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1943 inmitten befreienden Bombenhagels der heutigen ...

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<strong>1943</strong> <strong>inmitten</strong> <strong>befreienden</strong> <strong>Bombenhagels</strong> <strong>der</strong> <strong>heutigen</strong> Verbündeten im<br />

Leipziger Stadtteil Gohlis in einer Privatklinik geboren, die wenige Tage<br />

nach dem erfreulichen Ereignis seiner Ankunft dem Erdboden gleichgemacht<br />

worden ist, konnte er noch nicht ahnen, daß er <strong>der</strong>einst in <strong>der</strong><br />

ungarischen Donaumetropole, in Budapest, landen würde.<br />

Daß er dem Samen seines Vaters entsprießen durfte, ist nach freundlicher<br />

Auskunft eines seiner Brü<strong>der</strong> einzig dem egoistischen Wunsch seiner<br />

rassisch verdächtigen Mutter zuzuschreiben, sich für die Zeit ihres höheren<br />

Alters eine weitere, eine dritte, Option für spätere Besuchsreisen zu<br />

sichern. Leo Kleinschmidt, <strong>der</strong> heranwachsende Fötus, verdankt sein<br />

Dasein demnach nicht nur <strong>der</strong> weihnachtlichen Heilsbotschaft, <strong>der</strong><br />

Sehnsucht nach Frieden, Liebe und dem schier unstillbaren Verlangen<br />

nach einem flüchtigen Gefühl körperlichen und seelischen Glücks, son<strong>der</strong>n<br />

auch dem ihm zugedachten Auftrag, als Mittel gegen drohende<br />

Vereinsamung zu wirken. Seine Mutter war von <strong>der</strong> fixen Idee beherrscht,<br />

<strong>der</strong> Vater könnte aus dem Krieg nicht zurückkehren, in den er<br />

hatte ziehen müssen, weil er, <strong>der</strong> anfangs selbst ein kleiner Führer in <strong>der</strong><br />

Reichsfilmkammer gewesen war, den an<strong>der</strong>en hohen Bonzen in ihrem<br />

selbst an nationalsozialistischen Maßstäben gemessen nicht immer ehrenhaften<br />

Tun Einhalt zu gebieten versucht hatte.<br />

Sieben Jahre nach Leo Kleinschmidts Geburt hielten es seine Eltern,<br />

vermutlich um deutschen Patriotismus gegen russische Fremdherrschaft<br />

zu demonstrieren, für gut und richtig, ihre drei Söhne, Jahrgang 1938,<br />

1940 und <strong>1943</strong>, in <strong>der</strong> Weißen Kirche zu Leipzig taufen zu lassen. Außer<br />

<strong>der</strong> Taufe, die fast nicht vollzogen worden wäre, weil die Kin<strong>der</strong> die<br />

Wasserspritzer zum Lachen reizten, den Repräsentanten Gottes auf<br />

Erden aber angesichts solch unangebrachter Albernheit unwillig werden<br />

ließen, verbinden sich mit <strong>der</strong> Weißen Kirche auch an<strong>der</strong>e Erinnerungen.<br />

49


Nicht zuletzt an Weihnachten 1949 o<strong>der</strong> 1950, als die drei Jungen wegen<br />

des lauen Winterabends in Kniestrümpfen den Weg zur Krippe des<br />

Jesuskindes antraten. Und an Einbrüche des mittleren Bru<strong>der</strong>s, <strong>der</strong> heute<br />

in Vorpommern als praktizieren<strong>der</strong> Arzt und Christ seinen Lebensmittelpunkt<br />

gefunden hat. Im Keller <strong>der</strong> Weißen Kirche übte sich Leo Kleinschmidts<br />

Bru<strong>der</strong> als Einbrecher. Von dort ließ er gemeinsam mit einem<br />

später bei seiner katholischen Jugend beliebten Priester, den das schreckliche<br />

Ende einer rasenden Fahrt in seiner Trabi-Pappkartätsche, um<br />

einem Siebenundneunzigjährigen die letzte Ölung zu spenden, schon<br />

längst vor seinen Herrn hat treten lassen, Kirchengerät mitgehen, während<br />

<strong>der</strong> sechsjährige Leo Kleinschmidt draußen Schmiere stehen mußte.<br />

Das plötzliche Ende von seines Vaters Reichskarriere hatte diesen vor<br />

einer schmutzigen Weste und seine Familie vor <strong>der</strong> Scham bewahrt. Nach<br />

<strong>der</strong> Einnahme Sachsens durch die Amerikaner und Sowjets im April 1945<br />

logierten einige amerikanische Offiziere in <strong>der</strong> Villa Kleinschmidt in <strong>der</strong><br />

Hannoverschen Straße, einem aus drei Villen bestehenden Teilstück, dem<br />

Paradies einer Kindheit. Als die Amerikaner dann, wie von den Alliierten<br />

zuvor vertraglich geregelt, aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen<br />

abgezogen waren, um diese Provinzen den Russen zu überlassen und in<br />

Berlin einzumarschieren, quartierten sich bei den Kleinschmidts sowjetische<br />

Offiziere ein, ein Journalist und ein Arzt aus Moskau, die sich sehr<br />

menschlich verhielten, ganz im Gegensatz zu den Greuelgeschichten, die<br />

damals zu hören waren. Gelegentlich versorgten sie die Familie mit<br />

Butter, Mehl, Fleisch und Brot, die beiden Brü<strong>der</strong> mit Fasanenfleisch und<br />

ihn, den Fünfjährigen, <strong>der</strong> gerade erst sprechen gelernt hatte, mit Milch<br />

und seiner ersten Papirosa, einer schrecklich stinkenden Zigarette, die<br />

sich am besten aus einem Papierfetzen <strong>der</strong> Prawda o<strong>der</strong> Iswestija drehen<br />

ließ, die linke Hand während <strong>der</strong> Autofahrt am Steuer, die rechte in <strong>der</strong><br />

Uniformjackentasche, um die Tabakkrümel in die Zeitung zu beför<strong>der</strong>n.<br />

Leo Kleinschmidts Großmutter mütterlicherseits, eine Nichtschwimmerin,<br />

hatte die Ungewißheit über das Schicksal <strong>der</strong> Familie ihrer Tochter<br />

nicht mehr ertragen und sich in <strong>der</strong> Kleinen Luppe hinter <strong>der</strong> Klingerschen<br />

Villa ertränkt. Leo Kleinschmidt hatten die überstürzte Abreise<br />

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nach Pommern vor den amerikanischen Bomben und die Flucht vor<br />

sowjetischen Angriffen zurück nach Leipzig trotz erster Sprecherfolge für<br />

einige Jahre verstummen lassen. Großmutters Schmuck und an<strong>der</strong>e<br />

Wertsachen aus <strong>der</strong> verwaisten Wohnung befinden sich vielleicht auch<br />

heute noch in Leipzig im Besitz <strong>der</strong> Nachkommen guter Nachbarn, die<br />

<strong>der</strong> vom Familienerbe ausgehenden Versuchung nicht hatten wi<strong>der</strong>stehen<br />

können. Einzig den guten alten Volksempfänger hatten die Nachbarn auf<br />

Drängen von Leos Mutter zurückgegeben. Bis Ende <strong>der</strong> fünfziger Jahre<br />

leistete er mit seinen krachenden und krächzenden Sendungen aus London<br />

und dem amerikanischen Sektor von Berlin gute Dienste, bis Mitsche,<br />

Leos mittlerer Bru<strong>der</strong>, nachdem er im Kartenzimmer einer gymnasialen<br />

Ka<strong>der</strong>schmiede ein kleines Feuerchen entfacht hatte, um sich die<br />

Hände zu wärmen, weshalb er notgedrungen in einer an<strong>der</strong>en Stadt im<br />

Internat einer ähnlich renommierten Schule untertauchen mußte, das<br />

Radio an sich nahm; dank einem unbeherrschbaren Forschertrieb, <strong>der</strong> es<br />

in seine unauffindbaren Einzelteile zerlegte, verschwand es für immer.<br />

Das Leipzig seiner Kindheit, das Leipzig seiner Erinnerung, das sind<br />

Ruinen in <strong>der</strong> Landsberger Straße, im Viertelsweg, in denen sich angeblich<br />

Mör<strong>der</strong> verschanzt hatten, vielleicht auch nur wahnsinnig gewordene<br />

Heimkehrer, die unter den Trümmern nach Angehörigen suchten. Leipzig,<br />

das sind aus <strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft Zurückgekehrte, die sich aus<br />

Verzweiflung darüber, daß sie ihre Wohnung und ihre Familie nicht mehr<br />

ausfindig machen konnten, von einer Brücke vor einen anrollenden Zug<br />

stürzten, Leipzig, das sind Bettler, bettelnde Nachbarskin<strong>der</strong>, eine bettelnde<br />

Frau Garbe, die ihre Lebensmittelkarten verloren (damals <strong>der</strong><br />

sichere Hungertod), daheim sich und ihren bettlägerigen alten Mann zu<br />

versorgen hatte, weshalb sie gegen zwei karge Essensrationen die Kin<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Kleinschmidts und <strong>der</strong>en Haushalt versorgte, sich manchmal wie ein<br />

Musikclown die Augen verband, um ihnen auf dem Klavier Chopin und<br />

Liszt zu Gehör zu bringen. Leipzig, das heißt Anschreibenlassen in Frau<br />

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Lademanns Krämerladen in <strong>der</strong> Landsberger/Ecke Jägerstraße, um auch<br />

am kommenden Tag über die nötigsten Grundlebensmittel zu verfügen.<br />

Leipzig, das ist Böhlen, wo Leo Kleinschmidts Vater als einst in Königsberg<br />

akademisch geprüfter Schwimmlehrer Kin<strong>der</strong>n beibringt, sich über<br />

Wasser zu halten, ein Bombentrichter, in dem er Kürbis anbaut, den<br />

Mutter Kleinschmidt zu wohlschmeckendem Kompott verarbeitet,<br />

Leipzig, das heißt 1. September 1950, Leos erster Schultag, Leipzig, das<br />

ist eine Schlittenpartie mit Mitsche im Wackerstadion, die an einem<br />

Betonpfosten mit einem Nasenbeinbruch endet und damit, daß ihn sein<br />

Bru<strong>der</strong> auf dem Schlitten durch die schneelosen Straßen nach Hause<br />

zieht. Leipzig bedeutet aber auch, daß er besagten Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> in seinem<br />

Tatendrang sehr zum Ärger und Leidwesen <strong>der</strong> Eltern in <strong>der</strong> Nachbarschaft<br />

gelegentlich materiellen Schaden größeren Ausmaßes anrichtet, daß<br />

er also Mitsche o<strong>der</strong> Süß, so nennt er ihn, totenblaß vor Angst über die<br />

Terrasse rasen sieht, seinen Vater mit dem Rohrstock in <strong>der</strong> Hand ihm<br />

hinterher. Leipzig, das ist Leos etwa gleichaltriger Freund Ralf, sein<br />

Dolmetscher in den Jahren <strong>der</strong> Stummheit, als sein verbales Vermögen<br />

darin besteht, „i-i” zu sagen, und Ralf <strong>der</strong> Außenwelt erklärt, was I-I<br />

haben o<strong>der</strong> sagen will, denn nur sein gutes Herz ist imstande, I-I´s Sprache<br />

in die <strong>der</strong> Erwachsenen zu übersetzen.<br />

Dann, im Januar 1951, ziehen sie von Leipzig weg. Der Vater unterrichtet<br />

an einem Gymnasium in einer an<strong>der</strong>en Stadt Deutsch und Geschichte.<br />

Seither hat Leo Kleinschmidt an zirka zwanzig verschiedenen Orten<br />

Deutschlands versucht, heimisch zu werden. In seinen Träumen atmet er<br />

gierig den Geruch von Rübensirup ein, spielt mit den Kin<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />

Nachbarschaft Verstecken. Den Wegzug aus <strong>der</strong> Hannoverschen Straße<br />

erlebt er in seinen allnächtlich wie<strong>der</strong>kehrenden Träumen wie eine Vertreibung<br />

aus dem Paradies o<strong>der</strong> aber als Endstation seiner Sehnsucht. Der<br />

Verlust <strong>der</strong> kindlichen Wurzeln schmerzt. Nirgendwo sonst hat er sich so<br />

zu Hause gefühlt wie gerade dort. Erst in Budapest, wo er zwischen 1968<br />

und 1973 gelebt hat und wohin er 1994 zurückgekehrt ist, ist es ihm<br />

gelungen, wie<strong>der</strong> Wurzeln zu schlagen, sich heimisch zu fühlen. Überall<br />

sonst fühlte er sich wie Ahasver.<br />

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Für kurze Zeit kehrt so etwas wie Leipzig noch einmal in sein Leben<br />

zurück, als Lilo 1952 nach Hamburg verschwindet und deshalb den Sohn,<br />

Leos Freund Ralf, für vier Monate <strong>der</strong> Familie Kleinschmidt anvertraut,<br />

damit sie in <strong>der</strong> westlichen Fremde erst einmal selbst Fuß fassen kann.<br />

Da Dr. Kleinschmidt es nicht für nötig und ratsam hält, seine Umgebung<br />

am neuen Wohnort über die Herkunft des Jungen aufzuklären, gilt er in<br />

den Klatschgeschichten <strong>der</strong> Leute als <strong>der</strong> Kegel des alten Doktors, <strong>der</strong><br />

damals noch nicht einmal seinen vierundvierzigsten Geburtstag gefeiert<br />

hat. Dann aber verschwindet Ralf für immer. Erst in einer Jahrzehnte<br />

später aufgefundenen Akte, geführt von verantwortungsvollen Chronisten<br />

eines Landes, das Leo Kleinschmidts Land nicht sein wollte, kommen<br />

seine nie beantworteten Briefe wie<strong>der</strong> zum Vorschein.<br />

Andreas, mit dem zusammen Leo Kleinschmidt an <strong>der</strong> Martin-Luther-<br />

Universität in Halle in den obligatorischen Marxismusseminaren so<br />

manchen Ulk getrieben hat, ist in den siebziger Jahren als Dozent an<br />

einer Leipziger Hochschule tätig. Ein sensibel und zerbrechlich wirken<strong>der</strong><br />

junger Mann, den vor allem sein ironisches Lächeln und seine ironischen<br />

Geschichten auszeichnen, die so gar nicht zu seinem späteren Schicksal<br />

passen wollen. Aber vielleicht war die für ihn typisch scheinende Ironie<br />

auch nur ein Überbleibsel aus <strong>der</strong> Schizophrenie seiner Kindheit, als sein<br />

Vater einen Vertrauensposten bei den Sowjets innehatte, den eines Direktors<br />

bei einer SAG, einer Sowjetischen Aktiengesellschaft, und seine<br />

Mutter vom Katholizismus nicht lassen wollte.<br />

Andreas, die Inkarnation <strong>der</strong> Treue, heiratete gegen den Willen seiner<br />

Eltern, denen die Nazis immer ein Greuel gewesen sind, ein Mädchen,<br />

dessen Vater, ein SS-General, nach dem Krieg zum Tode verurteilt und<br />

hingerichtet worden war. Andreas, praktizieren<strong>der</strong> Katholik, hat sich in<br />

<strong>der</strong> Zeit real-sozialistischer Schikanen und unter dem Eindruck des<br />

Ausreisebazillus entschlossen, Leipzig die Treue zu wahren. Er will seine<br />

Heimat unter gar keinen Umständen verlassen; Staaten und Regime<br />

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kommen und gehen, aber die Städte und Landschaften bleiben; die<br />

Menschen sollten es ebenso tun.<br />

Er ist ein hochsensibler Romantiker; als sich seine Frau in einen an<strong>der</strong>en<br />

Mann verliebt und sich scheiden läßt, tritt er die einzige Flucht seines<br />

Lebens an. Nicht Leipzig kehrt er den Rücken, nein, dem Leben, er<br />

flüchtet sich in die geistige Umnachtung, in den Wahnsinn, worin er nun<br />

schon fast so lange wie einst Höl<strong>der</strong>lin, seit etwa zwanzig Jahren, verharrt.<br />

Denkt Leo Kleinschmidt an Leipzig in <strong>der</strong> Nacht, ist er nicht um den<br />

Schlaf gebracht, nein, aber er denkt an all seine Freunde dort, an seine<br />

Kindheit, an das verlorene Paradies, das fast ein Inferno geworden wäre.<br />

Ihm fällt eine Geschichte ein, die ihm Freya Kralig, Andreas´ Schwester,<br />

erzählt hat, aus <strong>der</strong> Zeit, als sie im Messebau tätig gewesen ist und für die<br />

Frau eines in Mexiko seiner Krebskrankheit erlegenen Führers <strong>der</strong> DDR<br />

und ehemaligen Bergmanns ein Büro eingerichtet hat. Durch einen Zufall<br />

war sie in die Leipziger Schaltzentrale <strong>der</strong> Macht gelangt, wohin ihr ein<br />

ehemaliger Kommilitone aus Prahlerei und Geltungsbedürfnis Zugang<br />

verschafft hatte. Dort zauberte <strong>der</strong> Prahlhans über die Betätigung verschiedener<br />

Knöpfe unterschiedlichste Plätze, Lokalitäten und Gebäude<br />

<strong>der</strong> Stadt auf den Bildschirm, so daß Freya intime Einsichten in das<br />

Treiben ihrer Leipziger Mitmenschen gewann.<br />

Die Plätze, Straßen und Häuser existieren nicht mehr, zumindest nicht<br />

mehr so, wie sie in Leo Kleinschmidts Erinnerung leben. Hochhäuser<br />

haben die Gärten seiner Kindheit verdrängt, haben dem Boden, auf dem<br />

sie in einem verwunschenen Garten ein Lagerfeuer gemacht haben, um<br />

darin Kartoffeln garen zu lassen, die Unschuld geraubt. Auch die Landsberger<br />

Straße, wo er seine Mutter nach ihren Hamstertouren an <strong>der</strong><br />

Haltestelle Viertelsweg von <strong>der</strong> Straßenbahn abholte, erkennt er kaum. In<br />

<strong>der</strong> Erinnerung sieht er eine junge, bildhübsche und wun<strong>der</strong>bare Frau,<br />

seine Mutter, aus <strong>der</strong> Straßenbahn steigen, zwei volle Eimer mit Kartoffeln<br />

und Gemüse in den Händen, auf dem Rücken einen schweren Rucksack.<br />

Er spürt die Düfte aus <strong>der</strong> Waschküche in seine Nase steigen. Im<br />

Waschkessel rühren die Frauen - Verwandte, Frau Garbe und seine<br />

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Mutter - abwechselnd die im eigenen Saft brodelnden Zuckerrüben um,<br />

aus denen, mit Kürbis gestreckt, wohlschmecken<strong>der</strong> Sirup entsteht. Von<br />

den ausgelaugten Rübenschnitzeln darf er essen. Leo Kleinschmidt blickt<br />

hinüber zur Terrasse des Nachbarhauses, wo Berthold von Hellerau,<br />

Sohn des einstigen Museumsdirektors <strong>der</strong> Stadt, die Fotos von Tauchschern<br />

und <strong>der</strong> Einschulung geschossen hat. Das eine Bild zeigt Leo<br />

Kleinschmidt in einer weißen Schürze, auf dem Kopf eine Kochmütze,<br />

Tränen in den Augen, weil er doch so gern ein Trapper gewesen wäre.<br />

Ein an<strong>der</strong>es Bild legt Zeugnis von seiner Einschulung ab: weiße gehäkelte<br />

Kniestrümpfe aus Baumwolle und im Arm eine Zuckertüte. Auf zwei<br />

weiteren Bil<strong>der</strong>n ist er in roten Samthosen mit roten Samthosenträgern zu<br />

sehen, weißem Hemd, den beschriebenen weißen Kniestrümpfen und an<br />

den Füßen in Igelitsandalen, <strong>der</strong>en oft reißende Riemen sich mit Hilfe<br />

eines über <strong>der</strong> Gasflamme zum Glühen gebrachten Messers wie<strong>der</strong><br />

befestigen, anschweißen ließen, auf dem zweiten Bild in gleicher Ausstattung,<br />

diesmal aber in einer weißen kurzen Hose aus einem Baumwoll-<br />

Leinen-Gemisch, dem Stoff, <strong>der</strong> die riesengroßen Pakete umhüllte, die<br />

jährlich zweimal aus dem texanischen Brookshire von den um 1900 aus<br />

Galizien ausgewan<strong>der</strong>ten und nie gesehenen Verwandten eintrafen.<br />

Berthold von Hellerau darf 1963 als einer <strong>der</strong> ersten nach dem Mauerbau<br />

als Tennis-As zu einem Wettkampf in den Westen, nach Kiel, reisen<br />

und läßt, indem er das Vertrauen des ersten Arbeiter- und Bauernstaats in<br />

<strong>der</strong> deutschen Geschichte schamlos ausnutzt, die Rückfahrkarte nach<br />

Leipzig verfallen und nimmt sogar in Kauf, daß seine überempfindliche<br />

Mutter, die den Schritt des Sohnes zwar rational billigt, auf ihre letzten<br />

Tage in die Nervenheilanstalt umziehen muß, nach Dösen in die Klapsmühle,<br />

wo sie, die aus einer großbürgerlichen Familie stammt und teils in<br />

England zur Schule gegangen ist, mit ihrer Bettnachbarin französisch und<br />

englisch parliert.<br />

In Gedanken sucht Leo Kleinschmidt den Südfriedhof am Fuße des<br />

Völkerschlachtdenkmals auf, das längst eingeebnete Grab seiner Großmutter<br />

Meta Pietraszewski, die ihm viel von ihren Eltern hätte erzählen<br />

können und von ihren Großeltern, seinen Ururgroßeltern, die sich nach<br />

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<strong>der</strong> von Hardenberg 1812 auf den Weg gebrachten Judenemanzipation<br />

nicht hatten entschließen können, sich taufen zu lassen. Und noch mehr<br />

hätte sie ihm vermutlich von ihrem Mann, dem galizischen Großvater,<br />

erzählen können.<br />

Unsere Toten leben in uns weiter. Meta Pietraszewski hat sich vor drei<br />

Jahren aus ihrer geschändeten letzten Ruhestätte auf eine zweitletzte<br />

Reise nach Budapest begeben, um in ihrer Urenkelin Rachel Meta fortzuleben.<br />

Pest-Gohlis, eine Zusammensetzung aus Budapest und Leipzig, so heißt<br />

die Stadt seiner Geburt. Ihr ist Leo Kleinschmidt in seinem Sein, das von<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft eine Brücke schlägt,<br />

auf <strong>der</strong> seine Phantasie hin und her wandelt, engstens verbunden, sie ist<br />

seine Heimat.<br />

Was ist Heimat? Ist Heimat nicht auch all das an Erlebtem, was dich<br />

belastet, was du gern verdrängen würdest? Sind nicht auch all die Orte<br />

deiner Kindheit, deiner Jugend Heimat, nicht all die Menschen, an die du<br />

dich ungern, weniger ungern o<strong>der</strong> gar gern erinnerst? Ist Heimat nicht<br />

auch das, was du abgelehnt, worunter du gelitten hast?<br />

Hager, blond o<strong>der</strong> vielleicht doch nicht wirklich blond: Marlene. IM<br />

Paris. Ausgerechnet dieses <strong>der</strong> Chemie zu verdankende Blond war ihm<br />

aufgefallen. Leo Kleinschmidt war neunzehn und kannte sich in den<br />

Raffinessen, <strong>der</strong>er das weibliche Geschlecht fähig ist, noch nicht aus.<br />

Marlene sprach deutsch mit leichtem französischen Akzent. Dabei konnte<br />

sie gar kein Französisch. Noch acht Jahre zuvor war Deutsch für sie<br />

eine Fremdsprache gewesen. Französisch war so etwas wie ihre Muttersprache,<br />

die sie aber in den letzten Jahren vergessen hatte. 1940 in Paris<br />

geboren, im Exil <strong>der</strong> Eltern, die 1933 als Zwanzigjährige Deutschland<br />

den Rücken gekehrt hatten, war sie aufgewachsen wie eine Französin.<br />

Selbst zu Hause wurde französisch gesprochen. Deutsch, die Sprache <strong>der</strong><br />

verhaßten Nazis, war verpönt. Auch ihr Charme machte einer Französin<br />

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alle Ehre. Nichts an ihr schien einer Deutschen, genauer gesagt einer<br />

Ostdeutschen, zu ähneln. Mit vierzehn kehrte sie in die Heimatstadt <strong>der</strong><br />

Eltern zurück, um französisch zu vergessen und lediglich den Akzent<br />

beizubehalten, deutsch allerdings nie ganz fehlerfrei zu erlernen. Mit<br />

sympathisch hilflosem Lächeln versagte ihr die Zunge den Gehorsam,<br />

wenn es niemand vermutete.<br />

Gute Voraussetzungen für eine Bühnenkarriere, könnte einer meinen.<br />

Marlene und Leo Kleinschmidt sind hier, in einer Provinzstadt, als Schauspielanfänger<br />

engagiert. Aber Marlene schafft es, ihre schauspielerische<br />

Begabung auch an<strong>der</strong>weitig unter Beweis stellen, nicht nur an diesem<br />

kleinen Theater <strong>der</strong> Deutschen Demokratischen Republik. Tag für Tag<br />

stehen sie auf <strong>der</strong> Bühne, allerdings ohne die dafür nötige Spielgenehmigung<br />

zu besitzen. Die gilt es zu erwerben, denn sonst könnten sie von<br />

heute auf morgen trotz bestehenden Vertrags gefeuert werden. Vom<br />

ersten Tag an sind sie durch diese Situation eng miteinan<strong>der</strong> verbunden.<br />

Sich Marlene, von <strong>der</strong> er sich, wie von so vielen an<strong>der</strong>en auch, unwi<strong>der</strong>stehlich<br />

angezogen fühlt, als Mann zu nähern, wagt er nicht. Sie hat einen<br />

Freund, <strong>der</strong> zwar selten auftaucht, da er sich mit seinem Volkswagen<br />

wochenlang im Westen aufhält, wo er beruflich als Bergbauingenieur zu<br />

tun hat, aber die Beziehung scheint trotzdem stabil zu sein. Leo Kleinschmidt<br />

wun<strong>der</strong>t sich, daß ein so junger Mann (er ist siebenundzwanzig)<br />

frei reisen darf, was den meisten seiner Mitbürger verwehrt ist. Sich<br />

wun<strong>der</strong>n ist nicht weit weg von Bewun<strong>der</strong>n.<br />

Marlene gibt keineswegs zu erkennen, daß sie an mehr als Freundschaft<br />

mit Leo Kleinschmidt interessiert wäre. Was ihnen an Gemeinsamkeit<br />

bleibt, das sind wun<strong>der</strong>bare Spaziergänge über alle Friedhöfe <strong>der</strong> Umgebung.<br />

Hier philosophieren sie über Gott und den Tod, über Sinn und<br />

Unsinn des Lebens. Wirklich Privates fließt kaum in ihre Unterhaltungen<br />

ein, es sei denn, daß ihre beruflichen Träume privat zu nennen wären.<br />

Außer ihrem Freund tauchen noch zwei weitere Männer auf, zu denen<br />

sie Kontakte unterhält, ohne daß Leo Kleinschmidt sich Klarheit darüber<br />

zu verschaffen wüßte, welcher Natur diese Beziehungen sind. Der eine ist<br />

57


ein sechzigjähriger evangelischer Pfarrer, <strong>der</strong> seit vierzig Jahren mit einer<br />

zehn Jahre älteren Frau verheiratet ist, mit Ännchen.<br />

Hat Marlene mit ihm ein Verhältnis? Frau Haußmann befindet sich<br />

gerade mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Sollten <strong>der</strong><br />

Pfarrer und Marlene etwa miteinan<strong>der</strong> schlafen? Das kann sich Leo<br />

Kleinschmidt kaum vorstellen, obwohl er ein Jahr zuvor schon mit einer<br />

ähnlich eigenartigen Geschichte Bekanntschaft gemacht hat. Marlene ist<br />

jedenfalls stets sehr nett zu ihm, und schließlich ist sie es, die unbedingt<br />

will, daß er den Pfarrer kennenlernt. Einen Grund zur Eifersucht gibt es<br />

nicht.<br />

Der an<strong>der</strong>e Mann, den sie ständig aufsucht, ist ein ehemaliger NVA-<br />

Offizier, <strong>der</strong> aus dem aktiven Dienst ausgestiegen ist und sich nun als<br />

Schauspieler versucht. Versuch und Irrtum. In den zurückliegenden drei<br />

Jahren seiner Schauspielerei hat Leo Kleinschmidt verschiedenste Künstler<br />

erlebt, von denen ihm nur einer vielleicht noch schwächer vorgekommen<br />

ist als ausgerechnet Marlenes zweiter Verehrer. Laut Marlene<br />

kennt er Leute, die ihr helfen könnten, eine staatliche Spielerlaubnis zu<br />

erlangen.<br />

Marlene meint es gut mit ihm, dessen ist sich Leo Kleinschmidt sicher.<br />

Denn warum sonst sollte sie versuchen, den ehemaligen Offizier für ihn<br />

einzunehmen? Einmal nimmt sie ihn sogar zu ihm mit. Sie treten durch<br />

das große Tor in <strong>der</strong> Puschkinstraße: Auf dem Hof liegt, nur mit einer<br />

Badehose bekleidet, braun gebrannt, <strong>der</strong> Kollege. Es will scheinen, als<br />

hätte <strong>der</strong> für ihn nur ein mitleidsvoll ironisches Lächeln übrig. Die Unterhaltung<br />

gestaltet sich schleppend. Zwischen ihnen steht eine unsichtbare<br />

Mauer. Sollte er in Leo Kleinschmidt einen Rivalen wittern? O<strong>der</strong> ist<br />

es einfach nur <strong>der</strong> zwischen ihnen bestehende Altersunterschied, weshalb<br />

er die unsichtbare Mauer trotz Marlenes liebevollen Bemühens nicht<br />

überwinden kann? Es könnte sein, daß auch dem Offizier bereits zu<br />

Ohren gekommen ist, daß Leo im Falle einer Musterung vorhabe, den<br />

Wehrdienst zu verweigern. Gewiß ist Leo Kleinschmidts Offenheit<br />

bodenlos naiv, aber in wichtigen Dingen spielt er immer mit offenen<br />

Karten. Sollte ihm, Jahrgang <strong>1943</strong>, <strong>der</strong> Haß auf alles Militaristische mit<br />

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dem Dröhnen <strong>der</strong> Flugzeuge über und den explodierenden Bomben vor<br />

und hinter ihm eingebrannt worden sein?<br />

Vater Kleinschmidt, den Fußstapfen des eigenen Vaters folgend ein Nazi<br />

<strong>der</strong> ersten Stunde, hatte unter Hitler eine führende Funktion in <strong>der</strong><br />

Kulturpolitik inne. 1936 zur Olympiade in Berlin hielt er sich in unmittelbarer<br />

Nähe von Leni Riefenstahl auf. Was ihn mit ihr verband, womit er<br />

ihr zu Diensten sein konnte, darüber hat er ebenso wenig gesprochen wie<br />

über seine guten Kontakte zu fast allen damaligen Filmgrößen <strong>der</strong> Ufa.<br />

Dank seiner Zuverlässigkeit und Unbescholtenheit, dank seines in Königsberg,<br />

Berlin und Jena absolvierten Studiums <strong>der</strong> Geschichte, abgeschlossen<br />

mit einer nationalistisch orientierten bravourösen Dissertation,<br />

wie es hieß, zum Thema des Deutschen Ritterordens, winkte ihm eine<br />

Reichskarriere, das um so mehr, als ihm Vater Friedrichs Existenz ein<br />

erstklassiges Leumundszeugnis ausstellen konnte.<br />

Vordamm, wo Leos Vater geboren worden ist, war <strong>der</strong> äußerste, nach<br />

Osten vorgeschobene Posten <strong>der</strong> Provinz Brandenburg. In diesem<br />

Grenzbewußtsein ist Vater Kleinschmidt aufgewachsen. Der Weg zum<br />

Deutschen Ritterorden mag so zu erklären sein. Sein Doktorvater, Erich<br />

Caspar, den sparsamen Informationen Vater Kleinschmidts zufolge<br />

Halbjude, hat sich 1935 das Leben genommen. Als Dr. Kleinschmidt,<br />

Leos Vater, 1949 in Halle ein Diplom als Gymnasiallehrer erwarb, reichte<br />

er, was einer gewissen Dreistigkeit nicht entbehrte, die Dissertation, die<br />

von seinem Professor, <strong>der</strong> sich später gleichfalls das Leben nahm, hoch<br />

bewertet wurde, als Examensarbeit ein.<br />

Die zehner, dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts sind gepflastert<br />

mit zig Millionen von Kriegstoten, Vergasten und Selbstmör<strong>der</strong>n.<br />

Fast hätte sich auch Leos Vater direkt o<strong>der</strong> indirekt am wahnsinnigen<br />

Massenmorden beteiligt. 1939 erhielt er einen Ruf ins Reichssicherheitshauptamt,<br />

wo er als Historiker die nationalsozialistischen Ordensburgen<br />

für den Nachwuchs <strong>der</strong> Reichselite ideologisch stärken sollte. Leo<br />

59


Kleinschmidts Mutter, die Ehestreit nicht kannte, beschwor ihn, sich<br />

nicht vor den Karren <strong>der</strong> SS spannen zu lassen. Die rassistischen Parolen<br />

<strong>der</strong> SS waren ihr verdächtig. Sie machte ihren Mann darauf aufmerksam,<br />

daß sich <strong>der</strong> Speer eines Tages auch gegen sie richten könnte, schließlich<br />

sei die eigene arische Abstammung als geborene Pietraszewski, zu<br />

deutsch die Ängstliche, allein schon wegen ihres Namens nicht unangreifbar,<br />

aber auch die Herkunft seiner Mutter, einer geborenen<br />

Wroblewski, könnte bei arischen Rassenfanatikern Anlaß zu Stirnrunzeln<br />

geben. Wroblewski, zu deutsch <strong>der</strong> Sperlinghafte, was für ein deutscher<br />

Name! Leo Kleinschmidts Mutter, die ein Jahr zuvor ihren ersten Sohn,<br />

Leos Bru<strong>der</strong> Friedrich, zur Welt gebracht hatte, in Berlin, war in ihrer<br />

unerschütterlichen Liebe stark genug, ihren Mann vor einer törichten<br />

Entscheidung, die sich zu einem grandiosen Verbrechen entwickelt hätte,<br />

zu bewahren.<br />

Großvater Kleinschmidt, dem <strong>der</strong> Entschluß seines Sohnes, sich dem<br />

Ruf <strong>der</strong> Reichselite zu versagen, mißfiel, hatte einen Grund mehr, <strong>der</strong><br />

ungeliebten Schwiegertochter zu mißtrauen. Solcher Einfluß, wie ihn<br />

Leos Mutter, die stets ein sanftes Lächeln auf den Lippen trug, als ruhen<strong>der</strong><br />

Pol und emotionales Machtzentrum <strong>der</strong> Familie ausübte, war deutschen<br />

Familien fremd. So etwas gab es nur in semitischen Verbänden.<br />

Großvater Friedrich, stechen<strong>der</strong>, beobachten<strong>der</strong> Blick, wie er auch einem<br />

seiner Enkel eignet, von nicht eben arischem Wuchs, war als ehemaliger<br />

Deutschnationaler und Großunternehmer eines in den zwanziger Jahren<br />

in Konkurs gegangenen Betriebs, <strong>der</strong> seine Bautätigkeit im ganzen Deutschen<br />

Reich ausübte, erst bei <strong>der</strong> Zollbehörde und schließlich bei <strong>der</strong><br />

Gestapo gelandet, um dort Karriere zu machen. Dieser eines Deutschen,<br />

wie er meinte, würdige Weg, erfüllte ihn mit Stolz.<br />

Im Laufe von Generationen gibt es im Leben einer Familie Entwicklungen,<br />

<strong>der</strong>en intime Kenntnis nicht für die Außenwelt bestimmt ist. Ein<br />

Teil <strong>der</strong> Familiengeschichte Leo Kleinschmidts ist bisher nicht nur von<br />

diesem selbst wie ein Staatsgeheimnis gehütet worden. Leo Kleinschmidt<br />

fühlt sich schuldig, obwohl er sich keiner persönlichen Schuld bewußt ist,<br />

weil er genetisch das Leben von Menschen fortsetzt, mit <strong>der</strong>en Handeln<br />

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er nicht einverstanden ist, schlimmer, das er verabscheut. Beson<strong>der</strong>s die<br />

Taten eines Menschen, seines Großvaters, den er verachtet, vor dem er<br />

schon als Kind eine unbestimmte Angst hatte.<br />

Daß sein Vater als Sohn eines Gestapooffiziers glänzende Voraussetzungen<br />

gehabt hätte, in die Führungsclique <strong>der</strong> SS aufzusteigen, ist unstreitig.<br />

Daß er diesen Weg nicht gegangen ist, hatte er vor allem dem<br />

seiner Frau angeborenen sicheren Instinkt für Unrecht zu verdanken,<br />

aber auch dem eigenen inneren Anstand. Nach dem Kriegsende 1945<br />

brach Leos Vater physisch und psychisch zusammen. Von seinem verheerenden<br />

Irrtum hat er sich nie mehr erholt. Geredet über seinen Irrtum<br />

und den einer ganzen Generation hat er in den ihm verbleibenden sechsunddreißig<br />

Jahren kein einziges Wort. Zumindest nicht im Kreis seiner<br />

Familie. Daran än<strong>der</strong>te auch die Tatsache nichts, daß er an einem Gymnasium<br />

Geschichte, Geographie, Deutsch und Gegenwartskunde unterrichtete.<br />

Auch nicht sein Aufstieg zum Hochschullehrer und auch nicht<br />

seine Blindheit, die ein Symbol dafür gewesen sein könnte, daß er von all<br />

dem um ihn her nichts mehr sehen wollte, auch nichts von <strong>der</strong> Inhaftierung<br />

seines Sohnes, die er ebenfalls wort- und klaglos ertrug.<br />

Warum wohl mag Leo Kleinschmidt so renitent geworden sein, wie<br />

seine Mutter zu sagen pflegte? Ist es das väterliche o<strong>der</strong> das mütterliche<br />

Erbteil? Väterlicherseits fühlten sich mehrere Vorfahren sowohl dem<br />

Deutschtum als auch Polen beson<strong>der</strong>s verbunden. Zwei damals in Warschau<br />

lebende Tanten Leo Kleinschmidts unterrichteten an einem Gymnasium<br />

Polnisch. Zwar sprachen sie auch deutsch wie ihre Schwester,<br />

Leos Großmutter, aber sie waren natürlich ebenso Polinnen wie die<br />

Großmutter Deutsche. Obwohl er von ihrem blutrünstigen Deutschtum<br />

noch gar nichts wußte, fühlte er sich als Kind in ihrer Nähe stets unbehaglich.<br />

Als die beiden Tanten nach Auschwitz deportiert wurden, empfand es<br />

<strong>der</strong> Großvater als seine Pflicht, sie vor dem fast sicheren Tod zu bewahren<br />

und sie aus dieser Hölle herauszuholen, indem er nachwies, daß es<br />

sich hier um ein Versehen <strong>der</strong> deutschen Behörden handeln müßte, da<br />

seine Schwägerinnen we<strong>der</strong> Polen noch Juden sein könnten. Schließlich<br />

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war seine Frau mit dem polnischen Mädchennamen nachgewiesenermaßen<br />

Deutsche, also Arierin. Und arisches Recht blieb arisches Recht.<br />

Tatsächlich.<br />

Daß polnische Männer auf seinen Befehl hin an den Füßen aufgehängt<br />

wurden, weil man sie <strong>der</strong> Rassenschande überführt hatte, war ihm eine<br />

<strong>der</strong>artige Genugtuung, daß er sich unter den ausblutenden Körpern<br />

fotografieren ließ. Wie schaffte er es, die familiären Wi<strong>der</strong>sprüche und<br />

seine Rolle als Hüter arischer Moral in seinem Kopf zu ordnen? Hatte er<br />

eine Ahnung von <strong>der</strong> Abstammung <strong>der</strong> Schwiegertochter, <strong>der</strong>en Ahnentafel<br />

nicht nur väterlicherseits, son<strong>der</strong>n auch mütterlicherseits verdächtige<br />

Namen aufwies? Bis hin zu ihren Ururgroßeltern kam nur ein einziger<br />

echter deutscher Name vor: Utecht. Die Ururgroßmutter Martha Hauer<br />

hatte einen Herrn Ignaz Katz geheiratet. Die Tochter Rachel Katz,<br />

geboren 1857 in Galizien, ließ sich taufen, um den Milchhändler Utecht<br />

heiraten zu können. Aus Katz wurde im Kirchenbuch Kaatz. So wurde<br />

aus altem mosaischen Adel eine unverdächtige Deutsche. Tochter Utecht<br />

aber, Leos Großmutter mütterlicherseits, heiratete einen Herrn Pietraszewski,<br />

einen Kantor und Volksschullehrer in Neubrück, einem deutschen<br />

Dorf, das bereits 1917 an Polen gefallen ist.<br />

Das aber hat Leo Kleinschmidts deutscher Großvater mütterlicherseits<br />

mit dem gleichfalls wenig deutsch klingenden Namen Leo Pietraszewski<br />

nicht mehr erlebt. Wohl ein Gegner von Impfungen, hatte er 1915 bei<br />

Verdun sein junges Leben nicht einmal auf dem Feld <strong>der</strong> Ehre sinnlos<br />

aufopfern müssen, nein, eine Typhusepidemie hatte ihn dahingerafft. Für<br />

seine Familie vielleicht etwas, was ein Tod zur rechten Zeit genannt<br />

werden könnte, auch wenn seine dreieinhalbjährige Tochter und die junge<br />

Witwe das an<strong>der</strong>s empfunden haben mochten. Bei Ausbruch des Ersten<br />

Weltkriegs war Großvater Pietraszewski vierunddreißig Jahre alt, befand<br />

sich auf <strong>der</strong> bescheidenen Höhe seiner beruflichen Laufbahn und <strong>der</strong><br />

weniger bescheidenen Höhe seiner privaten Karriere, die ihn als erfolgreichen<br />

Schürzenjäger ausgewiesen hatte.<br />

Die Rolle <strong>der</strong> Großmutter als einer bis an ihr Lebensende treuen Witwe<br />

erwies sich für die seelische Entwicklung <strong>der</strong> Tochter als wohltuend.<br />

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Jedenfalls erzählte sie später den Kin<strong>der</strong>n, kein Mann habe eine Chance<br />

gehabt, sich ihrer Mutter in zweifelhafter Absicht zu nähern, weil sie<br />

unmißverständlich signalisiert habe, daß sie einem ernsthaften Bewerber<br />

die Augen auskratzen würde, was sie später zutiefst bedauerte, zumal mit<br />

einem Mann an ihrer Seite die Tragödie von Leo Kleinschmidts Großmutter<br />

vielleicht hätte verhin<strong>der</strong>t werden können. Bis an ihr Lebensende<br />

quälten Leos Mutter Schuldgefühle. Hätte sie sich nicht auf den Weg<br />

nach Hartha gemacht, in dessen Nähe sie ihren Mann vermutete, <strong>der</strong> sich<br />

in Wirklichkeit in einem amerikanischen Gefangenenlager bei Fulda<br />

befand, wäre <strong>der</strong> frühe Tod ihrer Mutter zu verhin<strong>der</strong>n gewesen. Vieles<br />

liegt im Dunkel.<br />

Die Bindungen Leo Kleinschmidts an seine Geburtsstadt haben sich zu<br />

verschiedensten Zeiten und aus verschiedensten Gründen immer wie<strong>der</strong><br />

erneuert. Als er 1968 jenes Land, das DDR geheißen hat, verließ und ihm<br />

voll von Trauer und Glücksgefühlen keine einzige Träne nachweinte,<br />

nahm er in Leipzig Abschied vom Grab Georg Dertingers, vom früheren<br />

Generalsekretär <strong>der</strong> christlichen Blockpartei CDU und ersten Außenminister<br />

<strong>der</strong> DDR, <strong>der</strong> Anfang 1953 verhaftet, 1954 als angeblicher Spion<br />

zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt und 1964 begnadigt worden war.<br />

Sein dorniger Weg hatte Georg Dertinger ebenso in den Hafen eines<br />

Leipziger katholischen Verlags einlaufen lassen wie Leo Kleinschmidt.<br />

Abschied nahm er auch von Inge, Assistentin von Ernst Bloch, auf<br />

Anraten <strong>der</strong> Organe gefeuert, als Lektorin in dem katholischen Verlag<br />

untergekommen, bis zu Ernst Blochs Tod 1977 immer wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Stasi vorgeladen, um nach dem Philosophen befragt zu werden, Abschied<br />

von einer mütterlichen Freundin also, die Leo zwei Dinge mit auf den<br />

Weg gab, zum einen solle er viel deutsch lesen, um das muttersprachliche<br />

Gespür für die Sprache nicht zu verlieren, und zum an<strong>der</strong>en solle er ihr<br />

ein ungarisches Buch vorschlagen und ins Deutsche übersetzen.<br />

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Schnell hatte Leo Kleinschmidt mit Hilfe seiner ungarischen Freunde<br />

einen hervorragenden ungarischen Autor und dessen neuesten Roman<br />

entdeckt: Weg nach Damaskus. Ein gewagtes Buch, für die DDR ein trojanisches<br />

Pferd, geht es doch in Nikolaus Molnárs Roman um nicht weniger<br />

als die Frage, ob aus einem Verfolger, sprich: einem Staatssicherheitsdienstler,<br />

wenn er auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> absoluten Wahrheit seinen<br />

Irrtum erkannt habe, ein Verfolgter werden könne. Inge, die Molnár in<br />

Budapest kennenlernt und sowohl vom Autor als auch von dessen Buch,<br />

von dessen Format ihr andeutungsweise eine Vorstellung vermittelt wird,<br />

begeistert ist, erkennt die Chance, unter dem Aushängeschild eines religiösen<br />

Romans in Leipzig brisante Literatur verlegen, <strong>der</strong> Zensurbehörde<br />

ein Schnippchen schlagen zu können.<br />

1970 erscheint <strong>der</strong> Roman auf deutsch. Das Ostberliner Büro für Urheberrechte<br />

hat die Attacke gegen die sozialistische Literatur verstanden,<br />

wenn auch verspätet, und Leo Kleinschmidt davon in Kenntnis gesetzt,<br />

daß er als Übersetzer von nun an in <strong>der</strong> DDR unerwünscht sei. 20.000 in<br />

Kirchen und kirchlichen Buchhandlungen verkaufte Exemplare und das<br />

Erlernen <strong>der</strong> ungarischen Sprache während <strong>der</strong> Arbeit an dem Buch<br />

haben sich gelohnt.<br />

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