C. Nemes /Überlingen am Bodensee: Evolution der Anästhesie in

Nemes: Evolution der Anästhesie nach 1846
Amerikas (22), Frankreichs (12) oder Englands (8), vor allem wenn wir vergegenwärtigen,
daß diese zwei von Revolutionen und Freiheitskampf gefüllten unruhigen Jahre auf dem
Kontinent der Entstehung und Verbreitung wissenschaftlicher Werke nicht besonders
förderlich sein durften. Auch wurden 1847 in Deutschland bereits 9 Inauguraldissertationen
(L. Barschall, Th. Bromberger, J. Diesterweg, L. London, A. Martin, C. A. Meinel, W. Chr.
Merck und W. Nolten, darunter je 3 aus Berlin und München) über die Ätherisierung einge-
reicht (Petermann 1997). Bedeutsamer war jedoch Adam Hammers Mannheimer Kurzbericht
über Die Anwendung des Schwefeläthers ..bei Geburten (1847), wenn auch noch im gleichen
Jahr mehrere Publikationen über die geburtshilfliche Rauschnarkose erscheinen werden
(darunter von E. C. J. von Siebold aus Göttingen)* sowie das kleine, 48 Seiten umfassende
Büchlein von J. Schlesinger, dessen Leipziger Ausgabe noch im gleichen Jahr (1847) J.
Sarluis , holländischer Übersetzung in , s Gravenhage erschien. Dies war insofern ein
Glücksfall, da diese erste übersetzte deutsche Narkosemonographie im Sommer 1849 auch in
Japan ankam, wo sie auf Anordnung des Shoguns von Seikei Sugita, der auch das Deutsche
und das Lateinische beherrschte, 1850 übersetzt wurde (A ether Kyuho shisetsu: Eine
Abhandlung über die Ätherinhalation). Schlesingers Werk brachte somit die Kunde über
Ätheranästhesie nach Japan. Allerdings wurden die ersten schmerzlosen Operationen erst
nach 1855 durchgeführt (Matsuki 1997).
(* Die allererste Publikation über die Schmerzlinderung während der Geburt stammt von M. Garthshore aus
Edinburgh, dessen Inauguraldissertation im Jahre 1764 sich mit dem Opium bei Entbindungen befaßt hatte.)
Bei Durchsicht der klassischen bis etwa 1900 erschienenen Buchtitel über Anästhesie (im
Internet in 2000) fällt allerdings auf, daß die Anzahl von Publikationen nach 1850 mit
Ausnahme des angelsächsischen Sprachgebietes in allen Ländern ganz erheblich nachzulassen
schien. Vor allem fehlen bei uns bis zur Jahrhundertwende die historischen Arbeiten, während
in Amerika und England, teilweise durch die lange unentschiedene Prioritätenfrage der
Entdeckung der Ätheranästhesie angeregt, schon sehr früh (H. Wells 1847: History of the
application of Nitrous Oxide Gas, Ether..) und dann in den ersten 50 Jahren allein in diesen
zwei Staaten 24 die Evolution der Anästhesie betreffende historische Arbeiten verfaßt
wurden.
Erst 1896 wird eine historische Würdigung des Äther gegen den Schmerz von C. Binz,
Extraordinarius für Pharmakologie in Bonn erscheinen, die quellenmäßig auch die
Entwicklung der Chloroformnarkose erfaßt. Die Tagungsergebnisse der Zweiten Hyderabad-
Kommission (1899) werden von A. Koehler 1890 bekanntgegeben.
Das weitgehende Fehlen deutscher Narkosemonographien nach 1850 und 1890 von einigen
Werken (von A. Eckstein 1869, Leipzig, F. W. Clemens 1872, Bern und F. Fueter 1888,
Leipzig) abgesehen ist umso bemerkenswert, da sich der Schwerpunkt der klinischen
Forschung gerade in diesen Jahrzehnten von Paris nach Deutschland verlagert hatte. (Jean
Baptiste Rottensteins Hauptwerk Traité d , anesthésie chirurgicale erscheint 1888 in Paris und
kann daher nicht als deutscher Beitrag zur Narkosepraxis gedeutet werden.)
Immerhin ist anzunehmen, daß die erste Darstellung der Geschichte der Entdeckung und
Verbreitung der Äthernarkose in Europa, von Aloys Martin im Jahre 1847 etwa gleichzeitig
mit Wells , historischer Übersicht verfaßt wurde. Auf die Beiträge deutscher Kliniker wird
man erst nach Einführung der Lokal- und Regionalanästhesie (C. L. Schleich, H. Braun, G.
Hirschel und D. Kulenkampff) und nach Bekanntwerden der Lipidtheorie der Narkose (H.
Mayer, 1899, Ch. E. Overton, 1901) aufmerksam, deren Werke dann in allen Weltsprachen
übersetzt werden, z. B. Schleichs Schmerzlose Operationen (1894) schon 1899 in englischer
Sprache. Eine einzige Ausnahme stellt meines Wissens neben Schlesingers o.g. Mono-
graphie die Anaesthetica des Chefchirurgen O. Kappeler aus Münsterlingen dar , die bereits
ein Jahr nach der deutschen Ausgabe in Neapel 1881 übersetzt wird (I anestetici)**
** Ähnlich erging es der Chloroformnarkose, welche über die Esmarchsche Maske in Chicago erst 1897 von L.
H. Prince übernommen und der offenen Äthertropfnarkose von P. H. M. Sudeck, die ab 1907 von O. Witzel in
England popularisiert wurde. Leider fehlen systematische Analysen und eine Bibliographie der deutschen
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