20Jahre Mauerfall - Katholische Akademie
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Tagungsdokumentation<br />
Doch sehe ich auch, dass es in unserer Leistungsgesellschaft, vielleicht gerade wegen<br />
ihrer oft unerbittlichen Härte und Stressigkeit Sehnsucht nach menschlicher Nähe<br />
und Annahme gibt. „Du bist angenommen!“ Diese Grundbotschaft des Evangeliums<br />
hat auch heute ihren kairos. Das Elisabethjahr 2007, das weit über den kirchlichen<br />
Raum hinein in die Gesellschaft ausstrahlte, hat mir das eindrucksvoll gezeigt. Das<br />
Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen. Diese Botschaft, diese „Melodie“<br />
muss durch uns erklingen. Dann kann sich auch in einem zweiten Schritt die<br />
Einladung zur Umkehr, zum Neuanfang, zur Nachfolge Christi entfalten. Begleiten<br />
erfordert die Bereitschaft, die Buntheit und Unterschiedlichkeit menschlicher Biographien<br />
auszuhalten. Ich sage gern: Wir müssen lernen, auch mit den kirchlich nicht<br />
ganz „Stubenreinen“ umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Unabhängig<br />
von der Frage nach der Zulassung zu den Sakramenten müssen die Menschen<br />
das Gefühl haben, dass sie in der Kirche willkommen sind. Zeichen des Willkommen-<br />
Seins sind ja nicht nur die Sakramente.<br />
Der ganze Bereich der vorsakramentalen Seelsorge, in dem die Kirche an sich doch<br />
reiche Erfahrung hat, wird zunehmend Bedeutung erlangen. Ich denke an die vielen<br />
Ungläubigen und „Halbgläubigen“, die punktuell Berührung mit der Kirche suchen,<br />
etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei<br />
der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder anderen Notsituationen<br />
usw. Die Kirche, das Pfarrhaus, eine Gruppe von Gläubigen muss als Ort des Erbarmens,<br />
des Angenommen-Seins, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist<br />
die Kirche mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben<br />
zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht<br />
muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer echten Christusbeziehung<br />
dann auch Lebensumkehr erwächst, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst<br />
freilich aus Annahme, nicht umgekehrt!<br />
Ich beende unseren Blick auf die Situation unserer Kirche im Osten, indem ich<br />
noch einmal meine Grundeinstellung zum Ausdruck bringe: Es ist gut, auch für unsere<br />
Kirche und ihr Leben, dass die Wende gekommen ist. Ich ermuntere unsere Priester<br />
und Mitarbeiter in der Pastoral, die gewandelten Verhältnisse auch innerlich anzunehmen,<br />
auch wenn diese Verhältnisse uns mancherlei neue Probleme bescheren.<br />
Aber die Freiheit ist immer besser als Zwang, auch der sublime Druck, mit dem uns<br />
das alte System früher die Gemeinden im „Schulterschluss“ zusammengehalten hat.<br />
Wir leben jetzt ehrlicher. Wir müssen uns auf unsere Substanz besinnen. Und das ist<br />
vermutlich ganz im Sinne der Heilspläne Gottes.<br />
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