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Untitled - Carl Bechstein Gymnasium

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Impressum:<br />

Beiträge zur Stadtgeschichte<br />

Gerd Collin<br />

Julius Rütgers und Erkner<br />

[Mit einer Einführung von Frank Retzlaff]<br />

Herausgeber: Heimatverein Erkner e.V. 2004<br />

Text: Dr. Gerd Collin<br />

Frank Retzlaff<br />

Redaktion: Dr. Bernd Rühle<br />

Fotos: Dr. G. Collin: 4,6,9,11,12,17<br />

Heimatkundliches Archiv Erkner: 1,2,3,5,7,8,10,13,14,Titelbild<br />

Red Eagle Design: 15,16<br />

Layout, Satz: GrafikDesign Christiane Rössel<br />

Druck: Tastomat Druck GmbH, 15345 Eggersdorf


Vorwort<br />

Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution begannen sich auch im<br />

Berliner Umland die natürlichen Gegebenheiten als günstige<br />

Standortfaktoren für die Ansiedlung von Handwerks- bzw.<br />

Industrieunternehmen auszuwirken. Das wird 1860 bei der Gründung der<br />

Teeraffinerie durch J.Rütgers in Erkner deutlich. Das umfangreiche<br />

Gewässernetz, die Ost-West-Straßenverbindung und nicht zuletzt die 1842<br />

eröffnete Eisenbahnlinie bildeten hervorragende Voraussetzung für die<br />

Anlage zukunftsträchtiger Unternehmen.<br />

Das vorliegende Heft 6 der "Erkneraner Hefte" erscheint zu einem Zeitpunkt,<br />

an dem der das Kapitel "Industriegeschichte Erkners" verstärkt ins Blickfeld<br />

aller an der Orts- geschichte Interessierten zu rücken. Und so mag die Arbeit<br />

"Rütgers in Erkner", in der Stadthalle gehaltenen Vortrag nahezu ungekürzt<br />

wiedergibt, ein willkommener Beitrag zur Aufarbeitung der industriellen<br />

Vergangenheit Erkners sein, wobei das einleitende Kapitel "Erkner um 1860"<br />

von Frank Retzlaff ein Bild des damals noch kleinen und unbekannten Ortes<br />

zum Zeitpunkt der Werksgründung zeichnet.<br />

Wie immer danken wir den Sponsoren sowie dem Landkreis Oder-Spree für<br />

ihre Unterstützung.<br />

Der Herausgeber


Erkner um 1860<br />

Vielleicht war es eine dieser herrlichen ersten milden Frühlingstage, als<br />

Ende der 1850er Jahre ein noch junger Mann Ende der 20er von imposanter<br />

Erscheinen an der Bahnstation Erkner den Zug der Niederschlesisch-<br />

Märkischen Eisenbahn verlässt. Die genauen Beweggründe zu diesem<br />

Schritt des Julius Rütgers werden wohl sein Geheimnis bleiben. Aber mit<br />

etwas Fantasie kann man sich vorstellen, was geschah.<br />

Rütgers nutzte sicher oft die Eisenbahn zwischen Berlin und Breslau-zwei<br />

Zentren seiner Geschäfte. Zu dieser Zeit (1857) wurde hier seit Monaten an<br />

einer neuen Brücke und am zweiten Gleis gebaut, so dass ihn eventuell<br />

dadurch ein ungeplanter Aufenthalt mit Erkner bekannt machte.<br />

Beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes sah er rechts zu ebener Erde einen<br />

Bahnübergang, der in den Ort führte. Er blieb aber hier und ging hinunter<br />

zum Ufer des Flakenfließes. Dieses wurde von einer nagelneuen eisernen<br />

Eisenbahnbrücke von ca. 25 m Länge überspannt, die die alte hölzerne<br />

80m-Brücke abgelöst hatte. Gegenüber sah er die Häuser der Reihe (später:<br />

Flakenstr.), meist gedrungene kleine Häuschen der Schiffer, oft noch<br />

strohgedeckt. Auf dem Wasser war reger Schiffsverkehr, im steten Wechsel<br />

passierten sie die Brücke. An dieser stand auf jeder Seite ein Kran, der den<br />

Schiffern beim Absenken bzw. Aufrichten der Masten half, da die Durchfahrt<br />

zu niedrig war.<br />

Ein auskunftsfreudiger Anwohner verriet ihm, dass hier täglich über 50<br />

Schiffe, meist Kaffenkähne, auf dem Weg zwischen Rüdersdorf und Berlin,<br />

aber auch Fürstenwalde und andere Regionen, das Fließ passieren, um<br />

diese mit Kalk und Kalkstein zu versorgen. Erst später erfuhr er, dass sein<br />

Gesprächspartner Buchholz selbst Schiffer war, und ihm das Grundstück am<br />

Ufer gehört. Er erzählt von seinen Fahrten "Steenekieper", aber auch<br />

anderen Touren, z.B. über Oder und Spree mit schlesischer Kohle, um u.a.<br />

die vier Gaswerke in Berlin mit Brennstoff zu versorgen. Gerade war das<br />

fünfte in Bau, auch in Fürstenwalde und Frankfurt/O. entstanden z.Z. die<br />

erste Gasanstalten. Leider mussten die Schiffer oft den Rückweg Richtung<br />

Erkner leer antreten, was natürlich nichts einbrachte.<br />

Der junge Mann war so ins Gespräch vertieft, dass er fast das Pfeifen der<br />

Lokomotive verpasst hätte, dass die Weiterfahrt signalisierte. All zu viel kann<br />

unser Freund von Erkner nicht gesehen haben. Nicht nur wegen der kurzen<br />

Zeit, sondern eigentlich gab es das Erkner noch gar nicht, wie wir es heute<br />

kennen. Nicht einmal dem Namen nach! Denn bis 1889 war der Erkner nur<br />

ein Teil des "I. Heidedistrikts im Amt Rüdersdorf" Dieser lag im südlichen<br />

Zipfel des Kreises Niederbarnim, der sich im Norden und Osten um Berlin<br />

schlang und bis Oranienburg reichte. Berlin war (bis 1920) noch weit<br />

entfernt. Sattdessen grenzten wir hier dicht an die Kreise Teltow (u.a. mit<br />

Müggelheim, Köpenick), Beeskow-Storkow (Neu-Zittau, Gosen) und hinter<br />

Grünheide (III. Heidedistrikt) an Lebus.


Der I. Heidedistrikt hatte 591 Einwohner und 61 Wohnhäuser in 7<br />

Wohnplätzen: Hohenbinde (mit Jägerbude), Alte Hausstelle, -<br />

Schönschornstein, -Neu Buchhorst (nicht der heutige Ortsteil, sondern etwa<br />

zwischen Heimatmuseum und <strong>Gymnasium</strong>), "der Erkner" (nur südlich des<br />

Flakenfließes) und - bis 1884- Woltersdorfer Schleuse! der nördliche Teil um<br />

den Bahnhof Erkner gehörte bis 1884 zum Gutsbezirk Köpenicker Forst.<br />

Wer hätte uns damals in Erkner begegnen können?<br />

Der Prinzregent eher nicht. Er vertrat seit 1857 seinen geisteskranken<br />

Bruder und wird später als Wilhelm I. selbst König und 1871 Kaiser. Der<br />

Landrat des Kreises Niederbarnim wohl auch nur selten. Aber er muss so<br />

populär gewesen sein, dass auch nach ihm - wie nach Wilhelm - in Erkner<br />

eine Straße benannt wurde: Georg Scharnweber ( Amtszeit: 1842-91!). Aber<br />

Heinrich Catholy (Heinrichstr., Catholystr.) war sicher präsent, denn seit<br />

seiner Hochzeit 1856 mit Witwe Discher war er Bauerngutsbesitzer und<br />

Erbschulze, also eine Art Bürgermeister.<br />

Leider haben wir heute nur wenige konkrete Kenntnisse über das Äußere<br />

unseres Ortes um 1860, wissen eher was es noch nicht gab. So fehlten die<br />

Straße und Brücke nach Neu Zittau wie auch nach Grünheide. Ebenso die<br />

Seestraße, und einen Weg zum Buchhorst (später Neuseeland) gab es nur<br />

entlang der Buchhorster Straße. Es gab noch keine Bahnhofsiedlung, keinen<br />

Ortsteil Neuseeland (damals Äcker und Wiesen) und Karutzhöhe, Kurpark<br />

und das heutige- eigentlich historische falsch benannte- Neu Buchhorst. und<br />

auch die vorhandenen Wohnplätze waren meist nur dünn besiedelt.<br />

Aber seit 1842 lag unser Ort an der Eisenbahn und hatte sogar einen der<br />

noch wenigen Bahnhöfe! Dieser lag jedoch außerhalb "Erkners". Um 1860<br />

wurde die Streck stark ausgebaut, so dass die Niederschlesische- Märkische<br />

Eisenbahn zur wichtigsten Linie für das mittlere und östliche Preußen wurde.<br />

Z.B. führte die Ostbahn zunächst über Frankfurt nach Küstrin und<br />

Ostpreußen und verband ab 1860 Preußen mit Russland. 1857 wurde<br />

"Erkner" (daneben natürlich Berlin) über die Oberschlesische Bahn an die<br />

schlesische Kohle und weiter über Wien mit der Adria verbunden. Dies<br />

erklärt wohl die eingangs erwähnten Ausbauten der Strecke um Erkner.<br />

Trotzdem gab es hier zunächst nur zwei Häuser mit 47 Einwohnern.<br />

Die Straßen-Brücke war zuletzt 1845 durch einen Neubau ersetzt worden.<br />

Aber fast alle 5 Jahre waren Reparaturen notwendig, schon 1857 wurde<br />

reger Verkehr beschrieben. Sie bestand aus Holz, hatte 101 Fuß Länge, 12<br />

Fuß Breite des Oberbelags, 7Jochöffnungen und in der Mitte eine<br />

Portalzugklappe für die Schiffe. Wahrscheinlich hatte sie Ähnlichkeiten mit<br />

der kürzlich rekonstruierten Brücke von Briescht über die Spree. Erst 1865<br />

wurde sie höher gelegt und erhielt die noch heute bekannten Rampen.<br />

Das Ortsbild südlich der Brücke hatte nur wenig Ähnlichkeit mit typischen<br />

Dorfanlagen dieser Zeit: keine Kirche, wenig Häuser bzw. nicht so dicht<br />

gereiht. Nur wenige Fotos überliefern uns das mögliche Aussehen der


Häuser damals. Vielleicht so wie das von Seilermeister Redigan an der<br />

Brücke? Oder eher wie beim Karutzbauern? Von Friedrichhagen weiß man<br />

dass noch bis in die 1870er die alten Kolonistenhäuser an der<br />

Bölschestraße im Grundriss nur wenig verändert waren, evtl. wurde das<br />

Fachwerk durch Ziegel-Ummauerung verblendet und nur teilweise waren die<br />

Strohdächer Ziegeln gewichen. So könnten auch bei uns die Häuser<br />

ausgesehen haben.<br />

"Der Erkner" war 5 der größte Wohnplätze mit 193 Einwohnern, darunter 56<br />

Ehen. Es gab 28 Wohnhäuser, 1 öffentliches Gebäude und 14 wirtschaftlich<br />

genutzte, darunter eine Kalkbrennerei. Es lebten also ca. zwei Familien pro<br />

Haus. Das öffentliche Gebäude dürfte der Krug des Gutsbesitzers gewesen<br />

sein. er hatte sich von der fast hundertjährigen Maulbeerbaum-Pflicht auf<br />

seinem Grund befreien können, parzellierte nun allmählich sein Land und<br />

schuf damit den Baugrund für die dichtere Besiedlung unserer heutigen<br />

Stadtmitte. auch für die Anlage einer Kalkbrennerei, die Beust 1859<br />

begonnen hatte( wahrscheinlich zwischen Fließ und Beuststraße jenseits der<br />

Bahn).<br />

Zum Erkner gehörte auchs´ die "Reihe", am unteren Ende der Beuststraße<br />

beginnend bis in die spätere Flakenstraße. Hier siedelten in Wassernähe<br />

hauptsächlich Schiffer, die zu dieser Zeit über die Hälfte bis knapp 2/3 aller<br />

Familien im I. Heidedistrikt waren. Am Flakensee existierte dann auch schon<br />

zwei Abbauten der Schiffbauerei und eines Fischers.<br />

Auf dem Erkner standen alle Häuser in der Nähe des Wassers, südlicher -<br />

etwa ab der Wollankstraße- gab es nur Äcker und Wiesen. allerdings<br />

konnten nur wenige Landwirtschaft im Vollerwerb betreiben! 1855 gab es<br />

hier 40 Büdnerstellen also zwar Haus- und Gartenbesitz, aber kein Acker),<br />

dazu (Bahn) und Tagelöhner. Die Suche nach Einkommensquellen war also<br />

sicher auf der Tagesordnung. Dafür bot sich dann bald neben der Schifffahrt<br />

auch die zukünftige "Teerproduktenfabrik" des Julius Rütgers an.<br />

Die Karte (zwar schon von 1869 und mit den ersten Teerwerksanlagen) zeigt<br />

auch jetzt noch deutlich die Leere zwischen den Wohnplätzen: unbebaute<br />

Flächen, eine Mühle (evtl. wie die Holländermühle damals in<br />

Friedrichshagen oder die Bockwindmühlen in Gosen oder Neu-Zittau). Die<br />

alte Poststraße hatte spätestens seit dem Bahnbau nur noch geringe<br />

Bedeutung. Ein Abzweig führte nach Hohenbinde zu einer Furt für<br />

Pferdegespanne nach Burig. Die "Straße" waren noch keine: vor 1888 ohne<br />

Namen, nur befestigte Spurrillen, oft Schlammlöcher. der Weg in Richtung<br />

Neu Buchhorst war der "Schulsteig". Seit 1854 hatten wir ein eigenes<br />

Schulhaus (etwa Gelände des <strong>Gymnasium</strong>s, Haus II), seit 1847 war eine<br />

Schule in Erkner zunächst in einem Beust-Gelände untergebracht. Vorher<br />

mussten alle Schüler täglich bis nach Woltersdorf!<br />

Hinter der Schule kamen die alten Erbbauernhöfe der 3 Pfälzer<br />

Kolonistenfamilien bzw. deren Nachfolger, wie z.b. Catholy, der aus


Eggersdorf kommend selbst aus einer aus der Pfalz eingewanderten Familie<br />

stammte.<br />

Auf dem zweitgrößten Wohnplatz Neu Buchhorst lebten insgesamt 121<br />

Menschen (darunter 19 Ehen) in 13 Wohnhäusern. Es gab ein öffentliches<br />

(Schule) und 19 wirtschaftlich genutzte Gebäude. Hier war neben<br />

zahlreichen Schiffern die Landwirtschaft angesiedelt. In den Ställen standen<br />

zusammen 69 der insgesamt 111 Rinder des Ortes. Die drei Erbbauern<br />

besaßen wohl den größten Teil der Äcker und wiesen des I. Heidedistrikts,<br />

die sie über eine Holzbrücke über den Bretterschen Graben auf dem<br />

Buchhorst (heute Bereich der Uferstraße und Ahornalle) erreicht.<br />

Die anderen Wohnplätze hatten sich im 19. Jahrhundert kaum<br />

weiterentwickelt. Schönschornstein, Alte Hausstelle und Hohenbinde (mit<br />

Jägerbude) hatten zusammen 80 Einwohner in 13 Ehen mit 9 Wohn- und 12<br />

Wirtschaftgebäuden. Auch sie lebten meist von der Schifffahrt, daneben von<br />

der Forst- und evtl. Landwirtschaft. Außer der Furt in Hohenbinde soll es<br />

auch in Wulhorst/Schön- Schornstein eine "Übersetzstelle" über die Spree<br />

gegeben haben, allerdings hier nicht für Fuhrwerke. Bis zum Bau der<br />

Chaussee 1886 blieben sie die einzigen Verbindungen nach Neu Zittau und<br />

dem Nachbarkreis. Man merkt deutlich, dass wir hier in der "hintersten Ecke"<br />

des Kreises lagen.<br />

In den letzten Jahrzehnten hatten sich nur "der Erkner" und Neu Buchhorst<br />

stärker entwickelt (seit 1805: 2-3fach). Die Infrastruktur war wenig<br />

ausgebaut, aber der Ort verfügte über eine Verkehrsgunst (Bahn und<br />

Wasser)! Die Landwirtschaft konnte nur wenige ernähren, so dass neue<br />

Gewerbebetriebe bei der Suche nach Einkommensmöglichkeiten sicher<br />

willkommen waren. Entwicklungsmöglichkeiten ergaben sich auch durch die<br />

allmähliche Parzellierung der landwirtschaftlichen Flächen. das Territorium<br />

um den Bahnhof lag außerhalb des direkten Einflusses Erkners, profitierte<br />

aber von der Nähe Erkners. Und die Forstverwaltung war an der<br />

Vermarktung von Flächen interessiert (wie z.B. beim Bauland in Berlin). Dies<br />

vereinfachte sicherlich die Ansiedlung eines Chemiebetriebes, was aber von<br />

Erkner nicht unkritisch hingenommen wurde. Dies zeigen die zahlreichen<br />

Widersprüche wegen der Gefahren und Belästigung schon kurz nach der<br />

Inbetriebnahme durch Rütgers. Erst allmählich- und trotz der Kurort-Pläne<br />

Erkners- normalisierte sich das Verhältnis. Dazu trug sicher die Bedeutung<br />

als Arbeitsplatz und (nach der Eingemeindung des Geländes um den<br />

Bahnhof) auch als Steuerquelle nicht unwesentlich bei. Dadurch konnte sich<br />

Erkner als Industriestandort in verkehrsgünstiger Lage so stark entwickeln,<br />

dass unsere Stadt heute zu den größten Orten des Kreises gehört.<br />

Flächenmäßig ähnelt Erkner allerdings nach wie vor dem alten I.<br />

Heidedistrikt.<br />

Frank Retzlaff, Januar 2004


1 Einführung<br />

Julius Rütgers und Erkner<br />

Gerd Collin<br />

Festvortrag am 3. September 2003 in der Stadthalle Erkner<br />

Am 11.Juli 1900 traf sich - unweit von Erkner - im Hause und Garten der<br />

Berliner Kurfürstenstraße 135 eine illustre Gesellschaft, um ein fest zu<br />

feiern. In der Halle des Hauses [1] waren die Geschenke ausgestellt,<br />

überragt von einer Statuette der Göttin Demeter, der Göttin des Wachstums<br />

und der Fruchtbarkeit. Das 20. Jahrhundert hatte begonnen, und alle Welt<br />

hoffte auf ein Jahrhundert des weiteren Fortschritts und Wachstums. Der<br />

Lehnstuhl lud einen Arbeiter zur Rast ein, der eine Schwelle auf seiner<br />

Schulter trug, und auch der an den Stuhl gelehnte Spazierstock hatte eine<br />

historische Bedeutung. Die Büste des solchermaßen Beschenkten und<br />

Gastgebers schaute von rechts obern auf die symbolträchtige Sammlung<br />

herab. Im Garten des Hauses saß er lebendig und zufrieden inmitten des<br />

Festgesellschaft: Julius Rütgers [1]. Er feierte nach einem erfolgreichen<br />

Wirken seinen 70. Geburtstag. Zu seinem Lebenswerk gehörten die<br />

Holzschwelle zum Bau der Eisenbahnen und das Werk Erkner zur<br />

Wertschöpfung eines Abfallprodukts der Industriellen Revolution, des<br />

Leutgas-Koppelprodukts Steinkohlenteer. Das Direktorium seines<br />

Unternehmens wünschte Herrn Julius Rütgers als Vorsitzendem des<br />

Aufsichtsrats am 11.Juli 1900 herzlichst Glück und Segen nicht nur zum 70.<br />

Geburtstag, sondern auch zum goldenen Geschäftsjubiläum [1]; denn ein<br />

Jahr zuvor 1899 waren die Rütgerswerke 50 Jahre und im gleichen Jahr<br />

1900 das dazu gehörende Werk Erkner 40 Jahre alt geworden. Wer war nun<br />

dieser Firmen- und Werksgründer Julius Rütgers?<br />

2 Zur Genealogie der Familie Rütgers [1,2]<br />

Vorfahren des Altgroßvaters von Julius Rütgers lebten um 1600 in<br />

Schoenderwoerdt bei Vianen in den Nördlichen Niederlanden. Der Name<br />

des Städtchens wurde durch die niederländischen Goldschmiede Adam und<br />

Paulus van Vianen bekannt, die ebenfalls um 1600 lebten. Die<br />

Goldschmiedekunst wurde auch das Handwerk weiterer Rütgers-Vorfahren<br />

einer deutschen Linie.<br />

Im Jahr 1634 verließen drei Rütgers-Brüder die heimatlichen Niederlande.<br />

Einer der Brüder wanderte nach Nieuw Amsterdam, dem späteren New<br />

York, in Nordamerika aus und wurde Ahnherr einer wohlhabenden<br />

Bierbrauer- und Kaufsmannsfamilie. Einer seiner Nachfahren war der<br />

Colonel Henry Rutgers (1745-1830). Er half 1825 dem 1766 gegründeten<br />

Quenn`College von New Brunswick im Staate New York mit einer größeren<br />

Stiftung aus finanziellen Schwierigkeiten. Aus Dankbarkeit gegenüber dem


großzügigen Stifter wurde das College in "Rutgers University" umbenannt.<br />

So lebte der Name Rutgers mit dem Ruf einer der ältesten und<br />

vorzüglichsten Universitäten der USA weiter.<br />

Zwei der niederländischen Rütger-Brüder übersiedelten nach Deutschland,<br />

der eine nach Gräfrath bei Solingen, der andere nach Aachen. Sohn des<br />

Aacheners war Rutger Rütgers (1635-1704). Er ließ seinen Sohn Quirin<br />

Rütgers (1662-1727) die Goldschmiedekunst erleben. Quirin Rütgers<br />

gehörte zu den kunstsinnigsten Goldschmieden der damaligen Zeit. Erhalten<br />

geblieben ist u.a. eine 1707 gefertigte Silbermonstranz der Aachener<br />

Pfarrkirche St. Peter Über viele Jahre war Quirin Rütgers Zunftmeister der<br />

Aachener Goldschmiede. Sein "Haus zur güldenen Glocke" nahe dem<br />

karolingischen Liebfrauenmünster war auch die Goldschmiede jeweils eines<br />

seiner männlichen Nachfahren: Peter Wienand Rütgers (1702-1770),<br />

Matthias Lambert Rütgers (1732-1820), Peter Arnold Wienand Rütgers<br />

(1770-1839) und dessen Sohn Caspar Rütger. Am 19. September 1928<br />

feierte die Gold- und Silberschmiede Caspar Rütgers in ihrem Haus am<br />

Aachener Münsterplatz 13 ihr 250-jähriges Bestehen.<br />

Jüngerer Bruder von Caspar Rütgers und neunten Kind aus erster Ehe des<br />

Goldschmieds Peter Arnold Rütgers war Martin Franz Lambert Rütgers<br />

(1802-1870).<br />

3 Martin Rütgers, Sohn Julius und der Eisenbahnbau<br />

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder gestanden die Eltern Martin Rütgers<br />

keine anspruchsvolle Ausbildung zu, sondern nur die nötigsten Mittel zur<br />

Vorbildung für einen Landvermessungsbeamten. Martin Rütgers wurde<br />

königlich- preußischer Katasterkontrolleur und in dieser Funktion 1837<br />

verantwortlich für den Geländeerwerb der Rheinischen Eisenbahn von Köln<br />

nach Aachen, die am 1.September 1842 als eine der ersten deutschen<br />

Bahnlinien eröffnet wurde.<br />

Bei seiner Tätigkeit für die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft beobachtete<br />

Martin Rütgers häufig den Fortschritt der Oberbauarbeiten und die schnelle<br />

Vergänglichkeit der dafür verwendeten Holzschwellen. Sie hielten oft<br />

weniger als sechs Jahre, und ihr Auswechseln verursachte hohe<br />

Gleiserhaltungskosten. Martin Rütgers erfuhr, dass im durch die<br />

Industrialisierung holzarm gewordenen England durch Imprägnieren mit<br />

Chloridlösung des Quecksilbers oder Zinks (nach Kyan und Burnett) oder<br />

durch Kesseldruck-Imprägnieren mit Steinkohlenteeröl (nach John Bethell<br />

1838) die Lebensdauer von hölzernen Eisenbahnschwellen erheblich<br />

verlängert werden konnte. Ähnliches geschah in Frankreich mit Lösungen<br />

von Bariumsulfid und Eisensulfid. Martin Rütgers studierte die englische und<br />

französischen Verfahren vor Ort und empfahl der 1846 konzessionierten<br />

Aachen- und französischen Verfahren vor Ort und empfahl der 1846<br />

konzessionierten Aachen-Düsseldorfer Eisenbahngesellschaft aus


Kostengründen die Schwellenimprägnierung nach dem französischen<br />

Verfahren. Dazu schloss Martin Rütgers mit der neuen Gesellschaft einen<br />

Vertrag ab und errichtete 1847 in Neuss bei Düsseldorf die erste deutsche<br />

Imprägnieranstalt. Anfang 1848 brach jedoch die deutsche Revolution aus;<br />

die Industrie wurde lahmgelegt und der Eisenbahnbau so verzögert, dass<br />

die Imprägnieranstalt nicht in Betrieb kam und Martin Rütgers gegenüber<br />

seinen Maschine-, Holz- und Imprägniermittel-Lieferanten zahlungsunfähig<br />

wurde. Alle Hoffnungen, als fortschrittlicher Unternehmer tätig zu werden,<br />

schienen vernichtet. Als Retter erschien dann aber sein tatkräftiger ältester<br />

Sohn: Julius Rütgers.<br />

Im Jahr 1826 hatte Martin Rütgers die Tochter eines wohlhabenden<br />

Aachener Tuchfabrikanten, Emilia Theresia Henriette Ehrlich (1799-1872),<br />

geheiratet. Am 11. Juli 1830 wurde dem Ehepaar in seinem Wohnort<br />

Bensheim im Kreis Mülheim des Regierungsbezirkes Cöln der erste Sohn<br />

geboren. Eine Woche später erhielt er in der Bürgermeisterei Bensheim den<br />

Namen Lambertus Hermann Julius Rütgers.<br />

Julius Rütgers verlebte seine Kindheit in Bensheim bei Köln. Die Schule<br />

schien er nicht geliebt zu haben. Er verließ sie früh und wurde mit 16 Jahren<br />

landwirtschaftlicher Volontär auf dem großen schlesischen Gut Wilkau (jetzt<br />

poln. Wilków Wielki) südlich von Breslau im Flussgebiet der Lohe, das sein<br />

Freund seines Vaters erworben hatte. Hier lernte er die preußische<br />

Agrarwirtschaft in der Praxis und gleichzeitig das Gutsherrn-Ehepaar als<br />

seine zukünftigen Schwiegereltern kennen und schätzen. Zwei Jahre später,<br />

im Revolutionsjahr 1848, übernahm der gerade 18 Jahre alt gewordene<br />

Landwirt Julius Rütgers die Verwaltung der ebenfalls bei Breslau gelegenen<br />

Besitzungen der auch aus der Rheinprovinz stammenden Gebrüder<br />

Schoeller.<br />

Das unternehmerische Unglück des Vaters rief Julius Rütgers ins rheinische<br />

Elternhaus zurück. Er bezahlte des Vaters Schulden, setzte das<br />

Imprägnierwerk Neuss Anfang 1849 wieder in Betrieb und begann mit ersten<br />

Lieferungen nach dem französischen Verfahren und auch mit<br />

Kupfersulfatsalz imprägnierter Schwellen an die Aachen-Düsseldorfer<br />

Eisenbahn. Inzwischen hatte sich als weitere Eisenbahngesellschaft die<br />

Cön-Mindener Eisenbahn gegründet, die die für Preußen wirtschaftspolitisch<br />

wichtige Verbindung zwischen Rhein und Weser bauen wollte. Julius<br />

Rütgers bot dieser Gesellschaft nach dem englischen Bethell-Verfahren mit<br />

Steinkohlenteeröl druckimprägnierte Holzschwellen an. Dieser Vorschlag<br />

wurde akzeptiert, und der knapp 19-jährige Julius Rütgers begann mit dem<br />

Bau eines ersten deutschen Imprägnierwerks nach dem von ihm<br />

favorisierten Teeröl-Verfahren in Essen. Im Oktober 1849 lieferte er die<br />

ersten Schwellen an die Cöln-Mindener Eisenbahn aus. Das<br />

Gründungsdatum seines eigenen neuen Unternehmens ließ sich in der<br />

Folgezeit nicht mehr genau ermitteln, muss aber im Frühjahr 1849 gelegen<br />

haben. In Vorbereitung des 75-jährigen Firmenjubiläums schlug mit


handschriftlicher Aktennotiz vom 7.1.1924 ein Vorstandsmitglied seinem<br />

Vorsitzenden "den 9. April 1849 als Gründungsdatum vor, nachdem ein<br />

Gegenbeweis gegen dieses zu behauptende Datum wohl nicht möglich ist".<br />

Es war der Ostermontag, der zur damaligen Zeit in Preußen noch Arbeitstag<br />

war.<br />

Nachdem Julius Rütgers 1854 von seinem Essener Werk aus den Auftrag<br />

für die Cöln-Mindener Eisenbahn erfolgreich abgeschlossen hatte, verlegte<br />

er den Schwerpunkt seiner Tätigkeit wieder nach Schlesien, diesmal aber<br />

mit dem Ziel, den dort beginnenden Eisenbahnbau mit seinen<br />

teerölimprägnierten Holzschwellen zu fördern und damit sein Unternehmen<br />

auszuweiten. Von Breslau aus hielt er zu seinen Eltern einen engen Kontakt,<br />

der durch einen intensiven Schriftwechsel insbesondere des Jahres 1855<br />

belegt ist. Diesmal halfen ihm Vater und Mutter mit Ratschlägen und<br />

Geldüberweisungen aus. Ein entscheidender Durchbruch gelang ihm in<br />

diesem Jahr durch einen Vertragsabschluss mit dem Direktorium der<br />

Oberschlesischen Eisenbahn-Gesellschaft in Breslau. In diesem Vertrag<br />

vom 27. März 1855 verpflichtete sich die Eisenbahn-Gesellschaft, Rütgers<br />

zwei Drittel aller in den nächsten zehn aufeinanderfolgenden Jahren zur<br />

Verwendung kommenden Schwellen und Weichhölzer zur Imprägnierung in<br />

Auftrag zu geben. Daraufhin baute Rütgers zwei weitere Imprägnieranstalten<br />

in Kattowitz und Breslau. Mit dem beschleunigten Ausbau deskontinentaleuropäischen<br />

Eisenbahnnetzes folgten zahlreiche weitere Werke dieser Art.<br />

Da es hierfür noch keine geschulten Fachleute gab, war Julius Rütgers<br />

zunächst Bauherr, Baumeister, Maschinenkonstrukteur, Monteur und<br />

Betriebsleiter in einer Person. Dank seiner stetig wachsenden Erfahrung<br />

pflegte er sich später beim Bau eines neuen Werkes nicht lange mit<br />

Bebauungsplänen aufzuhalten, sondern zeichnete nach dem Erwerb eines<br />

geeigneten Geländes den Plan für die Aufstellung der Apparaturen und die<br />

Lage der Geleise kurzerhand mit seinem Spazierstock in den Sand. Bis zur<br />

Jahrhundertwende entstanden so durch Julius Rütgers - bis 1868 in<br />

Zusammenarbeit mit seinem jüngeren Bruder Guido Rütgers - in Europa<br />

insgesamt 77 Imprägnierwerke, davon das östlichste in Kiew [3]. In diesen<br />

Werken wurden, ebenfalls bis zur Jahrhundertwende, mehr als 9 Mill. m³<br />

Holzschwellen getränkt (Tabelle 1), davon rund 4 Mill.m³ mit Teeröl unter<br />

Zusatz von Zinkchlorid und 1,4 Mill.m³ mit Teeröl allein. Die Zahl >9 Mill.m³<br />

bedeutet >90 Mill. Schwellen für rund 60.000 km Eisenbahngleise.<br />

4 Julius Rütgers und der Steinkohlenteer<br />

Die in den 1850er Jahren stark ansteigende Produktion teerölimprägnierter<br />

Holzschwellen für den Eisenbahnbau [1, 3, 4] hatte für Julius Rütgers zur<br />

Folge, dass er erhebliche Kosten für Imprägnieröl-Importe aus England<br />

aufzuwenden hatte; denn nur dort waren seit dem Anfang des<br />

19.Jahrhunderts Steinkohlenteer-Destillationsanlagen entstanden, und


Rütgers bezog das Teeröl von seinem englischen Lizenzgeber Bethell zu<br />

seinem bis 1860 auf 1 Thaler und 25 Silbergroschen pro Centner franco<br />

Breslau ansteigenden Preis (~110 M/t) [1]. Anderseits waren nach<br />

englischen Vorbild seit 1825 auch in Deutschland zahlreiche<br />

Leutgasanstalten in Betrieb gegangen, bei denen Steinkohlenteer als<br />

lästiges Abfallprodukt anfiel. 1825 nahm die englische Gasgesellschaft<br />

Imperial Continental Gas Association das erste deutsche Gaswerk zur<br />

Stadtbeleuchtung in Hannover in Betrieb (das Königreich Hannover stand<br />

damals nach Wiener Kongress unter englischem Einfluss). Ein Jahr später<br />

errichtete die gleiche englische Gesellschaft die erste Gasanstalt in Berlin,<br />

der bis 1860 vier weitere folgten. Der Steinkohlenteer wurde in der Regel als<br />

Abfall in Fässern auf Schiffen verladen und ins Meer versenkt. [5]<br />

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland 869<br />

Gaswerke, davon die meisten in den größeren Städten und Gemeinden [5].<br />

Der Teeranfall betrug 1860 rund 12.000 t und stieg bis zur<br />

Jahrhundertwende auf rund 100.000 t/a, hinzu kam ab 1883 Kokereiteer,<br />

von dem bis Ende des 19.Jahrhunderts etwa 30.000 t/a produziert wurden<br />

[1]. 1842 errichtete der Liebig-Schüler Ernst Sell in Offenbach am Main die<br />

erste Teerdestillation zur Produktion von organischen Chemikalien (später<br />

ein Werk der Hoechst AG).<br />

Die chemische Aufklärung des Steinkohlenteers hatte in der Zwischenzeit<br />

begonnen. Daran waren insbesondere auch deutsche Chemiker beteiligt wie<br />

Friedlieb Ferdinand Runge (1794-1867) und August Wilhelm (von) Hofmann<br />

(1818-1892). Die Gewinnung aromatisch-organischer Grundstoffe aus<br />

Steinkohlenteer gewann zunehmende Bedeutung durch die Erfindung der<br />

künstlichen Farbstoffe, die nach ihrem Rohstoff über 100 Jahre lang<br />

"Teerfarben" genannt wurden. Die ersten dieser Farbstoffe wurden zufällig<br />

entdeckt: 1856 der Viloettfarbstoff Mauvein durch den Hofmann-Schüler<br />

William Henry Perkin in England und 1859 der Rotfarbstoff Fuchsin durch<br />

den Franzosen Francois E. Verguin. In beiden Fällen war Anilinöl aus<br />

Steinkohlenteer der Ausgangsstoff der Synthese [6]. Durch die Entdeckung<br />

der Teerfarben stieg der Handelwert des Steinkohlenteers bis zur<br />

Jahrhundertwende z.B. auf 23 M/t. Die schlesische "Friedrich-Wilhelm-<br />

Universität zu Bresslau" (Academia Viadrina Wratislaviensis) war von 1823<br />

bis 1840 die Wirkungstätte von Runge, der dort als Profesor der Chemie<br />

lehrte und forschte, 1831 Anilin und Phenol im Steinkohlenteer entdeckte<br />

und damit Breslau eine berühmte Studien- und Forschungsstätte der<br />

Steinkohlenteerchemie begründete. Dem langjährigen Wahl-Breslauer Julius<br />

Rütgers war all dies mit Sicherheit bekannt geworden und motivierte<br />

zusätzlich seine Pläne zum Bau von Teerraffinerien.


5 Erkner wird Standort der ersten Rütger-Teerraffinerie<br />

Experimente zur Technik begann Rütger natürlich in Breslau. Im Jahre 1858<br />

hatte er hier nach dem Vertragsabschluss mit der Oberschlesischen<br />

Eisenbahn-Gesellschaft sein 15. Imprägnierwerk errichtet (siehe Tabelle 1).<br />

Auf dessen Gelände ließ er auch eine Destillationsretorte für Steinkohlenteer<br />

installieren und in Betrieb nehmen. Nahe gelegene Gaswerke lieferten den<br />

Rohstoff, und die Teerchemie-Arbeitsgruppe der Universität Breslau war<br />

auch nicht fern.<br />

Der Autodidakt Rütgers ließ sich gern chemisch und verfahrenstechnisch<br />

beraten. Zu einem ersten industriellen Standort einer Teerraffinerie gehörte<br />

aber noch mehr.<br />

Die preußische Hauptstadt Berlin verfügte ebenfalls über eine Universität mit<br />

einer ausgezeichneten chemischen Forschung und Lehre. Professor für<br />

chemische Umwandlung von Steinkohlenteer-Inhaltsstoffen wie Benzol und<br />

Naphthalin erforscht und damit die ersten Grundlagen zur Synthese von<br />

Teerfarben geschaffen [7]. Aus seiner Schule waren bisher ideenreiche und<br />

tüchtige Chemiker zu erwarten, die für die Weiterentwicklung von Verfahren<br />

zur Raffination von Steinkohlenteer prädestiniert waren.<br />

Julius Rütgers wusste aufgrund seiner Lebenserfahrungen neben<br />

beratenden Forschern in seinen Fabriken gute Mitarbeiter zu schätzen.<br />

Berlin und seine Umgebung erschienen ihm aus dieser Sicht besonders<br />

geeignet, weil hier im Zentrum des preußischen Königreichs traditionell<br />

tüchtige Menschen gleich welcher Herkunft willkommen waren und vom<br />

Staat gefördert wurden (Beispiele sind die Hugenotten und pfälzischen<br />

Siedler).<br />

Im Jahre 1826 hatte Berlin die englische Gesellschaft Imperial Continental<br />

Gas Association nach Hannover ihr zweites deutsches Gaswerk in Betrieb<br />

genommen [5], dem in der Zwischenzeit in der Stadt und seiner urbanen<br />

Umgebung weitere gefolgt waren. Steinkohlenteer stand hier<br />

transportgünstig zur Verfügung zumal zu den zahlreichen Wasserwegen<br />

auch ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz entstanden war ( 1842 Eröffnung<br />

der Eisenbahnlinie Berlin-Frankfurt/Oder).<br />

An dieser Eisenbahnlinie baute Rütgers 1859 in weiterer Vorbereitung seiner<br />

Teerraffinationspläne dann beim Bahnhof Erkner eine kleine<br />

Imprägnieranstalt (siehe Tabelle 1), in der seine Erwartungen hinsichtlich<br />

des Berliner Umfelds voll bestätigt wurden. Landerwerb (von einem "Büdner"<br />

Buchholz), Baupläne und Genehmigungsverfahren für die Teerdestillation<br />

folgten im nächsten Jahr 1860 war alles vollbracht, und im Folgejahr lief die<br />

Teerdestillation an. Rütgers verarbeitete ab nun nicht mehr teures<br />

englisches, sondern kostengünstig selbst erzeugtes Imprägnieröl.


6 Teerchemie-Forschung in Erkner<br />

August Wilhelm (von) Hofmann war seit 1841 als Liebig-Schüler mit seiner<br />

Gießener Dissertation über die "Chemische Untersuchung der organischen<br />

Basen im Steinkohlenteer" bekannt, Entdecker der Stickstoffbase Chinolin<br />

(1843) und des Benzol (1845) im Steinkohlenteer, Erfinder der<br />

Stockstoffbase Cinolin (1843) und des Benzols (1845), am Londoner Royal<br />

College of Chemistry als Forscher und Lehrer berühmt und von seinen<br />

englischen Verehrern auf der zweiten Londoner Weltausstellung 1862 mit<br />

dem Ehrentitel "Father of the Dyestuff Industry" ausgezeichnet worden (6).<br />

Als ein Jahr später durch den Tod Eilhard Mitscherlichs die chemischen<br />

Professur in Berlin frei wurde, ergriff ihn "ein tiefes Heimweh nach dem<br />

geistigen Hochland einer deutschen Universität". 1865 siedelte er nach<br />

Berlin über. Hier wurde "nach seinen Plänen in der Georgenstraße ein<br />

großartiges Laboratorium mit schönen Hörsaal errichtet, das durch ein<br />

geräumiges Privatlaboratorium mit dem Wohnhause in der Dorotheenstraße<br />

in Verbindung" stand.[7]<br />

Einer der Berliner Hofmann-Schüler wurde Gustav Kraemer (1842-1915) [8].<br />

Er wurde als jüngster Sohn einer Lehrers in Halberstadt geboren. "Bei dem<br />

bescheidenen Einkommen seines Vaters, der ein wohlwollender und<br />

strenger Mann was, verlebte er seine Jugend in einfachen Verhältnissen und<br />

lernte es früh, sich allezeit auf seine eigene Kraft zu verlassen". Nach einem<br />

Realschulabschluss lernt er Apotheker in Aschersleben und Havelberg und<br />

kam dann als Gehilfe nach Berlin in die Apotheke von "Vater Blume" in der<br />

Königstraße. Im Frühling 1866 bestand Kraemer die pharmazeutische<br />

Staatsprüfung und erlebte dann den Krieg von Preußen mit Österreich als<br />

Feldapotheker. Nach Kriegsende kehrte er nach Berlin zurück und begann<br />

wie viele berühmt gewordene Apotheker vor ihm das Studium der Chemie.<br />

1867 wurde er Assistent von Prof. August Wilhelm von Hofmann, dessen<br />

neues "großartiges" Laboratorium in der Georgenstraße ein Jahr darauf in<br />

universitären Betrieb ging. Es begann im Kreise guter Kollegen unter Leitung<br />

des allseits verehrten Lehrers Hofmann ein "frohes" und ergiebiges<br />

Schaffen, das allerdings 1870 mit dem Ausbruch des nächsten Krieges für<br />

den Feldapotheker Kraemer jäh endete. Nach dem Friedensschluss 1871<br />

heiratete er und begann eine industrielle Tätigkeit bei dem Berliner<br />

Spritfabrikanten Kahlbaum, um bei ihm bisher nicht genutzte Nebenprodukte<br />

des aus Zuckerrüben gewonnenen Alkohols zu untersuchen und zu nutzen.<br />

In der Schlesischen Straße baute Kraemer auf dem Gelände einer alten<br />

Zuckerraffinerie neue Fabrikationsanlagen. Produziert wurden Essigsäuren,<br />

Methanol und Aceton, aber auch zahlreiche organische Präparate für<br />

wissenschaftliche Zwecke. Hierdurch wurde Julius Rütgers auf den<br />

engagierten Hofmann-Schüler aufmerksam, stellte ihn ein und beauftragte<br />

ihn mit der weiteren Erforschung des Leuchtgas-Nebenprodukts<br />

Steinkohlenteer in seinem Werkslaboratium Erkner. 1880 wurde Kraemer


Leiter des Werkes und auch mit zuständig für die von Rütgers in der<br />

Zwischenzeit nach dem Vorbild von Erkner gegründeten weiteren<br />

Teerraffinerien Niederau bei Dresen (1861), Kattowitz in Oberschlesien<br />

(1862), Anger bei Wien (1869), Mochbern bei Breslau (1873) und Passing<br />

bei München (1873) [9].<br />

Zur Intensivierung der Teerchemie-Forschung suchte Kraemer im Auftrag<br />

von Rütgers nach einem geeigneten Nachfolger als Leiter des Erkneraner<br />

wissenschaftlichen Laboratoriums. Er fand ihn in Adolf Spilker (1863-1954),<br />

wie Kraemer ein Schüler von Professor August Wilhelm von Hofmann.<br />

Spilker wurde in Vilsen (Prov. Hannover) als Sohn eines Kaufmanns<br />

geborne, absolvierte eine Apothekerlehre und studierte nach Tätigkeiten in<br />

Apotheken Süddeutschlands und der Schweiz ab 1885 an der Universität<br />

Berlin Chemie, Physik, Botanik und Bakteriologie. Sein akademischer Lehrer<br />

im zuletzt genannten Fach war der spätere Nobelpreisträger für Medizin<br />

(1905 für die Entdeckung des Tuberkelbazillus) Robert Koch. Spilker<br />

promovierte noch vor Abschluss seines 6. Semesters 1888 in Erlangen mit<br />

seiner Arbeit über stickstoffhaltige Abkömmlinge der Salicylsäure, eines<br />

Folgeprodukts des Steinkohlenteer-Inhaltsstoffs Phenol. Nach Berlin<br />

zurückgekehrt, arbeitete Spilker einige Monate als Universitätsassistent und<br />

trat dann auf Anredung von Kraemer in das wissenschaftliche Laboratorium<br />

der Rütgerswerke in Erkner ein. [10]<br />

Hier begann Spilker 1889 mit Untersuchungen zur Zusammensetzung der<br />

zwischen Benzol und Napthalin siedenten Teer-Leichtölfraktionen und<br />

entdeckte darin noch im gleichen Jahr die beiden aromatischen Inhaltsstoffe<br />

Cumaron und Inden [10-12]. Diese beiden Verbindungen gehören zu den<br />

olefinischen-ungesättigten Aromaten. Sie ergaben durch Behandlung mit<br />

konzentrierte Schwefelsäure und anderen starken Säuren gelbbraune,<br />

bernsteinähnliche Harze- die ersten Kunstharze aus Steinkohleteer! [13]<br />

Diese später Inden-Cumaron-Harze genannten Kunstharze aus<br />

Teerleichtölfraktionen ergaben in organischen Lösemitteln "Auflösungen, die<br />

zum Anstrich von Holz und Metallflächen dienen können und wegen der<br />

Widerstandfähigkeit des (Lack-) Überzuges gegen Säuren und<br />

Alkalien...Vorzüge vor einer Reihe von (Natur-) Harzauflösungen und Lacken<br />

haben". Die Rütgerswerke meldeten diese Erkneraner Erfindungen zu<br />

Patenten an. Die im Zuge der Industraliesierung aufblühende Lackindustrie<br />

nahm Rütgers mit Freude und zu guten Preisen die neuartigen Kunstharze<br />

ab und formulierte sie in Analogie und Ergänzung zu dem bisher<br />

ausschließlich verfügbaren Naturharzen wie Kolophonium, Schellack, Kopal<br />

und Bernstein zu zahlreichen Lacktypen. [14]<br />

Heute werden die thermoplastischen Inde-Cumaron-Harze (allgemeinere<br />

Bezeichnung "Aromatische Kohlenwasserstoffharze") in vielen Spezialitäten<br />

durch Mischen von Steinkohlenteerfraktionen und seit den 1970er Jahren<br />

auch von petrochemischen Pyrolyseölfraktionen unter Einwirkung<br />

unterschiedlicher Säure-Katalysatoren in einer Menge von weltweit rund 1


Mill. t/a industriell produziert. Angewendet werden sie in Kombination mit<br />

anderen synthetischen Polymeren vor allem für die Herstellung von<br />

Gummiprodukten, Klebstoffen, Lacken und Druckfarben. [15]<br />

Adolf Spilker begleitete die Entwicklung der in Erkner erfundenen Inden-<br />

Cumaron-Harze bis ins hohe Alter. Um die Zeit seines 70. Geburtstags<br />

ernannte ihn Julius Rütgers zum Direktor seines Werkes Erkner. Nach<br />

Rütgers` Tod warb ihn der Ruhr-Industrielle August Thyssen ab und berief<br />

ihn 1905 zum Begründer und Generaldirektor der Gesellschaft für<br />

Teerverwertung (GfT) in Duisburg-Meiderich, eines Werks, das noch heute -<br />

seit der RÜTGERS/GfT-Fusion 1964 zu RÜTGERS gehörend - rund 40.000<br />

t/a der von Kraemer und Spilker erfundenen thermoplastischen<br />

aromatischen Kohlenwasserstoffharze aus Steinkohlenteer und<br />

petrostämmigen Pyrolseölfraktion produziert. Spilker ging 1936 in Pension<br />

und starb nach erfülltem Leben nach dem 2. Weltkrieg 1954 im Alter von 91<br />

Jahren. [16]<br />

Im Werk Erkner von Julius Rütgers begann noch ein weiteres wichtiges<br />

Kapitel der Kunststoff-Geschichte, allerdings einige Jahre nach seinem Tode<br />

unter seinem Nachfolger Konsul Sally Segall. Erfinder neuartiger Kunstharze<br />

aus Teer war der aus Flandern stammende Chemiker Leo Hendrik<br />

Baekeland (1863-1944). Er wurde im gleichen Jahr wie Spilker im Dorf<br />

Pleine-Saint-Pierre bei Gent geboren und studierte ab 1880 mit einem<br />

Stipendium an der Universität Gent Chemie bei Friedrich August Kekulé,<br />

dem Begründer der modernen organisch-chemischen Strukturlehre<br />

(Benzolformel 1858), und dessen Nachfolger Théodore Swarts. Mit 21<br />

Jahren promovierte Baekaland und erhielt von der belgischen Akademie der<br />

Wissenschaften ein Reisestipendium, das ihn 1889 über Edinburgh an die<br />

Columbia University von New York führte. Hier blieb er, obwohl inzwischen<br />

in Gent zum Professor berufen, und forschte auf dem seit der frühen<br />

Kindheit geliebten Gebiet der Photographie. Durch die Erfindung des Velox-<br />

Schnellkopierpapiers wurde er zum Konkurrenten des Photo-Markführers<br />

Eastman-Kodak. George Eastman schloss daraufhin 1899 mit ihm einen<br />

Vertrag, der Baekeland zu einem für ihn ungeahnten Reichtum führte:<br />

Eastman zahlte dem 36-jährigen Chemiker 1 Mill.$ für die Rechte, das neue<br />

Photopapier ausschließlich produzieren zu dürfen. Baekeland musste sich<br />

seinerseits verpflichten, die nächsten 20 Jahre keine Photochemikalien zu<br />

entwickeln und herzustellen. Er wande sich daraufhin der Elektrochemie zu<br />

und studierte sie im Wintersemester 1900 an der Technischen Hochschule<br />

Charlottenburg in Berlin, also ganz in der Nähe von Rütgers um die Zeit<br />

seines 70. Geburtstags. In der Elektrotechnik ging damals noch viel Strom<br />

durch mangelhafte Isolierung verloren, und auch die Sicherheit der damit<br />

arbeitenden Menschen war hierdurch oft unzureichend. Baekeland sann<br />

über isolierende Harze nach und lass hierzu von mancherlei Versuchen, aus<br />

dem überschüssig vorhandenen Phenol des Steinkohlenteers mit dem billig<br />

gewordenen Formaldehyd künstliche Harze zu synthetisieren. Er wandelte


dann 1904 sein Forschungslaboratorium in Yonlers bei New York in ein<br />

Technikum zu Kondensation von Phenol mit Formaldehyd um und nannte<br />

als Ziel einen neuen Werksstoff, der beständiger als Holz, leichter als Eisen<br />

und haltbarer als Gummi ist und die Elektrizität "bändigen" sollte. Nach drei<br />

Jahren war das Ziel erreicht: 1907 meldete Baekeland zunächst in den USA<br />

sieben Patente zur Herstellung von nach ihm selbst "Bakelite" benannten<br />

Kunstharze aus Phenol und Formaldehyd an. Wichtig und neuartig war,<br />

dass zunächst lösliche und schmelzbare und damit im Gegensatz zu den<br />

Versuchen anderer Forscher verformbare Zwischenprodukte entstanden, die<br />

dann aushärtbar waren: die ersten "härtbaren Kunstharze", später<br />

"Duroplaste" genannt. [16,18-21]<br />

In den Jahren 1908 und 1909 erschienen von Baekeland zahlreiche<br />

Publikationen in Fachzeitschriften, so unter anderem auch in der deutschen<br />

Chemiker-Zeitung [17]. Diese Artikel las natürlich auch der Nachfolger Adolf<br />

Spilker als Chefchemiker der Rütgerswerke in Erkner, Dr. Max Johannes<br />

Weger, und berichtete darüber seinem Vorgesetzten<br />

Vorstandsvorsitzendem, dem Rütgersnachfolger Konsul Sally Segall. Dieser<br />

erwarb anlässlich eines Besuches von Baekeland in Berlin im Juni/Juli 1909<br />

dessen Patentrechte für Kontinental-Europa und beauftragte Weger mit der<br />

Übertragung des Bakelite-Verfahrens in den großtechnischen Maßstab. In<br />

einem barackenähnlichem Gebäude der Rütgers-Teerraffinerie Erkner<br />

wurden die ersten Phenolharz-"Kocher" installiert und Ende 1909 die ersten<br />

Chargen mit Teerphenol gefahren. Abnehmer der neuartigen Harze waren<br />

Berliner Firmen der mit Rütgers auf anderen Gebieten (Elektrodenkohlen<br />

aus Steinkohlenteerpech) kooperierenden Elektroindustrie. Damit wurden<br />

erstmalig duroplastische Kunstharze kommerziell hergestellt. In einer<br />

Baracke der Rütgers-Teerraffinerie Erkner begann also der Siegeszug der<br />

neuen Chemiewerkstoffe mit ihren unendlich vielfältigen Möglichkeiten![16]<br />

Am 25. Mai 1910 gründeten die Rütgerswerke unter Beteiligung von<br />

Baekeland die "Bakelite Gesellschaft mbH, Berlin-Erkner". Im gleichen Jahr<br />

gründete Baekeland in den USA die "General Bakelite Co." Zwischen beiden<br />

Unternehmen vereinbart war ein reger Erfahrungsaustausch über die<br />

zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten. Mit wachsendem Bedarf errichteten<br />

die Rütgerswerke in Erkner während des 1. Weltkriegs 1914 bis 1916<br />

gegenüber ihrer Phenole liefernden Teerraffinerie am Ufer des Flakenfließes<br />

eine eigenständige Bakelite-Fabrik mit ständig wachsender Produktion und<br />

anwendungsorientierter Forschung (Werk I, heute das Institut für<br />

Regionalentwicklung auf der Flakenstraße) und im Rahmen des 4-Jahres-<br />

Plans des Dritten Reiches ab 1938 eine weitere Fabrik in der Nähe des<br />

Bahnhofs an der Berliner Straße (Werk II, heute Dynea) [21].<br />

Baekeland verkaufte mit 76 Jahren sein Unternehmen in den USA an die<br />

Union Carbide und Carbon Corp. und starb hochgeehrt und geachtet im<br />

Alter von 80 Jahren im Kriegsjahr 1944 [16,18,21].


Die beiden Beispiele der thermoplastischen Kohlenwasserstoff- und<br />

duroplastischen Phenol-Formaldehyd-Harze belegen die historische<br />

Bedeutung der Rütgers-Teerraffinerie Erkner für die Entwicklung der<br />

chemisch-technisch revolutionären Kunststoff-Industrie. Heute werden<br />

weltweit >200 Mill. t/a Kunststoffe produziert, d.i. volumetrisch fast doppelt<br />

so viel wie Rohstahl mit 2001 rund 890 Mill. t/a ~ 113 Mill. m3/a.<br />

Das Werk Erkner wurde darüber hinaus "Lehrmeister" für den Bau weiterer<br />

von Schwientochlowitz in Oberschlesien, 1892 Witkowitz bei Mährisch-<br />

Ostrau und 1898 Rauxel im Ruhrgebiet [9]. Den Bau der "Chemischen<br />

Fabrik für Teerprodukte" in Schwientochlowitz (heute Swietochlowice)<br />

übertrug Julius Rütgers seinem einzigen Sohn Rudolph Rütgers (1860-<br />

1903). Diese Fabrik (nach dem 2. Weltkrieg "Hajduki", seit den 1990er<br />

Jahren eine Lackfabrik) wurde ein vom Vater anerkanntes Meisterstück des<br />

28-Jährigen : Sohn Rudolph sollte einmal sein Nachfolger werden.<br />

Als weiteres wichtiges Forschungsergebnis von Erkner hervorzuheben ist<br />

die Verwertung des bei Rohteerdestillation zu 50% als Rückstand<br />

anfallenden Steinkohlenteerpechs als Ausgangsprodukt von technisch<br />

reinem Industrie-Kohlenstoff für die zum Ende des 19.Jahrhunderts<br />

aufstrebende Elektrotechnik und Elektrochemie. Rütgers übernahm dazu<br />

später von der AEG zur Produktion von Kohlestifte, Kohlebürsten und<br />

Kohlenstoffelektroden unter Verwendung von Steinkohlenteerpech die 1895<br />

gegründeten Planiawerke im Oberschlesischen Ratibor[22,23].<br />

Für die Aromaten-Grundstoffe der aufblühenden deutschen Teerfarben-<br />

Industrie entwickeltete die Rütgers-Forschung in Erkner wirtschaftliche<br />

großtechnische Verfahren zur Gewinnung aus Steinkohlenteer, so z.B. für<br />

Benzol, Naphthalin, Anthracen und Crabazol. Vor Gründung der<br />

Rütgerswerke waren bis zum Jahre 1849 erst 9 chemische Verbindungen im<br />

Steinkohlenteer entdeckt worden; bis zu Rütgers´70. Geburtstag waren es<br />

schon > 100. Die Steinkohlenteer- und Teerfarbenchemie wurden in der 2.<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts durch gezielte Applikationen wissenschaftlicher<br />

Forschungsergebnisse insbesondere in Deutschland zu Wegbereitern der<br />

"2. Industriellen Revolution" und erbrachten damit einen wesentlichen<br />

Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands und seinem<br />

Übergang vom Agrar- zum Industriestaat[6]. Daran hatte auch die von<br />

Rütgers in Erkner initiierte Forschung einen wichtigen Anteil.<br />

7 Rütgers´Tod - und was bleibt<br />

Julius Rütgers starb vor 100 Jahren am 6. September 1903 in seinem<br />

Berliner Haus - plötzlich und unerwartet. Beigesetzt wurde er am 9.<br />

September auf dem alten Luisen- Kirchhof in Berlin-Westend. Sein engster<br />

Freund und bester Mitarbeiter Professor Gustav Kraemer schrieb in seinem<br />

Nachruf [24]:


"Erst wenige Stunden vor seinem Tode entsank der Schreibstift seiner Hand,<br />

wurde sein nie ermüdender Geist zur Ruhe gesetzt. Er ahnte nicht, dass es<br />

mit ihm zu Ende ging; zum Glück; denn unser Freund hing am Leben, hätte<br />

gewiss noch gern weiter gelebt und glaubte sich auch noch kurz vor seinem<br />

Heimgang berechtigt und befähigt dazu."<br />

Rütgers´ Wahlspruch war: "Hand wird nur von Hand gewaschen, wenn du<br />

nehmen willst, so gib." Seine Großzügigkeit war allen ihm begegnenden<br />

Menschen bekannt. Über das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern schrieb<br />

Kraemer mit [24]:"In der Wahl seiner Mitarbeiter wurde er von einem guten<br />

Stern geleitet. Stets wusste er die besten und tüchtigsten herauszufinden<br />

und an die richtige Stellen zu setzen. Dafür verehrten sie ihn wie ihren Vater<br />

und gingen für ihn durchs Feuer. Das meiste tat freilich seine Persönlichkeit,<br />

die mit jedermann umzugehen wusste. Standesunterscheide kannte er nicht,<br />

hoch und niedrig war ihm gleich. Den hohen und höchsten Staatsbeamten<br />

gab er sich nicht anders als seinen Angestellten und einfachsten Arbeitern.<br />

An der Festtafel siebzigsten Geburtstages sah man nehmen hohen<br />

Würdeträgern und Freunden viele seiner Beamten in den verschiedensten<br />

Stellungen, darunter selbst in langjährigen treuen Kontordiener sitzen. Wer<br />

mit ihm den gleichen Strang zog, war sein Freund, für den ihm kein Opfer zu<br />

groß war. Doch wusste er sich auch zur Wehre zu setzen, wenn man seine<br />

Wege durchkreuzte. Dann packte ihn der Furor teutonicus, der gewaltige<br />

Mensch schien ganz aus den Fugen zu geraten und alles um sich<br />

zerschmettern zu wollen. Und doch genügte oft ein einziges Wort, ihn<br />

umzustimmen und die himmelhoch getürmten Wogen seiner Gemütswallung<br />

wieder zu glätten. Grade dieses Ursprüngliche machte den Verkehr mit ihm<br />

so anziehend. Man wusste, dass man jemanden zu tun hatte, der leben<br />

wollte und dafür den vollen Raum beanspruchte, der aber auch leben ließ."<br />

Was bleibt? Bereits vor seinem 70. Geburtstag hatte Julius Rütgers 1898<br />

sein Unternehmen vorsorglich in eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Berlin<br />

umgewandelt. Sein einziger Sohn und designierter Nachfolger Rudolph, der<br />

nach dem Vorbild von Erkner schon den Bau der Teerraffinerie<br />

Schwientochlowitz in Oberschlesien geleitet hatte, verstarb dreieinhalb<br />

Monate nach seinem Vater im Alter 43 Jahren am 20. Dezember 1903.<br />

Durch Vermittlung des Rütgers-Testaments- Vollstreckers Professor<br />

Kraemer wurde dann 1904 Konsul Sally Segall zum Vorstandsvorsitzendem<br />

bestellt. Die Rütgerswerke entwickelten sich zu einem der bedeutendsten<br />

deutschen Chemieunternehmen mit Teeraromaten und Kunstharzen als<br />

wichtigsten Erzeugnissen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde mit Deutschland<br />

leider auch das Unternehmen in mehrere Teilstücke gespalten. Die Rütgers-<br />

Hauptverwaltung verlegte sich nach Enteignung der östlichen Werke 1947<br />

von Berlin nach Frankfurt am Main.[3]<br />

Heute ist Rütgers Chemicals unter dem Dach des Essener RAG-Konzerns<br />

der größte Steinkohlenteerverarbeiter der Welt mit Teerraffinerien in<br />

Castrop-Rauxel, Frankreich (Forbach-Marienau), Belgien (Zelzaete),


Schlesien ( Kedzierzyn-Kozle) und Kanada (Hamilton) und einer Kapazität<br />

von >1 Mill. t/a, Werken für organische Zwischenprodukte und<br />

Kohlenwasserstoffharze in Mannheim, Brunsbüttel, Duisburg-Meiderich und<br />

den USA ( State Cologe) und Produktionsstätten für Holzschutz- und<br />

Brandschutzmittel, imprägnierte Eisenbahnschwellen und Aktivkohle in<br />

Mannheim, Hanau und Essen.<br />

Die Bakelite AG ist Duroplast- Marktführer in Europa mit den wichtigsten<br />

Werken in Iserlohn-Letmathe und Duisburg-Meiderich. Sie produziert mit<br />

>1000 Beschäftigten mehr als 2000 verschiedene Duroplast-Produkte mit<br />

einer Kapazität von >400.000 t/a.<br />

In Erkner wurden die Bakelite-Werke nach dem Einmarsch der Roten Armee<br />

am 21. April 1945 teilweise demontiert und im März 1945 den<br />

Rütgerswerken entschädigungslos enteignet. Ab 1948 produzierte das alte<br />

Werk I als " VEB Plasta, Kunstharz-und Pressmassenfabrik Erkner" (später<br />

unter dem Dach des Kombinats "Plaste und Elaste") und wurde dann nach<br />

Wiederaufbau des Werks II 1956 stillgelegt. Das Werk II wurde benannt als<br />

Phenolharzlieferant für mehrere Millionen "Trabis" (bis 1991). Als<br />

Nachfolgegesellschaft der "Plasta Erkner" produziert nunmehr im<br />

ehemaligen Bakelite-Werk II an der Berliner Straße das finnische<br />

Unternehmen Dynea mit rund 100 Beschäftigten und einer Kapazität von<br />

rund 45.000 t/a Phenolharzen und Duroplast-Formmassen. [21]<br />

Steinkohlenteer verarbeiteten die Rütgerswerke bis zum Ende des 2.<br />

Weltkriegs in 7 Teeraffinerien mit einer Kapazität von >0,5 Mill. t/a, wovon<br />

etwa ein Fünftel auf das Werk Erkner entfiel. Dieses Werk wurde nach dem<br />

Krieg wie die Bakelite von der sowjetischen Besatzungsmacht<br />

beschlagnahmt, zu Reparationsleistungen verpflichtet, 1948 endgültig<br />

enteignet und ab 1952 als "volkseigener" (Kombinats-)Betrieb (ab 1954<br />

"VEB Teerdestillation und chemische Fabrik Erkner", ab 1969 "VEB<br />

Erdölverarbeitungswerk Schwedt, Betriebsteil Erkner") mit einem<br />

Teerdurchsatz von bis zu 128.000 t/a (1966) weitergeführt. Als Folge der<br />

deutschen Wiedervereinigung stellte das Teerwerk Ende Juni 1993 aus<br />

ökonomischen und ökologischen Gründen nach > 130-jährigem Betrieb<br />

seine noch verbliebene restliche Produktion endgültig ein. In seinem<br />

früheren Verwaltungsgebäude residiert z.Zt. vorübergehend die<br />

Stadtverwaltung. Auf dem ehemaligen Werksgelände ist ein großflächiger<br />

Omnibusbahnhof entstanden, entwickelt sich ein Gewerbe- und Freizeitpark<br />

und wurde diese Stadthalle gebaut. Draußen erinnern Straßenschilder an<br />

das Wirken des Gründers Julius Rütgers, dessen Andenken wir heute hier<br />

feiern.<br />

Lassen wir zu diesem Gedenken nochmals seinen Mitarbeiter und Freund<br />

Professor Kraemer zu Wort kommen [24]:<br />

"Wer ihn gekannt, wer mit ihm gearbeitet oder an froher Tafelrunde<br />

gesessen, wird ihn in dauernder Erinnerung behalten. Er war ein Mann von


nie versiegender Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit, der jeder ihm gestellten<br />

Aufgabe den vollen Ernst entgegenbrachte, eine Art Titanennatur, jedoch mit<br />

weichem, jeder menschlichen Regung zugänglichen Herzen. Auch von ihm<br />

galt das Wort Tells, dass keiner ungetröstet von ihm scheiden durfte. Seine<br />

stets offene Hand und der jeder- zeit bereite Rat haben manche Tränen<br />

getrocknet und manchen verzweifelten dem Leben zurückgewonnen."<br />

Auch dies sollten Bewohner und Freunde von Erkner nicht vergessen und<br />

für sich selbst beherzigen!

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