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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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210 Henning Me/ber<br />

bietseinheiten festgelegt und okkupiert. Die Entstehung zentralisierter Staatsapparate<br />

(sprich: kolonialer Verwaltungsinstanzen) war keinesfalls Ergebnis notwendiger, systemimmanenter<br />

(endogener) Entwicklung der autochthonen Gesellschaftsformationen<br />

oder Ausdruck ihrer inneren Dynamik zur gesamtgesellschaftlichen Organisation in nationalstaatlichem<br />

Rahmen. Die Entwicklung bürgerlicher Staatsformen in Ländern unter<br />

kolonialer Fremdherrschaft war Ergebnis eines »exogenen Gewaltaktes« (Terzlall<br />

1977, S. 57), bewirkt durch die imperialistische Expansion des europäischen Industriekapitals.<br />

Die oktroyierte, überregionale beziehungsweise stammesübergreifende Staatsbildung<br />

ging schneller vor sich als der Prozeß der Konstituierung der Menschen zu Nationen.<br />

Was Sta/in hinsichtlich der Herausbildung von Nationen in Osteuropa anmerkt,<br />

findet auch in der kolonialen Situation (wenngleich die Konstitutionsbedingungen<br />

voneinander abweichen) seine Parallele: » ... so bildeten sich hier gemischte Staaten,<br />

aus mehreren Völkerschaften bestehend, die sich noch nicht zu Nationen konstituiert<br />

hatten, aber bereits in einem gemeinsamen Staat vereinigt waren.« (Stalin, S.<br />

139; vergleiche auch Evers, S. 107. Zur Kritik Stalinscher <strong>Theorie</strong>n zur nationalen Frage<br />

siehe insbesondere Löwy, S. 118f.).<br />

Somit trug der Kolonialismus zur Beschleunigung des Staatsbildungsprozesses bei,<br />

indem er durch die gewaltsame Installierung seiner zentralen Herrschaftsinstanzen und<br />

Durchsetzungsformen kolonialer Interessen die eigenständige Herausbildung einer den<br />

ursprünglichen gesellschaftlichen Bedingungsmomenten entsprechenden Staatsform<br />

unterdrückte, deformierte und die staatsbildenden Elemente der autochthonen Bevölkerung<br />

zur Verwirklichung der eigenen Interessen benutzte. Aus dieser imperialistischen<br />

Transplantation resultierte als Ergebnis die Unterbrechung historischer Eigendynamik<br />

durch den »exogenen« Kapitalismus (siehe dazu die Aufsätze von Cabral zum<br />

Verhältnis zwischen Kolonialismus und kolonisierter Bevölkerung; ebenso instruktiv ist<br />

in dieser Hinsicht - unter stärkerer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Aspekte<br />

solcher Fremdherrschaft - <strong>das</strong> Hauptwerk von Fanon). Dennoch trug der Kolonialismus<br />

eben dadurch zur wenigstens teilweisen Herausbildung der Konstiturionsmomente<br />

einer Nation entscheidend bei, indem er die Schaffung eines nationalen Marktes<br />

(Zusammenschluß des kolonisierten Territoriums zu einer zumindest rudimentären beziehungsweise<br />

heterogenen wirtschaftlichen Einheit) und die Etablierung der<br />

(kolonial)kapitalistischen Produktionsweise bewirkte, diese Produktionsweise im gesamtgesellschaftlichen<br />

Kontext mittels Gewalt zur dominanten erhob, territoriale Gebietseinheiten<br />

per Grenzfestlegung schuf und durch die importierte Sprache ein Kommunikationsmedium<br />

im nationalstaatlichen Rahmen festsetzte. Mit anderen Worten:<br />

Die gesellschaftliche Entwicklung unter der Kolonialherrschaft, beziehungsweise durch<br />

sie, hat eine Gesellschaftsformation in nationalstaatlichem Gewand geschaffen, die<br />

heute nicht mehr grundsätzlich negiert werden kann. 2<br />

Bei einer genetisch-strukturellen Analyse von Staatsfunktionen im peripheren Kapitalismus<br />

ist dieses Kapitel kolonialer Vergangenheit von zentraler Bedeutung, um die<br />

gegenwärtige Gestalt und Funktion des peripheren Staates bestimmen zu können.<br />

Evers (S. 41) führt die Berücksichtigung dieses »inputs« sogar zur Konstruktion eines<br />

Hilfsbegriffes der >,mittleren Ebene« des Besonderen zwischen dem Allgemeinen der logischen<br />

Gesetze der Wertbewegung und dem Einzelnen ihrer nur noch konkrethistorisch<br />

analysierbaren Durchsetzung in jedem Land (zur Problematik dieses Versuchs<br />

die Kritik von Bons).<br />

DAS ARGUMENT 126' 1981

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