C. Nemes /Überlingen am Bodensee: Evolution der Anästhesie in
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C. Nemes /Überlingen am Bodensee: Evolution der Anästhesie in
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<strong>Nemes</strong>: <strong>Evolution</strong> <strong>der</strong> Anästhesie nach 1846<br />
(1920) -, 1859 immer noch ohne Betäubung aus. Er gab lediglich se<strong>in</strong>en Kranken e<strong>in</strong>e<br />
Bleikugel <strong>in</strong> den Mund, um daran ihren Schmerz zu verbeißen (v. Brunn 1940)!<br />
1847, im annus mirabilis lernte Europa allerd<strong>in</strong>gs nicht nur die Inhalationsanästhesie, son<strong>der</strong>n<br />
auch die Asepsis durch I. Ph. Semmelweis kennen. Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Des<strong>in</strong>fektion, <strong>der</strong> Asepsis<br />
mit Chlorwasser wurde von Oliver W. Holmes <strong>in</strong> Boston schon 1843 und von I. Ph.<br />
Semmelweis <strong>in</strong> Wien 1844 erkannt. Beson<strong>der</strong>e Umstände wollten es, dass diese Asepsis<br />
zunächst nicht angenommen und über 20 Jahre durch die Antisepsis mit Hilfe des<br />
Karbolsprays (J. Lister 1867) <strong>in</strong> <strong>der</strong> kl<strong>in</strong>ischen Praxis verdrängt wurde. Das e<strong>in</strong>zig sichere und<br />
atoxische Infektionsverhütungsverfahren <strong>der</strong> Asepsis besiegte die Listersche Methode erst, als<br />
Ernst v. Bergmann 1877 als Konsultantchirurg des russischen Heeres gegen die Türkei den<br />
Karbolspray ablehnte und 1886 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Berl<strong>in</strong>er Kl<strong>in</strong>ik zus<strong>am</strong>men mit C. Schimmelbusch<br />
die D<strong>am</strong>pfsterilisation e<strong>in</strong>führte. (Die Ergebnisse wurden allerd<strong>in</strong>gs erst im Jahre 1891<br />
publiziert.) Diese Keimtötungsmethode erwies sich für die Fortentwicklung <strong>der</strong> Chirurgie<br />
genauso bedeuts<strong>am</strong> wie die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> schmerzlosen Operationen <strong>in</strong> Inhalationsnarkose.<br />
Darum konnte Greene (4) feststellen, dass sich die Operateure erst gegen Ende des 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> die Körperhöhlen wagten. Ähnlich ist die <strong>Evolution</strong> <strong>der</strong> Inhalationsnarkose<br />
bis dah<strong>in</strong> <strong>in</strong> vielfacher H<strong>in</strong>sicht stecken geblieben und kaum über Konstruktionsfragen<br />
geeigneter Narkoseapparate, Applikationsformen und dem Suchen nach besserem<br />
Inhalationsanästhetikum , dieser blauen Blume <strong>der</strong> Narkotiseure, h<strong>in</strong>ausgekommen.<br />
Dies sollte sich erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> f<strong>in</strong> de siècle än<strong>der</strong>n, als man sich vermehrt den<br />
Dosierungsfragen (dosimetric movement) widmete, mit dem Bestreben nach exakterer<br />
Steuerung (Paul Bert, A. D. Waller, R. Dubois, Alcock und A. G. Levy) u.a. mit dem Apparat<br />
<strong>der</strong> chloroform balance von Fox aus New York und mit meßbarem Verbrauch des<br />
Inhalationsanästhetikums (F. A. Junker 1867, O. Kappeler 1880/90). Zwischen 1867 und<br />
1900 wurde auch die Wichtigkeit <strong>der</strong> freien Atemwege erkannt (F. Trendelenburg, W.<br />
Macewen, J. O , Dwyer und V. Eisenmenger). Nach 1884 begann auch e<strong>in</strong>e neue Ära <strong>der</strong><br />
regionalen Anästhesieverfahren (C. Koller 1884, J. L. Corn<strong>in</strong>g 1885, M. Oberst 1888, C. L.<br />
Schleich 1892/94, W. S. Halsted 1895 und A. Bier 1898), die recht bald, beson<strong>der</strong>s nach <strong>der</strong><br />
Synthese des Proca<strong>in</strong>s (A. E<strong>in</strong>horn 1899) e<strong>in</strong>e echte Alternative zur Allgeme<strong>in</strong>anästhesie<br />
werden sollte (Hüg<strong>in</strong>, 1989).<br />
Diesem Zeitraum, welcher ungefähr um 1880-1890 beg<strong>in</strong>nt, soll <strong>der</strong> nächste Abriß unserer<br />
historischen Betrachtung <strong>der</strong> deutschen Fazette <strong>der</strong> Anästhesiegeschichte gewidmet se<strong>in</strong>.<br />
Dieser zweiten Periode <strong>der</strong> deutschen Anästhesiegeschichte gebührt das Verdienst, <strong>der</strong><br />
Operationskunst zu e<strong>in</strong>em bis dah<strong>in</strong> ungeahnten Entwicklungsaufschwung zu verhelfen, ihr<br />
völlig neue Wege <strong>in</strong> die Körperhöhlen zu ermöglichen. O<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> große För<strong>der</strong>er unseres<br />
Berufes <strong>der</strong> Chirurg K. H. Bauer die Fortschritte <strong>der</strong> ersten hun<strong>der</strong>t Jahre Anästhesiepraxis<br />
würdigte: „Die Morgengabe <strong>der</strong> jungen Anästhesie an die alte Alma mater chirurgiae" sei „die<br />
Humanisierung je<strong>der</strong> Operation".<br />
Mit den Erf<strong>in</strong>dungen und Entdeckungen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Anästhesie und den Forschungen <strong>der</strong><br />
Physiologen im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t (s.o.) endete das Zeitalter <strong>der</strong> chirurgischen Kondottieri; die<br />
Chirurgie als Operationskunst und Handwerk begann zugleich ihre Grundlagen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Pathologie zu schaffen. Der enorme Aufschwung, den die deutsche Chirurgie um 1900<br />
genommen und den Weltruhm <strong>der</strong> deutschen Kl<strong>in</strong>iken begründet hatte, verdankt ihre Erfolge<br />
<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en Maße den neuen Verfahren <strong>der</strong> Lokal-, Regional- und neuroaxialen Betäu-<br />
bungsverfahren, <strong>der</strong>en wichtigste Impulse von Deutschland ausg<strong>in</strong>gen, sowie <strong>der</strong> Verbreitung<br />
<strong>der</strong> Endotrachealtechnik (Fr. Trendelenburg 1869, F. Kuhn 1900/1911), Unterdruckk<strong>am</strong>mer<br />
mit Druckdifferenzverfahren (F. Sauerbruch 1904) und Überdrucknarkose mit<br />
Narkoseapparaten (G. W. Petersen, F. Kuhn und L. Brauer 1904, sowie M. Tiegel 1908/10),<br />
<strong>der</strong>en Grundlagen und Konstruktion ebenfalls <strong>in</strong> Deutschland entwickelt worden s<strong>in</strong>d<br />
(Z<strong>in</strong>dler 1987, Goerig 1997).<br />
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