16Jean Sibelius: 2. Symphonie D-DurHohe Sinnlichkeit: melodische Fülle, glänzenderOrchesterklang, epische Ausbreitung, schwingendeRhythmik – deutsche Musik kritiker tunsich schwer mit dem Verständnis für diese herrlicheKraft der Musik. Tschaikowskys Musik„stänke“, behauptete seinerzeit ein bekannterdeutscher Musikkritiker, und Puccinis Musik würdeman gern dem ungeistigen Unterhaltungsmusik-Sektorzuordnen. Sibelius’ Symphonik habeso viele Löcher wie Finnland Seen, kalauerteAdorno albern, aber ansteckend für eine ganzeGeneration von Musikkritikern. Immerhin: Sibeliuserobert mit seinen wirkungssicheren Symphonienund Tondichtungen unaufhaltsam unserKonzertrepertoire, ist freilich von der deutschenMusikwissenschaft kaum entdeckt und darf inFeuilletons selbst überregionaler Zeitungen nochimmer verrissen werden. In Deutschland kanneiner Musik, die nicht „gelehrt“ ist, aber unmittelbardie Sinne gefangen nimmt, die Bedeutsamkeitbestritten werden.„Musik ohne jedwede literarischeGrundlage“Der 2. Symphonie, alsbald nach „Finlandia“ entstanden,wurden in Finnland sofort ebenfallspatriotische Programme unterlegt; auch sie konntemit ihrem hymnischen Schlusssatz als der Wegaus der Unterdrückung in die Selbstständigkeitgedeutet werden. Sibelius dementierte stets,wenn auch vergeblich, irgendwelche politischenMotive: Dunkle Stimmungen und gemeinschaftsbildendeHymnik sind Grundbestandteile allerseiner Symphonien. Zudem sind die Symphoniennach Sibelius’ Worten „Musik, die als musi kalischerAusdruck ohne jedwede literarische Grundlageerdacht und ausgearbeitet worden ist. Ichbin kein literarischer Musiker. Für mich fängtdie Musik dort an, wo das Wort aufhört. EineSymphonie soll zuerst und zuletzt Musik sein.Natürlich habe ich es erlebt, dass im Zusammenhangmit einem musikalischen Satz, den ichschrieb, sich mir innerlich ganz unfreiwillig einBild aufdrängte, aber das Samenkorn und dieBefruchtung meiner Symphonien lagen im Rein-Musikalischen.“ Und er hebt die Symphonienvon seinen Symphonischen Dichtungen ab: diese„sind Ein gebungen aus unserer nationalenDichtung, aber ich erhebe keinen Anspruch darauf,dass sie als Symphonien zu betrachtenseien“.Epische Breite von landschaftlicherDimensionSibelius bildet in seiner 2. Symphonie seinenpersönlichen Kompositionsstil aus – eine gelasseneEpik mit Abenteuern, wie sie die altenkarelischen Sänger vorzutragen pflegten – , denman mit einem Begriff Busonis als „landschaftlich“bezeichnen könnte. Zwar bleibt hier diesymphonische Architektur russischer Prägung –der Zyklus der vier üblichen Sätze, der sonatenförmigeKopfsatz, der langsame Satz mit Beschleunigungsabschnitten,das Scherzo mit Trio,das krönende Finale – noch stehen, doch breitetsich die Musik gleichsam subversiv, die Formenunterlaufend, aus. Das führt in späteren Symphonienzum Überspielen der Satzgrenzen bishin zu völliger Verschmelzung in der einsätzigen7. Symphonie. Die traditionelle Architektur derSymphonie verliert den Boden unter den Füßen.In der 2. Sympho nie geht lediglich der „Scherzo“-Satz in den Schlusssatz über.
Albert Gustav Edelfelt: Jean Sibelius (1904)17