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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Biographie. Ein Sozia/jorschungsweg) 191<br />

nuin biographischen Belang erhoben werden. Demgegenüber wird der Vergegenständlichungsprozeß<br />

materieller und geistiger Kultur, die "Welt der Gebrauchswerte«, in seiner<br />

biographischen Relevanz völlig unterschätzt. Und endlich werden die vergegenständlichten<br />

Beiträge zum gesellschaftlichen Kulturprozeß von der Herausbildung der<br />

persönlichen, der »autobiographischen« Kultur abgetrennt. Hermeneutik befaßt sich<br />

dann mit der »inneren« persönlichen Kultur, und Faktenwissenschaft mit der »äußeren«<br />

individuellen und gesellschaftlichen Kultur, Schulfall zerfällenden Denkens.<br />

Dr1ttens wird mit der Überbewertung des Autobiographischen im Rahmen restriktiv<br />

hermeneutisch verfahrender Forschung <strong>das</strong> verwickelte Verhältnis von Auto- und gesamter<br />

Biographie entstrukturiert. Zentrale Probleme der Rekonstruktion des individuellen<br />

Lebenslaufes werden auf die Leistungskraft autobiographischer Produktion und<br />

ihrer text- bzw. psychoanalytischen Auslegung überwälzt. »Die meisten Menschen sind<br />

im Grundverhälrnis zu sich selbst Erzähler« (Musil 1952, 650). Auf diesen von Musil<br />

feinsinnig ausgeleuchteten Sachverhalt vertraut jede Art von Narrativik; hieraus bezieht<br />

sie ihre methodischen Präferenzen. Doch es verlohnt, Musils angefügte Reflexion<br />

zur Kenntnis zu nehmen. daß nämlich »die meisten Menschen <strong>das</strong> ordentliche<br />

Nacheinander von Tatsachen (lieben), weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und sich<br />

durch den Eindruck, daß ihr Leben einen 'Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen<br />

fühlen« (ebd., 650). Dieser biographisch-autobiographische Gedanke wirft nicht nur<br />

Licht auf Musils Lebensgeschichte, sondern vor allem auf die Grenzen bzw. Unwägbarkeiten<br />

autobiographisch reproduzierter, subjektiv recordierter Lebensläufe. Auf <strong>das</strong><br />

Vertrauen ins Autobiographische läßt sich Biographieforschung nicht gründen. Denn,<br />

was als blÜgraphisch bedeutsames Material zu gelten hat, darüber können zumindest<br />

nicht allein und nicht zuerst autobiographische Manifestationen subjektiver Kohärenzbildung<br />

(sprich: Identität) entscheiden. Die biographische Relevanz von Struktur-,<br />

Prozeß- und Ereignisdaten reicht jedenfalls weiter als der Einzugsbereich autobiographischer<br />

Benennbarkeiten, angefangen beim Namen und aufgehört beim Testament.<br />

Allein schon der Verweis auf die dialektische Beziehung zwischen »inneren« Zeitformen<br />

und gesellschaftlich strukturierter Zeitrhythmik beispielsweise mag andeuten, daß der<br />

Faden autobiographisch produzierter Lebensgeschichte nicht schlankweg mit der wesentlichen<br />

Entwicklungsspur identifiziert werden kann. Wäre dies der Fall, bräuchte es<br />

keine Wissenschaft.<br />

Viertens neigen die als Autobiographik angelegten Biographieentwürfe dazu, die<br />

Konstitution »individueller Selbständigkeit« identitätsparadigmatisch zu vereinseitigen.<br />

Identität wird dabei durchweg zu einem innerpsychischen, vor allem selbstreflexiven<br />

Modus verzeichnet; wobei die Trennung von Selbst- und sozialer Identität nur jene<br />

oben skizzierte Zerfällung von privatförmig gedachtem Ich-Kern (individuelle Subjektivität)<br />

und Gesellschaftlichkeit reproduziert, wiederum nur notdürftig zusammengeflickt<br />

durch die Rede von der Vermittlung zur »Ich-Identität«. Vor allem eignen sich die<br />

geläufigen Identitäts-Konzepte <strong>für</strong> eine materialistische Biographieanalyse deshalb so<br />

wenig, weil in ihnen der Aspekt der sinnlich-gegenständlichen Tätigkeit und ihrer Resultate<br />

nahezu gänzlich ausgeschaltet, <strong>das</strong> individuelle, wesentlich praktische Lebensvermögen<br />

psycho- und reflexionstheoretisch aufgelöst wird. Identität ist biographiewissenschaftlich<br />

demgegenüber wesentlich als praktische persönliche Kohärenzbildung zu<br />

fassen, wie sie aus dem gesellschaftlich bestimmten individuellen Lebensgewinnungsprozeß<br />

hervor- und in jenen als tätiges Organ eingeht. Mit der zuletzt genannten<br />

DAS ARGUMENT 126/1981

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