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1943 inmitten befreienden Bombenhagels der heutigen ...

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Lademanns Krämerladen in <strong>der</strong> Landsberger/Ecke Jägerstraße, um auch<br />

am kommenden Tag über die nötigsten Grundlebensmittel zu verfügen.<br />

Leipzig, das ist Böhlen, wo Leo Kleinschmidts Vater als einst in Königsberg<br />

akademisch geprüfter Schwimmlehrer Kin<strong>der</strong>n beibringt, sich über<br />

Wasser zu halten, ein Bombentrichter, in dem er Kürbis anbaut, den<br />

Mutter Kleinschmidt zu wohlschmeckendem Kompott verarbeitet,<br />

Leipzig, das heißt 1. September 1950, Leos erster Schultag, Leipzig, das<br />

ist eine Schlittenpartie mit Mitsche im Wackerstadion, die an einem<br />

Betonpfosten mit einem Nasenbeinbruch endet und damit, daß ihn sein<br />

Bru<strong>der</strong> auf dem Schlitten durch die schneelosen Straßen nach Hause<br />

zieht. Leipzig bedeutet aber auch, daß er besagten Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> in seinem<br />

Tatendrang sehr zum Ärger und Leidwesen <strong>der</strong> Eltern in <strong>der</strong> Nachbarschaft<br />

gelegentlich materiellen Schaden größeren Ausmaßes anrichtet, daß<br />

er also Mitsche o<strong>der</strong> Süß, so nennt er ihn, totenblaß vor Angst über die<br />

Terrasse rasen sieht, seinen Vater mit dem Rohrstock in <strong>der</strong> Hand ihm<br />

hinterher. Leipzig, das ist Leos etwa gleichaltriger Freund Ralf, sein<br />

Dolmetscher in den Jahren <strong>der</strong> Stummheit, als sein verbales Vermögen<br />

darin besteht, „i-i” zu sagen, und Ralf <strong>der</strong> Außenwelt erklärt, was I-I<br />

haben o<strong>der</strong> sagen will, denn nur sein gutes Herz ist imstande, I-I´s Sprache<br />

in die <strong>der</strong> Erwachsenen zu übersetzen.<br />

Dann, im Januar 1951, ziehen sie von Leipzig weg. Der Vater unterrichtet<br />

an einem Gymnasium in einer an<strong>der</strong>en Stadt Deutsch und Geschichte.<br />

Seither hat Leo Kleinschmidt an zirka zwanzig verschiedenen Orten<br />

Deutschlands versucht, heimisch zu werden. In seinen Träumen atmet er<br />

gierig den Geruch von Rübensirup ein, spielt mit den Kin<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />

Nachbarschaft Verstecken. Den Wegzug aus <strong>der</strong> Hannoverschen Straße<br />

erlebt er in seinen allnächtlich wie<strong>der</strong>kehrenden Träumen wie eine Vertreibung<br />

aus dem Paradies o<strong>der</strong> aber als Endstation seiner Sehnsucht. Der<br />

Verlust <strong>der</strong> kindlichen Wurzeln schmerzt. Nirgendwo sonst hat er sich so<br />

zu Hause gefühlt wie gerade dort. Erst in Budapest, wo er zwischen 1968<br />

und 1973 gelebt hat und wohin er 1994 zurückgekehrt ist, ist es ihm<br />

gelungen, wie<strong>der</strong> Wurzeln zu schlagen, sich heimisch zu fühlen. Überall<br />

sonst fühlte er sich wie Ahasver.<br />

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