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Deutsch Wege zum Glück - Standardsicherung NRW

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<strong>Deutsch</strong><br />

<strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

Textheft für Schülerinnen und Schüler<br />

Zentrale Lernstandserhebungen in der Jahrgangsstufe 9<br />

Nordrhein-Westfalen 2004


Hinweis<br />

Dieses Textheft ist Bestandteil der zentralen Lernstandserhebung 2004 im Fach <strong>Deutsch</strong>.<br />

Am 10. oder 11. November 2004 erhalten die Schülerinnen und Schüler, die an der Lernstandserhebung<br />

teilnehmen, im Rahmen einer Doppelstunde für maximal 60 Minuten Einblick in dieses Heft.<br />

Danach verbleibt es bis <strong>zum</strong> Tag der Lernstandserhebung <strong>Deutsch</strong> (17. November 2004) in der<br />

Schule unter Verschluss.<br />

© 2004<br />

Herausgeber: Ministerium für Schule, Jugend und Kinder<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Völklinger Straße 49, 40221 Düsseldorf<br />

Testentwicklung<br />

und Projektkoordination: Landesinstitut für Schule<br />

Paradieser Weg 64, 59494 Soest<br />

Grafik und Gestaltung: Ramona Marchitto; Andrea Pöpping<br />

Druck: DruckVerlag Kettler GmbH<br />

Postfach 1150, 59193 Bönen/Westf.<br />

Alle Rechte vorbehalten. Jegliche Verwertung dieses Druckwerks bedarf – soweit das Urheberrechtsgesetz nicht<br />

ausdrücklich Ausnahmen zulässt – der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Herausgebers.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Illustrationen: S. 1, 3, 10, 12, 14, 15, 16: Michael Gottschalk, Soest; S. 4: Goldener Buddha, in: http://www.buddhismus.at.bilder<br />

(Stand: 23.09.2004); S. 8: Chinesisches <strong>Glück</strong>szeichen, Quelle unbekannt


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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

Verliebt<br />

Joanna (16 Jahre)<br />

Pudding in den Beinen,<br />

Rosinen im Kopf;<br />

Brauseprickeln auf der Haut,<br />

über die Lippen fließen Worte<br />

wie Honig und Rote Grütze.<br />

Das Ende vom Lied:<br />

Bauchweh vom Kopf bis in die Füße<br />

von all dem Zuckerzeug!<br />

Aus: Warmer Regen auf meiner Haut. Liebesgedichte aus der NDR-2-Sendung<br />

„Sweet, Soft and Lazy”. Hamburg: Hanseatische Edition 1987<br />

Happy End<br />

Kurt Marti<br />

Sie umarmen sich, und alles ist wieder gut. Das<br />

Wort ENDE flimmert über ihrem Kuss. Das<br />

Kino ist aus. Zornig schiebt er sich <strong>zum</strong> Ausgang,<br />

seine Frau bleibt im Gedrängel hilflos<br />

stecken, weit hinter ihm. Er tritt auf die Straße,<br />

bleibt aber nicht stehen und geht, ohne sie abzuwarten,<br />

geht voll Zorn, und die Nacht ist<br />

dunkel. Atemlos, mit kleinen, verzweifelten<br />

Schritten holt sie ihn ein, er geht und sie holt<br />

ihn wieder ein und keucht. Eine Schande, sagt<br />

er im Gehen, eine Affenschande, wie du geheult<br />

hast. Mich nimmt nur wunder warum,<br />

Aus: Marti, Kurt: Dorfgeschichten. Darmstadt; Neuwied: Luchterhand 1983, S. 20<br />

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sagt er. Sie keucht. Ich hasse diese Heulerei,<br />

sagt er, ich hasse das. Sie keucht noch immer.<br />

Schweigend geht er und voller Wut, so eine<br />

Gans, denkt er, und wie sie nun keucht in ihrem<br />

Fett. Ich kann doch nichts dafür, sagt sie endlich,<br />

ich kann wahrhaftig nichts dafür, es war<br />

so schön, und wenn`s schön ist, muss ich halt<br />

heulen. Schön, sagt er, dieser elende Mist, die-<br />

ses Liebesgewinsel, das nennst du schön, dir ist<br />

ja nun wirklich nicht mehr zu helfen. Sie<br />

schweigt und geht und keucht. Was für ein<br />

Klotz, denkt sie, was für ein Klotz.<br />

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<strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004<br />

Was ist wichtig / richtig fürs <strong>Glück</strong>?<br />

1987 und 2002 wurden in einer Jugendstudie<br />

2.515 Jugendliche im<br />

Alter von 12 bis 25 Jahren zu ihrer<br />

Lebenssituation und ihren Meinungen<br />

befragt. Die Forscher fragten<br />

dabei auch, was Jugendlichen für ihre<br />

Lebensgestaltung besonders viel<br />

bedeutet.<br />

4<br />

Bedeutung für die Lebensgestaltung (in %)<br />

Familienleben<br />

Kreativität<br />

Unabhängigkeit<br />

Sicherheit<br />

Fleiß und Ehrgeiz<br />

Macht und Einfluss<br />

Politik-Engagement<br />

Althergebrachtes<br />

An alle, die glücklich sind<br />

Dalai Lama<br />

Man kann auf unterschiedliche Weise glücklich<br />

sein. Manche Menschen leben aufgrund einer<br />

geistigen Störung in einem Zustand naiven<br />

<strong>Glück</strong>s. Für sie ist immer alles in Ordnung. Dieses<br />

<strong>Glück</strong> ist aber nicht das <strong>Glück</strong>, um das es uns<br />

hier geht.<br />

Für andere gründet das <strong>Glück</strong> auf dem Besitz<br />

materieller Güter und auf sinnlicher Befriedigung.<br />

Wir haben bereits auf die Fragwürdigkeit<br />

dieser Einstellung hingewiesen. Auch wenn sie<br />

sich aus diesem Grund für wirklich glücklich<br />

halten – sie werden doppelt leiden, wenn ihnen<br />

die Umstände nicht mehr wohlgesonnen sind.<br />

Andere wiederum fühlen sich glücklich, weil sie<br />

moralisch denken und handeln. Das ist <strong>Glück</strong>,<br />

das wir brauchen, denn dieses <strong>Glück</strong> hat tiefere<br />

Wurzeln und hängt nicht von den Umständen ab.<br />

Um dauerhaft glücklich sein zu können, müssen<br />

wir zuallererst erkennen, dass auch Leid <strong>zum</strong><br />

Leben gehört.<br />

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1987 2002<br />

14. Shell-Jugendstudie: Infografiken. URL: http://shell-jugendstudie.de/<br />

download/shell_jugendstudie_charts.pdf, S. 4<br />

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Das ist vielleicht anfangs deprimierend, aber auf<br />

lange Sicht können wir mit dieser Einstellung<br />

nur gewinnen.<br />

Wer es vorzieht,<br />

die Wirklichkeit zu<br />

leugnen, indem er<br />

Drogen nimmt, das<br />

falsche <strong>Glück</strong> in<br />

einer blinden Spiritualität<br />

sucht oder<br />

ungezügelt lebt,<br />

nur um nicht nachdenken<br />

zu müssen,<br />

erwirkt dadurch<br />

bloß einen kurzen<br />

Aufschub.<br />

Wenn dann die Probleme akut werden, sind diese<br />

Menschen oft nicht gegen Schwierigkeiten gefeit<br />

und „erfüllen das Land mit ihren Klagen“, wie<br />

man in Tibet sagt. Zorn oder Verzweiflung über-


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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

kommen sie, und zu den anfänglichen Schwierigkeiten<br />

gesellt sich der Schmerz.<br />

Versuchen wir herauszufinden, woher unser Leiden<br />

kommt. Wie jedes andere Phänomen ist es<br />

das Ergebnis unendlich vieler Ursachen und Um-<br />

stände. Hingen unsere Gefühle jeweils nur von<br />

einer einzigen Ursache ab, dann müssten wir nur<br />

einer einzigen „<strong>Glück</strong>sursache“ ausgesetzt sein,<br />

und wir wären hundertprozentig glücklich. Wir<br />

wissen aber genau, dass dem nicht so ist. Geben<br />

wir also die Vorstellung auf, dass wir sie nur finden<br />

müssten, um nicht mehr zu leiden. Anerkennen<br />

wir, dass das Leid Teil des Lebens oder<br />

buddhistisch gesprochen des Samsara, des Kreis-<br />

laufs der bedingten Existenzen, ist. Wenn wir das<br />

Leid als etwas Negatives oder Abnormales betrachten,<br />

dessen Opfer wir sind, dann führen wir<br />

ein erbärmliches Leben, denn dann werden wir<br />

Opfer unserer Einstellung. <strong>Glück</strong> ist nur dann<br />

Aus: Dalai Lama: Ratschläge des Herzens. Zürich: Diogenes 2003, S. 107 ff.<br />

Wahlverwandtschaften<br />

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möglich, wenn selbst das, was wir als Leid ansehen,<br />

uns nicht unglücklich macht.<br />

Nach buddhistischer Auffassung führt die Beschäftigung<br />

mit der Existenz des Leids nie zu<br />

Pessimismus oder Verzweiflung. Sie lässt uns<br />

die eigentlichen Gründe für unser Unglücklich-<br />

sein erkennen, nämlich Begierde, Hass und<br />

Nichtwissen, und durch dieses Erkennen können<br />

wir uns davon befreien. Mit Nichtwissen ist hier<br />

das Unverständnis für die wahre Natur der Wesen<br />

und Dinge gemeint. Es ist die Ursache der<br />

beiden anderen Gifte.<br />

Sobald das Nichtwissen sich auflöst, haben Hass<br />

und Begierde keine Grundlage mehr, und die<br />

Quelle des Leids ist erschöpft.<br />

Daraus ergibt sich ein spontan altruistisches<br />

<strong>Glück</strong>, das nicht mehr der Spielball negativer<br />

Gefühle ist.<br />

Laura Freudenreich, 16 Jahre, geborene Anna Behrenfeld, berichtet in einem<br />

Gespräch über die Suche nach ihrem Vater.<br />

„Ich suche meinen Vater. Meine Adoptiveltern<br />

haben mir immer gesagt, dass ich adoptiert bin,<br />

schon als ich vier Jahre alt war. Vor drei Jahren<br />

habe ich angefangen, meine leiblichen Eltern zu<br />

suchen – nicht so einfach, weil ich inkognito a-<br />

doptiert bin. Bei einer Inkognito-Adoption erfahren<br />

die Eltern nichts voneinander. Das Jugendamt<br />

hat schließlich für mich meine Mutter ausfindig<br />

gemacht und ihr einen Brief von mir ge-<br />

schickt. Die Antwort kam nach einem halben<br />

Jahr. Ohne Foto, nur eine halbe Seite lang. Dass<br />

ich ihr ihr Leben lassen soll, und sie lässt mir<br />

meins. Dass sie nichts mit mir zu tun haben will.<br />

Sie hat noch eine Beschreibung von sich und<br />

meinem Vater aufgeschrieben. Deprimierend.<br />

Dann habe ich's bei meinen Großeltern probiert.<br />

Ich weiß ja den Namen meiner Mutter und dass<br />

sie in der Umgebung wohnen. Aus dem Telefonbuch<br />

habe ich ihre Nummer gesucht. Sie waren<br />

sauer, weil ich mich gemeldet hatte. Dass sie<br />

nichts mit mir zu tun haben wollen, haben sie gesagt.<br />

Und aufgelegt. Bleibt also nur mein Vater.<br />

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Meine Adoptiv-Eltern sagen, sie stehen mir nicht<br />

im Weg, wenn ich weitersuche. Ich will wissen:<br />

Wer sind diese anderen Eltern? Wie sind sie? Ich<br />

will was über meine Vergangenheit erfahren. Ich<br />

habe über die Show 'Andreas-Türck' versucht meinen<br />

Vater zu finden. Die Redakteure meinten aber,<br />

sie könnten mir nicht helfen. Ich habe auch nur ei-<br />

ne vage Beschreibung, wie mein Vater vor 15 Jah-<br />

ren ausgesehen hat. Er ist vor meiner Geburt abgehauen.<br />

In der Grundschule mussten wir mal beschreiben,<br />

was wir von unseren Eltern geerbt haben.<br />

Die Größe oder so was. Was sollte ich sagen?<br />

Ich kann mir meinen Vater nur vorstellen. Meine<br />

Adoptionseltern meinten, er wäre irisch. Ich glaube,<br />

dass er vielleicht ein netter Mann ist und in Irland<br />

lebt. Vielleicht lebt er noch in Navan, der<br />

Stadt, in der er mal gewohnt haben soll.<br />

Es geht nicht darum, dass ich mir mein Leben bei<br />

meinen leiblichen Eltern besser vorstelle. Ich<br />

möchte aber wissen, warum mein Vater damals<br />

abgehauen ist. Ob ich meine Sturheit und Trotzköpfigkeit<br />

von ihm habe. Meine Eltern wollen<br />

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<strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004<br />

mir, wenn ich 18 bin, eine Reise schenken. Dann<br />

will ich nach Irland. Ich hab sogar bei Gewinnspielen<br />

mitgemacht, bei denen man Irland-Reisen<br />

gewinnen kann. Dass ich dorthin will, hängt<br />

schon mit meinem Vater zusammen. Gäbe es eine<br />

Liste, was ich mir am meisten wünsche, dann<br />

stünde ganz vorne: Vater finden. Dafür würde<br />

ich aber nichts opfern. Ich hänge an meinen El-<br />

Freudenreich, Laura: <strong>Glück</strong> in Irland. In: Jetzt (Süddeutsche Zeitung) v. 13.05.2002<br />

Fremd<br />

Ingrid Gündisch (16 Jahre)<br />

Meine Familie ist intakt, in der Schule bin ich relativ<br />

gut, meine Freunde sind erträglich, ich habe<br />

kaum Feinde, es geht mir gut. Ich könnte nicht<br />

behaupten, dass ich mich liebe. Ich bin mir selbst<br />

fremd geworden, habe mich verändert. Alle sagen<br />

das, ich selbst hätte es kaum gemerkt.<br />

Angefangen hat alles damit, dass ich ein letztes<br />

Mal versuchen wollte, meinen Sprachfehler zu<br />

korrigieren. Zugegeben, nach acht Jahren Be-<br />

handlung bei mehreren Logopädinnen glaubte<br />

ich nicht mehr an Erfolg. Der Gang in die Praxis<br />

wurde für mich immer mehr zur Routine, und die<br />

Frau, die dort regelmäßig auf mich wartete,<br />

konnte ich nicht gerade gut leiden. Sie hatte eine<br />

Art, mich zu behandeln, als hätte ich nicht nur<br />

einen s-Fehler, sondern auch eine geistige Behinderung.<br />

Diese neue und letzte Logopädin forderte<br />

mich öfters auf, während ich meine Übungen<br />

machte, auch etwas zu malen. Sie legte mir<br />

ein Blatt Papier und ein paar Buntstifte auf den<br />

Tisch und sah mich erwartungsvoll an. „Fühl<br />

dich ganz frei“, sagte sie aufmunternd, als sie<br />

mein Zögern bemerkte. Das bewirkte bei mir aber<br />

genau das Gegenteil. „Ich male nie auf Be-<br />

fehl“, sagte ich zu ihr in einem so aggressiven<br />

Ton, dass sie mir gleich versicherte, dass es nur<br />

ein Vorschlag ohne Bedeutung gewesen sei. Ich<br />

müsse natürlich nicht zeichnen. Daraufhin setzte<br />

ich lustlos meine Zungenübungen fort.<br />

In der nächsten Stunde bat mich meine Logopädin,<br />

ihr doch von meinem Tagesprogramm etwas zu erzählen<br />

und dabei auf das S zu achten. Ich berichtete<br />

lange. Zum Schluss fragte sie mich, ob ich nicht zu<br />

viel unternehme. Ich sagte „Nein“ und verabschiedete<br />

mich.<br />

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tern, an meinen Freunden und der Schule. Ich<br />

wäre nie dafür, das herzugeben. Und wenn ich<br />

ihn finden würde und er auch nichts von mir wis-<br />

sen wollte? Wäre ich traurig. Wenn er keinen<br />

Kontakt will, soll er auch einen Grund nennen.<br />

Denn nur gesagt zu bekommen: 'Das ist dein Leben,<br />

das ist mein Leben' – das macht schon sehr<br />

nachdenklich.“<br />

Allmählich kam ich mir bei dieser Frau wie in<br />

einer Beschäftigungstherapie vor. Ich verließ die<br />

Praxis immer mit äußerst schlechter Laune.<br />

Aber eines Tages geschah das Wunder: Irgendwie<br />

hatte meine Zunge sich anders im Mund gedreht,<br />

und ich konnte das S richtig aussprechen.<br />

Ich war glücklich.<br />

Nach einigen Wochen bat mich die Logopädin,<br />

mein neues S in den täglichen Sprachgebrauch<br />

einzubauen, und damit begann mein Problem:<br />

Um richtig zu artikulieren, musste ich langsamer<br />

sprechen, und ich bekam immer mehr das Gefühl<br />

zu stottern. Ich musste dauernd an das neue S<br />

denken. Meine ganze Unbefangenheit im Um-<br />

gang mit der gesprochenen Sprache ging mir ver-<br />

loren. Es war plötzlich notwendig geworden,<br />

vorher zu überlegen, was ich sagen wollte, um<br />

mich dann, während des Sprechens, ganz auf den<br />

neuen Laut konzentrieren zu können. Und das<br />

fiel mir sehr schwer. Ich kam mir unbeholfen<br />

vor, ich hatte das Gefühl, von allen ungeduldig<br />

angestarrt zu werden, ich bekam Angst vor dem<br />

Sprechen. Wenn ich den Mund aufmachte, begann<br />

ich zu schwitzen, ich fühlte, wie mir das<br />

Blut in den Kopf stieg. Ich begann, mir das Sprechen<br />

abzugewöhnen.<br />

Meine Schwester, die den ungewohnten Laut<br />

bemerkte, sagte mir gleich, ich würde neuerdings<br />

den Mund verziehen, und meine Freundin mein-<br />

te, ich solle sofort „damit“ aufhören, es klänge<br />

schrecklich. Es passe nicht zu mir, ich solle doch<br />

nicht versuchen, mich auf diese Weise zu verändern.<br />

Nur meine Logopädin versicherte mir, der<br />

s-Laut sei vollkommen richtig.


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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

Ich nahm meiner Freundin und meiner Schwester<br />

die Bemerkungen übel, aber ich sprach mit ihnen<br />

nicht darüber. Es war auch schon zu spät.<br />

Ich hatte das Gefühl, das alte S vollkommen verlernt<br />

zu haben, und so konnte ich nur noch stot-<br />

tern. Sogar das Vorlesen hatte ich ganz verlernt.<br />

Im Unterricht meldete ich mich überhaupt nicht<br />

mehr, ich zog mich zurück und vermied es, in<br />

den Pausen zu sprechen. Dauernd rannte ich aufs<br />

Klo oder hantierte mit meinen Sachen herum, um<br />

nicht angesprochen zu werden. Ich hatte Angst.<br />

Aber das Schlimmste war, dass ich mich selbst<br />

ständig beobachtete. Was für ein lächerlich elendes<br />

Geschöpf ich geworden war. Ich war mir<br />

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fremd geworden, ich kannte mich nicht mehr. Ich<br />

saß in meiner Klasse und fühlte mich im Stich<br />

gelassen, ich hatte niemanden, der sich um mich<br />

kümmerte. Meine Angst überwinden konnte ich<br />

nicht. Ich zog mich zurück. Ich hatte es verlernt,<br />

auf andere zuzugehen. Bei jedem Geräusch zuckte<br />

ich zusammen. Wenn mich jemand ansah,<br />

wich ich dem Blick aus. Ich saß meistens still in<br />

meinem Zimmer. Natürlich wusste ich, dass das<br />

meine Schuld war, aber ich hoffte doch auf Hilfe.<br />

Ich beobachtete mich wie eine Fremde und war<br />

fassungslos. Ich beschloss auf das Reden für<br />

immer zu verzichten.<br />

Seit damals schweige ich.<br />

Aus: Treffen junger Autoren (Hg.): Unter der Steinhaut. Anrich: Kevelaer 1994, S. 80 – 82<br />

Copyright nicht erteilt<br />

Aufhebung<br />

Erich Fried<br />

Sein Unglück<br />

ausatmen können<br />

tief ausatmen<br />

so dass man wieder<br />

5 einatmen kann<br />

Und vielleicht auch sein Unglück<br />

sagen können<br />

in Worten<br />

in wirklichen Worten<br />

10 die zusammenhängen<br />

und Sinn haben<br />

und die man selbst noch<br />

verstehen kann<br />

und die vielleicht sogar<br />

15 irgendwer sonst versteht<br />

oder verstehen könnte<br />

Und weinen können<br />

Das wäre schon<br />

fast wieder<br />

20 <strong>Glück</strong><br />

aus: Beunruhigen © 1984, NA 1987. Verlag Klaus Wagenbach<br />

Berlin<br />

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<strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004<br />

Was ist <strong>Glück</strong>?<br />

Ergebnis einer Blit<strong>zum</strong>frage bei Kindern, Erwachsenen, Autoren und Autorinnen –<br />

die kursiv geschriebenen Texte stammen von Kindern.<br />

Wenn man etwas gewinnt. Den Augenblick genießen. Ein<br />

Traum, den ich einfangen möchte. Den Vollmond sehen.<br />

Etwas Schönes, das ganz plötzlich kommt. Der Zwang, immer<br />

wieder zeichnen zu müssen. Wenn man ein vierblättri-<br />

5 ges Kleeblatt findet. Konzentration. Die Fahrradprüfung<br />

bestehen. Eine Vogelfeder finden. Wenn man im Wasser<br />

nicht untergeht. Gegen den Stamm meiner Lieblingsbuche<br />

gelehnt weit über mir den Himmel wissen und fühlen, wie<br />

lebendig ich bin. Wenn man Geld findet. Um 3 Uhr verges-<br />

10 sen zu haben, dass es vor einer Stunde 2 Uhr war und in einer<br />

Stunde 4 Uhr sein wird. Wenn man eine 6 im Lotto hat.<br />

Die Vorstellung, dass wir eines Tages die Bilder, Zeichen<br />

und Signale der Natur wieder verstehen können – und damit<br />

uns. Wenn man alles so hinkriegt, wie man es will. Wenn<br />

15 sich die Seele wie ein Zimmer mit Licht füllt. Wenn man<br />

etwas Besonderes geschafft hat, was man sonst nicht<br />

Chinesisches <strong>Glück</strong>zeichen<br />

schafft. Die Seele baumeln lassen. Wenn man etwas geschenkt<br />

bekommt. Ein Frühlingsmorgen und ein Gänseblümchen.<br />

Wenn man gute Noten hat. Dass jemand da ist, der mich liebt. Wenn ich Geburtstag habe. Dass<br />

es mir immer besser geht, als es mir gehen könnte. Wenn man den Bus nicht verpasst. Dort zu leben, wo<br />

kein Hass ist. Ein Haustier haben. Der berühmte Augenblick, den man anhalten möchte. Wenn man denkt,<br />

man kriegt Ärger und kriegt keinen. Wenn mir nichts passiert. Wenn man neue Freunde findet. Atme tief<br />

ein und aus (dreimal täglich), sprich: „Das ist das <strong>Glück</strong>“ und zeige dabei auf irgendetwas: einen Bissen<br />

Brot, dein Bett, eine Shampooflasche, das Geräusch des Regens, das Pochen in deiner Brust. Wenn man<br />

lernt, sich selbst besser kennen zu lernen. Plötzliches Strahlen der Seele. Wenn Carolin Schluss macht mit<br />

Achim und wieder mit mir anfängt. <strong>Glück</strong> ist, wenn ich am Samstagmorgen auf den Markt gehen kann und<br />

mit einer Tasche voll Salat, Broccoli, Erbsen, Erdbeeren, Zopfbrot, Fisch, Oliven und einem großen Blumenstrauß<br />

in der Hand wiederkomme. Wenn ich was Schönes geschenkt bekomme. Wenn man einen<br />

<strong>Glück</strong>spfennig findet. Die Zeit vergessen. Hitzefrei. Seelenverwandte zu finden, zu lieben und geliebt zu<br />

werden. Wenn man eine Katze hat. Gemeinsam da zu sein. Etwas finden, was ich nicht weiß. Plötzliches<br />

Lob. Eltern haben. Geboren sein. Der Zustand, in dem man die Welt umarmt, sich selbst gratuliert und<br />

dem Schicksal dankt. Wenn kein Krieg ist. Wenn ich leben kann, wie ich es mir wünsche. Wenn die Sonne<br />

scheint und ich in den See gehen kann. Wenn man 120 Jahre alt ist. Wenn ich krank bin und nicht in die<br />

Schule muss. Innere Ruhe. Im Tor gut sein. Draußen den Regen hören. Sich verlaufen haben und den Weg<br />

wiederfinden. ES (für den Augenblick) zu haben. Wenn ich schnell einschlafe. Auf der Wiese liegen und<br />

nichts denken und den Frühling riechen. Wenn die Frau Brehm da ist. Wenn ich reich bin. Sich wohl fühlen.<br />

Wenn ich was finde. Harmonisches Zusammenleben. Wenn einem unerwartet etwas Gutes passiert.<br />

Ein guter Arbeitsplatz. Wenn ich mit meiner Freundin in die gleiche Klasse komme. Plötzlich ein Kuss von<br />

dir. <strong>Glück</strong> ist <strong>Glück</strong> und nichts anderes.<br />

Aus: Was ist <strong>Glück</strong>? (Umfrage). In: Gelberg, H.J.: <strong>Glück</strong>. Jahrbuch für Kinderliteratur. Weinheim: Beltz 1994<br />

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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

Copyright nicht erteilt<br />

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<strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004<br />

„Die <strong>Deutsch</strong>en werden dann um<br />

mindestens 5 Punkte glücklicher sein!“<br />

Aus einem Interview mit David Halpern. Das Interview wurde geführt von Carsten Jasner.<br />

David Halpern ist „<strong>Glück</strong>sberater“. Er lehrt Sozial- und Politikwissenschaften in Cambridge, Oxford und<br />

Harvard. Er ist auch politischer Berater des britischen Premierministers. Halpern wertet Studien über<br />

<strong>Glück</strong>sforschung aus um zu ermitteln, was die Politik und die Menschen tun können, um glücklicher zu<br />

werden.<br />

Hallo, Mr. Halpern, sind Sie glücklich?<br />

Sagen wir, ich bin zufrieden.<br />

Es wäre hilfreich, in Mexiko oder Puerto Rico zu<br />

leben. Dort leben die glücklichsten Menschen<br />

der Welt.<br />

Was wird aus denen von uns, die nicht auswandern<br />

wollen?<br />

So schlecht geht es Ihnen gar nicht. Immerhin 80<br />

Prozent der <strong>Deutsch</strong>en sagen, sie seien mit ihrem<br />

Leben einigermaßen zufrieden. Allerdings ist nur<br />

jeder Fünfte bei Ihnen wirklich glücklich. Lateinamerika<br />

zeigt, dass wir unser <strong>Glück</strong> nicht allein<br />

im Wirtschaftswachstum suchen sollten.<br />

Aber es schadet doch nicht?<br />

Sicher, im internationalen Vergleich sind wohlhabende<br />

Nationen grundsätzlich besser dran als<br />

arme. Aber von einem bestimmten Lebensstandard<br />

an steigt die Zufriedenheit nicht mehr automatisch<br />

mit dem Einkommen.<br />

Was ist wichtiger als Einkommen?<br />

Arbeit. Die muss nicht wahnsinnig gut bezahlt<br />

sein, Hauptsache, jeder hat welche. Der negative<br />

Effekt von Arbeitslosigkeit ist um ein Vielfaches<br />

stärker als der positive eines steigenden Einkommens.<br />

Das erleben wir in der momentanen<br />

Wirtschaftskrise. Selbst die, die noch einen Arbeitsplatz<br />

haben, werden unzufrieden, weil sie<br />

darum fürchten.<br />

Würde es uns helfen, nur noch zu tun, was<br />

uns Spaß macht?<br />

Nein, entscheidend für unsere Lebenszufriedenheit<br />

sind Freunde, Familie und, vor allem, Vertrauen.<br />

Und die Bedeutung eines guten Miteinanders<br />

wird unterschätzt. Wenn Ihnen jemand<br />

auf der Straße unfreundlich begegnet, hat das einen<br />

gewaltigen Einfluss auf Ihre Laune, es kann<br />

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Ihren ganzen Tag versauen. Faktoren wir Respekt,<br />

Liebenswürdigkeit oder Anteilnahme müssen<br />

höher bewertet werden. Oder nehmen wir<br />

den Sport. Die meisten gehen allein ins Fitness-<br />

Studio, um sich für den Job zu stählen. Gesünder<br />

wäre es, in einem Team mit Freunden Fußball<br />

oder Handball zu spielen. Das Ehrenamt ist etwas<br />

aus der Mode gekommen, dabei müsste der<br />

freiwillige Einsatz im Verein oder in der Nachbarschaft<br />

viel höher bewertet werden.<br />

Demnach sähe der<br />

Bürger mit den<br />

besten <strong>Glück</strong>saus-<br />

sichten so aus: Er<br />

hat einen netten<br />

Job, der ihm ein<br />

ausreichendes<br />

Einkommen be-<br />

schert, er ist verheiratet, hat zwei Kinder, spielt<br />

einmal die Woche mit Freunden Fußball und<br />

ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr.<br />

Und er sollte alle ein, zwei Wochen in die Kirche<br />

gehen. Gläubige Menschen sind zufriedener.<br />

Kennen Sie irgendeinen Politiker, der von diesen<br />

Theorien überzeugt ist?<br />

Eine ganze Menge. Ich denke, in einigen Jahren<br />

werden Regierungen die Lebenszufriedenheit der<br />

Bevölkerung als Maßstab für ihre Entscheidungen<br />

nutzen. Die Abendnachrichten werden uns Statistiken<br />

präsentieren, wonach der <strong>Glück</strong>sfaktor in<br />

Großbritannien gerade um zwei Punkte gestiegen<br />

ist, während er in <strong>Deutsch</strong>land fällt.<br />

Glauben Sie wirklich?<br />

Kleiner Scherz. Nein, ich bin sicher, die <strong>Deutsch</strong>en<br />

werden dann um mindestens fünf Punkte<br />

glücklicher sein.<br />

Halpern, David: Was für ein <strong>Glück</strong>. (Interview, Auszüge). In: Die Zeit Nr. 52 (17.12.2003), S. 53 f.


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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

Eine Bücherliste <strong>zum</strong> Thema „<strong>Glück</strong>“<br />

Stefan Klein: Die <strong>Glück</strong>sformel. Oder: Wie die guten Gefühle entstehen.<br />

Reinbek: Rowohlt 2002<br />

Für ein glückliches Leben tun wir alles – und schlittern dabei von einem Unglück ins<br />

nächste. Die Probleme beginnen bereits bei der Definition: Bislang wusste keiner ge-<br />

nau, was <strong>Glück</strong> eigentlich ist. Selbst die Philosophie, die der Frage seit Tausenden von<br />

Jahren nachgeht, hat bis heute nur Antworten voller Widersprüche geben können. Jetzt<br />

aber haben sich die Hirnforscher auf die Suche nach den Gefühlen gemacht. Erstmals<br />

lassen sich Empfindungen messen.<br />

Andreas Steinhöfel: Der mechanische Prinz. Hamburg: Carlsen 2003<br />

Er war, so scheint es ihm, von Anfang an das egalste Kind der Welt, das traurigste, das<br />

sprachloseste. Dann, eines Morgens vor der U-Bahn, erhält Max von einem einarmigen Bettler<br />

ein unglaubliches Geschenk – ein goldenes Ticket, mit dem er an Orte reisen kann, wo<br />

nur wenige hinkommen: die Refugien. Nur dort kann Max sich seiner Traurigkeit stellen,<br />

nur dort kann er sein Leben verändern und sein Herz retten.<br />

Alexa Hennig von Lange: „Ich habe einfach <strong>Glück</strong>“. Reinbek: Rowohlt 2002<br />

Lelle und Cotsch heißen die beiden Mädchen von 15 und 16 Jahren, die es zu Hause in<br />

der Siedlung aushalten müssen. Mama sorgt sich sehr um die beiden Schwestern, die<br />

auf diese Fürsorge gern verzichten würden. Dann würde Lelle wahrscheinlich auch<br />

wieder essen. Papa Berni gießt im Büro seine Pflanzen und liest den Brief nicht, den<br />

Cotsch ihm vor zwei Jahren geschrieben hat – über sie und ihn und die ganze Familie.<br />

„Papa ist ein Arschloch!“ sagt Cotsch. Lelle ist da diplomatischer. Mama rennt mit ihren<br />

Problemen zu ihrer Nachbarin Rita. Cotsch sagt, die beiden haben ein intimes<br />

Verhältnis, und findet das eklig. Aber <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> für Lelle gibt es Arthur, der wie<br />

einst Pippi Langstrumpf allein in dem Haus nebenan wohnt…<br />

Sergio Bambaren: Der träumende Delphin. Eine magische Reise zu dir selbst.<br />

Stuttgart: Piper 1999<br />

Der junge Delphin Daniel Alexander ist ein Träumer, der ganz fest an die perfekte Welle<br />

glaubt. Eines Tages verlässt er das sichere Riff seiner Artgenossen und macht sich auf die<br />

selbstbestimmte Suche nach dem richtigen Leben. Diese wunderbare Geschichte über persönlichen<br />

Mut und überwundene Ängste hat, wie einst „Die Möwe Jonathan“, unzählige<br />

Leser auf der ganzen Welt angerührt und begeistert.<br />

Miriam Pressler: Wenn das <strong>Glück</strong> kommt, muss man ihm einen Stuhl<br />

hinstellen. Weinheim: Beltz 1998<br />

Das <strong>Glück</strong> kam bisher nur selten zu Halinka. Halinka ist zwölf und lebt seit Jahren<br />

im Heim. Was vor dieser Zeit war, erzählt sie nicht. Halinka hat keine Freundin und<br />

will auch keine. Am liebsten ist sie allein in ihrem wunderbaren Versteck auf dem<br />

Speicher. Dort schreibt sie all die Sprüche und Sätze auf, die ihr durch den Kopf<br />

gehen. Dann hat Fräulein Urban, die Heimleiterin, die verrückte Idee, alle Mädchen<br />

für das Müttergenesungswerk sammeln zu lassen. Halinka möchte unbedingt Sammelkönigin<br />

werden. Vielleicht kann sie dann wieder ihre geliebte Tante Lou besu-<br />

chen. Aber das ist nur der Anfang der Geschichte, die von Halinka, ihren Gefühlen<br />

und ihren Sehnsüchten erzählt. Halinka weiß: Wenn das <strong>Glück</strong> kommt, dann muss<br />

man ihm einen Stuhl hinstellen. Und darauf wartet sie.<br />

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<strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004<br />

Copyright nicht erteilt<br />

Sehnsucht<br />

Georg Heym<br />

Wie glänzend die Höhen sich dehnen<br />

Weit in die blaue Ferne.<br />

Zu ihnen fliegt mein Sehnen<br />

Hin zu dem Morgensterne.<br />

Wohl hinter ihnen sich breitet<br />

Der lachende Weg <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

Das endlos dahinten sich weitet.<br />

Ich finde ihn nicht zurück.<br />

Heym, Georg: Sehnsucht. In: Sander, Gabriele:<br />

Blaue Gedichte. Stuttgart: Reclam 2001. S. 59<br />

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Blauer Schmetterling<br />

Hermann Hesse<br />

Flügelt ein kleiner blauer<br />

Falter vom Wind geweht,<br />

Ein perlmutterner Schauer,<br />

Glitzert, flimmert, vergeht.<br />

So mit Augenblicksblinken,<br />

So im Vorüberwehn<br />

Sah ich das <strong>Glück</strong> mir winken,<br />

Glitzern, flimmern, vergehn.<br />

Hesse, Hermann: Blauer Schmetterling. In: Sander, Gabriele:<br />

Blaue Gedichte. Stuttgart: Reclam 2001. S. 82


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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

<strong>Glück</strong>srezepte<br />

Welche Menschen sind glücklich?<br />

<strong>Glück</strong>liche Menschen …<br />

• haben ihr Leben selbst in der Hand, das heißt<br />

auch, dass sie meinen, ihr eigenes <strong>Glück</strong> (und<br />

auch ihr Unglück) selbst herbeiführen zu können;<br />

• schaffen die Balance zwischen Anspannung<br />

und Entspannung;<br />

• schaffen die Balance zwischen dem, was sie<br />

haben und dem, was sie wollen; zwischen<br />

Möglichkeiten und Ansprüchen;<br />

• sind kreativ und neugierig;<br />

• leben und nehmen die Freuden des Lebens<br />

einfach mit;<br />

• erleben (lt. <strong>Glück</strong>sforscher Ed Diener) häufig<br />

positive Ereignisse; dabei ist die Häufigkeit<br />

und nicht die Intensität entscheidend. Es<br />

scheint besser, sich bei vielen kleinen Anlässen<br />

wohl zu fühlen und sich zu freuen, statt<br />

auf das „große <strong>Glück</strong>“ zu warten;<br />

• investieren in ihre sozialen Beziehungen, sie<br />

bekommen Unterstützung von Freunden und<br />

der Familie. Außerdem glauben sie, dass andere<br />

Menschen sie schätzen und mögen (egal ob<br />

das der Wahrheit entspricht);<br />

• sind eher extrovertiert, optimistisch und haben<br />

ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Diese Eigenschaften<br />

sind teilweise genetisch bedingt.<br />

Ebenso gilt: Die Anfälligkeit für negative Gefühle<br />

ist teilweise erblich bedingt, allerdings<br />

wird die Fähigkeit <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong>serleben nicht<br />

vererbt, sondern lässt sich erlernen.<br />

http://www.gluecksarchiv.de/inhalt/glueck.htm<br />

35<br />

40<br />

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55<br />

Reiche Menschen sind nicht glücklicher als der<br />

Durchschnitt. Lediglich für sehr arme Menschen<br />

sind Geld und <strong>Glück</strong> gekoppelt.<br />

Intelligenz und körperliche Schönheit machen<br />

nicht glücklich, d. h. Kluge und Schöne sind<br />

nicht glücklicher als der Durchschnitt.<br />

Menschen sind (lt. <strong>Glück</strong>sforscher Mihaly Csikszentmihalyi)<br />

glücklich beim Essen, Reden, bei<br />

Geselligkeit, beim Sex, wenn sie Hobbys nachgehen,<br />

Sport machen oder ins Kino gehen. Neutrale<br />

Gefühle haben sie beim Ausruhen, bei der<br />

Körperpflege und beim Fernsehen. Keine<br />

<strong>Glück</strong>sgefühle<br />

sind Copyright nicht erteilt<br />

da, wenn sie<br />

dem Beruf<br />

nachgehen,<br />

Lernen oder Hausarbeit machen. Neben den Aktivitäten,<br />

die <strong>Glück</strong>sgefühle auslösen, fand<br />

Csikszentmihalyi noch Aktivitäten, die ein weiteres<br />

erstrebenswertes Gefühl auslösen, das dem<br />

<strong>Glück</strong> sehr verwandt ist und nach seiner Meinung<br />

am besten mit dem Begriff Flow zu bezeichnen<br />

ist. Flow entsteht bei Geselligkeit, Reden,<br />

Sex, Hobbys nachgehen, Sport machen, ins<br />

Kino gehen, dem Beruf nachgehen, Lernen und<br />

Autofahren – generell bei Aktivitäten, die weder<br />

über- noch unterfordern. Flow entsteht nicht bei<br />

Ausruhen oder Fernsehen.<br />

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<strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong> Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004<br />

Was Kinder glücklich macht<br />

Kinder aus ärmeren Familien sind häufiger traurig als ihre Altersgenossen<br />

aus der gehobenen Schicht.<br />

Wären in <strong>Deutsch</strong>land Kinder an der Macht, müsste wohl niemand sein Zimmer aufräumen oder zur Unzeit<br />

– also viel zu früh – schlafen gehen. Und zehn Prozent der Minderjährigen hätten weniger Beulen – so<br />

viele werden von ihren Eltern geschlagen.<br />

Hamburg – Die Geburtenzahlen sind rückläufig,<br />

die <strong>Deutsch</strong>en sterben aus. Aber ist die Bundesrepublik<br />

deswegen ein kinderfeindliches Land?<br />

Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts<br />

für Demoskopie in Allensbach, hält diese Mei-<br />

nung für überzogen. Bestärkt wird sie durch eine<br />

Studie des Instituts. Danach ist die Mehrheit der<br />

Kinder in <strong>Deutsch</strong>land zufrieden: Die meisten<br />

der 81 Befragten zwischen sechs und zwölf Jah-<br />

ren genießen ihre Kindheit, fühlen sich von den<br />

Erwachsenen gemocht und beschreiben zu 86<br />

Prozent ihren Gemütszustand als fröhlich oder<br />

sehr fröhlich.<br />

Ein Drittel der Sechs- bis Zwölfjährigen glaubt<br />

allerdings, dass Erwachsene Kinder nicht so gern<br />

mögen. 72 Prozent der Kinder sagten, sie hätten<br />

nur selten den Eindruck, dass sie Erwachsenen<br />

auf die Nerven gingen. „Die große Mehrheit der<br />

Kinder kennt aus eigener Erfahrung keine Nach-<br />

http://www.kinder-stark-machen.de/kinder-stark-machen.e/848_artikel.htm<br />

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50<br />

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barn, die sich durch Kinderlärm gestört fühlen“,<br />

sagt die Meinungsforscherin.<br />

Allerdings mahnt sie auch: „Vielen Erwachsenen<br />

sind Kinder fremd geworden.“ Weite Teile<br />

der Gesellschaft<br />

25 hätten zu wenig<br />

Kontakt zu Kindern<br />

und seien daher mit<br />

deren Lebenswirklichkeit<br />

und ihrer<br />

30 besonderen Perspektive<br />

zu wenig<br />

vertraut.<br />

35<br />

40<br />

Mehr als die Hälfte<br />

der Befragten (56<br />

Prozent) ist der An-<br />

sicht, dass Politiker<br />

nicht an Kinder denken.<br />

Entscheidend<br />

für die Zufriedenheit<br />

der Kinder ist das<br />

soziale Umfeld: Kinder<br />

aus ärmeren Familien<br />

sind häufiger traurig als ihre Altersgenossen<br />

aus der gehobenen Schicht. Gleichzeitig sind<br />

Kinder in Ostdeutschland weniger glücklich als<br />

im Westen. Während 41 Prozent der westdeutschen<br />

Kinder sich als sehr fröhlich bezeichnen,<br />

sind es im Osten nur 23 Prozent.<br />

Häufigste Streitpunkte mit den Eltern: die Ordnung<br />

im Zimmer (67 Prozent), Schlafenszeit (58<br />

Prozent) und Fernsehzeiten (43 Prozent). Häufigste<br />

Bestrafung der Eltern sind Fernsehverbote<br />

(37 Prozent). Zehn Prozent der Kinder werden<br />

geschlagen. Die Befragung wurde im Auftrag<br />

von „Ein Herz für Kinder“, der Hilfsaktion der<br />

„Bild“-Zeitung, durchgeführt.


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Lernstandserhebungen <strong>NRW</strong> 2004 <strong>Deutsch</strong> Textheft: <strong>Wege</strong> <strong>zum</strong> <strong>Glück</strong><br />

HAPPY – THALAMUS<br />

Gerhard Roth, Philosoph und Biologe, ist Leiter des Instituts für Hirnforschung an<br />

der Universität Bremen.<br />

<strong>Glück</strong> im Kopf. Beachte: Du kannst nur überleben, wenn du nicht zu oft glücklich bist. Dasselbe <strong>Glück</strong> erlebst<br />

du nie zweimal und Arbeit lohnt sich.<br />

Versuchen Sie, sich an die glücklichsten Momente<br />

in Ihrem Leben zu erinnern! Es wird Ihnen<br />

nicht auf Anhieb gelingen. Die furchtbarsten Augenblicke<br />

dagegen haben Sie sofort vor Augen,<br />

die brennen sich ein. Aus biologischer Sicht gibt<br />

es gute Gründe, warum das so ist. Ich beschäftige<br />

mich bei meiner Arbeit vor allem mit der Entstehung<br />

von negativen Gefühlen und wie sie unser<br />

Leben bestimmen. Dabei lerne ich viel über das<br />

<strong>Glück</strong>. Warum wir so selten glücklich sind und<br />

so oft in Furcht? Ganz einfach. Weil die Furcht<br />

für das Überleben wichtiger ist als das <strong>Glück</strong>. Ob<br />

wir glücklich sind oder unglücklich - wir leben<br />

trotzdem. Wenn wir aber bei Rot über eine Stra-<br />

ße laufen, weil wir keine Furcht haben, werden<br />

wir womöglich überfahren. <strong>Glück</strong> hat die unangenehme<br />

Eigenschaft, dass es die Furcht und den<br />

Realitätssinn verdrängt. Deshalb sind die Stoffe,<br />

die im Gehirn ein <strong>Glück</strong>sgefühl auslösen, viel<br />

kurzlebiger als die, die uns in Furcht versetzen.<br />

Wir sind nur lebensfähig, wenn wir nicht zu oft<br />

glücklich sind. Die Tragik unserer Existenz.<br />

Chemisch gesehen sind die Stoffe, die in einem<br />

Teil des Gehirns freigesetzt werden, Drogen wie<br />

Ecstasy sehr ähnlich. Die Ausschüttung dieser<br />

Stoffe kann man bei Testpersonen verfolgen. So<br />

gesehen ist <strong>Glück</strong> messbar. Je mehr hirneigene<br />

Opiate ausgeschüttet werden, desto glücklicher<br />

sind wir. Das ist bei jedem gesunden Menschen<br />

gleich. Leider ist dieser Zustand auch rein che-<br />

misch nur von kurzer Dauer. Was den Einzelnen<br />

einmal glücklich machen soll, bildet sich schon<br />

früh in der Kindheit aus. Manche Kinder klammern<br />

sich an die Mutter, sind ängstlich, die ande-<br />

ren krabbeln herum, können gar nicht genug un-<br />

terwegs sein. So findet der eine später sein <strong>Glück</strong><br />

eher im stillen Kämmerchen, der andere in der<br />

weiten Welt. Der eine kriegt den Kick bei der<br />

Eroberung einer Frau oder eines Mannes, ein anderer<br />

beim Gewinn eines Nobelpreises oder bei<br />

einem Olympiasieg. Das letzte Mal, als ich<br />

Roth, Gerhard: Happy – Thalamus In: Jetzt (Süddeutsche Zeitung) v. 13.05.2002<br />

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glücklich war? Ich erhielt einen Preis, und fast<br />

tausend Menschen applaudierten minutenlang.<br />

Da war ich überwältigt. Dieser rauschhafte Au-<br />

genblick, den unser Gehirn für uns bereithält,<br />

entlohnt für alles. Für diese kurzen und seltenen<br />

Momente trainieren und ackern wir oft jahrelang<br />

und nehmen viel Frust auf uns. Je länger wir für<br />

etwas gekämpft haben, desto stärker ist das<br />

<strong>Glück</strong>, das wir empfinden. Das liegt daran, dass<br />

es im Gehirn einen Bewertungsapparat gibt, der<br />

feststellt, wie sehr wir die Belohnung verdient<br />

haben. Je mehr, umso glücklicher.<br />

<strong>Glück</strong> kann man auch mit Drogen hervorrufen.<br />

Das Drogenglück kann so stark sein wie zehn<br />

Nobelpreise oder zehn Olympiasiege auf einmal -<br />

und das ist problematisch. Denn wenn man ein<br />

solches Gefühl einmal erlebt hat, hat man eine<br />

neue Vorstellung von <strong>Glück</strong>, die ohne Drogen<br />

nicht zu erreichen ist. Außerdem stellt das Gehirn<br />

fest, dass die Belohnung nicht verdient war. Es<br />

reagiert dann wie ein verwöhntes Kind, es will<br />

die Belohnung immer wieder, ohne etwas dafür<br />

tun zu müssen. Nach häufigerem Konsum ruft<br />

die Droge aber kein <strong>Glück</strong> mehr hervor, sondern<br />

betäubt nur noch das Unwohlsein. Auch eine tragische<br />

Eigenschaft des <strong>Glück</strong>s: Es ist in derselben<br />

Form auf Dauer selbst mit Drogen nicht wiederholbar.<br />

Wir sehnen uns ja alle nach vergangenem<br />

<strong>Glück</strong>. Das Gehirn merkt sich jedoch, wenn<br />

wir ein <strong>Glück</strong>sgefühl schon mal hatten. Beim<br />

zweiten Mal ist es nicht mehr so stark. Auch dafür<br />

gibt es einen biologischen Grund. Unser Unbewusstes<br />

treibt uns so dazu, neue Dinge zu probieren:<br />

neue Beziehungen zu haben, neue Berge<br />

zu besteigen, neue Welten zu erforschen. Der<br />

Mensch ist so verbreitet auf diesem Planeten,<br />

weil er sehnsüchtig ist, immer auf der Suche.<br />

Auch aus diesem Grunde gibt es wohl kein endgültiges<br />

<strong>Glück</strong>. Denn wenn es das geben würde,<br />

würden wir wahrscheinlich gar nichts mehr machen<br />

und aussterben.<br />

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