32 D I E S T R E C K E D E S A D L E R S mikrokosmos Fürther strasse Was einst als Pappelallee begann, die man, das Auge schweifend über Wiesen, Fel<strong>der</strong> und Weiler, hoch zu Ross o<strong>der</strong> im offenen Landauer passieren konnte, mauserte sich in gut 200 Jahren zur stark frequentierten, pulsierenden Verkehrsa<strong>der</strong>. Bei<strong>der</strong>seits <strong>der</strong> breiten Großstadtstraße entstand ein nonkonformistisches Neben-, Durch- und Miteinan<strong>der</strong>, wie es kein zweites in Nürnberg gibt. Ein „Mikrokosmos“ <strong>der</strong>, scheinbar autark, ein eigenes Leben innerhalb des großen Ganzen führt. So gut wie alles existentiell Wesentliche entwickelte sich hier mit einer, rückblickend betrachtet, erstaunlichen Vielfalt und Selbstverständlichkeit. schon uM diE jahRhundERtwEndE war die Bebauung <strong>der</strong> Fürther Straße mit weiteren Wohnhäusern und Fabrikanlagen bis jenseits <strong>der</strong> Kreuzung Maximilianstraße vorangekommen. Kaum einer von denen, die hier tagtäglich die Werkstore passierten, wohnte in einer <strong>der</strong> vergleichsweise teuren, neuen Mietwohnungen. Die Arbeiterschaft, darunter viele, die aus ländlichen Gegenden zugezogen waren in <strong>der</strong> Hoffnung auf eine bessere Zukunft in <strong>der</strong> aufstrebenden Stadt, wohnte in bescheidenen bis erbärmlichen Verhältnissen in den angrenzenden Vierteln. Das Alltagsleben in <strong>der</strong> Fürther Straße, „ihrer“ Straße, bestimmten sie mit, neben und mit den direkten Anwohnern. Allein das breit gefächerte Angebot an Vereinslokalen, Kneipen, Cafés, Wirtshäusern und Restaurants lässt den Schluss zu, dass hier ein vielschichtiges Publikum unterwegs war. So etwa auch die Soldaten aus <strong>der</strong> Bataillonskaserne, die in Scharen jeden Abend ihre Stammlokale bevölkerten. Der idyllische Rosenau-Park am einen Ende, wie auch das an <strong>der</strong> Eisenbahn gelegene Ausflugslokal „Feldschlösschen“ am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Fürther Straße belegen, dass für jeden Geschmack gesorgt war. Und man flanierte auf den breiten Trottoirs, besah sich die Auslagen <strong>der</strong> vielen Geschäfte und verglich die Angebote. Alles, was man zum täglichen Leben brauchte, war in Hülle und Fülle vorhanden. Anwälte, Ärzte und Apotheker gingen hier ihrer Arbeit ebenso nach wie Schnei<strong>der</strong>innen, Schreiner o<strong>der</strong> Fuhrleute. Nur einen Steinwurf vom Plärrer entfernt, erwartete das Volksbad seine Badegäste, Lichtspielhäuser wurden eröffnet. Schulen und Kirchen wurden gebaut, Gemeinden entwickelten sich. Der Bau des Justizpalastes schloss nicht nur eine große Baulücke, er hob das Blick über den alten Nürnberger Stadtteil St. Johannis hinweg in südwestliche Richtung, aufgenommen in den 1880er-Jahren von Ferdinand Schmidt. Deutlich in <strong>der</strong> Ferne zu erkennen, liegt die von Pappeln gesäumte Fürther Straße, die nach dem Zellengefängnis (am linken Bildrand) noch gänzlich unbebaut war. Ansehen <strong>der</strong> gesamten westlichen Vorstadt. Schon lange versorgte Nürnbergs erstes Gaswerk in Plärrernähe auch die Fürther Straße mit Licht, nun kam das erste Klärwerk an <strong>der</strong> Maximilianstraße dazu, die Kanalisation wurde ausgebaut. Weitere Fabriken siedelten sich an und schließlich zog auch das Volksfest an die Fürther Straße und blieb, unterbrochen nur durch die Kriegsjahre, fester Bestandteil <strong>der</strong>selben. Erst Anfang <strong>der</strong> 1950er-Jahre, als Gustav Schickedanz das Gelände kaufte, war es damit vorbei. Dafür entstand an gleicher Stelle ein gigantisches Unternehmen und sorgte für neues Leben. diE füRthER stRassE hat im Lauf ihrer über 200-jährigen <strong>Geschichte</strong> vieles erlebt, wachsen und vergehen gesehen: den Aufbruch ins industrielle Zeitalter, den Wandel zur Industriemetropole, Aufschwung und Nie<strong>der</strong>gang bedeuten<strong>der</strong> Unternehmen. Die massiven Bombardierungen Nürnbergs im Zweiten Weltkrieg hinterließen auch hier ihre Spuren. 20 Prozent <strong>der</strong> Gebäude waren zerstört, nur 10 Prozent blieben heil, <strong>der</strong> Rest war zum Teil erheblich beschädigt. Knapp 40 Prozent davon wurde wie<strong>der</strong> aufgebaut. Nach und nach schlossen sich die kriegsbedingten Lücken und verän<strong>der</strong>ten das Straßenbild weiter. Ein nicht immer gelungenes Nebeneinan<strong>der</strong> von Alt und Neu entstand. stRuktuRwandEl, MigRation und MultikultuR, seit den 1970er-Jahren aktuell und längst prägen<strong>der</strong> Bestandteil <strong>der</strong> Fürther Straße und ihrer nächsten Umgebung, haben ein lebendiges, spannungs- wie facettenreiches Bild geschaffen. Ein Boulevard ist bekanntlich nicht aus ihr geworden, obwohl sie, wie auf historischen Fotografien <strong>der</strong> 1920er-Jahre erkennbar, durchaus das Zeug dazu gehabt hätte. Vielmehr ist sie nun ein multikulturell-urbanes, temporeiches „Fließband“, das auf den ersten, schnellen Blick nicht zum Verweilen einlädt. Ein zweiter Blick aber genügt und man entdeckt ihr trotz <strong>der</strong> vielen alten und jüngeren „Narben“ ganz unverwechselbares, interessantes Gesicht. Vor kurzem erst ist eine neue Wunde, eine, die noch lange Zeit nicht heilen wird, hinzugekommen – „Quelle“: das Ende eines Imperiums und einer <strong>der</strong> unternehmerischen Erfolgsstorys in Deutschland schlechthin. R. f.
Blick in das nördliche Teilstück <strong>der</strong> Fürther Straße, aufgenommen 1929. Viele kleine Geschäfte, Passanten und Fahrradfahrer bestimmen das lebhafte Straßenbild. Historische Bildpostkarten <strong>der</strong> evangelischen Dreieinigkeitskirche und <strong>der</strong> katholischen Antoniuskirche, beide unweit <strong>der</strong> Fürther Straße gelegen. Die Fürther Straße gegen Osten, in Richtung Plärrer. Auch hier, bei<strong>der</strong>seits <strong>der</strong> Straßenbahn, ein ähnlich belebtes Bild. Ampeln brauchte man noch nicht, heutzutage − beson<strong>der</strong>s an <strong>der</strong> Fürther Straße − undenkbar! Ein beliebtes Postkartenmotiv war dieser Blick auf die Strecke <strong>der</strong> Ludwigsbahn, die benachbarte Straßenbahn und die repräsentativen Bauten entlang <strong>der</strong> Fürther Straße, Höhe Veit-Stoß-Anlage, um 1910. D I E S T R E C K E D E S A D L E R S Der Gasthof „Alpenhütte“, heute „Kartoffel“, das älteste noch vorhandene Gebäude an <strong>der</strong> Fürther Straße, aufgenommen in den 1940er-Jahren (links) und 2009 (rechts). Die <strong>Haus</strong>nummern 35–41, aufgenommen 1912 und 2009. 33