Georg Simmel
Georg Simmel
Georg Simmel
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Vorlesung „Philosophische Anthropologie“: WS 2009/10 – PD Dr. Dirk Solies<br />
Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht!<br />
<strong>Georg</strong> <strong>Simmel</strong> – Biographie<br />
(Quelle: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/<strong>Simmel</strong><strong>Georg</strong>/index.html - gekürzt)<br />
1858: <strong>Georg</strong> <strong>Simmel</strong> wird in Berlin als jüngstes von sieben Kindern<br />
des Fabrikanten Edward <strong>Simmel</strong> und dessen Frau Flora (geb.<br />
Bodenstein) geboren. Edward <strong>Simmel</strong> stammt aus einer jüdischen<br />
Familie und ist zum Katholizismus konvertiert. Flora Bodensteins<br />
Familie ist vom Judentum zum Protestantismus übergetreten. <strong>Georg</strong><br />
<strong>Simmel</strong> wird evangelisch getauft.<br />
<strong>Simmel</strong>s erste Promotionsschrift "Psychologisch-ethnologische<br />
Studien über die Anfänge der Musik" abgelehnt. Stattdessen mit<br />
"Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten<br />
über das Wesen der Materie" promoviert<br />
1885<br />
Habilitation, Privatdozent in Berlin<br />
1894: "Das Problem der Soziologie": Programm der Soziologie als selbständiger<br />
Wissenschaft. 1898: Der Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats scheitert<br />
(Antisemitismus, Außenseiterposition)<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
1
1900: Der zweite Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats angenommen.<br />
"Philosophie des Geldes".<br />
1903 "Die Großstädte und das Geistesleben"<br />
1908: Die Philosophische Fakultät der Heidelberger Universität will eine vakante Professur<br />
mit <strong>Simmel</strong> besetzen. Auch Max Weber setzt sich für ihn ein. Die Regierung in Karlsruhe<br />
lehnt jedoch ab, nachdem der im Alldeutschen Verband engagierte Berliner Historiker<br />
Dietrich Schäfer (1845-1929) in einem Gutachten <strong>Simmel</strong> als "Israelit durch und durch"<br />
verunglimpft und der Soziologie den Rang als Wissenschaft bestreitet.<br />
"Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung": Mikrosoziologie<br />
1911: Die Fakultät für Staatswissenschaften der Freiburger Universität verleiht <strong>Simmel</strong> die<br />
Ehrendoktorwürde.<br />
1914: <strong>Simmel</strong> erhält einen Lehrstuhl an der Straßburger Universität (heute: Strasbourg,<br />
Frankreich).<br />
Im I. WK nähert er sich nationalistischen Positionen an und verleiht einem weitverbreiteten<br />
Unbehagen an der Kultur Ausdruck. <strong>Simmel</strong> hofft, der Krieg werde "die Anbetung des Geldes<br />
und des Geldwertes der Dinge" überwinden und die "Einheit und Ganzheit" des Volkes<br />
festigen.<br />
1918: 26. September: <strong>Georg</strong> <strong>Simmel</strong> stirbt in Straßburg.<br />
„Lebensanschauung“<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
2
<strong>Simmel</strong>s Werk: Grobperiodisierung<br />
(1) 1879 1 bis 1900 Geschichts- und Moralwissenschaft:<br />
a. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892)<br />
b. Einleitung in die Moralwissenschaft (1892-93).<br />
c. Aber: 1905 und 1907 völlig überarbeitete Neuaufl. der Geschichtsphilosophie,<br />
d. Fragen der Moralwissenschaft auch nach 1900 relevant. 2<br />
(2) 1894 – 1908 soziologischer Schwerpunkt<br />
a. Das Problem der Soziologie, GSG 5<br />
b. Soziologie, GSG 11<br />
c. Auch nach 1908 noch Aufsätze mit explizit mikrosoziologischer Themenstellung: Die<br />
Soziologie der Mahlzeit und die Soziologie der Geselligkeit (beide 1910) und Über<br />
Takt; Soziologie der Geselligkeit (1912, alle GSG 12).<br />
d. Soziologische Fragestellung der Frühzeit sukzessive durch das Projekt einer<br />
Philosophie der Kultur auf der Basis des Lebensbegriffes abgelöst.<br />
(3) Lebensbegriff nach 1908, z. T. auch in ästhetischen Einzelanalysen<br />
a. Über den Schauspieler; Aus einer ‚Philosophie der Kunst’ (1909) und Michelangelo;<br />
Ein Kapitel zu einer Metaphysik der Kultur (1910),<br />
1 Bereits 1879 erscheinen erste Rezensionen von <strong>Simmel</strong> (in: GSG 1).<br />
2 Vgl. Ü b e r G o e t h e s u n d K a n t s m o r a l i s c h e W e l t a n s c h a u u n g (1908), in: GSG 8, sowie N i e t z s c h e s M o r a l (1911), in: GSG 12.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
3
. Rembrandt; ein kunstphilosophischer Versuch (1916): innerer Zusammenhang von<br />
Ästhetik und Lebensphilosophie. ‚Leben’ als idealer Fluchtpunkt, in dem alle die<br />
kulturellen Gegensätze und Antinomien in ihrer Tragik vermittelt erscheinen.<br />
c. Lebensanschauung<br />
► Frage nach <strong>Simmel</strong> als Lebensphilosophie: Notwendigkeit, das simmelsche Werk „von<br />
hinten“ zu lesen<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
4
VB. Zur methodischen Rolle der Ästhetik<br />
Das Wesen der ästhetischen Betrachtung liegt für uns darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem<br />
Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge<br />
hervortreten [...] In das Gleichgiltigste [sic], das uns in seiner isolirten Erscheinung banal oder<br />
abstoßend ist, brauchen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch Dies als Strahl<br />
und Wort der letzten Einheit der Dinge zu empfinden, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt. [...]<br />
Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den<br />
Schönheitswerten der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer<br />
Pantheismus. 3<br />
� Nicht welt- und realitätsflüchtiger Ästhetizismus, 4 sondern philosophische Prinzipialisierung:<br />
� <strong>Simmel</strong>s ästhetische Detailanalysen 5 als Lebensweltanalysen:<br />
� moderne Mensch steht im Zentrum<br />
� philosophische, genauer gesagt metaphysische Theorie der Kultur in der Krise<br />
� <strong>Simmel</strong>s Anthropologie sieht den Menschen innherhalb dieser Kultur, in einem ambivalentkritischen<br />
Kulturverhältnis: Chance und Risiko<br />
3 GSG 5, 198f.<br />
4 Z. B. Hübner-Funk (1982) und Lieber (1974). Zur kritischen Diskussion dieses Ästhetizismus-Vorwurfes vgl. Solies (1998: 186-192).<br />
5 Vgl. seine Aufsätze D e r H e n k e l ; e i n ä s t h e t i s c h e r V e r s u c h (1905, GSG 7) sowie B r ü c k e u n d T ü r (1909), GSG 12.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
5
Grenzbestimmtheit des Lebens:<br />
Von dem Sonnenspektrum ist uns, was jenseits des Rot und des Violett liegt, optisch<br />
überhaupt nicht zugänglich usw. Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet<br />
eben aus der unendlichen Fülle des Wirklichen und seinen unendlichen<br />
Auffassungsmöglichkeiten Bezirke heraus, wahrscheinlich so, daß die damit umgrenzte<br />
Größe als Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen ausreicht. 6<br />
� Wahrnehmungsfenster menschlicher Existenz durch pragmatisch-existentielle<br />
Verweisungszusammenhänge charakterisiert<br />
� Entgrenzung: Durch Mikroskop und Teleskop Überwindung großer Distanzen zwischen<br />
Mensch und Welt: „aber sie [die Distanzen, D. S.] sind doch für das Bewußtsein erst in<br />
dem Augenblick entstanden, in dem es sie auch überwand“. 7<br />
6 L e b e n s a n s c h a u u n g . V i e r m e t a p h y s i s c h e K a p i t e l (GSG 16, 4).<br />
7 GSG 6, 662.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
6
Begrenztheit (naturwissenschaftlich) als Grundbestimmung des Lebendigen<br />
Unser konkretes, unmittelbares Leben setzt einen Bezirk, der zwischen einer oberen und<br />
einer unteren Grenze liegt; das Bewußtsein aber, die Rechenschaft hierüber, hängt<br />
daran, daß das Leben, zu einem abstrakten, weitergreifenden werdend, die Grenze<br />
hinausrückt oder überfliegt und sie damit als Grenze konstatiert. 8<br />
� „Grenzscharakter unserer Existenz“: 9<br />
� Wahrnehmungsfenster<br />
� Schachspieler-Beispiel<br />
� Grenze wird durch Erkenntnis festgestellt, d.h. konstatiert und transzendiert<br />
8 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 214f.<br />
9 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 213.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
7
Leben als<br />
� „Mehr-Leben“ und zugleich<br />
� „Mehr-als-Leben“<br />
Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe ein fortwährendes Erzeugen ist, so daß,<br />
mit komprimiertem Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben ist –, so erzeugt es auf der Stufe<br />
des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich<br />
Bedeutsame und Gültige. 10<br />
� Umschlag von der reinen Dynamik (Mehr-Leben) zur Transzendenz (Mehr-als-Leben)<br />
� „Darstellungszwang“ des Lebens:<br />
� L. genügt sich nicht in der reinen Dynamik des Mehr, es muss sich selbst auf die Weise<br />
der Transzendenz darstellen<br />
� Keine akzidentelle, sondern substantielle Bestimmung geistigen Lebens<br />
10 L e b e n s a n s c h a u u n g , GSG 16, 295.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
8
<strong>Simmel</strong>s Baumbeispiel: 11<br />
Baum Gartenobstbaum: Kultivierung<br />
Baum Segelmast: Zweckarbeit, Kultivierung<br />
11 <strong>Simmel</strong>, BTK 197<br />
� Kultur als Kultivierungsvollzug<br />
� „Entwicklung zu einer Erscheinung hin [...], die in den Keimkräften einer<br />
Persönlichkeit angelegt [...] ist.“<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
9
Fragmentarität der (modernen) Existenz:<br />
Wir wandeln in uns selbst als die einzige Wirklichkeit in einem Schattenreiche<br />
unerlöster Möglichkeiten unser selbst, die nur nicht zu Worte gekommen, aber<br />
keineswegs nichts sind. 12<br />
� Kultur realisiert Möglichkeiten<br />
� Notwendigkeit dieser Realisierung: Selbstausdruck der Idee<br />
� Ambivalenz: Objektivierung – Entfremdung:<br />
Sobald unser Werk dasteht, hat es nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben,<br />
die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält in diesem Selbstsein - wie von Gnaden<br />
des objektiven Geistes - Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an<br />
denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden. 13<br />
� Entfremdung bereits im Kulturprozess angelegt: „Tragödie“ der Kultur<br />
� objektiver Geist entfremdet<br />
12 Leb 117<br />
13 BTK 213<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
10
Fragmentarität des Kulturprozesses:<br />
Kein einziger, in die Formulierbarkeit des Bewußtseins aufgestiegener Inhalt nimmt den<br />
seelischen Prozeß ganz in sich auf; ein jeder läßt einen Rest Leben hinter sich, der<br />
gleichsam an die von jenem abgeschlossene Tür klopft. 14<br />
� Unvollständigkeit der modernen Existenz<br />
� als Motor der Kultur!<br />
Mode als Hunger nach Gegenwart:<br />
Das Wesen der Mode besteht darin, daß immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die<br />
Gesamtheit aber sich erst auf dem Wege zu ihr befindet. 15<br />
► Typen:<br />
o Modenarr<br />
o Avantgardist<br />
o Modeverweigerer<br />
o Sprachmoden<br />
Der Wechsel der Moden zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an; je<br />
nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln [...] 16<br />
14 Leb 116<br />
15 Mode 16<br />
16 Mode 15f.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
11
Intellekt und Geld – eine Strukturanalogie<br />
Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des<br />
Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der<br />
auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist ersichtlich auch<br />
die Charakterlosigkeit des Geldes. 17<br />
17 PHG 595; vgl. auch PHG 273 - Diese Charakterlosigkeit läßt sich wertungsfreier als Indifferenz ausdrücken: vgl. dazu Müller, L. (1988: 22).<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
12
Mode und moderne „Nervosität“:<br />
Der Wechsel der Moden zeigt das Maß der Abstumpfbarkeit der Nervenreize an; je<br />
nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln, weil das<br />
Bedürfnis nach Unterschiedsreizen, einer der wesentlichsten Träger aller Mode, mit<br />
der Erschlaffung der Nervenenergien Hand in Hand geht. 18<br />
Psychologische Erklärung der Mode, metaphysisch gewendet und vertieft:<br />
„Nervosität“ als kulturphilosophische Diagnose<br />
Mode aus Aufmerksamkeitsdefizit erklärt<br />
18 Mode 15f.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
13
Siglen der Moderne als Kompensationsformen:<br />
Ich glaube, daß diese heimliche Unruhe, dies ratlose Drängen unter der Schwelle des<br />
Bewußtseins [...] nicht nur der äußeren Hast und Aufgeregtheit des modernen Lebens<br />
entstammt, sondern daß umgekehrt diese vielfach der Ausdruck, die Erscheinung, die<br />
Entladung jenes innersten Zustandes ist. Der Mangel an Definitivem im Zentrum der<br />
Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine<br />
momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die<br />
wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als<br />
Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne<br />
Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der<br />
Beziehungen offenbart. 19<br />
19 PHG 675<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
14
Wahrnehmung und Kompensation:<br />
Es ist von einer noch gar nicht genug beachteten Bedeutung für die soziale Kultur, daß<br />
mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe<br />
aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt. [...] Der moderne<br />
Mensch wird von Unzähligem chokiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich<br />
unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere, Empfindungsweisen ohne irgend<br />
eine Reaktion dieser Art hinnehmen. 20<br />
20 SozSin 290<br />
� Neurasthenie und Schockdiskurs 21<br />
� Wiederaufnahme bei Benjamin in Anschl. an Baudelaire<br />
� Suche nach Schock als Signum der Moderne<br />
21 Damit greift er einen Begriff des amerikanischen Neurologen <strong>Georg</strong>e Miller Beard auf . Durch Beards Aufsatz von 1869, „Neurasthenia or nervous exhaustion“, wurde der Begriff<br />
erstmals in die Diskussion eingeführt 21 . Bekannt wurde dieser aber erst durch die Monographie „A practical treatise on nervous exhaustion (neurasthenia)“, die 1880<br />
herausgegeben wurde und ab 1881 in deutscher Übersetzung vorlag.<br />
Hieran schloß sich eine lebhafte Diskussion über Symptome und Ursachen dieses neuen Krankheitsbildes an, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Wesentlich für die<br />
Verwendung des Begriffs bei <strong>Simmel</strong> ist hier nur, daß im Verlauf der psychiatrischen Diskussion (Binswanger, Krafft-Ebing) der Begriff Neurasthenie im Verhältnis zur Nervosität so<br />
gefaßt wurde, daß man im folgenden unter konstitutioneller Nervosität die auf krankhafter nervöser Anlage beruhenden Krankheiten unterschied und unter Neurasthenie im<br />
eigentlichen Sinne die „erworbenen, auf (chronischer) Erschöpfung beruhenden Formen gefaßt werden“ 21 .<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
15
Die modernen Ambivalenzen der Distanzierung:<br />
Die Verhältnisse des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im<br />
ganzen so, daß er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu<br />
nähern. Die wachsende Lockerung des Familienzusammenhanges, das Gefühl<br />
unerträglicher Enge im Gebundensein an den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung<br />
oft ebenso tragisch verläuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität,<br />
die sich gerade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt - diese ganze<br />
Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Beziehungen zu dem Fernsten,<br />
mit dem Interessiert-sein für weit Entlegenes, mit der Gedankengemeinschaft mit<br />
Kreisen, deren Verbindung alle räumliche Nähe ersetzt. Das Gesamtbild aus alledem<br />
bedeutet doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen, ein<br />
Distanzverringern in den mehr äußerlichen. 22<br />
� Entfremdung und Annäherung<br />
� Nähe unerträglich<br />
� Unerfülltheit der modernen Existenz<br />
22 PHG 663<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
16
Großstadt und „Neurasthenie“:<br />
Im allgemeinen wird mit steigender Kultur die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre<br />
Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig; aber<br />
auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir um so sensibler. 23<br />
► Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, Lust- und Unlustbetonung steigt<br />
23 SozSin 290f. [Hervorhebung hinzugefügt]<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
17
Blasiertheit und der moderne Hunger nach Gegenwart<br />
Wie ein maßloses Genußleben blasiert macht, weil es die Nerven so lange zu ihren<br />
stärksten Reaktionen aufregt, bis sie schließlich überhaupt keine Reaktion mehr hergeben<br />
- so zwingen ihnen auch harmlosere Eindrücke durch die Raschheit und Gegensätzlichkeit<br />
ihres Wechsels so gewaltsame Antworten ab, reißen sie so brutal hin und her, daß sie ihre<br />
letzte Kraftreserve hergeben und, in dem gleichen Milieu verbleibend, keine Zeit haben,<br />
eine neue zu sammeln. 24<br />
► Zyniker: Lust an der Abwertung aller positiven Werte<br />
► Blasierter:<br />
o Mangel an „Lebensreizen“<br />
o Verlust von Erlebnisfähigkeit<br />
24 GG 232<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
18
Das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen<br />
Verkehrs wären ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich. Daß man<br />
sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, [...] würde<br />
den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht<br />
jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich<br />
brächte. 25<br />
� Objektivierung als Distanzierung:<br />
� Selbstschutz des modernen Individuums<br />
� Großstadterleben als „Nahfremdheit“: …<br />
25 PHG 665<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
19
Großstadterleben als „Nahfremdheit“:<br />
Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen<br />
enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die<br />
Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein<br />
aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive<br />
Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns<br />
nicht eigentlich fremd - dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht<br />
kommenden Sinne des Wortes -, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie<br />
stehen jenseits von Fern und Nah. 26<br />
Ambivalenzen der Distanzierung<br />
„Exkurs über den Fremden“ (Soziologie)<br />
26 Soz 765<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
20
Porträt (bes. Rembrandts):<br />
Darstellung der „transphänomenale[n] Wesensintuition“ 27 der Erscheinung des Menschen<br />
► Der Andere als „Totalexistenz“:<br />
► Das Du zugleich näher und ferner als „Bäume und Wolken“: „Kurz, das Du ist<br />
wahrscheinlich eine ganz primäre, nicht weiter zurückführbare, nur unmittelbar zu<br />
erlebende Kategorie“. 28<br />
► Phänomen des Schauspielers<br />
„Wie es das Wesen des Lebens ist, in jedem Augenblick ganz da zu sein, [...] so ist es das<br />
Wesen der Rembrandtschen Ausdrucksbewegung, das ganze Nacheinander ihrer Momente<br />
in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen zu lassen [...].“ 29<br />
27 Rem 35<br />
28 Rem 26<br />
29 Rem 3<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
21
„Zwei Erfassungen des Lebens“<br />
► Psychologisch:<br />
o Kenntnis aus Begriffen, die ich bereits mitbringe<br />
o Typik<br />
► Der Andere als Individualität:<br />
Von diesem unmittelbaren Wissen ist das erste Stadium schon in dem Augenblick<br />
gewonnen, in dem - kurz ausgedrückt - der Mensch ins Zimmer tritt. Wir wissen in diesem<br />
ersten Augenblick nicht dies und das, keine jener angedeuteten Kategorien von ihm, aber<br />
doch unendlich viel mehr, sein Unverwechselbares. Die körperliche Unverwechselbarkeit, an<br />
diese erste Gegenwart geheftet, ist davon ein Symbol und vielleicht mehr als ein Symbol. 30<br />
30 Rem 84 - aus demselben Grund verwirft <strong>Simmel</strong> auch den Psychologismus als hermeneutische Methode der Textinterpretation, wie er in der<br />
Einleitung seines „Kant“-Buches ausführt.<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
22
► <strong>Simmel</strong>s ästhetische Kritik an der kategorialen Trennung Leib-Seele:<br />
Es ist wohl eine durchgehende Erfahrung, daß je tiefer wir die Individualität eines Menschen<br />
erfassen, sein Äußeres und Inneres um so unscheidbarer für uns zusammengehen, um so<br />
weniger auseinandergedacht werden können. 31<br />
► Das Gesicht als Ort der Erkenntnis<br />
► Ästhetische Bedeutung des Gesichts:<br />
Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, ist sozusagen ganz theoretischen Wesens, es<br />
handelt nicht, wie die Hand, wie der Fuß, wie der ganze Körper; es trägt nicht das innerliche<br />
oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzählt nur von ihm. 32<br />
31 Rem 39<br />
32 Soz 485<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
23
Das Gefüge des Gesichts macht solche Zentrifugalität, d. h. Entgeistigung, von vornherein<br />
fast unmöglich. Wo sie einigermaßen stattfindet, beim Aufsperren des Mundes und dem<br />
Aufreißen der Augen, ist sie nicht nur ganz besonders unästhetisch, sondern gerade diese<br />
beiden Bewegungen sind, wie nun begreiflich ist, der Ausdruck des „Entgeistertseins“, der<br />
seelischen Lähmung, des momentanen Verlustes der geistigen Herrschaft über uns selbst. 33<br />
► Die Erfassung des Anderen als Ausdruck einer Lebensgeschichte – diesem Ausdruck<br />
genügt das Punktuelle des Moments:<br />
Hier aber ist es, als wenn ein Mensch einen tiefsten Affekt, der ihn ganz durchschüttert,<br />
aussprechen will: er braucht gar nicht den ganzen Satz zu sagen, der den Inhalt seiner<br />
Bewegtheit logisch ausbreitet, da doch schon am ersten Worte der Stimmklang alles<br />
offenbart. 34<br />
33 ÄBedGes 155<br />
34 Rem 4<br />
PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, solies@uni-mainz.de<br />
24