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Ulrike Atkins: Vom Trauma zur Trauer

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<strong>Vom</strong> <strong>Trauma</strong> <strong>zur</strong> <strong>Trauer</strong>Peritraumatische Interventionen <strong>zur</strong> Entlastung der BetroffenenI. Aktives ZuhörenEmotionale Entlastung zulassen- Aushalten und Teilen von Weinen, Sprachlosigkeit, Wut, Aggression- kontinuierliche Präsenz- Teilnehmen und Beobachten- (Körperkontakt)II. Situationsanalyse (in Stillarbeit)Krise beschreiben lassen- Einfühlendes Verstehen (Verzicht auf Nachfragen)- Gefühle, Erlebtes wahrnehmen, spiegeln- Verstehensmosaik zulassenIII. AnamneseGesamtsituation einschätzen- Fokussieren- Auf widerstreitende Gefühle achten (Ambivalenzkonflikt)IV. PsychoedukationOrientierung vermitteln- Grad der Belastung ansprechen- Schuldfrage ansprechen (Gegenrede)V. RessourcenanalyseAktivierung und Einbindung der vorhandenen Ressourcen- Support im psychosozialen Umfeld- Support durch Werte / Religion- Support durch materielle Sicherheiten- Support im eigenen sozialen Umfeld- Support in der eigenen Leiblichkeit- Hinweis auf konkrete Einrichtungen (Opferschutzberatung, Weißer Ring)VI. Abschied gestalten- Kontrakt<strong>Ulrike</strong> <strong>Atkins</strong>,Telefonseelsorge Düsseldorf, 01/08


<strong>Ulrike</strong> <strong>Atkins</strong>Zeitnahe Krisenbegleitung – Ein Fall aus Sicht der Telefonseelsorge (idealtypisch)In der vierten Stunde findet in einem Gymnasium in der achten Klasse Sportunterricht statt. Der Lehrerbeginnt die Stunde mit einem moderaten Konditionstraining, die Schüler rennen im Kreis in derTurnhalle.Plötzlich fällt ein Schüler und bleibt am Boden liegen. Während zwei Schüler, die hinter ihm gelaufensind, ihm ausweichen können und noch einige Schritte weiter laufen, stehen bald andere Schüler umden am Boden Liegenden herum. Später erzählen sie, dass er „eigenartig, mit einem rasselndenGeräusch und sehr tief“ geatmet habe. Der Schüler läuft blau an, schließlich hört er auf zuatmen, Speichel rinnt ihm aus dem Mund. Der Lehrer erkennt sofort den Ernst der Lage und schicktzwei Schülerinnen in das Schulsekretariat, damit sie von dort aus den Rettungsdienst und dieSchulsanitäter verständigen.In der Turnhalle beginnt der Lehrer mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Als zunächst eine, in den folgendenMinuten eine weitere Schulsanitäterin dazu kommen, beginnen sie am Jungen Wiederbelebungsmaßnahmendurchzuführen. Die spätere Anruferin, Jessica, ist eine der Schulsanitäterinnen.Einige der Klassenkameraden stehen unmittelbar neben ihrem sterbenden Mitschüler, andere stehen inGruppen in der Halle zusammen, einige begeben sich in die Umkleideräume.Vor der Schule treffen ein Rettungswagen und kurz darauf ein Notarzteinsatzfahrzeug ein. Sie werdenvon Schülern empfangen, dem Rettungsdienstpersonal wird der Weg in die Sporthalle gezeigt. DieWiederbelebungsmaßnahmen scheinen unter der Leitung des Notarztes zunächst Erfolg versprechendzu verlaufen. Der Junge wird intubiert und per Rettungswagen in das nahe gelegene Krankenhausgebracht.Der Sportunterricht wird abgebrochen. Alle Kinder werden gebeten, sich wieder umzukleiden und in ihrKlassenzimmer zu gehen.Auch Jessica und ihre Sanitäterkollegin werden angewiesen, wieder zum Unterricht zu gehen. DerSportlehrer bietet an, sie können bald bei ihm nachfragen, wie es dem betroffenen Schüler gehe.Jessica bleibt in der Schule nach Stundenplan und geht anschließend benommen nach Hause.Am Nachmittag erfährt sie von einem Mitschüler, dass der Junge noch auf dem Weg ins Krankenhausverstorben ist.


Gegen 18:00 ruft die siebzehnjährige Schülerin bei der Telefonseelsorge an. Mit leiser, zögernderStimme stellt sie sich vor. Sie erzählt, dass sie gerade alleine zu Hause sei, dann bricht es aus ihrheraus:A: Ja, also. Ich glaube, ich muss mal mit jemanden reden. (Pause)TS: Möchten Sie erzählen, worum es geht?A: (Schweigen)Ja also, …! Also …! Ich weiß nicht, …! Ich …!Die Anruferin beginnt unvermittelt und heftig zu weinen.TS:(Pause) Weinen Sie ruhig. Ich bin hier.Das Weinen wird heftiger. Fast hysterisch.TS:Es ist o.k., dass Sie weinen. Ich bleibe in der Leitung.Nach ca. fünf Minuten fängt die Schülerin an, sich zu beruhigen. Ihr Weinen geht in ein leisesSchluchzen über.Nach einigen weiteren, beruhigenden Kommentaren sagt TS:TS:Ich habe den Eindruck, es ist etwas ganz Schreckliches passiert. – Wollen Sie einmal erzählen?Immer wieder unterbrochen von Schluchzern erzählt die Schülerin von dem traumatischen Ereignis,dass sich am Vormittag ereignet hat.TS hört der Anruferin konzentriert und aktiv zu. Immer wieder kommt es zu Verständnisschwierigkeiten,die TS jedoch „aussitzt“. Das heißt, sie unterbricht die Anruferin nicht. Das heißt auch, obwohl manchesin Jessicas Schilderung unverständlich, bis unbegreiflich bleibt, fragt TS nicht nach, etwa um mehr„Klarheit“ zu bekommen, sondern bemüht sich ausschließlich um einfühlendes Verstehen (Akzeptanzdes Chaos und der Hilflosigkeit). Sie fragt Jessica, ob sie sie duzen darf und wiederholt sehr häufig:Ich stelle mir das ganz furchtbar vor.Ich versuche mir vorzustellen, wie schlimm das für Dich war.Ich bin ganz sprachlos.Zu keiner Zeit macht TS weiterführende Vorschläge, oder bietet verbale Hilfe an. (Etwa: IhrKlassenlehrer wird sicherlich morgen mit Ihnen sprechen. Was wird die Schulleitung zu dem Vorfallsagen? Oder: Vielleicht machen Sie erst mal Pause vom Sanitäterdienst, etc.).Vielmehr ist TS damit beschäftigt, das, was sie wahrgenommen hat und noch wahrnimmt, zu einem„Verstehensmosaik“ zusammenzufügen.So kristallisieren sich während des aktiven Zuhörens zwei Aspekte heraus, die aus ihrer Sicht derzeitnahen Bearbeitung bedürfen: Die Anruferin ist angesichts des plötzlichen Todes schwertraumatisiert. Und: Jessica macht sich schwere Vorwürfe, da ihre Erste-Hilfe-Maßnahmen den Schülernicht retten konnten. TS ahnt, Jessica fühlt sich „schuldlos schuldig“, und werden JessicasSchuldgefühle nicht schnell und adäquat bearbeitet, werden sie zu einer Re-<strong>Trauma</strong>tisierung führen.Im Rahmen ihrer Möglichkeiten beschließt TS daher, konkret Jessicas Möglichkeiten und Grenzen alsSchulsanitäterin anzusprechen – in der Hoffnung, dass mit einer grundsätzlichen Einsicht in die


Machtlosigkeit angesichts des Todes, den Schuldgefühlen der – zumindest logisch-rationale Bodenentzogen wird.In der Tat hört Jessica nachdenklich zu.Auf ein Feed-back bezüglich ihrer Intervention (etwa: „Wie hörst Du das, was ich gerade sage?“)verzichtet TS, da sie bei Jessica noch keine adäquate emotionale Bewertung des Geschehenenvoraussetzen kann.Nach ca. 45 Minuten tritt bei beiden Gesprächspartnern ein gewisser Grad an Erschöpfung ein.Um das Gespräch gut zu beenden, will TS abschließend auf die <strong>zur</strong> Verfügung stehenden Ressourcenzu sprechen kommen. Sie sagt:TS:Jessica, es ist so viel Furchtbares heute passiert. Du hast erlebt, wie ein Mensch gestorben ist.Und Du hast erlebt, wie Du ihm nicht helfen konntest.Ich frage mich jetzt, was Dir helfen könnte.A: Ach, ich weiß nicht. Ich weiß gar nicht, was mir helfen könnte. (Pause)TS: (Schweigt)A: Vielleicht muss ich einfach noch mehr weinen.TS: Weinen erleichtert.A: Ja, das stimmt. Das tut es. Aber Reden erleichtert auch.TS: Reden kann sehr entlasten. Mit wem kannst du morgen reden?A: Keine Ahnung. Mit meiner Freundin vielleicht.TS: Das wäre gut. – Gibt es auch einen Erwachsenen, der Dir zuhören kann?A: Ja, also, der Vater von meiner anderen Freundin, die ist auch in meiner Klasse, der istKrankenpfleger und total nett. Also, so … (Pause)TS: Meinst Du, er könnte verstehen, was du erlebt hast?A: (Nachdenklich) Ja, ich glaube schon.TS: (Schweigen)A: Ja, bestimmt. Vielleicht war er auch schon mal in so einer Situation.TS: Jessica, ich möchte mit Dir jetzt vereinbaren, dass Du bald versuchst, mit dem Vater DeinerFreundin zu sprechen. Geht das?Jessica stimmt zu, dass sie sich um einen Kontakt mit dem Vater bemühen wolle.In der Abschlussphase bespricht TS, wie Jessica im unmittelbaren Anschluss an das Gespräch für sichsorgen will. (Tagebuch schreiben, Kakao kochen, etc.) Dann beenden beide das Gespräch.

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