. Gab es ihre Größe im<br />

Laden oder musste sie sich extra welche anfertigen lassen?<br />

Oma Ulli küsste mich auf die Wange. »Ach, ist das schön, dich zu sehen!<br />

»Schhhh!«, schnappte meine Mutter. »Sei doch nicht so laut.«<br />

»Sie hat Kopfschmerzen«, sagte ich.<br />

»Oh, ich werde dich massieren«, sagte Oma Ulli.<br />

Meine Mutter verzog das Gesicht.<br />

Ja, meine Großmutter war laut. Auffallend. Was die Mode betraf jenseits von<br />

Gut und Böse. Aber sie war einfach toll.<br />

»Schön, dass du’s luftig hast«, sagte meine Großmutter und tätschelte meinen<br />

Bauch.<br />

»Du auch«, sagte ich und zeigte auf ihre Ärmel.<br />

Sie zündete sich eine Zigarette an. »Der Trick, meine kleine Schnecke, ist,<br />

immer das richtige Stück Haut zur richtigen Zeit zu zeigen: Wer blutjung ist, kann sich<br />

bauchfrei und Mini leisten, Frauen in den besten Jahren zeigen ihr Dekolleté – und<br />

Alte den Ellenbogen.« Sie hustete.<br />

»Mutti«, sagte meine Mutter mit einem Blick auf die Zigarette.<br />

Meine Großmutter, die als die einzige rauchende Atemtherapeutin der Welt in<br />

die Annalen der Geschichte eingehen wird, musterte jetzt meine Mutter in ihrem


formlosen Leinenkleid und dem langen Chiffonschal. »Du, meine Liebe, bist<br />

eigentlich in der Dekolleté-Phase.«<br />

nicht?«<br />

»Mutti, bitte!«, sagte meine Mutter. »Ich bin auf Lesereise, verstehst du das<br />

Meine Großmutter und ich warfen uns Blicke zu, aber ich hing bald meinen<br />

eigenen Gedanken nach. Der genervte Ton meiner Mutter kam mir bekannt vor. Und<br />

dann ging es mir schlagartig auf. Natürlich. Sie klang genau wie ich.<br />

»Schau dir ihre Augen an, Edda. Das sind die von Papa. Und seine hohen<br />

Wangenknochen hat sie auch.«<br />

Meine Mutter blickte von ihrem Reiseplan auf. »Hmm, ja«, sagte sie, in<br />

Gedanken ganz woanders. Sie sah auf die Uhr an der Wand. »In zwanzig Minuten<br />

müssen wir los, Mutti.«<br />

»Und diese Haare«, sagte meine Oma und fuhr mir durch meine dunklen<br />

Haare. »Solche tollen Haare. Und die ganze Mundpartie. Die Lippen, feine schmale<br />

Lippen, genau wie er.«<br />

»Schmale Lippen!«, schrie ich beleidigt auf. »Du hast doch einen Knick in der<br />

Optik! Ich hab volle Lippen!«<br />

»Ich glaube, Mutti«, sagte meine Mutter, »da bist du ins Fettnäpfchen<br />

getreten.«<br />

»Hältst du dich da bitte raus?«, sagte ich zu meiner Mutter.<br />

Ihre Augen wurden ganz groß. Die meiner Oma womöglich noch größer. Sie<br />

zog mich an sich. Sie roch gut. Wie unser Weichspüler mit Apfelblüten- und<br />

Vanilleduft.<br />

»Renée, du bist eine große Schönheit«, sagte Oma Ulli. »Selbst wenn du<br />

deinem Opa ähnlich siehst, Gott hab ihn selig.«<br />

Oma Ulli sah meine Mutter an.<br />

Meine Mutter schaute weg.<br />

»Vielleicht sollte ich euch zwei allein lassen, damit ihr in Ruhe über mich reden<br />

könnt«, sagte ich.<br />

»Renée«, begann meine Mutter.<br />

»Edda!«, unterbrach meine Großmutter. »Lass mich mal.« Sie zeigte auf<br />

meinen Teller. »Du hast ja kaum was gegessen, Renée.« Sie sah meine Mutter an.<br />

»Edda, isst sie immer wie ein Spatz?«


»Es schmeckt mir nicht, das ist alles«, sagte ich und verzog das Gesicht beim<br />

Anblick des halb verspeisten, von Apfelmus durchweichten und<br />

mikrowellenverstrahlten Kartoffelpuffers.<br />

»Du bist doch nur Haut und Knochen«, sagte Oma Ulli. Sie sah wieder meine<br />

Mutter an. »Habt ihr euch eigentlich ständig in der Wolle?«<br />

Mir war nicht ganz klar, wen sie das fragte.<br />

»Ich wusste, dass du wieder damit anfangen würdest, Mutti«, sagte meine<br />

Mutter. »Überlass das mir. Okay? Uns geht’s gut. Alles im grünen Bereich. Es ist nur<br />

... nur ...« Sie sah mich an. »Es ist nur die Pubertät.«<br />

»Die Pubertät?«, schrie ich auf. »Und was ist mit dir? Vielleicht sind die<br />

Wechseljahre schuld!«<br />

»Hört auf, ihr beiden«, sagte Oma Ulli.<br />

»Mutti, bitte!«, sagte meine Mutter streng.<br />

Oma Ulli achtete nicht auf sie und nahm meine Hände. Ihre waren warm. Und<br />

stark. »Wie geht es dir?«, fragte sie leise, fast flüsternd. Sie sah mich forschend an.<br />

Und plötzlich fühlte ich den harten Klumpen in meinem Hals. Größer als je<br />

zuvor.<br />

»Ach, meine kleine Schnecke«, sagte sie und strich mir über die Wange.<br />

Ich nahm all meine Kraft zusammen, um den Klumpen herunterzuschlucken.<br />

Meine Großmutter schien das zu spüren, denn sie legte mir eine Hand in den Nacken<br />

und drückte mit der anderen vorsichtig auf meinen Brustkorb. »Du musst es<br />

herauslassen. Du musst wieder anfangen zu atmen.«<br />

Ich holte tief Luft – aber nicht, weil sie das wollte, sondern weil ich nur so die<br />

Tränen unterdrücken konnte.<br />

»Renée«, sagte Oma Ulli, »deine Mutter will dich nicht unter Druck setzen, aber<br />

...«<br />

»Hör auf damit!«, fauchte meine Mutter. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich<br />

nicht ...«<br />

»Was hat sie dir erzählt?«, fragte ich meine Oma. »Was?«<br />

»Sie hat mir gar nichts erzählt. Außerdem hätte sie mir nichts erzählen können,<br />

was ich nicht ohnehin schon wüsste.« Meine Großmutter drückte meine Hand.<br />

»Schneckelchen«, sagte sie, »du musst es rauslassen. Wenn du es nicht rauslässt,<br />

wird der Schmerz für immer an deinem Herzen nagen.«

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