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Determinismus in David Lynchs Mulholland Drive von Frank ...

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1<strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> <strong>in</strong> <strong>David</strong> <strong>Lynchs</strong> <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong> <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> WittchowVortrag, gehalten am 7. 12. 2003 auf der wissenschaftlichen Protestveranstaltung: 24–Stunden-Kulturwissenschaft im HAU-ZWEI (Sa. 6.12 – So. 7.12. 2003)."Ich sehe e<strong>in</strong>, dass viele diesen Film nicht verstehen, doch es gibt e<strong>in</strong>e Lösung!!! Und diese istgenial!!!Jeder sollte den Film vorher sehen, und sich erst danach der Lösung widmen. Das ist sehrwichtig, da man den Film sonst mit ganz anderen Augen sieht, wenn man das Geheimnis kennt(Beispiele wo es ähnlich ist, wären "The Sixth Sense" oder "Fight Club"). Also unbed<strong>in</strong>gtvorher schaun!!!Nun aber zur Auflösung: Es ist wa[h]r, dass mehr als die Hälfte des Films eher langsam undzäh wirkt. Das liegt aber daran, dass alles nur geträumt wird, denn ganz zu Beg<strong>in</strong>n, nach derTanzszene sieht man e<strong>in</strong> Bett und jemand schläft dar<strong>in</strong>. Es geht also im Traum weiter, bis zuder Szene[,] wo Naomi Watts, die die Hauptrolle spielt, aufwacht. Es folgen dann Szenen, diewirklich s<strong>in</strong>d. Diese Phase ist sehr kurz[,] aber sie sagt aus, was alles wirklich passiert ist. ImTraum ist die Welt so, wie es Naomi Watts als "Betty" gerne hätte. Sie kommt nach Hollywoodund erreicht alles. In Wirklichkeit, daher auch der Namenstausch im Film, verliert sie aberihre Freund<strong>in</strong> an den Regisseur und lässt sie durch e<strong>in</strong>en Killer umbr<strong>in</strong>gen. Das merkt manals die Nachbar<strong>in</strong> vorbeikommt und ihre Sachen holt, wo der Blaue Schlüssel am Tisch liegtund als Zeichen für den Mord steht."Der Text, den ich soeben vorgelesen habe, stammt aus e<strong>in</strong>er Kundenrezension („h 9851028“)zur DVD <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong>, die ich auf der Website e<strong>in</strong>es großen Onl<strong>in</strong>e-Buchshopsgefunden habe. Ich teile, das möchte ich gleich zu Beg<strong>in</strong>n sagen, nicht den Lösungsansatz,den der Kunde hier vorträgt (es gibt aber sehr gute und differenzierte Deutungen <strong>in</strong> dieserRichtung s. Literaturliste), dennoch ist se<strong>in</strong> Text <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht erhellend. Zum e<strong>in</strong>en hater damit Recht, dass man <strong>David</strong> <strong>Lynchs</strong> <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong>, der im Jahre 2001 <strong>in</strong> die K<strong>in</strong>oskam, eigentlich nur verstehen kann, wenn man ihn im Ganzen wahrnimmt. Leider kann ichden Film heute nicht zeigen; ich verlasse mich daher 1. auf die große Bekanntheit <strong>von</strong>Regisseur und Werk und 2. auf me<strong>in</strong>e - freilich bereits auf me<strong>in</strong>e Ausführungenzugeschnittene und daher manipulative - Zusammenfassung der Handlung, die ich Ihnengleich geben werde.Wertvoll ist die Rezension auch deshalb, weil sie ziemlich repräsentativ ist für die Fragen undauch die Antworten, die <strong>in</strong> der Diskussion um diesen vielleicht rätselhaftesten Film, denHollywood <strong>in</strong> den letzten Jahren hervorgebracht hat, e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Es wird niemand


2bestreiten, dass der Film ganz offensichtlich <strong>in</strong> zwei ungleich große Teile zerfällt, <strong>von</strong> denender zweite, kürzere, auffällige Motivvariationen des ersten enthält. Es ist auch richtig, dass derFilm durch se<strong>in</strong>e stark verlangsamte Kamerafahrt und auch durch bestimmte E<strong>in</strong>zelmotivee<strong>in</strong>e alptraumähnliche Atmosphäre schafft. Jedoch sche<strong>in</strong>t mir das - durchaus verbreitete -Deutungsangebot den Film letztlich zu banalisieren und ferner e<strong>in</strong>e ganze Reihe <strong>von</strong> Motivenzu marg<strong>in</strong>alisieren, die möglicherweise gerade se<strong>in</strong>en Reiz ausmachen. Zunächst e<strong>in</strong>mal mussman sagen, dass sich die Wiederkehr <strong>von</strong> Motiven durch das ganze Schaffen <strong>von</strong> <strong>David</strong>Lynch zieht und se<strong>in</strong>e Filme opusübergreifend verknüpft. Das führt ganz konkret etwa dazu,dass manche C<strong>in</strong>easten <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong> als e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Variante <strong>von</strong> Lost Highway auffassen,der bisweilen sogar e<strong>in</strong> missglückte Durchführung unterstellt wird, weil bekannt ist, dassLynch eigentlich e<strong>in</strong>e Fernsehserie aus dem Stoff machen wollte. Ich b<strong>in</strong> dagegen derAnsicht, dass <strong>David</strong> Lynch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Filmen um e<strong>in</strong>e bestimmte Aussage r<strong>in</strong>gt, die er <strong>in</strong>immer neuen Bildern und Konzepten umzusetzen sucht. Diese Aussage ist mit der Doppelung<strong>von</strong> Motiven eng verknüpft. Ich möchte es vorläufig e<strong>in</strong>mal so ausdrücken: DieMotivdoppelung verweist auf Ereignisdoppelung. Ereignisse wiederholen sich und dieBedeutung <strong>von</strong> Ereignissen liegt <strong>in</strong> ihrer Wiederholung und eben nicht <strong>in</strong> ihrer Irrealität oderTraumhaftigkeit. Das Traumhafte der Lynchen Filme entsteht dadurch, dass die Realität wiee<strong>in</strong> Traum, oft e<strong>in</strong> Alptraum ist, nicht dar<strong>in</strong>, dass alles nur geträumt sei.Ereignisse wiederholen sich: dies sche<strong>in</strong>t mir e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf den Schicksalsgedanken zuse<strong>in</strong>, <strong>von</strong> dem ich heute sprechen will: wenn Ereignisse sich dauernd wiederholen, verlierensie <strong>in</strong> gewisser Weise ihren Ereignischarakter, jedenfalls für den, der die Wiederholungwahrnimmt. Dieser Gedanke ersche<strong>in</strong>t abstrakt vielleicht e<strong>in</strong>leuchtend, mag aber schwerfallen, wenn man ihn mit der eigenen Er<strong>in</strong>nerung an e<strong>in</strong>en <strong>David</strong>-Lynch-Film zur Deckungbr<strong>in</strong>gen möchte: Lost Highway, Blue Velvet, Wild at Heart usw. halten den Zuschauer ständig<strong>in</strong> Spannung und machen sogar banale D<strong>in</strong>ge ereignishaft und fremd. Immer wieder erreichtLynch alle<strong>in</strong> durch die Kameraführung, dass e<strong>in</strong> banaler Gang durch e<strong>in</strong>en Flur zu e<strong>in</strong>emerschreckenden Erlebnis wird. Behalten wir dennoch im H<strong>in</strong>terkopf, dass Wiederholung dasEreignishafte <strong>in</strong> Frage stellt.Dieser Aspekt des Schicksalshaften wird aber nun auch durch e<strong>in</strong>e ganze Reihe weitererMotive und Schlüsselszenen transportiert, und es s<strong>in</strong>d diese Szenen, die e<strong>in</strong>erseits denZuschauern besonders e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich im Gedächtnis geblieben s<strong>in</strong>d, die aber andererseits ihreFunktion verlieren, wenn man den ersten Teil des Filmes als Traum versteht.Ich hoffe, dass diese E<strong>in</strong>lassungen <strong>von</strong> so allgeme<strong>in</strong>er Natur s<strong>in</strong>d, dass sie Ihnen er<strong>in</strong>nerlichbleiben, auch wenn Sie den Film nicht oder wenn sie ihn vor längerer Zeit gesehen haben. Ich


3möchte Ihnen jetzt e<strong>in</strong>e Zusammenfassung der Handlung geben, dann die Motive und Szenenherausgreifen, die mir für me<strong>in</strong> Verständnis des Filmes besonders wichtig s<strong>in</strong>d, und auchversuchen, ihre Herkunft zu klären. Me<strong>in</strong>e These ist, dass <strong>David</strong> Lynch das Problem des<strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> weniger als e<strong>in</strong> konzeptionelles denn als e<strong>in</strong> ästhetisches aufgefasst hat unddafür e<strong>in</strong>e Lösung anbietet, die e<strong>in</strong>erseits neu ist, andererseits im Trend des späten 20. undbeg<strong>in</strong>nenden 21. Jahrhunderts liegt.Das grobe Handlungsgerüst des ersten Teiles ist um e<strong>in</strong>en Autounfall gruppiert, den e<strong>in</strong>ejunge, schwarzhaarige Frau erleidet. E<strong>in</strong> Wagen fährt den <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong> bei Hollywoodentlang, die Frau sitzt im Fond des Wagens. Auf e<strong>in</strong>mal hält das Auto an und der Fahrer nötigtdie Frau mit vorgehaltener Waffe auszusteigen. Es ist offensichtlich, dass sie umgebrachtwerden soll. Doch bevor es dazu kommt, kollidiert das stehende Auto mit e<strong>in</strong>em anderenFahrzeug, dass sich mit e<strong>in</strong>em dritten e<strong>in</strong> Wettrennen leistet und so die falsche Spur okkupiert.Der Aufprall tötet den Fahrer und se<strong>in</strong>en Beifahrer, die Frau jedoch verlässt benommen dasAuto und wankt im Schockzustand <strong>von</strong> der Straße weg querfelde<strong>in</strong> nach Hollywood, wo siewahllos e<strong>in</strong>e offenstehende Wohnung aufsucht und dort e<strong>in</strong>schläft. Bei der Wohnung handeltes sich um e<strong>in</strong> Künstlerapartment, das die Besitzer<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem Moment verlässt, um es für dieZeit ihrer Abwesenheit ihrer Nichte zu überlassen, die gerade versucht, als Schauspieler<strong>in</strong> <strong>in</strong>der Traumfabrik (Sie sehen auch hier, warum es um Träume geht, ohne dass geträumt werdenmuss) Fuß zu fassen. Die junge und unbeschwert optimistische Nichte Betty f<strong>in</strong>det daher amnächsten Tag die Wohnung nicht leer vor, sondern trifft auf die schwarzhaarige Frau, als diesegerade nackt unter der Dusche steht. Sie hält sie zunächst für e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> ihrer Tante. DieSchwarzhaarige leidet <strong>in</strong>folge des Unfalles unter Amnesie, die sie zunächst zu verbergensucht, und gibt auf Nachfrage ihren Namen als „Rita“ aus. Da<strong>von</strong> wurde sie durch e<strong>in</strong> Plakatzum Film Gilda mit Rita Hayworth <strong>in</strong>spiriert, das im Badezimmer hängt. Tatsächlich ist dieÄhnlichkeit zwischen der Schwarzhaarigen und Rita Hayworth frappierend. Der Schw<strong>in</strong>delfliegt rasch auf, aber die junge und übrigens blonde Betty beschließt, Rita bei der Suche nachihrer Identität zu helfen. Man könnte sogar sagen, sie <strong>in</strong>itiiert diese Suche überhaupt erst, dennRita, <strong>in</strong> deren Tasche sich große Mengen Geldnoten und e<strong>in</strong> geheimnisvoller blauer Schlüsself<strong>in</strong>den, hält e<strong>in</strong>e unbestimmte Angst davor ab, ihre Identität aktiv zu erforschen. Nur wenigeEr<strong>in</strong>nerungsreste ermöglichen es Rita, etwas zu dieser Suche beizutragen. Die beiden Frauenf<strong>in</strong>den schließlich heraus, dass es auf dem <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong> e<strong>in</strong>en Unfall gegeben hat. Ine<strong>in</strong>er Gaststätte namens „W<strong>in</strong>kies“ (der Ort entfaltet weitere Bedeutsamkeit <strong>in</strong> anderenZusammenhängen) beratschlagen die Frauen das weitere Vorgehen. Rita bes<strong>in</strong>nt sich plötzlichauf e<strong>in</strong>en Namen: Diane Selwyn. Mangels anderer H<strong>in</strong>weise suchen sich die Frauen denNamen im Telephonbuch, erhalten e<strong>in</strong>e Adresse, die sie geme<strong>in</strong>sam nach e<strong>in</strong>emVorsprechterm<strong>in</strong> Bettys für e<strong>in</strong> offenbar schlecht vorbereitetes Filmprojekt aufsuchen. Hier


4kommt es zur dramatischsten Szene des Films. Rita fühlt sich <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em schwarzen Wagenverfolgt. Im Bungalow <strong>von</strong> Diane Selwyn f<strong>in</strong>den sie e<strong>in</strong>e Frau vor, die weder Diane ist, nochRitas Identität zu kennen sche<strong>in</strong>t, die Frauen aber zu e<strong>in</strong>em anderen Bungalow schickt, den siemit Diane Selwyn getauscht haben will. Die beiden Frauen dr<strong>in</strong>gen, wieder auf InitiativeBettys, <strong>in</strong> diesen Bungalow e<strong>in</strong> und f<strong>in</strong>den im Schlafzimmer e<strong>in</strong>e verwesende Frauenleiche. InPanik verlassen sie den Bungalow, kehren <strong>in</strong> Bettys Apartment zurück und treffen dieEntscheidung, Ritas schwarze Haare zu kürzen, sodass sie sich mit e<strong>in</strong>er blonden Perücketarnen kann. Was konkret die Frauen zu dieser Schlussfolgerung bewogen hat, bleibt unklar,ebenso wie die Todesursache der Leiche auf dem Bett. Es entwickelt sich nun zwischen denbeiden Frauen e<strong>in</strong>e heftige Liebesszene. Betty überrascht kurz darauf Rita, die sche<strong>in</strong>barträumend, aber mit offenen Augen laut spanische Wortfetzen <strong>von</strong> sich gibt: „Silencio. No haybanda“: „Schweigen. Es gibt ke<strong>in</strong>e Band.“ Sie weckt die Geliebte, die daraufh<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Stadtfahren will. Sie suchen e<strong>in</strong> verstecktes Theater auf mit dem Namen „Club Silencio“. Dort tritte<strong>in</strong> Conferencier auf und teilt dem Publikum mit, dass alles, was sie im Folgenden hören,ke<strong>in</strong>e echte Musik sei, sondern vom Band komme: „no hay banda, no hay orchestra“: es gibtke<strong>in</strong>e Band und es gibt ke<strong>in</strong> Orchester. Die Frauen bef<strong>in</strong>den sich im Zustand wachsenderPanik, der se<strong>in</strong>en Höhepunkt erreicht, als e<strong>in</strong>e Sänger<strong>in</strong> leidenschaftlich e<strong>in</strong> spanischesLiebeslied <strong>in</strong>toniert und plötzlich leblos zu Boden s<strong>in</strong>kt. Natürlich läuft der Gesang - erkommt eben vom Band - weiter. Betty und Rita verlassen Hals über Kopf das Theater, kehren<strong>in</strong> Bettys Apartment zurück. Betty praktiziert unvermittelt e<strong>in</strong> blaues Kästchen aus ihrerHandtasche und übergibt es Rita. Beim Betreten des Apartments verschw<strong>in</strong>det Betty, ohnedass Rita oder dem Zuschauer klar wäre, woh<strong>in</strong> und warum. Rita steckt den Schlüssel, den sieanfangs bei sich hatte, <strong>in</strong> das Kästchen. Sie dreht ihn herum, öffnet das Kästchen und -verschw<strong>in</strong>det ebenfalls, als hätte sie der kle<strong>in</strong>e Raum e<strong>in</strong>gesogen. Das blaue Kästchen fälltherab und wird am nächsten Morgen <strong>von</strong> Bettys Tante gefunden.Hiermit endet der erste Teil des Films, über das Scharnier zum zweiten Teil rede ich gleich.Ich muss zunächst <strong>von</strong> e<strong>in</strong>igen Parallelhandlungen sprechen, die neben der Haupthandlungdes ersten Teils um Rita und Betty ablaufen.Neben der Geschichte <strong>von</strong> Rita und Betty erzählt der Film <strong>von</strong> dem Regisseur Adam Kersher.Wir lernen ihn bei e<strong>in</strong>em Gespräch mit e<strong>in</strong>igen Studiobossen kennen. Offenbar ist dieHauptdarsteller<strong>in</strong> se<strong>in</strong>es Films verloren gegangen - der Zuschauer vermutet, ohne sicheresWissen da<strong>von</strong> zu haben, dass es sich hierbei um Rita handeln könnte, die vielleicht sogar <strong>von</strong>den Filmproduzenten aus dem Wege geräumt wurde, um die Hauptrolle neu zu besetzen.Kersher wird <strong>von</strong> zwei Produzenten massiv bedrängt, die Hauptrolle se<strong>in</strong>es Films mit e<strong>in</strong>ervöllig unbekannten Frau namens Camilla Rhodes zu besetzen. Kersher weigert sich und stürmt


6dann durch e<strong>in</strong>ige Patzer noch weitere, zufällige Morde an Unbeteiligten, die beim Zuschauerim K<strong>in</strong>o regelmäßig e<strong>in</strong>e gewisse Heiterkeit auslösen.Das Scharnier zum zweiten Teil bildet e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung auf den Körper der Frau <strong>in</strong> DianeSelwyns Apartment.Es klopft an der Tür, der Cowboy kommt, schaut here<strong>in</strong> und sagt: „Hey pretty girl. it's time towake up“: „Es ist Zeit zum Aufwachen, me<strong>in</strong>e Schöne.“ E<strong>in</strong>e zweite und e<strong>in</strong>e dritteE<strong>in</strong>stellung auf die Frau verändern das Bild: Die Frau ist nicht mehr tot, und ihr dunklesNegligé ist heller geworden. Sie erhebt sich und wir erkennen Betty, die aber im FolgendenDiane gerufen wird. Sie sieht müde und frustriert aus. Schließlich wird sie <strong>von</strong> Rita besucht,die jetzt aber Camilla Rhodes heißt. Die beiden haben e<strong>in</strong>e - hier offenbar gewohnheitsmäßige– lesbische Beziehung, die Camilla aber jetzt beenden möchte. Diane reagiert verzweifelt.Camilla lädt sie – möglicherweise ist dies e<strong>in</strong>e Rückblende – zu e<strong>in</strong>er Party e<strong>in</strong>, zu der Dianemit genau dem Auto fährt, das wir am Anfang des Filmes mit der Insass<strong>in</strong> Rita gesehen haben.An der Stelle, wo der Wagen im ersten Teil hielt, hält er auch jetzt, diesmal wird aber Dianeaufgefordert, auszusteigen. Es wartet nun Camilla auf sie, die sie zu e<strong>in</strong>er Party im Hause <strong>von</strong>Adam Kersher e<strong>in</strong>lädt. Der Zuschauer lernt nun, dass Diane e<strong>in</strong>e gescheiterte Schauspieler<strong>in</strong>ist, während sich ihre verme<strong>in</strong>tliche Freund<strong>in</strong> Camilla auf diesem Fest mit Kersher verlobt.Die Hauptrolle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Film hat sie ohneh<strong>in</strong> bekommen. Gleichzeitig flirtet sie mit e<strong>in</strong>eranderen Frau (der Darsteller<strong>in</strong> der farblosen Camilla Rhodes des ersten Teils) und demütigt soihre ehemalige Partner<strong>in</strong> weiter, weil sie Diane so signalisiert, dass sie durchaus noch anlesbischen Beziehungen <strong>in</strong>teressiert ist, nur eben nicht mit ihr. Wir sehen e<strong>in</strong>e ganze Reihe<strong>von</strong> Personen aus der ersten Hälfte des Films, die nun andere Identitäten haben. Dianeentschließt sich, e<strong>in</strong>en Killer anzuheuern, der Camilla töten soll, es ist derselbe Killer, der imersten Teil <strong>in</strong> der burlesken Szene aufgetreten ist und damals offenbar nach Rita gefahndethatte. Er erhält e<strong>in</strong>en Beutel mit Geld, derselbe, den Rita im ersten Teil hatte und gibt Dianedafür e<strong>in</strong>en blauen Schlüssel, bis auf die Farbe nicht identisch mit dem <strong>von</strong> Rita im erstenTeil. Auf Dianes Frage, was der Schlüssel öffne, reagiert der Killer mit e<strong>in</strong>em unbestimmtenLachen. Während Diane wartet, dass Camilla getötet wird, klopft es an der Tür. Es ersche<strong>in</strong>enzwei Personen, die im ersten Teil des Films auch schon e<strong>in</strong>mal aufgetreten s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> altesEhepaar, das Betty im Flugzeug nach L.A. kennengelernt hatte. Diese beiden alten Leute s<strong>in</strong>djetzt aber aus e<strong>in</strong>em merkwürdigen Ort zu Diane gelangt. Sie stammen aus e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>enblauen Würfel, der sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tüte befunden hatte. Diese Tüte lag zu Füßen jenermerkwürdigen Gestalt, die sich h<strong>in</strong>ter „W<strong>in</strong>kies“ aufhielt und e<strong>in</strong>en jungen Mann durch ihrenBlick zu Tode brachte. Die beiden Alten werden <strong>von</strong> Diane e<strong>in</strong>gelassen und stürzen mit bösemLachen auf sie zu. Diane rennt <strong>in</strong> Panik <strong>in</strong> ihr Schlafzimmer und erschießt sich. Rauch steigt


7auf, drei E<strong>in</strong>stellungen beenden den Film: e<strong>in</strong>e Totale auf das Gesicht des Mannes h<strong>in</strong>ter„W<strong>in</strong>kies“, e<strong>in</strong>e grelle E<strong>in</strong>stellung der Gesichter Bettys und Ritas, letztere mit Perücke undschließlich wieder e<strong>in</strong>e Totale auf e<strong>in</strong>e Frau aus dem „Club Silencio“, die gebieterisch„Silencio“ ruft.E<strong>in</strong> starkes Argument für die Deutung e<strong>in</strong>er Trennung <strong>von</strong> Traum und Wirklichkeit,zugeordnet zu den beiden Teilen, ist e<strong>in</strong>e kurze E<strong>in</strong>stellung zu Beg<strong>in</strong>n des Films, die ichunterschlagen habe: Zwischen e<strong>in</strong>em Intro, auf das ich noch zurückkommen werde, und derSzene, <strong>in</strong> der der Wagen mit Rita den <strong>Mulholland</strong> <strong>Drive</strong> h<strong>in</strong>auffährt, gibt es e<strong>in</strong>e kurzeE<strong>in</strong>stellung auf e<strong>in</strong> rotes Kissen. Man hört das Seufzen e<strong>in</strong>er Frau, die, so suggeriert es dieKameraführung, <strong>in</strong> dieses Kissen s<strong>in</strong>kt. Wir sehen die Frau nicht, aber wir können das Bettzweifelsfrei identifizieren: es ist das, auf dem zuerst die Leiche, dann Diane liegt. Legt sichDiane zu Beg<strong>in</strong>n des Filmes nieder, um zu träumen, und erwacht sie, wenn der erste Teilendet? Ich glaube nicht. Zwei Hauptthemen, die Suche nach Identität - diesen Punkt betont<strong>David</strong> Lynch selbst (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview, das im Werbematerial der DVD enthalten ist) alszentral für alle Figuren des Films - und der Schicksalsgedanke, fallen so eigentlich unter denTisch, denn die aufwändige Identitätssuche wird <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>deutigkeit <strong>von</strong> Wunsch undRealität aufgehoben. Der Schicksalsgedanke, der im ersten Teil des Films <strong>in</strong> den Gestaltendes schwarzen Mannes und des Cowboys und vor allem <strong>in</strong> der Geschichte <strong>von</strong> Adam Kersherso e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt, wird zur re<strong>in</strong>en Metapher.Me<strong>in</strong>e erste Überlegung richtet sich auf den Cowboy. Ich möchte Ihnen gerne se<strong>in</strong>enwichtigen Dialog mit Adam Kersher vorführen:Cowboy (C): E<strong>in</strong>es Mannes E<strong>in</strong>stellung hat e<strong>in</strong>iges damit zu tun, wie se<strong>in</strong> Leben se<strong>in</strong> wird.Könnten Sie dem zustimmen?Adam Kersher (AK): Sicher.C: Haben Sie so geantwortet, weil Sie glauben, dass ich das hören möchte oder haben Siedarüber nachgedacht, was ich sagte. Und haben Sie so geantwortet, weil Sie aufrichtig da<strong>von</strong>überzeugt s<strong>in</strong>d, dass es stimmt?AK: Ich stimme dem zu, was Sie gesagt haben, aufrichtig.C: Was sagte ich?AK: Dass e<strong>in</strong>es Mannes E<strong>in</strong>stellung sehr damit zu tun hat, wie se<strong>in</strong> Leben se<strong>in</strong> wird.C: Also wenn das Ihre Ansicht ist, müssen Sie e<strong>in</strong> Mensch se<strong>in</strong>, dem nichts an e<strong>in</strong>em schönenLeben liegt.AK: Wieso das?


8C: Halten Sie für e<strong>in</strong>en Augenblick <strong>in</strong>ne und denken Sie darüber nach. Können Sie das fürmich tun?AK: Okay. Ich denke nach.C: Ne<strong>in</strong>, Sie denken nicht nach. Sie s<strong>in</strong>d zu sehr damit beschäftigt, e<strong>in</strong> Klugscheißer zu se<strong>in</strong>.Ich möchte, dass Sie nachdenken und aufhören, e<strong>in</strong> Klugscheißer zu se<strong>in</strong>. Versuchen Sie dasfür mich?AK: Hören Sie. Wo soll das h<strong>in</strong>führen. Was wollen Sie <strong>von</strong> mir?C: Denken Sie mal an e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>spänner. Wie viele Kutscher hat e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>spänner? Was sagenSie?AK: E<strong>in</strong>en.C: Also stellen wir uns vor, ich fahre den E<strong>in</strong>spänner, und wenn Sie Ihre E<strong>in</strong>stellung ändern,dann können Sie mit mir fahren.AK: Okay.C: Ich möchte, dass Sie morgen wieder an die Arbeit gehen. Sie wollten die weiblicheHauptrolle sowieso neu besetzen. Lassen sie viele Mädchen vorsprechen. Wenn Sie dasMädchen sehen, das man Ihnen heute gezeigt hat, werden Sie sagen ‚Das ist die Richtige'. DerRest der Besetzung kann so bleiben. Es liegt bei Ihnen. Die Entscheidung über die Hauptrolleliegt nicht bei Ihnen. Sie werden mich noch e<strong>in</strong>mal sehen, wenn Sie es richtig anstellen. Siewerden mich noch zweimal treffen, wenn Sie es falsch anstellen. Gute Nacht.Es wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass für e<strong>in</strong>en Altphilologen hiersehr vertraute Sätze geäußert werden. Der Cowboy würde ohne weiteres se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ergriechischen Philosophenschule e<strong>in</strong>nehmen können. Die Schule ist die 308 v. Chr. gegründeteStoa. Die Stoa hat e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der gesamten Antike sehr e<strong>in</strong>flussreiches Fatums-, alsoSchicksalskonzept erstellt. Dieses hat e<strong>in</strong>e Reihe <strong>von</strong> Spielarten über die Jahrhunderte h<strong>in</strong>wegentwickelt, aber zentral geblieben ist die Vorstellung e<strong>in</strong>es totalen <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong>. Das ganzeLeben ist durch das Schicksal - bisweilen wird hier <strong>von</strong> Natur gesprochen - vorgegeben. Wiealle determ<strong>in</strong>istischen Philosophien hat auch die Stoa das Problem, wie der freie Wille zubewerten ist. Die Antwort, dass es ke<strong>in</strong>en freien Willen gibt, ist zwar pr<strong>in</strong>zipiell denkbar, aberfür die Stoa e<strong>in</strong> wenig unbefriedigend, weil sie sich natürlich nicht auf Metaphysikbeschränkt, sondern auch e<strong>in</strong>e Ethik hat. E<strong>in</strong>e Ethik kann man sich ohne den freien Willenaber sparen. Ob die Antwort der Stoa auf dieses Problem Sie <strong>in</strong>tellektuell befriedigt, ist e<strong>in</strong>eSache. Wichtig ist mir, dass Sie die Ähnlichkeit zu den Aussagen des Cowboys erkennen. DieStoiker sagen: Der freie Wille des Menschen bestehe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>stellung zu dem, wasohneh<strong>in</strong> geschehen muss. Aufgabe des weisen Menschen ist es, die Natur und damit dasSchicksal zu erkennen und sich darauf e<strong>in</strong>zustellen, dann wird er glücklich. Leistet der


9Mensch aber Widerstand oder ist unwillig, dann wird er unglücklich. In e<strong>in</strong>em Fragment überdie Lehre der alten Stoa und ihrer Vertreter Zeno und Chrysipp liest sich das wie folgt:Hippolytus, Haer. 1.21 (SVF 2.975) LS1 386 / LS2 382 (A): "Und sie selbst versichern, dass allesgemäß dem Schicksal sei, <strong>in</strong>dem sie folgendes Beispiel verwenden: es ist, wie wenn e<strong>in</strong> Hund an e<strong>in</strong>enWagen gebunden ist: wenn er folgen will, wird er gezogen und folgt mit se<strong>in</strong>em freien Willen gemäßder Notwendigkeit des Schicksals. Wenn er aber nicht folgen will, wird er gänzlich gezwungenwerden. Genau so verhält es sich mit den Menschen. Auch wenn sie nicht folgen wollen, werden siegezwungen werden, gänzlich <strong>in</strong>s Vorbestimmte e<strong>in</strong>zutreten."Ich glaube, dass dies die zentrale Botschaft des Films ist (Peter Feist (Literaturliste): „dasLeitmotiv des Films“), die an zentraler Stelle vermittelt wird. Adam Kersher hat sich primavista mit Studiobossen angelegt, die ihn vernichten können. Aber die Vernichtung istkosmischer Natur. Kersher verliert <strong>in</strong> rasendem Tempo se<strong>in</strong>e gesamte Existenz, se<strong>in</strong>en Platzim Leben, obwohl er sich sogar antikafkaesk verhält und Widerstand leistet. Er kann nichte<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong> Haus betreten, er irrt herum an Orten, die ihm nur sche<strong>in</strong>bar Zuflucht gewähren.Er muss se<strong>in</strong> Schicksal akzeptieren, um se<strong>in</strong> Leben wieder aufnehmen zu können. DerCowboy steht für das Schicksal, das den Lebenswagen steuert. Er ist emotionslos undeigentlich durch se<strong>in</strong> absurdes Auftreten ke<strong>in</strong> Charakter, dem man Eigenschaften zuschreibenkann, anders als der schwarze Mann <strong>von</strong> „W<strong>in</strong>kies“, der Teufel und Gott zugleich ist. Wie beiGott erträgt man es nicht, <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Antlitz zu sehen. Geme<strong>in</strong>sam versehen der Cowboy und derschwarze Mann die Exekution des Schicksals.Schicksal und Gott: Homer hat dafür im 22. Gesang der Ilias e<strong>in</strong> schönes Bild gefunden. AlsAchill zum entscheidenden Kampf mit Hektor antritt, jagt er ihn um die Stadt Troja herum.Zeus jammert der fliehende Hektor und er wünscht ihn zu retten, was ihm aber Athenaabschlägt. Jagd und Flucht gehen weiter.Homer schreibt (22, 199 – 201, Übers. Schadewaldt):"Und wie man im Traum es nicht vermag, e<strong>in</strong>en Fliehenden e<strong>in</strong>zuholen;Weder kann der ihm entfliehen noch der ihn e<strong>in</strong>holen:So konnte der ihn nicht mit den Füßen erreichen und der nicht entkommen."Homer vergleicht die s<strong>in</strong>nlose Jagd um die Stadt mit e<strong>in</strong>em Traum. Das Unausweichliche ist<strong>in</strong> dieser atemlosen Hast kurz aufgeschoben, kann aber nicht vermieden werden. Das


10empf<strong>in</strong>det Homer als traumartig. Denn das Schicksal macht hier, dass auch die Götter nichthelfen können. Weiter schreibt Homer (22, 208 – 213, Übers. Schadewaldt):„Als sie nun zum viertenmal zu den Brunnen gelangten,Da nun spannte der Vater die goldenen Waagschalen ause<strong>in</strong>ander.Und legte zwei Lose h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> des starkschmerzenden Todes,E<strong>in</strong>es für Achilleus und e<strong>in</strong>es für Hektor, den Pferdebändiger,Faßte sie <strong>in</strong> der Mitte und zog sie hoch. Da senkte sich Hektors SchicksalstagUnd kam h<strong>in</strong>ab bis zum Hades; und da verließ ihn Phoibos Apollon."Der mitleidende Gott Zeus erkundigt sich beim Schicksal, der mitleidende Gott Apollon mussHektor lassen. Das Schicksal ist gesichtslos, aber die Götter können mitleiden. Die Götterspiegeln so die conditio humana. Genau dasselbe tut der schwarze Mann h<strong>in</strong>ter „W<strong>in</strong>kies“: eraber ist ke<strong>in</strong> mitleidender Gott, sondern e<strong>in</strong> böser Dämon. Die Welt <strong>von</strong> <strong>David</strong> Lynch istdunkler als die <strong>von</strong> Homer.Dieselbe Lehre wartet auf Rita und Betty. Leider weist sie ke<strong>in</strong> Cowboy darauf h<strong>in</strong>. Siemüssen ihren Weg anders gehen. Der <strong>in</strong>teressanteste Punkt ist Rita. Auch sie ist aus ihrerExistenz gefallen, auch sie wird verfolgt. Anders als Kersher f<strong>in</strong>det sie nicht <strong>in</strong> ihr Lebenzurück, sondern verlässt die Szenerie auf geheimnisvolle Weise. Warum kann sie nicht wiederzurück <strong>in</strong>s Leben? Was unterscheidet sie <strong>von</strong> Kersher? Kersher soll e<strong>in</strong>e bestimmte Rolle imLeben spielen. Als er versucht, aus ihr auszubrechen, wird er unsanft wieder an den Karrengespannt und läuft weiter. Rita kann das nicht, denn Ritas Rolle ist ausgespielt. Ihr Fehler ist,dass sie versucht, weiterzuspielen. Ich möchte diesen Punkt gerne an zwei Motiven erläutern,auf die im ersten Falle vielleicht, im zweiten ziemlich sicher angespielt wird.Es gibt e<strong>in</strong>en Roman <strong>von</strong> Fruttero und Lucent<strong>in</strong>i. Es ist e<strong>in</strong> verhältnismäßig unbekannterRoman des italienischen Erfolgsduos. Er heißt: Du bist so blass. E<strong>in</strong>e Sommergeschichte.Auch Rita ist blass und es ist e<strong>in</strong>e Sommergeschichte. Bei Fruttero und Lucent<strong>in</strong>i geht es ume<strong>in</strong>e junge Frau, die e<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft hat, auf Partys geht und etwas erlebenwill. Doch ihr widerfährt Merkwürdiges: Ihre Freunde beg<strong>in</strong>nen, sie zu ignorieren. Sie fühltsich unwohl. Man sieht es ihr an: ‚Du bist so blass.' E<strong>in</strong>e Weile versucht sie, ihr Leben so zuleben, wie sie es kennt. Sie fährt e<strong>in</strong>e Straße entlang und kommt an e<strong>in</strong>em Autounfall vorbei.Es stellt sich dann heraus, dass sie selbst bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist, ihrenTod nicht akzeptiert hat und versucht weiterzuleben. Am Schluss akzeptiert sie, dass sie totist, und verschw<strong>in</strong>det (das ist die logische Folge, die e<strong>in</strong>e Ich-Erzählung aber nichtausdrücken kann). Die Parallelen zu Rita s<strong>in</strong>d, glaube ich, nur zu deutlich. Der zweite


11H<strong>in</strong>weis auf das untote Dase<strong>in</strong> Ritas ergibt sich auch aus e<strong>in</strong>er Anspielung im zweiten Teil,die ich mir erlaube hier heranzuziehen, auch wenn ich beide Teile, wie sich zeigen wird,vergleichsweise stricte trenne. Dort heißt Rita Camilla. Hier steckt m. E. e<strong>in</strong>e deutlicheAnspielung auf e<strong>in</strong>e viktorianische Gruselgeschichte <strong>von</strong> Sheridan Le Fanu (vgl. z.B.Sébastien Omont auf der Literaturliste). Die Geschichte heißt Carmilla (mit e<strong>in</strong>em etwasungewöhnlichen r nach dem ersten a) und handelt <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em weiblichen Vampir diesesNamens, der e<strong>in</strong>e junge, lebensfrohe und naive Frau befällt (Carmillas Kutsche erleidet e<strong>in</strong>enUnfall und sie wird <strong>von</strong> der jungen Frau gepflegt!) und e<strong>in</strong>e lesbische Beziehung zu dieseraufnimmt. Auch hier f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Namenswechsel statt, Carmilla hieß früher Mircalla und wird<strong>von</strong> ihrem jungen Opfer auf e<strong>in</strong>em alten Bild wahrgenommen, ähnlich wie Rita ihr Gesicht<strong>von</strong> Rita Hayworth erhält. Auch diese Geschichte endet natürlich mit der Tötung desVampirs. Das Interessante ist auch, dass <strong>in</strong> Sheridan Le Fanus Geschichte Traum undWirklichkeit verschwimmen, ohne dass das Geträumte weniger relevant ist als das sche<strong>in</strong>barReale. Damit me<strong>in</strong>e ich h<strong>in</strong>reichend deutlich gemacht zu haben, dass Rita eigentlich tot ist,bzw. se<strong>in</strong> müsste.Rita ist freilich nicht zu Tode gekommen. Aber sie hätte sterben müssen, das war ihr Skript.Warum ist sie nicht gestorben? Ich glaube hier an e<strong>in</strong>en dummen Zufall.Manche antiken Philosophenschulen diskutieren darüber, ob es neben dem Determ<strong>in</strong>iertenauch das Zufällige geben könnte. Sie sagen, dass das Schicksal nur die großenHauptereignisse festlege und es dazwischen e<strong>in</strong>en Spielraum gibt, sowohl für den freienWillen - das können wir hier zunächst beiseite lassen - als auch für das Zufällige. DerPhilosoph Epikur hat dafür e<strong>in</strong> hier vielleicht passendes Konzept parat. Das Zufällige entstehtdadurch, dass Atome plötzlich ihre Bahn verlassen, <strong>in</strong> der sie sich sonst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emmaterialistischen <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> bewegen, e<strong>in</strong>e unkalkulierbare Bewegung erzeugen und aufandere Atome aufprallen. Genau so etwas passiert durch den Autounfall. Das Autorennen derJugendlichen hat etwas aleatorisches. Die Jugendlichen lassen es darauf ankommen, siespielen nicht mit dem Schicksal, sondern mit dem Zufall. Dummerweise ist dieser Spielraumdes Zufälligen mit dem Determ<strong>in</strong>ierten kollidiert. Anders ausgedrückt: Aus der Sicht desSchicksals und se<strong>in</strong>er Agenten hat es e<strong>in</strong>e Panne gegeben. Noch anders ausgedrückt: Derreale Autounfall ist auch e<strong>in</strong> metaphysischer Unfall. Die Geschichte, die wir im ersten Teildes Filmes erzählt bekommen, ist die Geschichte der Bere<strong>in</strong>igung dieses Unfalls, bis diebeiden Frauen endlich e<strong>in</strong>sehen, dass sie nicht weitermachen können. Sie überschätzen denSpielraum, den der Zufall ihrem freien Willen e<strong>in</strong>geräumt hat. Sie überschätzen ihn deshalb,weil sie gar nichts vom Schicksal wissen. Sie müssen es erst herausf<strong>in</strong>den. Und die Lösung


12heißt: Rita muss verschw<strong>in</strong>den, denn sie lebt über ihre Zeit. Sie ist e<strong>in</strong>e Untote. Es ist ke<strong>in</strong>Zufall, dass der Killer, der sie sucht, das schwarze Buch mit der „Geschichte des Lebens <strong>in</strong>Telephonnummern“ an sich br<strong>in</strong>gt. In diesem Buch steht das Drehbuch des Lebens und dasgeht die Lebenden nichts an, schon gar nicht, wenn herauskommen könnte, dass etwas schiefgegangen ist. Das Schicksal bedient das Telephon hier <strong>in</strong> gekonnter Manier. Als die beidenFrauen <strong>in</strong> das Apartment <strong>von</strong> Diane Selwyn wollen, möchte sie die Frau, die mit Diane dasApartment getauscht hat, gerne begleiten. Es ist e<strong>in</strong> Telephonanruf, der sie zurückhält.Wir können nun noch e<strong>in</strong>en Schritt weitergehen und uns fragen, warum Rita tot se<strong>in</strong> müsste.Die Nachforschungen der beiden Frauen führen zur Leiche e<strong>in</strong>er blonden Frau. Es herrschtwohl E<strong>in</strong>igkeit, dass Betty hier nicht im engeren S<strong>in</strong>ne sich selbst vorf<strong>in</strong>det. Die Frau ist auchnicht identisch mit der Diane des zweiten Teils, sie trägt e<strong>in</strong> dunkles Negligé, ihre Haare s<strong>in</strong>detwas anders, außerdem stirbt Diane im zweiten Teil <strong>in</strong> ihrem Morgenmantel. Ich glaube, dasswir es hier mit e<strong>in</strong>er Gestalt aus Ritas Leben zu tun haben. Die Schwarzhaarige und dieblonde Frau bilden e<strong>in</strong>en Januskopf, sie s<strong>in</strong>d schicksalshaft mite<strong>in</strong>ander verknüpft. DasSchicksal, und das ist der Grund der Motivdoppelung, erzählt immer die gleiche Geschichte.Es besetzt Rollen mit Seelen. Wenn e<strong>in</strong>e Rolle ausgespielt ist, stirbt der Körper als Trägerdieser Rolle, und die Seele kehrt gleichsam <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Pool seelenhafter Schauspieler zurück,die neu besetzt werden können. Sie können dies an e<strong>in</strong>em Bild sehen, dass ich - ich kündigtean, dass me<strong>in</strong>e Zusammenfassung manipulativ se<strong>in</strong> würde - Ihnen bisher vorenthalten habe.Weder die Kissenszene noch der Autounfall s<strong>in</strong>d wirklich der Beg<strong>in</strong>n des Films. Die meistenMenschen, die den Film gesehen haben, vergessen den Anfang, weil er überhaupt nicht zumRest des Films zu gehören sche<strong>in</strong>t. Er ist auch durch e<strong>in</strong>e aggressiv muntere Tanzmusik(Jitterbug) vom übrigen Soundtrack abgehoben: Auf violettem, undurchdr<strong>in</strong>glichem Grundsehen wir tanzende Paare. Sie werden zum Teil durchsichtig und verschw<strong>in</strong>den. Auf e<strong>in</strong>malsehen wir e<strong>in</strong>en grellen Umriss, der allmählich scharf gestellt wird: Betty bzw. Diane gew<strong>in</strong>ntihren Jitterbugwettbewerb <strong>in</strong> Deep River Ontario und ersche<strong>in</strong>t mit dem alten Ehepaar aufdem Flughafen <strong>von</strong> L.A. Diese Szene ist deshalb so <strong>in</strong>teressant, weil es eigentlich Diane ausdem zweiten Teil ist, die diesen Wettbewerb gewonnen hat. Dennoch spielt die Szene vordem Moment, als die Frau sich auf das Kissen legt. Folgte man der Traum<strong>in</strong>terpretation, wäreausgerechnet der Bestandteil, der sche<strong>in</strong>bar fest zur Biographie Dianes gehört, nicht Teil <strong>von</strong>deren Traum, sondern dieser Sequenz vorgeschaltet. Und ausgerechnet jener Teil des Films,ist am wenigsten real gestaltet ist, und ausgerechnet aus dieser Szene wird nicht Diane,sondern Betty auf den Plan geschoben. Der Jitterbug-Wettbewerb bezeichnet e<strong>in</strong> Stadium,bevor die Protagonisten die Traumwelt Hollywoods betreten. Und gerade dieses Stadium des


13Vor-E<strong>in</strong>tritts <strong>in</strong> die Geschichte ersche<strong>in</strong>t als vage und irreal. Dieses Vorstadium ist deshalbdem gesamten Film vorgeschaltet, weil es für alle Protagonisten gilt. Ich verstehe dieTanzenden als Seelen <strong>in</strong> der Unterwelt. Sie ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em violetten Blauton gehalten, zwaranders, aber doch ähnlich dem blauen Kästchen, das ihren E<strong>in</strong>gang bildet. Die Seelen wissenvor ihrer E<strong>in</strong>körperung nichts vom Leben, sie tanzen ohne S<strong>in</strong>n und Ziel. Wenn e<strong>in</strong>e Rolle zubesetzen ist, werden sie geholt und zwar <strong>von</strong> zwei Seelengeleitern <strong>in</strong> der Gestalt <strong>von</strong> zweialten Leuten, auf die ich sogleich näher e<strong>in</strong>gehen werde. Diesmal ist es Diane, die <strong>in</strong>s Lebengerufen wird, aber es kann ebensogut Betty se<strong>in</strong>, und es kann noch vielen anderen sogeschehen.Dieses Bild ist vielleicht e<strong>in</strong> wenig schwer verdaulich. Es gibt auch ke<strong>in</strong>e direkte Parallele <strong>in</strong>der Literatur, die ich vertrete. Allerd<strong>in</strong>gs ist die Vorstellung der Seelenwanderung, und daraufkommt es mir letztlich an, <strong>in</strong> der Regel darauf gegründet (so f<strong>in</strong>den Sie es etwa <strong>in</strong> PlatonsStaat im zehnten Buch), dass ke<strong>in</strong>e Seele neu entsteht und ke<strong>in</strong>e verloren geht. ImSeelengericht bei Platon allerd<strong>in</strong>gs können die Seelen, bevor sie e<strong>in</strong>gekörpert werden, ihrLebenslos selbst wählen. „Die Schuld liegt beim Wählenden, der Daimon ist unschuldig“werden die Seelen <strong>in</strong> der Unterwelt belehrt, bevor sie ihr Lebensmuster ergreifen. Selbst wennSie mir <strong>in</strong> der - zugegeben gewagten - Interpretation der E<strong>in</strong>gangsszene nicht folgen möchten,so ist doch m.E. offensichtlich, dass sich nur e<strong>in</strong>e begrenzte Zahl der dramatis personae ander Oberfläche der Geschichte aufhalten dürfen. Und mir sche<strong>in</strong>t das Bild der Tanzendene<strong>in</strong>es <strong>von</strong> ahnungslosen Menschen zu se<strong>in</strong> und es ist dieser Pool ahnungsloser Menschen, ausdem heraus die Handlung um Betty ihren Ausgang nimmt. Nehmen wir weiter an, was bei<strong>David</strong> Lynch offensichtlich ist, dass das Blau e<strong>in</strong>e leitmotivische Farbe ist, dann s<strong>in</strong>d der„Club Silencio“, das Kästchen, die Schlüssel und eben die merkwürdige E<strong>in</strong>gangsszenediesem Bereich zugeordnet. Das Kästchen aber ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> jedem Fall alsHandlungsschleuse.Wir können uns nun e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck verschaffen, wie die Geschichte im Ganzen funktioniert:Zwei Frauen freunden sich an, die sich charakterlich komplementär verhalten: die e<strong>in</strong>e naiv,die andere abgebrüht, die e<strong>in</strong>e jungfräulich, die andere erotisch erfahren. Stirbt die e<strong>in</strong>e, fälltauch die andere. Diane Selwyn im zweiten Teil will Camilla töten und muss sich dann selbertöten. Wie stark hier das Skript des Schicksals ist und wie kle<strong>in</strong> die eigene Entscheidung,zeigt der Film e<strong>in</strong>drucksvoll <strong>in</strong> der Schlussszene, <strong>in</strong> der Diane <strong>von</strong> zwei Emissären desschwarzen Dämons regelrecht genötigt wird sich zu töten. Von diesen beiden Personen habeich bisher kaum gesprochen. Es handelt sich um das alte Ehepaar, das zum ersten Maleauftritt, als Diane <strong>in</strong> L.A. landet. Damit entert sie das Skript der Geschichte und gleichsam ihr


15schließlich Betty, die Rita das blaue Kästchen übergibt, das ihr den Ausgang aus derGeschichte ermöglicht.Warum besitzt sie das Kästchen, warum weiß sie plötzlich, dass es zum blauen Schlüsselgehört? Weil das blaue Kästchen der Ausgang ist, der zu der Geschichte <strong>von</strong> Diane gehörensollte. E<strong>in</strong>e Geschichte, <strong>in</strong> der sie e<strong>in</strong>e schwarzhaarige Frau kennenlernen wird, die ihr Lebenru<strong>in</strong>iert, die andererseits aber ihr unwiderstehliches Gegenüber ist. Deshalb reagiert sie auch<strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv mit Zuneigung zu Rita, e<strong>in</strong>er Zuneigung, die eigentlich nicht gerechtfertigt ist. DennRita ist ihr schicksalshaftes Gegenüber, nur leider aus e<strong>in</strong>er bereits erzählten Geschichte, dieübriggebliebene Besetzung e<strong>in</strong>er früheren Verfilmung desselben Stoffes. Daher gerät auchalles durche<strong>in</strong>ander, daher agiert plötzlich die backfischartige Diane als aktive Person,während die femme fatale Rita durch ihre Amnesie e<strong>in</strong> hilfloses K<strong>in</strong>d geworden ist. Der ersteTeil des Films beg<strong>in</strong>nt so nicht mit e<strong>in</strong>em Unfall, er erzählt die Geschichte e<strong>in</strong>es Unfalls,e<strong>in</strong>es Unfalls zwischen fatum und fortuitum, zwischen Schicksal und Kont<strong>in</strong>genz. DerZusammenprall des Kont<strong>in</strong>genten mit dem Determ<strong>in</strong>ierten schafft e<strong>in</strong>en w<strong>in</strong>zigen Spielraumfür den freien Willen. Betty nutzt ihn zu e<strong>in</strong>er Geste liebender Entsagung, mit der sie Rita dasKästchen übergibt, das eigentlich für Betty selbst vorgesehen ist. Kafkaesk ausgedrückt:‚Dieser Ausgang war nur für dich‘. Sie verzichtet, verzichtet damit aber auch auf ihre Rolleim Leben, die zwar kläglich se<strong>in</strong> würde, aber wenigstens Leben war. Sie verschw<strong>in</strong>det ausdem Film, ohne e<strong>in</strong>en Ausgang, sie verschw<strong>in</strong>det, weil <strong>David</strong> Lynch sie verschw<strong>in</strong>den lässt.Die Geschichte ist zusammengebrochen, nicht weil <strong>David</strong> Lynch se<strong>in</strong>e Fernsehserie nichtf<strong>in</strong>anziert bekommen hat, sondern weil Betty das Drehbuch verweigert. Dennoch ist so auchder Weg frei, um die Geschichte wieder neu zu erzählen. Das genau f<strong>in</strong>det im zweiten Teilstatt (es handelt sich beim zweiten Teil weder um e<strong>in</strong>en Rückblick, noch um e<strong>in</strong> späteresStadium der im ersten Teil erzählten Geschichte, sondern um e<strong>in</strong>e weitere Variation des ewiggleichen Drehbuchs des Lebens vgl. Peter Feist (Literaturliste), der im Zusammenhang <strong>von</strong>Lost Highway <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Endlosband spricht).Ich habe versucht, Ihnen nahezubr<strong>in</strong>gen, dass <strong>David</strong> Lynch <strong>in</strong> diesem Film e<strong>in</strong>en radikalenund dunklen <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> vertritt, gemäß dem die Menschen im Leben wie im Film Rollenbesetzen, über die sie nicht zu bescheiden haben. Ich habe Ihnen, zum<strong>in</strong>dest was den<strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong>gedanken angeht, antike Texte gezeigt, die ganz ähnliche Gedanken <strong>in</strong> ganzähnlicher Form vortragen (freilich ohne vergleichbaren Pessimismus). Es ist durchausmöglich, aber ke<strong>in</strong>eswegs notwendig, dass <strong>David</strong> Lynch diese Texte gekannt hat, denn wenner sich fürs Schicksal <strong>in</strong>teressiert, wird er e<strong>in</strong> bisschen herumgelesen haben und dann s<strong>in</strong>d diegenannten antiken Quellen ke<strong>in</strong>e exotischen Texte <strong>von</strong> Spezialisten. Aber das spielt ke<strong>in</strong>e


16Rolle. Ich möchte auf etwas anderes h<strong>in</strong>aus. Ich möchte jetzt nicht mehr <strong>von</strong> denGeme<strong>in</strong>samkeiten mit der Antike, sondern <strong>von</strong> den Unterschieden sprechen. Grundsätzlichkann man sagen, dass <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> nicht nur e<strong>in</strong> konzeptionelles, sondern auch e<strong>in</strong>ästhetisches Problem darstellt. Konzeptionell me<strong>in</strong>t, dass e<strong>in</strong> radikaler <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong>argumentative Probleme aufwirft, etwa für e<strong>in</strong>en Christen, wenn er die Welt als <strong>von</strong> Gottgeschaffen ansieht, aber das Böse erklären möchte, dies aus dem freien Willen des Menschenableitet und <strong>von</strong> Gott trennt, damit aber Gottes Allmacht <strong>in</strong> Frage stellt. August<strong>in</strong> hat sichdaran zum Beispiel an vorderster Front abgearbeitet, mit fragwürdigem Erfolg. Mich<strong>in</strong>teressiert aber das ästhetische Problem: Wir haben <strong>in</strong> der Antike zahlreiche literarischeTexte, die determ<strong>in</strong>istische Konzepte formulieren, und diese auf der Handlungsebene nichte<strong>in</strong>lösen. So wird etwa <strong>in</strong> der Aeneis der Held Aeneas e<strong>in</strong> Objekt des Schicksals, der e<strong>in</strong>egöttliche Sendung, nämlich die Ansiedlung der Trojaner <strong>in</strong> Latium als Voraussetzung derGründung Roms zu leisten hat. Se<strong>in</strong> ganzes Verhalten ist also determ<strong>in</strong>iert. Dennoch gibt ese<strong>in</strong>e breite Diskussion darüber, ob er den freien Willen habe, weil es immer wiederSituationen gibt, <strong>in</strong> denen er vor e<strong>in</strong>e Entscheidung gestellt wird, und diese Entscheidungauch trifft (besonders der Schluss der Aeneis kommt hier <strong>in</strong> Betracht, als Aeneas e<strong>in</strong>enbittflehenden, besiegten Gegner nach kurzem Zögern doch tötet.) M. E. rechtet man aber zuUnrecht mit Autoren, die auf der e<strong>in</strong>en Seite zu erkennen geben, dass sie e<strong>in</strong> fatalistischesWeltbild haben, dies aber narrativ nicht konsequent e<strong>in</strong>lösen. Denn es ist e<strong>in</strong>e Grunderfahrungmenschlichen Lebens, dass der Mensch vor Entscheidungen gestellt ist. <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> istetwas kontraempirisches. Insofern stellt es e<strong>in</strong>en Dichter vor gewisse Probleme ästhetischerNatur: will er <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> ausdrücken, müsste er auf Entscheidungen verzichten, bzw. dasAbsehbare <strong>von</strong> Entscheidungen so deutlich markieren, dass das Ereignishafte der Erzählung<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund träte. Anders ausgedrückt: das Buch wird e<strong>in</strong> bisschen langweilig. E<strong>in</strong>Beispiel haben wir ebenfalls <strong>in</strong> der Aeneis: Aeneas lässt sich (im vierten Buch) auf e<strong>in</strong>eAffäre mit der König<strong>in</strong> Dido e<strong>in</strong>. Hermes ersche<strong>in</strong>t als Bote des Zeus und fordert ihn auf,se<strong>in</strong>er Bestimmung zu folgen und se<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> das Land des zukünftigen Rom fortzusetzen.Aeneas gehorcht sofort und lässt die Schiffe klarmachen. Dieser Schluss der Liebesgeschichteum Dido und Aeneas wurde seit jeher als ernüchternd empfunden und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutungdiskutiert. Auffällig ist, dass Aeneas kaum e<strong>in</strong>e Regung zeigt: wer dem fatum folgt, erlebtke<strong>in</strong>e Konflikte. <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> ist also auch e<strong>in</strong> ästhetisches Problem. Bei <strong>David</strong> Lynchtaucht es freilich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz anderen Form auf.Es ist gerade nicht langweilig und das zunächst e<strong>in</strong>mal dadurch, dass der Mensch se<strong>in</strong>Schicksal entdeckt und nicht entdeckt bekommt. Es ist e<strong>in</strong>e schmerzhafte Suche, die die


17beiden Frauen dort anstellen. Rita und Betty s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> gewisser Weise wie neugeborene K<strong>in</strong>der,Betty durch ihre Unbedarftheit, Rita durch ihre Amnesie. Sie suchen nach ihrer Identität undf<strong>in</strong>den nur e<strong>in</strong>e Rolle. Diese Art der Schicksalssuche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vom Unheimlichenbeherrschten Raum sche<strong>in</strong>t mir, ästhetisch gesehen, e<strong>in</strong>e Errungenschaft der letzten fünfzehnJahre zu se<strong>in</strong>. Sie f<strong>in</strong>den sie <strong>in</strong> ganz ähnlicher Weise <strong>in</strong> den Romanen des Japaners HarukiMurakami. Im Gegensatz zu Lynch ist bei Murakami die Suche nach dem Schicksal abernicht Absage, sondern Erfüllung der Identität, auch wenn sie sich – ich denke hier an denRoman Mr. Aufziehvogel- ebenfalls <strong>in</strong> unheimlichen, parallel angeordneten Se<strong>in</strong>sräumenvollzieht (das Motiv der parallelen Räume f<strong>in</strong>den Sie übrigens <strong>in</strong> <strong>David</strong> <strong>Lynchs</strong> LostHighway). Die Frage ist, warum Literatur und Film <strong>in</strong> den vergangenen Jahren den<strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Fest der Bilder begehen. Natürlich ist es geradeKennzeichen der Moderne, ihren Individualismus gegen Determ<strong>in</strong>ismen anrennen zu lassen.Das ist etwa <strong>in</strong> den Romanen Kafkas bereits der Fall. Aber bei Kafka ist <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong>letztlich säkular gefasst, es s<strong>in</strong>d Bürokratien, die sie verkörpern. Dasselbe gilt für die <strong>in</strong> denachtziger Jahren so populären Schriften Michel Foucaults. Noch heute ist die Zahl derDoktoranden enorm, die irgendwelche Texte nicht alle<strong>in</strong>, sondern mit Foucault lesen undgereizt reagieren, wenn man ihrem säkularen <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong>, nach dem alles Macht sei und <strong>in</strong>Funktionen der Macht aufgehe, nicht folgen will. Man kann hier <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er grimmigen Lustam <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> sprechen. Das Erstaunliche der Ästhetik <strong>David</strong> <strong>Lynchs</strong>, Murakamis undanderer aber ist, dass der <strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> hier nicht alle<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> säkularer, durch Institutionenhergestellter ersche<strong>in</strong>t, sondern wieder metaphysisch wird. Ich glaube, dass dies mit e<strong>in</strong>emgewissen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel e<strong>in</strong>hergeht. Während Foucault und se<strong>in</strong>ezahlreichen Epigonen Macht <strong>in</strong> historisch fassbaren Institutionen verorten und ihrdiskont<strong>in</strong>uierliches Aufsteigen und Fallen beobachten, ist die Erfahrung der Globalisierungletztlich e<strong>in</strong>e andere: f<strong>in</strong>det der Diskurs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit an e<strong>in</strong>em bestimmten Ortstatt, ist die Erfahrung der Globalisierung e<strong>in</strong>e ubiquitäre. Man ist sich nicht mehr sicher, dassbestimmte Institutionen Ursache <strong>von</strong> Bemächtigungen des E<strong>in</strong>zelnen s<strong>in</strong>d. Alles hängt wiedermit allem zusammen. Das ist verwirrend und unheimlich. Außer der Chaostheorie bietet sichfür diese Erfahrung das gute alte Schicksal an. Es drückt Erfahrung aus, während Foucaults<strong>Determ<strong>in</strong>ismus</strong> so kontraempirisch ist, wie es der antike Fatalismus für uns heute zu se<strong>in</strong>sche<strong>in</strong>t. Das fatum verb<strong>in</strong>det sich daher mit Überzeugungen des 20. Jahrhunderts <strong>von</strong> derMacht der Institutionen. Das zeigt das Beispiel <strong>von</strong> Adam Kersher: Er gerät mit denProduzenten ane<strong>in</strong>ander, mit Trägern wirtschaftlicher Macht. Aber was er erlebt, sche<strong>in</strong>tgrößer zu se<strong>in</strong> als diese. Das fatum ist zurückgekehrt.

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