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Vorwort<br />
Ratschläge für einen schlechten Redner. Bei Tucholsky findet man sie. Man soll nicht<br />
zur Sache kommen.<br />
Man soll herumreden, erst dieses und jenes ankündigen. Bis der Schlaf den<br />
gähnenden Leser übermannt, bis jedes Interesse abgetötet ist. Also denn einiges zur<br />
Wahl des Buchtitels. „<strong>Wofür</strong> <strong>haben</strong> <strong>wir</strong> <strong>gekämpft</strong>?“ ist der Titel einer Sammlung der<br />
Schriften Alfred Kurellas. Und „Es hat sich gelohnt zu leben“ der Titel einer<br />
Autobiographie von Max Seydewitz. Es liegt nahe, die Frage zu stellen, wer war<br />
dieser und wer war jener? 1 Mag sein, daß der Titel falsche Erwartungen weckt. Im<br />
Wortsinne habe ich mir nicht die Aufgabe gestellt, die Frage zu beantworten. Weder<br />
indem die Ziele aufgelistet werden und gezeigt <strong>wir</strong>d wohin die Revolution ihre Kinder<br />
entlassen hat noch im Sinne eines selbstzufriedenen Stolzes auf den Weg erreichter<br />
Erfolge. Und auch nicht im Sinne der Trauer über falsche Ziele oder die<br />
unvermeidliche Stärke gigantischer Gegner. An vielen Pamphleten und Kämpfen<br />
habe ich mitge<strong>wir</strong>kt. Das Getümmel hat mir gut getan. Und ich hoffe, meine Laune,<br />
meine Begeisterung hat denjenigen, die mit mir zu tun hatten, gut getan. Die<br />
verschiedenen Flaggen meiner verschiedenen Ziele und Parteiungen habe ich<br />
eingeholt, aber natürlich gehen sie weiter, die Freuden und die Leiden - der Spaß.<br />
Lessing`sche Belehrungen sind mir zuwider. Man merkt die Absicht und man ist<br />
verstimmt. Wird die Absicht verheimlicht, so ist die Enttäuschung und die Kränkung<br />
über die versuchte Manipulation noch bitterer. Warum schreibe ich dann überhaupt?<br />
Im Kern, weil es mir selbst Freude macht, mich mit den Problemen und Kämpfen der<br />
Vorangegangenen zu beschäftigen - bei Goethe oder de Bruyn, bei Voltaire -<br />
Fontane oder Stefan Zweig. Ob das Weltbild des „Immer schneller, immer besser,<br />
immer höher“ stimmt, ob <strong>wir</strong>klich eine Zunahme von Lebensqualität zu verzeichnen<br />
ist, so daß den Vorgeborenen, dem Marc Aurel, dem Meister Eckardt, dem<br />
Dschuangse und dem Lau-tse eigentlich nur unser Mitgefühl zukommt, so ohne<br />
Gasetagenheizung und E-mail? Ist die Frage <strong>wir</strong>klich nur eine Scheinfrage. Haben<br />
die von den Inkas unterjochten indianischen Völker das von den Europäern ins Land<br />
verbrachte Wort „Arbeit“ mit „Fast-Sterben“ übersetzt, wie es heißt - und warum? Ist<br />
das indische Weltbild, der Pendelbewegung zutreffender für die Menschheitsgeschichte?<br />
Fragen über Fragen, schön - daß es sie gibt.<br />
Spannend für mich war und ist die Frage nach den Invarianten menschlicher<br />
Geschichte. Wie sehen sie aus, die unveränderlichen Triebkräfte menschlichen<br />
Seins? In der Familie <strong>wir</strong>d jede Rolle nur einmal vergeben. Menschliche Niedertracht,<br />
Verstellung, Verrat, Oddyseus`sche Lügen und Listen - gehören sie nicht zu uns wie<br />
Verwesung und Verwandlung von Laub zu Humus? Aber kann man leben, ohne<br />
Hoffnungen und Illusionen? Vielleicht sind die Illusionen der Preis der Bewußtheit.<br />
1 Max Seydewitz, * .1892 † 1987, sozialdemokratischer Politiker, MdR, von 1947- 52 Ministerpräsident<br />
v. Sachsen; Alfred Kurella, *1895 † 1975 Schriftsteller, Übersetzer und Kulturfunktionär der SED in<br />
der DDR.<br />
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