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Politik und Zeitgeschichte im Comic

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Bibliothek 20. 1996. Nr. 2 Fix – <strong>Politik</strong> <strong>und</strong> <strong>Zeitgeschichte</strong> <strong>im</strong> <strong>Comic</strong> 175<br />

namenlosen Soldaten, den er uns als leidendes Wesen,<br />

voller Ängste <strong>und</strong> obszöner Träume, vorführt.<br />

Auch der Italiener Lorenzo Mattotti stellt in seinem Band<br />

„Feuer“ keine realistische Kriegssituation dar, sondern<br />

bietet eine in fulminanten Bildern erzählte Geschichte<br />

des Kampfes eines Menschen mit sich selbst.<br />

Der Panzerkreuzer Anselm II, der vor der Insel Sankt<br />

Agatha seinen Anker wirft, hat den Auftrag, mysteriöse<br />

Ereignisse aufzuklären. Ein Spähtrupp unter der Leitung<br />

des von Alpträumen he<strong>im</strong>gesuchten Leutnants Absinth<br />

wird ausgesandt. Während des Landganges hat der<br />

Leutnant das Gefühl, seine Traumwesen wiederzusehen.<br />

Er beginnt, die Insel zu lieben, <strong>und</strong> als bei einem<br />

zweiten Landgang ein Soldat einen Stein „erschießt“<br />

(der Stein beginnt zu bluten), entscheidet sich Absinth,<br />

auf der Insel zu bleiben. Er wird jedoch gewaltsam<br />

wieder zurückgebracht. Auch das hält den Untergang<br />

des Schiffes nicht auf, denn gegen die unwirklichen<br />

Mächte der Insel sind die Soldaten machtlos. Am Ende<br />

entpuppt sich die Geschichte als Aufzeichnung eines<br />

Selbstmörders.<br />

In den letzten Jahren sind verstärkt <strong>Comic</strong>s erschienen,<br />

die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland<br />

<strong>und</strong> allen seinen Erscheinungsbildern auseinanderzusetzen.<br />

Mattotti entwirft außergewöhnlich eindrucksvolle Bilder<br />

aus Ölkreide, die aber nie zum Selbstzweck werden. Der<br />

Seitenaufbau wird streng beibehalten <strong>und</strong> verleiht der<br />

Handlung eine nüchterne Wirkung.<br />

Benutzt Tardi die psychischen Alpträume zur Warnung<br />

vor dem Krieg, so geht Mattotti hier den umgekehrten<br />

Weg. Für ihn ist die Kriegsgeschichte ein Mittel zum<br />

Ausdruck unerklärlicher Welten. Die Ratio, versinnbildlicht<br />

<strong>im</strong> Militär, scheitert an dem Irrationalen, hier die<br />

Feuerwesen der Insel. Die Natur beschreibt Mattotti als<br />

eine Gewalt, die sich zu wehren weiß. Doch handelt es<br />

sich hier um keine „Öko-Geschichte“; vielmehr zeigen<br />

diese Sequenzen das phantastische, übersinnliche Element<br />

in dem <strong>Comic</strong>. Zweifellos ist das Etikett „Kriegs-<br />

<strong>Comic</strong>“ gewagt, geht dieser <strong>Comic</strong> doch weiter als übliche<br />

Auseinandersetzungen mit Gewalt. Mattotti hat hier<br />

die Szenerie eines Panzerkreuzers für das Spiel mit dem<br />

Wirklichkeitsbegriff gewählt.<br />

5.1.4 Atomare Apokalypse<br />

Einen eigenen Themenkreis bilden auch die <strong>Comic</strong>s, die<br />

sich mit den Auswirkungen der Atombombe beschäftigen.<br />

Hier treten nicht mehr Militär <strong>und</strong> Kriegshandlungen<br />

in das Zentrum der Handlung, sondern die grauenhaft<br />

inhumanen Auswirkungen <strong>und</strong> Schrecken dieser Vernichtungswaffe.<br />

Eine sehr direkte Auseinandersetzung bietet „Barfuß<br />

durch Hirosh<strong>im</strong>a“ von Nakazawa. Mit der Frage ,Was<br />

wird danach?‘ beschäftigten sich vor allem in den achtziger<br />

Jahren zahlreiche Autoren <strong>und</strong> regten zu den wildesten<br />

Szenarien an, z.B. die Serie „Jeremiah“ von<br />

Hermann, „S<strong>im</strong>on – Zeuge der Zukunft“ von Auclair oder<br />

„Verbrannte Erde“ von Crespin.<br />

Der Japaner Keije Nakazawa hat dagegen ein ganz<br />

besonders authentisches Dokument geschaffen. Nakazawa,<br />

der den Atombombenabwurf auf Hirosh<strong>im</strong>a selbst<br />

miterleben mußte, schafft trotz unbeholfener Zeichnun-<br />

gen ein sehr glaubwürdiges Bild der japanischen Kriegsdiktatur.<br />

Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive des<br />

kleinen Gen, der als Sohn eines Künstlers <strong>und</strong> Pazifisten<br />

sehr zu leiden hat. In der Schule, der Nachbarschaft<br />

<strong>und</strong> selbst in der eigenen Familie herrscht Unverständnis<br />

für die Haltung des Familienoberhauptes. Um die<br />

Schande des Vaters wieder gutzumachen, meldet sich<br />

der älteste Sohn freiwillig zum Militär <strong>und</strong> erlebt dort die<br />

letzten schrecklichen Tage von Soldaten einer Kamikaze-Einheit.<br />

Auch den Selbstmord ganzer Familien aus<br />

Angst vor den Amerikanern zeigt Nakazawa. Die japanische<br />

Gesellschaft wird dominiert von Angst, Gewalt,<br />

Hunger <strong>und</strong> Neid. Auch das Bild der Armee ist nicht<br />

besser; Drill <strong>und</strong> Brutalität sind für den jungen Soldaten<br />

die Hölle.<br />

Schließlich endet alles in dem Inferno der Atombombenexplosion.<br />

Gen <strong>und</strong> seine Mutter müssen zusehen, wie<br />

der Rest der Familie in ihrem Haus verbrennt.<br />

Nakazawas <strong>Comic</strong> beruht auf einem einfachen Gut-Böse-Schema,<br />

in dem sich, die Charaktere nicht weiterentwickeln,<br />

außerdem wird Einstein fälschlicherweise als<br />

begeisterter Vater der Atombombe dargestellt. Trotz dieser<br />

Mängel handelt es sich dabei um eine eindrucksvolle<br />

Kritik an der Abschreckungspolitik.<br />

Auch Art Spiegelman äußerte sich anerkennend: „ ,Gen<br />

of Hirosh<strong>im</strong>a‘ ist wüst gezeichnet, aber es ist dennoch<br />

ein großartiger <strong>Comic</strong>strip, weil die Geschichte in sich<br />

st<strong>im</strong>mt.“ 88<br />

Persönliche Betroffenheit versucht auch Raymond<br />

Briggs in seinem Band „When the Wind Blows“ (dt.<br />

„Strahlende Zeiten“) zu erzeugen. Seine Geschichte<br />

spielt aber in England <strong>und</strong> beruht <strong>im</strong> Gegensatz zu<br />

Nakazawas Erzählung nicht auf realen Ereignissen.<br />

In das friedlich-beschauliche Leben eines älteren Ehepaars<br />

bricht plötzlich die Weltpolitik ein. Mit praktischem<br />

Sachverstand versuchen sich die beiden zu schützen.<br />

Verklärte Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg kommen<br />

bei den Vorbereitungen zum Bau eines Schutzraumes<br />

auf. Aber auch das genaueste Befolgen der offiziellen<br />

Anweisungen hilft den beiden nichts. Doch ihr Glauben<br />

an die Unfehlbarkeit der Autoritäten bleibt bis zuletzt<br />

unerschütterlich. Er zeigt den langsamen Tod der alten<br />

Leute einfühlsam <strong>und</strong> doch in seiner ganzen Grausamkeit.<br />

Briggs Stärke ist es, einerseits unsere gesicherte Lebenssituation<br />

darzustellen <strong>und</strong> gleichzeitig die Hilflosigkeit,<br />

wenn das dünne Eis der atomaren Abschreckung<br />

bricht.<br />

5.2 Nationalsozialismus <strong>und</strong> Holocaust<br />

In den letzten Jahren sind verstärkt <strong>Comic</strong>s erschienen,<br />

die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland<br />

<strong>und</strong> allen seinen Erscheinungsbildern auseinanderzusetzen.<br />

Als wichtigster kann der 1989 in deutsch erschienene<br />

<strong>Comic</strong> „MAUS“ von Art Spiegelman gelten,<br />

der vor allem in Deutschland eine Medienresonanz erfahren<br />

hat, wie nie zuvor ein <strong>Comic</strong>.<br />

Doch es gab auch weniger populäre Versuche. In Frankreich<br />

erschien 1988 „Hitler = SS“ von Philippe Vuillemin<br />

88 Affolter: Gespräch mit Art Spiegelman. In: <strong>Comic</strong> Art 6 (1983)<br />

S. 6-16.

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