schwerpunkt „ZU VIEL"Göring-Eckardt mal wie folgt auf den Punktgebracht: „Wer heute von ArbeitslosengeldII lebt, muss mit sehr wenig Geld auskommen,und all die guten Ratschläge, wie günstigder selbstgemachte Gemüseeintopf ist,kommen von Leuten, die locker mal Freundezu einem 3-Gänge-Menu beim Italienereinladen können.“Super-size für Arme, Vollmondwasserfür ReicheWo Kaufkraft ist, ist auch ein Markt, wo keineKaufkraft ist, wird gehungert. So einfacherklärt sich, warum wir zwar Lebensmittelim Überfluss produzieren und damit problemlos12 Milliarden Menschen versorgenkönnten, aber trotzdem eine von 7 MilliardenMenschen auf dieser Erde hungert. Inden Industrieländern stellt sich die Situationetwas anders dar. Die häufig hochsubventioniertenund unter – sowohl für die Umweltals auch für die Beschäftigten – fatalen Bedingungenhergestellten Lebensmittel könnenmassenhaft und preiswert an Menschenmit vergleichsweise geringem Einkommenabgesetzt werden. So hat die US-amerikanischeLebensmittelindustrie ihre Produktionvon den 1970er Jahren bis heute von3.300 Kalorien auf rund 3.900 Kalorien proTag und Einwohner gesteigert, notwendigfür eine ausgewogene Versorgung wären2.700 Kalorien.Während also auf der einen Seite für die Einkommensschwachenunter dem Stichwort„super sizing“ immer größere Portionen derindustriell hergestellten Massenware bereitgestelltwerden, gibt es für die Besserverdienendenscheinbare Individualität durchVeredelung. So kann ordinäres Wasser, dasangeblich bei Vollmond geschöpft wurde,teurer verkauft werden als Jahrgangssekt.Himalajasalze kosten mehr als mancheexotische Gewürzmischung. Da sich auchmit solchen kreativen Strategien das Absatzproblemder Lebensmittelindustrie nichtauflösen lässt, verkauft man den MenschenNahrungsmittel, die weitgehend von ihrencharakteristischen Inhaltsstoffen befreitsind. Halbfettbutter, fettarme Milch, fettfreieJoghurts oder zuckerfreie Soft Drinks werdenzum selben Preis oder teurer als dasOriginal angeboten. Doch es kommt nochbesser: denn dass sich durch Light-Produktezwar gutes Geld verdienen, aber kaumabnehmen lässt, ist ein besonders glücklicherUmstand für die Diät-Industrie.Davon profitieren Firmen wie Weight Watchersund Jenny Craig gleich mehrfach. Sieverkaufen über ihre Lebensmittelspartennicht nur das halbe Essen zum doppeltenPreis, sondern die dazugehörigen Abspeckkursegleich mit. Jenny Craig, in Europakaum bekannt, ist weltweit sogar noch einbisschen erfolgreicher als die selbsternanntenGewichtsüberwacher. Das hat auch derLebensmittelmulti Nestlé mitbekommen unddie Firma vor ein paar Jahren für 600 MillionenDollar aufgekauft.Aus ökonomischer Sicht ist das Problemdes „gesättigten Marktes“ so gelöstDie Betroffenen aber, also all jene, die sich,unabhängig von ihrem tatsächlichen Gewichtzu dick fühlen, leiden unter den unerfüllbarenAnforderungen an die Konsumentenund dem Vorwurf der Disziplinlosigkeit.Eine Gesundheitsförderung, die diesen Namenverdient, muss deshalb endlich Schlussmachen mit der diffamierenden Gleichsetzungvon Gesundheit und Gewicht. Spaßan Essen und Bewegung sollte unabhängigvom BMI gefördert werden. Für den Erfolgdieser Bemühungen ist dabei entscheidend,die Folgen sozialer Ungleichheit auf die Lebensrealitätimmer im Blick zu behalten.Friedrich Schorb ist Autordes Bestsellers Dick, Doofund Arm? Die große Lügevom Übergewicht und wervon ihr profitiert. München,Droemer 2009.Schorb ist Soziologe undarbeitete als wissenschaftlicherMitarbeiter in der AbteilungGesundheitspolitik,Arbeits- und Sozialmedizin am Zentrum fürSozialpolitik der Uni Bremen im Projekt „Übergewichtund Adipositas bei Kindern, Jugendlichenund jungen Erwachsenen als systemischesRisiko". Seit 2009 ist er wissenschaftlicherMitarbeiter im Fachbereich Human- undGesundheitswissenschaften der Uni Bremen.Falls Sie den Autor kontaktieren möchen:Institut für Public Health and Pflegeforschung IPP,E-Mail: schorb@uni-bremen.dewww.public-health.uni-bremen.de/homepages/schorb<strong>SMZ</strong> INFO dezember 201005