C. Nemes /Überlingen am Bodensee: Evolution der Anästhesie in

Nemes: Evolution der Anästhesie nach 1846
1994). Deshalb war Deutschland um 1800 auf dem Gebiet der Naturwissenschaften ein
zurückgebliebenes Land.
Nicht so in England und in Paris, wo die Pneumatischen Schulen von Beddoes, Davy und
Lavoisier schon früh die Grundlagen für eine spätere empirische Inhalationspraxis zu
Therapiezwecken erforscht hatten (Bergman 1998).
Gesellschaftlich-politische Wandlungen, noch entscheidender das Zeitalter der europäischen
Kriege, die Zweite Industrielle Revolution, die Urbanisierung, die vielschichtigen Reform-
und Revolutionsbewegungen vom Vormärz, das Verbot des Sklavenhandels und der Kinder-
arbeit, die Reform der Irrenpflege und städtischen gesundheitspolizeylichen Maßnahmen
infolge wiederholter Choleraepidemien bereiteten den Empfang für diese radikal veränderte
Auffassung über Schmerzgenese und –therapie zwischen 1800 und dem Vormärz vor
(Schwarz 1991).
Unmittelbarer als diese gesellschaftlich-sozialen Umwälzungen war jedoch jener
Forschungsgeist des 16.-18. Jahrhunderts an der Explosion des Wissens maßgeblich beteiligt,
welcher schon in der frühen Neuzeit die göttlichen Heilkräfte, Spekulation und Empirie
ablehnte und die Naturphänomene experimentell zu ergründen trachtete, sei es in der
Botanik, Chemie, Kreislaufforschung (der Harveyisten), Pneumatischen Medizin (in Bristol
und Birmingham) oder in der Elektrotherapie, die bereits nach 1750 eine erste Blütezeit
erlebte.
(Die Leistungen und Entdeckungen der englischen pneumatischen Schulen können wir in
diesem historischen Überblick lediglich streifen. Eine vorzügliche und erschöpfende Dar-
stellung ihrer Forschungen und Publikationen, welche manches an späteren Innovationen der
Narkosepraxis vorwegnahmen, findet sich in der vorzüglichen Monographie von N. A.
Bergman, die 1998 erschienen ist.)
Den Durchbruch zur rationellen Wissenschaft schafften in Deutschland zunächst nicht die
Mediziner, sondern Naturforscher, Mathematiker (K. Fr. Gauß), Physiker (Ritter, G. S. Ohm,
Chladni, J. Frauenhofer), Chemiker (Justus v. Liebig) und allen voran die deutsche Physio-
logenschule um J. Müller (R. Virchow, F. G. J. Henle, H. Helmholtz, E. Du Bois-Reymond
und C. F. W. Ludwig) sowie der letzte Universalgelehrte Alexander von Humboldt; sie alle
entwickelten neben umfassender deskriptiver Naturforschung und einem letzten
enzyklopädischen Versuch aller Naturphänomene die kausalanalytischen und physikalchemischen
Methoden und verbannten die Lehre des Vitalismus endgültig aus der
theoretischen Medizin.
„Die Betrachtung der Lebensvorgänge an sich, die Physiologie, hat die Larvenhülle des Vitalismus abgestreift,
und sich als angewandte Physik und Chemie entpuppt“, stellt Emil Du Bois-Reymond 1882 in einer Festrede
Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart fest.
Nirgendwo in der Medizin war dieser Paradigmenwechsel, dieser Abschied vom alten
Weltbild deutlicher und ergiebiger zu spüren als in der Grundlagenforschung und Praxis der
Operationskunst und Schmerzbekämpfung.
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vertraten die Operateure die Lehrmeinung, dass die
Wundschmerzen im Versorgungsgebiet der peripheren Nerven und nicht im zentralen
Nervensystem entstünden. Den Gegenbeweis konnte Morton am 16. 10. 1846 liefern. Noch
1847 meinte C. Pfeufer immer noch, daß "der...in das Blut gelangte Aether ..seine lähmende
Wirksamkeit zuerst in den reizbaren, d.h. in den peripherischen Nerven, weit später in dem
torpideren Gehirne" zeige.
Daher waren zur Deutung der Vorgänge bei der Entstehung chronischer Schmerzzustände
(Hodgkiss 2000), aber auch bei der Inhalationsanästhesie und zur Erkennung der
Narkosestadien für eine gut steuerbare und sicherere Narkosetechnik jene Erkenntnisse der
Neuroanatome und Physiologen Grundvoraussetzung. Erst mußten die traditionellen,
althergebrachten Vorstellungen über Schmerzgenese des 18. Jahrhunderts überwunden und
experimentell widerlegt werden, bevor sich die Inhalationnarkose in der Praxis für
schmerzlose Operationen akzeptiert wurde (Hodgkiss 2000).
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