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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Biographie. Ein SozzalJorschungsweg? 189<br />

Biographietheoretisches Basiskriterium zur Bemessung des Ausprägungsgrades individueller<br />

Selbständigkeit bildet der von der »Kritischen Psychologie« eingehend ausgearbeitete<br />

Gesichtspunkt bewußter gesellschaftlicher Teilhabe (zuletzt Holzkamp 1979 a,<br />

10, 11). Kultursoziologisch ausgedrückt: die lehensgeschichtlich herausgearbeitete Stufe<br />

material kultureller Individualität (sozialer Reichtum in Gestalt persönlichen Lebensvermögens).<br />

Metaphorisch resümiert wäre dem Biographie-Begriff ein forschungsmethodisch erst<br />

noch aufzufächernder »Doppelcharakter« zuzuschreiben: im Prozeß seiner individuellen<br />

Lebensvollzüge gewinnt <strong>das</strong> Individuum seme Biographie, entwickelt es Individualkultur.<br />

indem es in seinem individuellen Lebensprozeß den gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozeß<br />

tätig mitvollzieht; es »schreibt« sinnlich-gegenständlich an seiner<br />

Biographie, indem es die »gesellschaftliche Biographie« im Rahmen arbeitsteiliger Kooperation<br />

»mitschreibt« . Umgekehrt »schreibt« der gesellschaftliche Lebensgewinnungsprozeß<br />

(bzw. die hieraus hervorgehenden kollektiven Subjekte) die Biographie des einzelnen<br />

Individuums. indem es anders als durch diesen gar nicht seinen individuellen<br />

Lebensprozeß, seine Biographie. gegenständlich »schreiben« kann. In diesem Sinne ist<br />

Biographie immer schon Sozio-Biographie. Aus dem Skizzierten dürfte hervorgehen,<br />

daß hier Biographie erst sekundär als eine literarische Form verstanden wird. Primär<br />

und jeder Art literarischer oder wissenschaftlicher Biographik vorgängig ist sie die prozedierende<br />

lebenspraktische Weise der Organisation der Lebensvollzüge zu einem kohärenten<br />

individuellen Lebenslauf Folglich fällen nicht nur Schriftsteller und Künstler.<br />

wie eine bekannte Notiz Goethes zur Biographie es nahelegt (1962, 8f.), ihre Biographie<br />

l!1 Gestalt einer »\Xlerkbiographie«. auf die sich die »Interpreten« gerne stürzen,<br />

aus. Auch die materiellen Produzenten fällen. wovon die geisteswissenschaftliche Biographik<br />

wenig zu sagen weiß. weil sie sie nicht zur Kenntnis nimmt. ihre spezifische<br />

Werkbiographie aus. Für beide Formen gilt, daß sie nur gesellschaftsanalytisch entzifferbar<br />

sind. Werkbiographien in diesem ausgreifenden Verständnis erhärten, daß die<br />

Menschen so sind. wie sie ihr Leben äußern. Als subjekt-analytisch zu rekonstrUIerende<br />

Werkbiographie ist dann nicht nur <strong>das</strong> subjektive Hohlräume ausleuchtende Oeuvre<br />

Handkes. sondern auch <strong>das</strong> Oeuvre Kölner Fordarbeiter zu rekonstruieren. Die »sekundäre«<br />

Widerspiegelung solcher Art von WerkbIOgraphie mag Aufgabe von Literatur<br />

sein. sie blOgraphiewissenschafdich zum Sprechen zu bringen, 1st Aufgabe einer Subjektwissenschaft.<br />

die die lebenslangen »biographischen Eindrücke« der IndIviduen (ihre<br />

autobiographischen Spuren) wesentlich aus ihren »biographischen Ausdrücken«, ihren<br />

tätigen Vergegenständlichungen (in Form von kulturell verzehrbaren Gebrauchswerten)<br />

heraus zu erhellen vermag. »An ihren Früchten sollt Ihr sIe erkennen«24<br />

3. Wenn Biographie als Kategorie zur Reproduktion des individuellen Lebenslaufes<br />

in seiner Totalität zu entwickeln versucht wird, dann kann sie nicht als wie immer auch<br />

offengelegte oder verkappte Autobiographik formuliert werden. In autobiographischer<br />

Forschungsform erscheint Biographie, unter dIe auch eine Reihe identitätssoziologischer<br />

Ansätze zur Rekonstruktion der individuellen Bildungsgeschichte zu subsumieren<br />

sind25 . mehr oder weniger deutlich artikuliert als »Erlebmsgeschichte«. d.h. als Geschichte<br />

erfahrungsförmiger Verarbeitung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Kurz, der<br />

Ausdruck Biographie thematisiert in den genannten Formen wesentlich den Iife record<br />

und blendet den sozialstrukturierten life course als etwas Äußeres, Vorausgesetztes, als­<br />

Rahmen allenfalls ein. auf den die innere Erfahrungsgeschichte verarbeitend reflek-<br />

D:\5 ARGL'MENT 126/1981 "c:.

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