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Azur Grau - Journalisten Akademie

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azurgrauLEBEN AM WATT


GUMMISTIEFEL: Besser<br />

sind Surferfüßlinge, die<br />

Füße werden zwar nass,<br />

bleiben aber warm.<br />

WATTWURM: Wussten<br />

Sie's? Wattwürmer bluten<br />

rot, wenn man reinsticht.<br />

KUNI KUMMER: Wahlweise<br />

heißen die Ostfriesen auch<br />

Jansen, Janssen oder Janßen<br />

mit Nachnamen.<br />

FLUT: Vorsicht bei Wattwanderungen:<br />

Der Flutstrom kann in<br />

den Prielen des Wattenmeers<br />

hohe Geschwindigkeiten<br />

erreichen (bis zu 20 km/h).<br />

P.S. Die Jungs vorne und hinten<br />

auf dem Cover sind Vater<br />

und Sohn – auch die Punk-<br />

Tradition ist am Watt noch lebendig.<br />

Fotografiert hat die<br />

beiden Anna Kuhn-Osius.<br />

2 A Z U R G R A U<br />

Moin!<br />

Bis zu den Knöcheln stecken wir im Watt. Denjenigen, die<br />

nicht in letzter Minute noch GUMMISTIEFEL besorgt haben,<br />

kriecht die Kälte die Beine hoch. Echte Touristen eben – nur<br />

waten sie im Winter durchs Watt. Immer in Bewegung bleiben,<br />

auf der Suche nach dem, was wir mit dem Wattenmeer<br />

verbinden. Nach drei Stunden die Erlösung: etwas Dunkles,<br />

Haariges liegt in unseren Händen. Hässlich, dick und träge –<br />

der WATTWURM.<br />

Doch wir begreifen: Das reicht noch nicht. Wir müssen<br />

viel tiefer als bis zu den Knöcheln eintauchen, um diesen<br />

Lebensraum zu begreifen. Das Leben im Watt. Hier werden<br />

Kräfte gemessen: Der Mensch versucht die Natur zu beherrschen,<br />

aber die Natur hat ihre eigenen Spielregeln.<br />

Die Menschen hier oben heißen KUNI KUMMER, Fredi<br />

Fitter oder Hans-Jürgen Jürgens. Sie sind Naturschützer oder<br />

Wirtschaftsinvestoren, Insulaner oder Festländer und manchmal<br />

auch beides. Denn das Leben hier ist geprägt von Gegensätzen:<br />

Umwelt erhalten und dennoch Arbeitsplätze schaffen,<br />

Traditionen leben und gleichzeitig Neuerungen auf den Weg<br />

bringen.<br />

Wenn die FLUT langsam über den Wattboden kriecht,<br />

das Wasser zuerst die Knöchel, dann die Beine umspielt; erst<br />

dann begreift man, wie viel Meer es hier gibt. Manchmal ist<br />

es da, manchmal nicht. Und das macht diese Region einzigartig.<br />

So einzigartig, dass das Wattenmeer bald UNESCO-Weltnaturerbe<br />

werden soll und sich somit eingliedert in die Reihe<br />

erhabener Naturschätze wie der Grand Canyon in den USA<br />

und das Great Barrier Reef in Australien.<br />

Mit dem Bild des blauen Himmels und des Meeres auf<br />

den typischen Urlaubspostkarten im Kopf reisten wir an –<br />

15 Stipendiaten aus der <strong>Journalisten</strong>-<strong>Akademie</strong> der Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung. Was wir fanden, war die graue Küstenregion<br />

des Winters. Trotzdem haben wir in zehn Tagen<br />

spannende Geschichten aus dem Schlick gezogen: von Insulanern,<br />

die keine Lust auf Touristen haben, von den Gefahren<br />

eines Krabbenbrötchens und den Abgründen der ostfriesischen<br />

Seele. <strong>Azur</strong>grau eben – das ist das Leben am Watt.<br />

Viel Spaß beim Lesen!<br />

Die Redaktion


FOTO: ANNA KUHN-OSIUS<br />

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Inhalt<br />

Lebensgefühl<br />

INSULANER UNTER SICH<br />

Endlich sind die Touristen weg: Sturmfrei auf Wangerooge!<br />

KRABBENLIEBE<br />

Ein Mann und das Meer: Fischen wie vor hundert Jahren<br />

FRIESENFITNESS<br />

Nichts für Frischlufthasser: Ertüchtigung für Nordlichter<br />

SO SCHMECKT FRIESLAND<br />

Tee satt: Alles über das Kultgetränk am Watt<br />

STURMFLUTWARNUNG<br />

Was, wenn der Deich bricht? Erinnerungen an die Sturmflut von 1962<br />

Lebensraum<br />

MITGEHANGEN, MITGEFANGEN<br />

Fischer und ihre Netze: Warum Krabbenbrötchen die Umwelt zerstören<br />

DER DREI-LÄNDER-MANN<br />

Er will das Wattenmeer zum Weltnaturerbe machen: Jens Enemark<br />

GEFAHR FÜR DAS WATTENMEER<br />

Weltnaturerbe klingt gut: Aber hilft es auch?<br />

KOMMT DER WANDEL, BLEIBT DAS MEER<br />

Der Klimawandel bedroht die Salzwiesen: Kann man noch etwas tun?<br />

DER ALPTRAUM JEDES UMWELTSCHÜTZERS<br />

Allein gegen Schornsteine: Warum Aktivisten in Wilhelmshaven wenig ausrichten<br />

Lebenswandel<br />

TATORT WATT<br />

Mord im Ferienort: Regine Kölpin macht die Idylle zum Krimischauplatz<br />

STATT STRAND<br />

Ferien auf der Großbaustelle: Wie der Tiefseehafen zur Touristenattraktion werden soll<br />

WILHELMSHAVENER ROYAL<br />

Die Entdeckung der Auster: Ein Gourmetkoch und ein Juwelier machen den Test<br />

FRIESLAND MAL ANDERS<br />

Ein Bürgermeister, ein fliegender Holländer und eine Idee: Baggersee all inclusive<br />

RÖMER IN SICHT<br />

Schon die Römer waren da: Archäologen erkunden, was sie in Friesland antrafen<br />

MIT EINEM KILO SCHLICK WÜRDE ICH ...<br />

... fünfzehn Stipendiaten, zehn Tage, ein Magazin<br />

A Z U R G R A U 3


FOTOS: ANNA KUHN-OSIUS


Lebensgefühl


ES IST WINTER AN DER NORDSEE, AUF<br />

EINER INSEL, DIE EIGENTLICH GESCHLOS-<br />

SEN HAT. DIE HAUPTSTRASSE IST<br />

VERLASSEN, CAFÉS UND RESTAURANTS<br />

HABEN ZU. DOCH WER DENKT,<br />

WANGEROOGE LÄGE IM WINTERSCHLAF,<br />

DER TÄUSCHT SICH. ENDLICH SIND DIE<br />

INSULANER<br />

UNTER SICH<br />

6 A Z U R G R A U


FOTOS: ANDREA HOYMANN (4) / CHARLOTTE POTTS (3)<br />

KUNI KUMMER, 56, LETZTES MAL<br />

AUF DEM FESTLAND VOR ZWEI<br />

WOCHEN, GRUND:<br />

ORTHOPÄDEN-BESUCH<br />

Kuni Kummers Werkstatt ist gerade<br />

einmal fünf mal fünf Meter groß.<br />

Zwei Strandkörbe füllen den Raum.<br />

Beengt ist es jedoch nicht. Hinter den<br />

Fenstern breitet sich die Nordsee aus – Kummer liebt seine<br />

Werkstatt mit Meerblick. Er repariert in den Wintermonaten<br />

die Strandkörbe, die unter den Touristen im Sommer gelitten<br />

haben, hämmert und schraubt so lange, bis die Körbe wieder<br />

bereit für die Saison sind. Kuni Kummer ist froh, wenn die<br />

Insulaner im Winter endlich mal unter sich sind: „Man kennt<br />

dann jeden und kann sich richtig erholen, man kann alleine am<br />

Strand spazieren gehen, Bernstein suchen. Da ist keiner vorher<br />

da gewesen. Das ist eben der Winter hier“, sagt er. „Ich kriege<br />

keinen Inselkoller, sondern einen Festlandkoller.“ Feierabend<br />

bei Kuni Kummer heißt Boßeln mit Freunden. Auch das macht<br />

für ihn den Reiz des Wangerooger Winters aus. Boßeln, das ist<br />

ein friesischer Nationalsport, eine Art Kugelstoßen auf der<br />

Landstraße. Es regnet in Strömen. Kuni Kummer schwingt die<br />

Kugel und schleudert sie auf der menschenleeren Landstraße<br />

in die Ferne. Er lächelt. Das ist der Winter auf Wangerooge.<br />

ELITA MKRTSCHJAN, 16, LETZTES<br />

MAL AUF DEM FESTLAND VOR<br />

VIER WOCHEN, GRUND:<br />

SHOPPEN<br />

Seit Weihnachten ist Elita mit ihrem<br />

Freund Simon Klys zusammen. Übers<br />

Internet hat die Schülerin den<br />

Oldenburger kennen gelernt. Jetzt macht<br />

er eine Ausbildung als Hotelfachmann auf der Insel. Hand in<br />

Hand schlendern die beiden über die Hauptstraße; vom Strand<br />

bis zum Watt, einmal quer über die Insel, brauchen sie zehn<br />

Minuten. Elita ist auf Wangerooge geboren, aber sie weiß, dass<br />

sie die Insel verlassen will. „Manchmal fühlt man sich hier einfach<br />

eingesperrt. Es kam schon vor, dass keine Schiffe fuhren<br />

und auch keine Flugzeuge mehr flogen, das ist dann schon beklemmend“,<br />

sagt die 16-Jährige. Als Elita von ihrem einjährigen<br />

USA-Aufenthalt wiederkam, wirkte die Insel erstmal klein.<br />

„Aber es ist einfach schön, hier aufzuwachsen“, sagt sie. Dieser<br />

Winter ist sowieso schön: Sie hat nun Simon, und der hat im<br />

Winter weniger zu tun, weil weniger Touristen im Hotel sind.<br />

Und sie hilft ihrem Vater, einem armenischen Zuwanderer, im<br />

Café „Krabbe“ aus. Für das Abitur müsste sie im Sommer auf<br />

das Internat am Festland, Simon will dann mitkommen.<br />

Lebensgefühl<br />

HANS-JÜRGEN JÜRGENS, 83, LETZ-<br />

TES MAL AUF DEM FESTLAND IM<br />

JULI 2008, GRUND:<br />

ZAHNARZTBESUCH<br />

„Ich war immer froh, wenn Nebel<br />

war, dann konnte keiner kommen“,<br />

brummelt Hans-Jürgen Jürgens bei einer<br />

Tasse Tee. Er ist auf der Insel geboren,<br />

wie schon sein Vater. Glaubt man seinen Erzählungen, dann hat<br />

er 20.000 Bäume auf Wangerooge gepflanzt, einen Sohn gezeugt<br />

und ein Haus gebaut: die „Teestube“, Pension und<br />

Restaurant. Mit den Touristen konnte er sich trotzdem nie anfreunden,<br />

lobt die Winter, in denen Wangerooge vier Wochen<br />

durch Packeis vom Festland getrennt war. „Die Welt da draußen<br />

interessierte uns doch nicht“, sagt er und macht den<br />

Eindruck, als sei ihm die Welt da draußen auch heute ziemlich<br />

egal. Mit seinen 83 Jahren hat er noch nie ein Fußballspiel geschaut.<br />

Hans-Jürgen Jürgens hat eine recht eigene Sicht auf die<br />

Welt: So habe doch der Kommunist Adorno die Volkslieder zerstört,<br />

am 11. September sei kein Flugzeug in das Pentagon gestürzt,<br />

und ohnehin verfälschten Historiker ständig alles. Deshalb<br />

schreibt der Inselchronist die Geschichte der Insel Wangerooge<br />

auch nochmal neu, ganz gleich, was die anderen Insulaner von<br />

ihm denken: „Ich bin eben Einzelkämpfer.“<br />

RALF BÖSLING ALIAS BOUNTY, 58,<br />

LETZTES MAL AUF DEM FESTLAND<br />

IM JANUAR 2009, GRUND:<br />

URLAUB<br />

„Die Insulaner sind einfach verrückt.<br />

Auf der Insel leben ist ja sowieso immer<br />

etwas anders. Das merkt man auch<br />

an den Charakteren der Leute. Viele trinken<br />

richtig gerne mal einen“, sagt Bounty. Er darf das sagen. Er<br />

ist der Barkeeper in der Kneipe „Kogge“, dem Insulanertreff.<br />

Barbusige Meerjungfrauen, Seemannsfiguren und eine Nymphe<br />

mit einem Geldschein im Slip hängen in seiner Kneipe. Im Regal<br />

stapeln sich Küstennebel, Pernot und Rum. Rauchschwaden<br />

wabern durch die Kneipe, die nicht größer ist als ein durchschnittliches<br />

Wohnzimmer – ein Gemeinschaftswohnzimmer<br />

für die Insulaner. „Im Winter ist alles intensiver. Wir sehen uns<br />

bis zu viermal am Tag, das ist wie eine große Familie.“ Bounty<br />

kennt jeden der 985 Insulaner, weiß zumindest, zu welcher<br />

Familie wer gehört: Aber auch die beste Familie braucht mal<br />

Pause, und so fährt er einmal im Jahr von der Urlaubsinsel<br />

Wangerooge zum Urlaub auf dem Festland, meist nach Bremen<br />

oder Hamburg. Nach vier Wochen Hamburg aber ist er wieder<br />

froh, zurück auf die Insel zu kommen. Charlotte Potts<br />

A Z U R G R A U 7


Lebensgefühl<br />

KRABBENLIEBE<br />

rhard Djurens Bauernhof liegt am Ende einer kleinen<br />

Landstraße in Wremen, kurz vorm Deich. Windböen<br />

zerren an den kahlen Ästen der Bäume, die Luft riecht<br />

nach Salz. Im Schuppen des Fischers scheint die Zeit<br />

stehengeblieben. Im alten Bollerofen knistert ein Feuer.<br />

Drei seiner Hunde haben sich davor zusammengerollt.<br />

Erhard Djuren sitzt auf einem alten Holzstuhl<br />

und webt Weidenzweige um dickere Äste. Reihe um Reihe biegt<br />

er die zarten Zweige wie Draht zurecht, bis ein länglicher Korb<br />

entsteht: eine Reuse. Die braucht er für die kommende Krabbensaison.<br />

Denn Erhard Djuren ist Reusenfischer. In den Sommermonaten<br />

stellt er 20 bis 30 dieser Weidenkörbe im Watt auf. Bei<br />

der nächsten Ebbe verfangen sich darin mehrere Kilogramm<br />

Krabben, Stint und Butt. Wie schon die Fischer vor 200 Jahren<br />

fährt der Wremer von April bis November jeden Tag mit dem<br />

Hundeschlitten ins Watt heraus, um seinen Fang an Land zu<br />

bringen. Er ist der letzte Fischer an der niedersächsischen<br />

Nordseeküste, der diese alte Tradition aufrechterhält.<br />

Als kleiner Junge stand er oft auf dem Deich hinter seinem<br />

Elternhaus. Das Watt erstreckt sich vor ihm bis zum Horizont.<br />

Es ist Mitte der 50er Jahre. Gleich hinter der Grasnarbe des Deichs<br />

fahren die Reusenfischer über einen eingefahrenen Patt mit ih-<br />

8 A Z U R G R A U<br />

rem Hundeschlitten ins Watt. An der Wremer Küste arbeiten<br />

noch 15 Berufsfischer, die ihren Fang wie ihre Vorfahren Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts an Land bringen. Ab und zu nehmen sie<br />

den achtjährigen Erhard im Hundeschlitten mit. Dann sitzt er<br />

vorne in der Holzkiste, in der die Fischer ihren Fang transportieren.<br />

Bellend laufen die Hunde über den weichen Wattboden.<br />

Je weiter es rausgeht, desto tiefer sinkt der Schlitten ein. Der<br />

Schlick spritzt dem Jungen bis ins Gesicht. Für die Kinder der<br />

Fischer war so eine Fahrt mit dem Schlitten alltäglich. Für den<br />

kleinen Erhard, der aus einer Familie von Landwirten kommt,<br />

ist sie etwas Besonderes. „Ich war schon als Kind mit Leidenschaft<br />

dabei“, sagt der heute 62-Jährige über das Reusenfischen.<br />

Im März 2009 sitzt Erhard Djuren in der Küche seines<br />

Bauernhauses und blättert in einem vergilbten Fotoalbum. Die<br />

Kacheln hinter der Anrichte haben ein weiß-blaues Friesenmuster.<br />

An der Wand hängt eine Stickerei – blaue Kreuzstiche<br />

auf weißem Leinen. Die Seidenblätter des Albums rascheln beim<br />

Umblättern. Fotos des zugefrorenen Hafens, Kinder laufen über<br />

das Eis. Eine Seite weiter posiert der junge Erhard vor der<br />

Kamera. Stolz präsentiert er eine selbstgeflochtene Reuse. Bereits<br />

als junger Mann sitzt er im Winter im Schuppen und flicht Weidenkörbe.<br />

Im Sommer zieht er zum Fischen mit dem Schlitten<br />

FOTOS: CARLA NEUHAUS


ins Watt. Doch er ist der einzige Fischer in seiner Familie. Auf<br />

Wunsch seiner Mutter lernt er Tischler – seine Schlitten baut<br />

er von da an selbst. Kurz darauf übernimmt er von seinem<br />

Großvater den Bauernhof und wird Landwirt. Während er das<br />

Vieh im Stall versorgt, träumt er vom Leben auf dem Meer. So<br />

oft wie möglich zieht er ins Watt, um seine Reusen zu leeren.<br />

Seine Schweine füttert er mit selbstgefangenen Krabben. „Das<br />

Fleisch schmeckte dann stark nach Fisch“, sagt er und schüttelt<br />

lachend den Kopf. „Heute wäre das unvorstellbar.“<br />

1983 gibt Erhard Djuren die Landwirtschaft auf. Er verpachtet<br />

sein Land und kauft sich einen Kutter. Ihm ist klar, dass er von<br />

der Reusenfischerei allein nicht leben kann. Der Kutter kommt<br />

seinem Traum vom Fischen am nächsten. Bei Hochwasser steuert<br />

er das Boot Richtung Fahrrinne. Weit draußen wirft er die<br />

Netze aus. Möwen umkreisen den Kutter, Gischt spritzt über<br />

die Rehling. Noch heute erinnert eine alte Kapitänskabine in<br />

seinem Vorgarten an seine Zeit auf See. Nach 20 Jahren auf dem<br />

Meer steuert er sein Schiff mit den rot-weißen Planken ein letztes<br />

Mal in den Wremer Hafen. Doch ohne das Fischen kann er<br />

nicht leben, es zieht ihn wieder raus ins Watt. Zu dieser Zeit gibt<br />

es an der Nordseeküste keinen einzigen Reusenfischer mehr,<br />

der mit dem Hundeschlitten rausfährt. Erhard Djuren denkt an<br />

Erhard Djuren hält als Reusenfischer eine alte Tradition<br />

aufrecht. Im Winter flicht er Fangkörbe aus Weidenästen, im<br />

Sommer fängt er mit ihnen im Watt Krabben<br />

WIE DIE FISCHER VOR 200 JAHREN FÄHRT ERHARD DJUREN ZUM<br />

KRABBENFANGEN MIT DEM HUNDESCHLITTEN INS WATT<br />

seine Kindheit und die vielen Fahrten ins Watt. Er will die liebgewonnene<br />

Tradition weiterführen.<br />

Heute kennt ihn in dem kleinen Ort Wremen jeder. Wenn<br />

er im Sommer mit seinem Schlitten zurück an Land kommt,<br />

stehen die Touristen am Deich und werfen neugierige Blicke in<br />

seine Körbe. Die Krabben sind dann noch grau – für viele ein<br />

unbekannter Anblick. Denn ihre rosa Farbe bekommen die Tiere<br />

erst beim Kochen. Oft nimmt Erhard Djuren die Gäste mit auf<br />

seinen Hof. Dort wirft er seinen Fang in einen großen Holzbottich,<br />

in dem er die Krabben kocht.<br />

Jetzt im Winter lagert er in diesem Bottich Anmachholz für<br />

den Bollerofen. Stundenlang sitzt er im Schuppen und flicht<br />

Reuse für Reuse. Bevor Erhard Djuren einen Weidenzweig verarbeitet,<br />

testet er dessen Biegsamkeit. Das Holz darf beim Flechten<br />

nicht brechen. Es ist ein mühseliges Handwerk. Jeder Griff<br />

muss sitzen, damit der Weidenkorb seine runde Form bekommt.<br />

Das will Erhard Djuren seinem fünfjährigen Enkel Loyd in den<br />

nächsten Jahren beibringen. In den Sommermonaten nimmt<br />

er ihn bereits jetzt im Hundeschlitten mit, um ihm ein Gefühl<br />

für die Natur zu vermitteln. Der Großvater hofft: „Wenn er bereits<br />

als kleiner Junge mitfährt, kommt die Lust aufs Reusenfischen<br />

ja vielleicht ganz von alleine“. Carla Neuhaus<br />

A Z U R G R A U 9


FRIESEN-<br />

FITNESS<br />

SPORTSTUDIO KANN JEDER. DIE EINGEBORENEN<br />

HIER IM NORDEN HABEN TRADITIONELL IHRE<br />

EIGENE ART DER KÖRPERERTÜCHTIGUNG. AN DER<br />

FRISCHEN LUFT, NATÜRLICH ...<br />

Statt Wattwandern:<br />

Schlickrutschen<br />

„Blopp“. Dumpf schmatzend lässt das Watt den Gummistiefel<br />

wieder los. Schwarzer Schlick spritzt hoch. Wilhelm Tapken stößt<br />

sich ab. Er kniet auf einem Holzgestell und gleitet damit durch den<br />

Schlamm. Hinter ihm zieht sich eine tiefe Spur durch den Schlick.<br />

Eine Möwe schreit. Gleichmäßig quaatschen die Gummistiefel.<br />

Wilhelm Tapken macht Schlickrutschen<br />

schon seit 55 Jahren, seit er ein kleiner<br />

Junge ist. „Joo“, sagt er. „Das<br />

gehört einfach dazu, zum Jadebusen,<br />

zum Watt.“ Er schiebt<br />

sich seine Matrosen-Wollmütze<br />

aus der Stirn. Dann steigt er wieder<br />

auf seinen Schlickschlitten,<br />

gibt mit einem Bein Schwung,<br />

der Gummistiefel versinkt bis<br />

zum Knöchel im Schlamm. Den<br />

Schlickschlitten hat er selber gebaut. Das ist Tradition so in Dangast,<br />

seinem Heimatort. Einst nutzten die Krabbenfischer die<br />

Schlickschlitten, um zu ihren Reusen rauszufahren. Jetzt gibt es<br />

Kutter und die Schlitten braucht keiner mehr. Außer Wilhelm Tapken.<br />

Der hütet sie und im Sommer kommen die Touristen und bezahlen,<br />

um dreckig werden zu dürfen. Dann gibt es Schlickschlittenrennen,<br />

bei denen das halbe Dorf gegeneinander antritt. „Das ist das Leben<br />

am Watt in Dangast“, sagt Wilhelm Tapken. Er schiebt sich wieder<br />

die Wollmütze aus der Stirn. „Das ist Heimat“, sagt er und es klingt<br />

ein bisschen stolz. Eigentlich sagt er nicht viel.<br />

SCHLICKSCHLITTENRENNEN – DIE REGELN<br />

Wer schafft es als erstes mit seinem Schlitten durch den Matsch ins<br />

Ziel? Das ist die Idee des Schlickschlittenrennens. Mannschaften oder<br />

Einzelkämpfer treten gegeneinander an, oft bunt kostümiert oder ganz<br />

in Weiß gekleidet – damit man den Dreck auch richtig schön sieht.<br />

1 0 A Z U R G R A U<br />

Ganz schön sportlich! Den<br />

Schlickschlitten hat<br />

Wilhelm Tapken selbst gebaut<br />

STATT FANGENSPIELEN:<br />

KLOOTSCHIESSEN<br />

Früher haben die Friesen mit gebrannten Lehmkugeln,<br />

den Klooten, die Römer vertrieben – heute werfen sie mit<br />

bleigefüllten Holzkugeln Rekorde. Nach einem kurzen<br />

Anlauf wird die schwere Kugel mit einer blitzschnellen<br />

Armbewegung von einem Absprungbrett aus hoch in die<br />

Luft geschleudert. Ursprünglich wurden die Wettkämpfe<br />

im Winter auf den gefrorenen Feldern ausgetragen, die<br />

Kämpfer durften nur lange Unterhosen und -hemden tragen.<br />

Warm hielt man sich mit Schnaps, so mancher<br />

Sportler starb an Unterkühlung. Bis heute geblieben sind<br />

wie beim Boßeln die „Käkler“ und „Mäkler“: Zuschauer<br />

und Fans, die die Würfe lautstark kommentieren.


FOTOS: ANNA KUHN-OSIUS<br />

Achtung, Schikanen!<br />

Franz trifft das Hindernis<br />

mit seinem Besen<br />

genau. Heinz (rechts)<br />

ist Spezialist für Hochwürfe;<br />

mehrere seiner<br />

Besen liegen schon<br />

auf den benachbarten<br />

Dächern<br />

STATT STABHOCHSPRUNG:<br />

PULTSTOCKSPRINGEN<br />

Ob Pultstock, Paddstock oder Polsstok<br />

– selten hat es für eine Stange so viele<br />

Namen gegeben wie in Friesland. Drei<br />

bis fünf Meter lang ist sie, mit einer<br />

Scheibe am unteren Ende, damit man<br />

nicht einsinkt im Schlamm. Mit dem<br />

Pultstock hüpften einst die friesischen<br />

Bauern über Wassergräben. Daraus<br />

wurde ein Sport: Ziel des Pultstockspringens<br />

ist es, möglichst breite Gräben<br />

zu überwinden – eine Art<br />

Stabweitsprung.<br />

STATT SPAZIERENGEHEN:<br />

BOSSELN<br />

Boßeln ist der Volkssport der Friesen.<br />

Mittlerweile boßeln aber auch schon die<br />

Iren, Italiener, Amerikaner und Niederländer.<br />

Bei dem Spiel wird eine schwere<br />

Holz- oder Gummikugel auf einem langen,<br />

zuvor festgelegten Straßenabschnitt<br />

so weit wie möglich geworfen.<br />

Wenn sie nicht mehr rollt, ist der nächste<br />

Spieler dran und wirft. Die Idee ist,<br />

die Kugel mit möglichst wenig Würfen<br />

ins Ziel zu bringen – ein Ziel, das oft<br />

zehn oder noch mehr Kilometer weit<br />

entfernt liegt. Für diesen Sport sollte<br />

man also vor allem eines sein: Gut zu<br />

Fuß!<br />

Statt Hausputzen:<br />

Besenwerfen<br />

Franz zieht sich die rote Pudelmütze mit dem gelben<br />

Bommel über die Glatze. Er bückt sich zu dem<br />

Reisigbesen vor seinen Füßen, wiegt ihn kurz in seiner<br />

massigen Hand. Dann holt er aus, schwingt den<br />

Besen vor und zurück. Der Bommel an seiner Mütze<br />

hüpft. „Hol uttt, hol uttt, hol uttt …“ Uwe,Willi, Heinz<br />

und Werner feuern an. Auch sie tragen leuchtend<br />

rote Pudelmützen. Kampfkleidung. Franz schwingt ein<br />

letztes Mal und lässt los. Der Besen saust durch die Luft und<br />

landet klatschend neben dem Weg. „Pudel“, ruft Willi frustriert.<br />

Das ist so ähnlich wie das Aus beim Fußball. Franz<br />

lässt die Schultern hängen. Jetzt ist Heinz dran. Er ist der<br />

Spezialist für hohe Würfe. Drei seiner Besen liegen schon<br />

auf dem Dach der angrenzenden Sporthalle. Der Besen<br />

fliegt, schießt durch den großen Metallring, der auf dem<br />

Parcours steht. „Schikane überwunden“, notiert Willi. Er<br />

ist der Streckenwart, kontrolliert die Würfe. Jeden Sonntag<br />

trainiert die Mannschaft, regelmäßig kämpfen Männer<br />

und Frauen auf Turnieren gegen die Nachbargemeinden.<br />

Auch die werfen Besen. Sogar der Oberbürgermeister<br />

ist dabei und macht bei den Wettkämpfen den Anwurf.<br />

Im Winter werfen sie manchmal Gummistiefel, einfach<br />

zur Abwechslung. „Aber Besen sind besser“, sagt<br />

Franz. Er mag besonders Reisigbesen, „die liegen so gut in der Hand“. Ursprünglich waren<br />

es die friesischen Bauern, die sich Reisigbesen banden und damit ihren Hof kehrten.<br />

Nach dem Putzen wurden die Besen weitergereicht, auf den nächsten Hof geworfen,<br />

damit auch dort geputzt werden konnte. Die Besen wurden reihum geworfen, von<br />

Hof zu Hof – und irgendwann wurde aus dem Werfen ein Sport. Kein ganz ungefährlicher:<br />

Willi sorgt immer dafür, dass alle Teilnehmer hinter dem Werfer bleiben, bis sie<br />

dran sind. Damit keiner getroffen wird. Werner hat mal eine Beule in ein Auto geworfen.<br />

Und Heinz seine Frau erwischt. Aber die war nicht böse, die macht auch Besenwerfen.<br />

Nur zu Hause – „da lässt mich meine Frau nicht ran“, sagt Heinz. „Sie hat Angst, was<br />

ich mit dem Besen anstelle.“ Anna Kuhn-Osius<br />

BESENWERFEN – DIE REGELN<br />

Lebensgefühl<br />

Der genormte Wettkampfbesen ist für Männer 90, für Frauen 80 cm lang und aus Reisig<br />

gebunden. Er wird einen Tag vor dem Turnier in Wasser gelegt, damit er schwerer ist. Ziel<br />

des Wettkampfes ist es, einen abgesteckten Parcours in möglichst wenigen Würfen zu<br />

überwinden. Immer zwei Mannschaften treten gegeneinander an, die Mannschaftsmitglieder<br />

werfen abwechselnd. Auf der Wurfstrecke gilt es, sogenannte Schikanen zu überwinden:<br />

Der Besen muss durch Ringe geworfen werden, über Ecken oder in eine Tonne. Die<br />

Siegermannschaft erwartet nicht nur eine feierliche Zeremonie und Pokalverleihung, sondern<br />

vor allem eine ordentliche Runde Schnaps.<br />

A Z U R G R A U 1 1


THEDA BAKKER-LANGER IST<br />

TEEHÄNDLERIN IN<br />

WILHELMSHAVEN. SCHON<br />

SEIT 245 JAHREN TESTET,<br />

KAUFT UND VERKAUFT IHRE<br />

FAMILIE TEE<br />

„Früher war die Wasserqualität in<br />

Friesland nicht so gut wie heute. Es<br />

gab hauptsächlich Brackwasser. Für<br />

dieses Wasser eigneten sich besonders<br />

die kräftigen, malzigen<br />

Teesorten. Deshalb haben die Leute<br />

Assam-Tees verwendet. Heute hat<br />

unser ostfriesisches Wasser einen<br />

sehr geringen Kalkgehalt und ist<br />

deshalb für Tees perfekt geeignet.“


FOTOS: EVA ZIMMERMANN<br />

DIE MENSCHEN<br />

UND IHR TEE<br />

„Wenn mein Mann und ich campen fahren, haben wir immer 15-Liter-Kanister<br />

mit ostfriesischem Wasser dabei. So sind wir erst einmal eine Woche lang<br />

mit Tee versorgt. Mit dem harten Wasser außerhalb von Friesland schmeckt<br />

der Ostfriesentee einfach nicht.“ Christel Thoss, 63 Jahre<br />

„Wenn es früher bei uns Tee gab, dann stellte meine Mutter alle Tassen nebeneinander<br />

auf den Tisch und goss nacheinander Tee ein. Die erste Tasse<br />

bekam die Hausfrau, weil der Tee am leichtesten war. In der letzten Tasse<br />

war der stärkste Tee. Die bekam der Gast.“ Gertrude Fademrecht, 79 Jahre<br />

„Ich habe durch meine Eltern mit dem Teetrinken angefangen. Die haben<br />

sich häufig Ostfriesentee gemacht. Am schönsten ist es eigentlich, wenn wir<br />

uns nachmittags gemütlich zusammensetzen. Dann gibt es Tee, Kekse und<br />

Kuchen.“ Jens, 16 Jahre<br />

„Als ich geboren wurde und gerade eine Stunde alt war, habe ich schon Tee<br />

bekommen. Man war eben der Meinung, Tee sei ein Allheilmittel.“<br />

Ingeborg Stümpel, 86 Jahre<br />

„Ich hatte mal Nachbarn, die waren echte Ostfriesen. Von denen habe ich<br />

auch das Teetrinken gelernt. Die haben das Teeservice rausgeholt, mit<br />

Stövchen und allem Drum und Dran. Und dann gab es eine Tasse nach der<br />

anderen. Aber so ganz alleine mache ich mir den Tee nicht. Der schmeckt in<br />

Gesellschaft besser.“ Cäcilia Sauer, 24 Jahre<br />

DER TEE UND SEINE GESCHICHTE:<br />

Im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein reger<br />

Teehandel zwischen Ems und Weser. Niederländer<br />

brachten auf ihren Schiffen erste Teesorten<br />

aus Asien nach Europa. Die Ostfriesen begeisterten<br />

sich schnell für den Tee. Weil das<br />

Wasser in ganz Friesland sehr weich ist, kann der<br />

Geschmack der Teeblätter sich besonders gut entfalten.<br />

Ein echter Ostfriesentee besteht zu etwa<br />

Lebensgefühl<br />

SO SCHMECKT FRIESLAND<br />

Hier trinkt man Tee nicht nur, hier lebt man ihn<br />

DIE OSTFRIESISCHE<br />

TEEZEREMONIE<br />

AUFSETZEN<br />

Gießen Sie das nicht mehr kochendeWasser<br />

auf die Teeblätter in der Kanne – drei Teelöffel<br />

pro Liter ergeben den besten Geschmack.<br />

Damit sich das Teearoma besonders gut entwickelt,<br />

gießen Sie den Tee erst nur an, lassen<br />

ihn drei Minuten ziehen und füllen dann das<br />

restliche Wasser ein. Die Teeblätter bleiben auf<br />

dem Kannen-Boden. So kann immer wieder<br />

Wasser nachgegossen werden.<br />

VORSETZEN<br />

Geben Sie weißen Kluntje-Zucker in die<br />

Teetassen. Nach dem Einschenken kommt<br />

Teesahne hinzu. Wichtig: Der Friese rührt seinen<br />

Tee nicht um! Genießen Sie die einzelnen<br />

Schichten des Tees.<br />

AUSSETZEN<br />

Wenn Ihr Teedurst gestillt ist, stellen Sie<br />

einfach Ihren Löffel in die Tasse. Der Friese<br />

weiß dann, dass Sie vorerst genug haben.<br />

90 Prozent aus Schwarzteesorten, die aus der indischen Region Assam<br />

stammen. Damit der Tee das besondere Prädikat „Ostfriesentee“ tragen<br />

darf, müssen die Teeblätter allerdings auch tatsächlich in Ostfriesland gemischt<br />

werden. Für die typisch ostfriesische Teezeremonie holen die<br />

Friesen ein entsprechendes Service hervor. Am besten schmeckt ihnen der<br />

schwarze Tee nämlich aus kleinen Porzellantassen, die mit der typischen<br />

Teerose verziert sind. Mindestens drei Mal am Tag treffen sich viele<br />

Friesen zur sogenannten Teetied (Teezeit). Eva Zimmermann<br />

A Z U R G R A U 1 3


Lebensgefühl<br />

Sonst ist das Watt anders. Am Nachmittag<br />

des 16. Februars 1962 steht Walter Iken<br />

auf dem Maadedeich und sieht, dass die<br />

Ebbe den Grund nicht freigibt. Eigentlich<br />

müsste der Sandboden zu sehen sein, aber<br />

Iken schaut auf eine Wasserfläche, auf der<br />

Wind die Wellen in kleinen Fetzen hoch<br />

weht. Sturmwarnung – für die gesamte<br />

Nordseeküste. Iken muss die Boote in der<br />

Werft seines Vaters sichern. Sie liegt am Hafen des Maadeflusses<br />

in Rüstersiel, zwei Kilometer entfernt vom Deich. Er baut die<br />

Motoren aus den Schiffsbäuchen, zieht die Taue an den Schiffen<br />

straff, bis sie knarzen. Die Boote sollen beim Orkan nicht gegeneinander<br />

schlagen.<br />

Es wird dunkel. Der Wind nimmt zu. Die kahlen Äste der<br />

Bäume peitschen gegen die Scheiben des Lokals „Schröder“ auf<br />

der anderen Seite des kleinen Hafens. Zehn Uhr abends: Iken<br />

sitzt am Stammtisch, prostet seinen Freunden zu, ist froh, dass<br />

er Feierabend hat. Schlammkartoffeln, Cornedbeef und Rote<br />

Beete dampfen auf den Tellern. Der grüne Kachelofen wärmt<br />

den kleinen Saal mit den großen Fenstern. Im Hintergrund klingelt<br />

leise das Telefon. Das hören die Gäste nicht. Sekunden später<br />

rennt der Kellner ins Lokal: „Raus! Alle Mann raus hier!“ –<br />

1 4 A Z U R G R A U<br />

STURMFLUT<br />

WARNUNG<br />

KLIMAFORSCHER WARNEN: BIS ZU EINEM METER<br />

WIRD DER WASSERSPIEGEL BIS ZUM JAHR 2100<br />

ANSTEIGEN. STURMFLUTEN WERDEN HÄUFIGER.<br />

DIE LETZTE JAHRHUNDERTFLUT AN DER NORDSEE-<br />

KÜSTE IST NOCH NICHT EINMAL 50 JAHRE HER<br />

„Da war's kurz still. Da hat keine Gabel mehr geklappert“, erinnert<br />

sich Iken. Der Kellner redet hastig: Schleusenwärter Jansen<br />

habe angerufen. „Der Deich bricht jeden Moment, seht zu, dass<br />

ihr wegkommt“.<br />

Zur gleichen Zeit reißt Jansen die Schleusen auf. Zu spät.<br />

Die Wassermassen stürzen durch den gebrochenen Deich, die<br />

Maade schwillt an. Das Schleusenwärterhaus wird überschwemmt.<br />

„Schröders“ Gäste laufen aus dem Lokal, springen<br />

in die Autos und rasen landeinwärts. Zur gleichen Zeit brechen<br />

in Hamburg die Elbdeiche. Es ist die Jahrhundertflut.<br />

Iken rennt mit den Vereinskollegen auf den kleinen Steg<br />

mit der Vereinskajüte. Die Frauen der Männer essen hier zu<br />

Abend. „,Raus, auf 'n Deich, weg', haben wir gesagt, und da merkte<br />

man schon, dass das Wasser im Fluss stieg“.<br />

Iken sagt heute, dass keiner genau wusste, woher das Wasser<br />

kam. Die Wellen hatten sich am Deich schon totgelaufen. Man<br />

hörte nur den Wind, und auf einmal waren die Hosenbeine nass.<br />

Das Wasser steigt weiter. Der Fluss wird Trichter, leitet die Flut<br />

direkt in den Hafen. Der füllt sich wie eine Badewanne, tritt über<br />

die Ufer. Die Frauen laufen landeinwärts. Die Männer wollen<br />

ihre Boote retten.<br />

Iken steht mit den Kollegen auf der kleinen Erhöhung am<br />

Flussufer. Das Wasser steigt ihm bis zu den Knien. „Wo is'<br />

FOTO: PRIVAT


Vadder?“, fragt Iken einen seiner Freunde. „Der is' in die<br />

Werkstatt gelaufen“, sagt einer der Männer neben ihm. Die<br />

Werkstatt liegt an der anderen Seite des Flusses, etwas tiefer als<br />

das Deichufer, auf dem Iken steht. Er schaut hinüber. Alles ist<br />

überschwemmt. Nur ein paar Dezimeter Wand und das<br />

Flachdach gucken aus der schwarzen, glänzenden Wasserfläche.<br />

Iken schwimmt, klettert auf ein Boot, fährt bis an den Bau heran,<br />

greift nach der Dachrinne, zieht sich hoch, steigt hinauf und<br />

rennt zur Dachluke.<br />

Unter ihm knirscht das Gebälk. Das Schiff in der Werkstatt<br />

treibt vom Wasser auf, drückt gegen die Latten. Er brüllt gegen<br />

den Sturm an. „Papa, wo bist du?“ Der kann die Türen, als das<br />

Wasser steigt, nicht mehr öffnen.<br />

„Ich hab' Schiss gehabt. Der hätte zerquetscht werden können,<br />

ich sah ja fast nichts. Und dann – das war so ein seltsamer<br />

Moment – seh' ich auf einmal in der Dunkelheit, wie sich langsam<br />

das Glas aus der Luke hebt. Ganz langsam. So vorsichtig.<br />

Da hat mein Vater in aller Seelenruhe mit dem Taschenmesser<br />

das Glas vom Rahmen gelöst, damit der Scheibe nichts passiert.“<br />

Iken, noch in Panik, nimmt die Scheibe, will sie wegschmeißen<br />

und den Vater rausziehen. Der Vater stoppt ihn: „Das<br />

Ding war teuer, leg es vorsichtig weg“, ruft er. „Da war ich sauer,<br />

aber naja, so war mein Vater, der hat immer die Ruhe bewahrt.“<br />

Iken greift seinen Vater an den Armen und zieht ihn<br />

aus dem schwarzen Loch. In der Dunkelheit stehen die Männer<br />

auf dem Dach, sehen sich um.<br />

Die Segelschute, das kleine Restaurant am Steg, in dem die<br />

Frauen gesessen hatten, treibt hell erleuchtet auf dem Wasser.<br />

Eine starke Windböe – die Lichter flackern kurz –, Dunkelheit.<br />

„Ich dachte, ich hab alles verloren. Die Werft, die Kindheit<br />

und die Zukunft. Die Krabbenfischer haben immer erst gezahlt,<br />

wenn sie den Fang wieder nach Hause gebracht haben. Da konnten<br />

wir drauf warten. Mein Vater hat die Werft nach dem Krieg<br />

so mühsam aufgebaut, und dann steckte alles im Schlick.“<br />

Der alte Bootsbauer bricht heute – 47 Jahre später – bei dieser<br />

Erinnerung seine Erzählung ab. Seine Hand schnellt zur<br />

blauen Mütze, er zieht sie vom Kopf und wischt sich mit der<br />

gleichen Bewegung über die Augen. Er weint. Gegen Sturmfluten<br />

war damals keiner versichert. Er räuspert sich laut, setzt die<br />

Mütze wieder auf, streicht mit der kräftigen Hand über seine<br />

verstaubte Hobelbank. „Wir haben monatelang Schlick geschaufelt.<br />

Jede Schraube musste davon befreit werden.“ Etwas<br />

keuchend beugt er sich zu einer Klappe unter der Hobelbank,<br />

öffnet sie. „Hier“, sagt er, „da hinten in den Ecken, das ist noch<br />

der Schlick von damals. Wir haben gar nicht alles sauber gekriegt.“<br />

Aber so sei das Leben der Küstenbewohner, erklärt er.<br />

„Das Meer kommt, nimmt sich Vieles, aber wir kehren wieder<br />

zurück und fangen von vorne an. Das haben die Alten auch<br />

schon so gemacht. Is' ja Heimat.“<br />

Wie viele Rüstersieler glaubt Iken, dass die Deiche heute sicher<br />

sind. „Seit ‘62 hat sich ja viel getan“, sagt er. Wenn es nur<br />

um den Deichbau geht und die Arbeit der Ingenieure und<br />

Deichwarte, dann spricht er, wie die meisten Leute, lobend und<br />

anerkennend. In solchen Momenten wirkt er ganz sicher, da<br />

scheint die Sturmflut weit weg, fast unmöglich.<br />

„Aber das Meer“, sagt er, „der blanke Hans“, er nimmt wieder<br />

seine Mütze ab, schaut mit seinen blauen Augen durch die<br />

gelblichen Scheiben des Schuppens hinaus. „Der blanke Hans<br />

– ich weiß nicht; man kann versuchen, die Zeichen zu deuten,<br />

wenn die Möwen ins Land fliegen und die Tiere unruhig werden.<br />

Das kann man deuten. Aber damals in der Nacht, da hat<br />

doch keiner damit gerechnet, dass diese Sturmflut kommt.“<br />

Die Urgewalt der Wassermassen am eigenen Leib zu spüren,<br />

das flößt, sagt der 63-Jährige, tiefen Respekt ein – lebenslang.<br />

Angst, meint er, während er das Schloss wieder an die<br />

Türkette des Schuppens hängt, Angst darf man nicht haben,<br />

aber den Respekt vor dem Wasser, den kennt wohl jeder<br />

Küstenbewohner. „Wenn man die Bilder im Fernsehen gesehen<br />

hat, beim Tsunami, als die Welle kam, da haben die Leute doch<br />

am Strand gestanden und gestaunt und gesagt: ,Och, was kommt<br />

da denn?'“ Er schüttelt leicht den Kopf: „Ich glaube, wir werden<br />

das Wasser nie ganz verstehen.“ Esther Stallmann<br />

UND HEUTE – HALTEN DIE DEICHE TROTZ KLIMAWANDEL?<br />

FRAGEN AN FRÜSMER ORTGIES,<br />

EHRENAMTLICHER VERBANDSVORSTEHER DES<br />

DRITTEN OLDENBURGISCHEN DEICHBANDS<br />

Neuesten Prognosen zufolge steigt der Meeresspiegel<br />

bis 2100 um bis zu einem Meter an. Wie reagieren Sie?<br />

Neue Theorien über den Meeresspiegel gibt es immer wieder.<br />

Wir haben uns entschlossen, unsere Arbeiten an den Deichen<br />

auf die Prognosen des Weltklimarates auszurichten – die sagen<br />

einen weniger drastischen Anstieg voraus. Wir erhöhen die<br />

Deiche nach den wissenschaftlichen Angaben, auf die wir uns<br />

in den letzten Jahren verlassen haben. Ansonsten könnte man<br />

jeden Monat seine Pläne umschmeißen.<br />

Könnte man auf die neuen Ergebnisse der<br />

Klimaforscher denn überhaupt reagieren?<br />

Wir müssten es schaffen, die Deiche anzupassen. Das würde<br />

teuer werden. Deichbau ist immer eine extrem teure<br />

Angelegenheit: Ein Kilometer Deich kostet bis zu fünf Millionen<br />

Euro. Das schreckt erst mal ab. Der Sachwert in den<br />

Küstenregionen ist allerdings um ein Vielfaches höher als das,<br />

was investiert werden müsste.<br />

Können die Deiche denn noch erhöht werden?<br />

Dabei ist nicht nur Geld das Problem, sondern auch das<br />

Material: Wird ein Deich um einen Meter erhöht, muss der Fuß<br />

zehn Meter breiter werden. Um Kosten zu sparen, will man die<br />

Deichlinie natürlich so kurz wie möglich halten. Ideal wäre es<br />

deshalb, wenn es gar keine Buchten gäbe, die die Deichlinie verlängern.<br />

Das widerspricht aber den Interessen des Naturschutzes,<br />

der die natürliche Form der Buchten erhalten will.<br />

Viele Küstenbewohner sagen, dass sich das Meer nun<br />

zurückholt, was ihm der Mensch vor Jahren genommen<br />

hat. Was sagen sie?<br />

Ich sage, dass wir uns das zurückholen, was sich das Meer<br />

genommen hat. Es geht hier um die Menschen, nicht um das<br />

Meer. Wenn man es einfach lassen würde, dann läge Oldenburg<br />

bald an der Küste.<br />

A Z U R G R A U 1 5


FOTOS: ANDREA HOYMANN


Lebensraum


Lebensraum<br />

MITGEHANGEN,<br />

MITGEFANGEN<br />

DAS KRABBENBRÖTCHEN IST EIN<br />

MARKENZEICHEN DER REGION.<br />

DOCH DER PREIS IST HOCH:<br />

FÜR EIN KILO KRABBEN STERBEN<br />

BIS ZU NEUN KILO FISCHE UND<br />

KREBSE ALS BEIFANG<br />

Es zischt und brodelt. Bläschen steigen auf, sprudeln nach<br />

oben, weißer Schaum bildet sich an den Rändern.<br />

Manchmal knackt es leise, platzt, blubbert und kracht.<br />

Stück für Stück färbt sich rosa, was eben noch glasig und farblos<br />

war. Die kleinen Krabben werden weich und zart. Dann vom<br />

Heißen ins Kalte – in die Kühltruhe unter Deck. Irgendwann,<br />

gesäubert und gepult, zwischen zwei Brötchenhälften. Vielleicht<br />

mit Cocktailsoße ... Krabbenbrötchen bekommt man überall in<br />

Deutschland, aber wer in den Norden kommt, nach Kiel, Sylt,<br />

Husum, der muss einfach eins essen. Am besten direkt am Hafen,<br />

vor sich das Wasser, die bunten Boote, den fernen Horizont.<br />

Hinter sich den Deich. Moin, moin sagen die Leute hier, der<br />

Geruch von Fisch und Algen zieht herüber, Möwen zetern in<br />

der Luft. Ein knallblauer Kutter mit weißen Masten tuckert aus<br />

dem Hafenbecken von Fedderwardersiel aufs offene Meer hinaus,<br />

die Wellen schlagen sanft gegen die Hafenmauer.<br />

Söhnke Thaden – blaue Mütze, Seemannspulli, große schwielige<br />

Hände – fährt auf seiner „Christine“ zum Fischen raus, so<br />

wie es schon sein Vater, sein Großvater und dessen Vater und<br />

Großvater getan haben. Thaden ist Krabbenfischer in der fünften<br />

Generation. Ein harter Job, den er liebt – genau wie die frischen<br />

Krabben, die er mit „Christine“ aus dem Meer zieht und<br />

noch an Bord rosa und weich kocht.<br />

Einem anderen allerdings würden die Krabben im Hals stecken<br />

bleiben: Umweltschützer Hans-Ulrich Rösner hat mit der<br />

Umweltstiftung WWF gerade die Studie „Nicht nur Krabben<br />

im Netz“ herausgebracht – und die Krabbenfischer mächtig verärgert.<br />

Bis zu neun Kilo kleine Krabben, Babyschollen oder junge<br />

Seezungen und Kabeljaus sterben der Studie zufolge, damit<br />

am Ende ein Kilo Krabben in der Kühltruhe landet. An so ge-<br />

NIE WIEDER KRABBENBRÖTCHEN?<br />

Ein Kompromiss zwischen Umweltschützern und<br />

Krabbenfischern könnte das Siegel des Marine<br />

Stewardship Councils (MSC) sein, das ein Teil der<br />

Krabbenfischer derzeit anstrebt. Es wird an Fischereien<br />

vergeben, die geprüft nachhaltig wirtschaften.<br />

Unter anderem werden ökologische Verträglichkeit<br />

der Fischerei und Qualität des Managements bewertet.<br />

Auch das Beifangproblem zählt zu den Kriterien.<br />

Das MSC soll u.a. für eine bessere Akzeptanz der<br />

Produkte bei kritischen Verbrauchern sorgen.<br />

nannten Baumkurren ziehen Krabbenkutter ihre Netze auf<br />

Kufen über den Meeresboden. Die am Boden lebenden Krabben<br />

werden aufgescheucht, aufgewirbelt und vom hinterhergezogenen<br />

Netz eingefangen. Engmaschig müssen die Netze sein:<br />

Die kleinste befischte Garnelenart, Crangon crangon, wird maximal<br />

neun Zentimeter lang. Und nicht nur Krabben werden<br />

aufgewühlt. Alles, was größer ist, bleibt erstmal mit hängen,<br />

wird nach mehreren Stunden tropfend aus dem Wasser gezogen,<br />

in glänzenden Stahltrommeln an Deck durchgesiebt. Der<br />

unerwünschte Beifang geht zurück ins Meer – mal tot, mal lebendig.<br />

Unverhältnismäßig, unnötig und verschwenderisch, sagen<br />

Umweltschützer wie Rösner. Über 30 Millionen Tonnen,<br />

ein Drittel des weltweit gefangenen Fisches, werden so jedes<br />

Jahr als Beifang aus dem Wasser gezogen, dann zurückgeworfen.<br />

Delphine, die sich in Thunfischnetzen verfangen, Schollen,<br />

die in Krabbennetzen hängen bleiben, Jungfische, die noch zu<br />

klein für den Markt sind. Die Liste der Forderungen von<br />

Umweltschützern ist lang. Eine davon: fischfreundliche Netze<br />

– besonders für die Krabbenfischerei.<br />

Das Ziel: die knapp 250 Krabbenkutter, die an der deutschen<br />

Nordseeküste liegen, konsequent mit modernen Sieb- oder<br />

Trichternetzen auszustatten. Ein Großteil der unerwünschten<br />

Fische kann sich dann noch unter Wasser aus dem zunächst<br />

großmaschigen Trichternetz befreien. Nur die Krabben werden<br />

in die engen Maschen weitergeleitet und am Ende an Deck gezogen,<br />

sortiert und gekocht. Siebnetze sind zwar laut EU-Gesetz<br />

seit 2003 Pflicht, nationale Ausnahmeregelungen sorgen aber<br />

dafür, dass viele Fischer in Deutschland immer noch ohne sie<br />

fahren.<br />

Thaden und seine „Christine“ fischen längst mit Trichternetzen,<br />

vor allem, weil das viel Sortierarbeit an Deck erspart.<br />

Ihm reicht das – den Umweltschützern nicht. Studien der letzten<br />

Jahre zeigen: Gerade im Wattenmeer sind die Beifangquoten<br />

besonders hoch. „Die Krabbenfischer plündern mit ihren<br />

Baumkurren die Kinderstube der Nordsee, das Wattenmeer“,<br />

klagt Rösner. „Viele Fische wachsen hier im flachen Wasser und<br />

in den Prielen heran. Genau da, wo dann die Krabbenkutter<br />

ihre Netze durchziehen. Das müssen wir stoppen“.<br />

Fischer wie Söhnke Thaden sehen dafür keinen Grund. Seit<br />

Jahrhunderten fischen er und andere in genau den Gewässern,<br />

FOTOS: LUISE SAMMANN (4) / HANS -ULRICH RÖSNER/WWF (1)


Fischer Thaden<br />

hat seinen Kutter<br />

„Christine“<br />

längst mit fischfreundlichen<br />

Trichternetzen<br />

ausgerüstet und<br />

erspart sich so<br />

viel Sortierarbeit<br />

an Deck. Vor<br />

allem aber verschonen<br />

die<br />

modernen Netze<br />

Fische und andere<br />

Meerestiere,<br />

die in herkömmlichenKrabbennetzen<br />

zu<br />

Tausenden als<br />

unerwünschter<br />

Beifang sterben<br />

aus denen sie die Naturschützer nun am liebsten vertreiben wollen.<br />

„Ich bin doch selbst Naturschützer!“, sagt Thaden, schüttelt<br />

den Kopf. „Wir Krabbenfischer wollen die Natur erhalten, wir<br />

leben mit ihr, nicht gegen sie – genau, wie vor uns unsere Väter.“<br />

Die Bedingungen allerdings haben sich verändert. Große moderne<br />

Fangflotten ziehen ihre Netze durchs Wattenmeer, die<br />

Fangquoten sind gestiegen. Vor allem sie sind es, die die Umwelt<br />

belasten, den Krabbenbestand gefährden, anderen Fischarten<br />

schaden. Rösner und andere Naturschützer fordern deswegen:<br />

Im Wattenmeer, vor allem im Nationalparkgebiet, sollte die<br />

Krabbenfischerei verboten oder stark eingegrenzt werden.<br />

Zumindest hier müssten die Fische sich vermehren und aufwachsen<br />

können, ohne von engmaschigen Netzen bedroht zu<br />

werden.<br />

„Krabbenfischerei extrem umweltschädlich“ oder „Krabbenfischerei<br />

belastet andere Fischarten“ titelten die Zeitungen nach<br />

dem Erscheinen der WWF-Studie zum Beifang. Fischer Thaden<br />

ärgert sich über die lauten Umweltschützer: „Da werden irgendwelche<br />

Sachen in die Medien gesetzt, aus reiner Willkür,<br />

völlig aus der Luft gegriffen. Die stehen dann da erstmal. Und<br />

so'n trauriger Seehund oder 'ne verstorbene Scholle kann den<br />

Leser oder Hörer natürlich mehr sensibilisieren, als wenn da 'n<br />

Fischer steht und sagt, das stimmt nicht.“<br />

Die Landespolitiker aber beeindrucken traurige Seehunde<br />

nicht. Politische Auswirkungen wird es nicht geben, selbst die<br />

Grünen unterstützen die Krabbenfischer. Es gebe keinen Politiker<br />

in der Umgebung, der es wagen würde, sie laut in Frage zu stellen,<br />

kritisiert Umweltschützer Rösner. Der Imagefaktor der kleinen<br />

Krabbe ist zu groß. „Für das Bild der Küstenregion ist das<br />

ein kleiner, aber wesentlicher Aspekt. Die bunten Kutter, die<br />

Seemänner, der frische Fisch am Hafen ... All diese Dinge, die<br />

gehören einfach dazu“, sagt Jürgen Janssen vom Referat für<br />

Wirtschaft und Regionalmanagement. Und auch Arbeitsplätze<br />

hängen an der Küstenfischerei. Vom Fischer über den Bootsbauer<br />

bis hin zum verarbeitenden Gewerbe. Fischer Thaden ist nur<br />

einer von Tausenden, der mit Krabben sein Geld verdient – in<br />

einer Region, die fast ausschließlich vom Tourismus abhängt.<br />

Thaden steht im Führerhaus seiner „Christine“, hat den Motor<br />

angelassen. Ein Mitarbeiter holt die Taue ein. Fünf Tage werden<br />

sie auf See bleiben, bei guten Bedingungen mit etwa 1.000<br />

Kilo Krabben zurückkommen, rosa und weich, frisch gegart. So<br />

wie es schon sein Ur-Urgroßvater vor ihm gemacht hat. Doch<br />

solange die Krabben aus der „Kinderstube der Nordsee“ kommen,<br />

werden Umweltschützer wie Hans-Ulrich Rösner weiterkämpfen:<br />

„Wir wollen die Krabbenfischerei nicht abschaffen,<br />

aber wir wollen sie verändern“. Luise Sammann<br />

A Z U R G R A U 1 9


Lebensraum<br />

Einmal in der Woche fährt er ans Watt, um das Gefühl<br />

wieder zu erwecken, das der Blick einst in ihm ausgelöst<br />

hat. Vor 34 Jahren, auf Schiermonnikoog, der kleinsten<br />

Wattenmeerinsel in den Niederlanden. Breite Strände, haushohe<br />

Dünen. Sommerurlaub mit seiner Frau. Sie: Holländerin.<br />

Er: Däne. Sie sagte: Das Wattenmeer ist holländisch. Nein, dänisch,<br />

dachte er. Und dann, als die Vögel über ihnen kreisten,<br />

Möwen kreischten, streckte er die Arme aus, den einen gen Osten<br />

und den anderen gen Westen, er schmeckte das Salz auf der<br />

Zunge, spürte den Wind im Gesicht und begriff, dass dieses Watt<br />

das gleiche war, wie das, an dem er als Kind in Dänemark jedes<br />

zweite Wochenende Sandburgen baute. Das gleiche, für das er<br />

nun auf den Ehrentitel hofft.<br />

Im Juni soll das Wattenmeer der Nordsee Weltnaturerbe<br />

werden. Jens Enemark, 59, koordinierte die Bewerbung, kommunizierte<br />

mit den Anrainerstaaten. Man könnte auch sagen:<br />

Er ist einer der Väter der Bewerbung für das Weltnaturerbe.<br />

Aber von ihm hört man solche Worte nicht. Seine Rolle würde<br />

er nie so beschreiben. Er sagt: „Es gibt hunderte Väter, hunderte<br />

Mütter, die auf dieses Kind Weltnaturerbe warten.“ Klaus<br />

Koßmagk-Stephan von der Nationalparkverwaltung in Schleswig-Holstein<br />

korrigiert: „Es gibt zwei Handvoll verlesener Leute,<br />

die schon früh für den Naturschutz eingetreten sind. Jens<br />

Enemark ist einer davon. Seine Leidenschaft ist zu spüren. Er<br />

macht das mit ganzer Seele.“<br />

Das trilaterale Leben, also das der drei Anrainerstaaten des<br />

Wattenmeers, verkörpere er wie kein anderer, hieß es in einer<br />

Laudatio, als Enemark vor drei Jahren die „goldene Ringelgansfeder“<br />

verliehen bekam, eine Auszeichnung für die internationale<br />

Zusammenarbeit. Enemark ist das trilaterale Gesicht,<br />

1987Das trilateraleWattenmeersekretariat<br />

wird gegründet.<br />

Die Aufgabe: der Schutz<br />

des Wattenmeeres. Geleitet<br />

wird es von Jens<br />

Enemark.<br />

PRO WELTNATURERBE<br />

DER DREI-<br />

LÄNDER-<br />

DIE UNESCO IM SOMMER<br />

ÜBER DEN NATURRAUM IM<br />

NORDEN URTEILT, HOFFT VOR<br />

MANNWENN<br />

ALLEM EINER AUF DEN TITEL:<br />

JENS ENEMARK, LEITER DES<br />

WATTENMEERSEKRETARIATS,<br />

IST DER VATER DER BEWERBUNG<br />

1991 Die Niederlande,<br />

Deutschland und<br />

Dänemark beschließen,<br />

das Wattenmeer für<br />

eine Nominierung zum<br />

Weltnaturerbe vorzuschlagen.<br />

2000Eine<br />

Machbarkeitsstudie,<br />

der so genannte Burbridge-Report<br />

zeigt:<br />

Das Wattenmeer<br />

verdient den Weltnaturerbestatus.<br />

das trilaterale Gemüt. Das erwähnt jeder seiner Kollegen, und<br />

es scheint, als sei diese eine der wenigen Wahrheiten, die er<br />

schnell offen legt: Verheiratet mit einer Niederländerin, arbeite<br />

er in Deutschland, spreche vor allem Englisch und träume<br />

nur auf Dänisch.<br />

Ein freundlicher, unprätentiöser Mensch sitzt da in seinem<br />

Büro, zweiter Stock, Sekretariat in Wilhelmshaven. Ein helles<br />

Zimmer, an den Wänden Rahmen mit Küstenumrissen, datiert<br />

auf das 16. und 17. Jahrhundert. Daneben spätere Stücke der<br />

Romantik. Der Kreidefelsen auf Rügen, der Mondaufgang am<br />

Meer, Caspar David Friedrichs Stimmungsbilder von der Ostsee.<br />

Enemark mag die vorgelagerten Inseln in Ostfriesland lieber,<br />

vor allem die zweite von rechts, Spiekeroog. Lieber noch: die<br />

Halligen. Wegen der Ruhe, Sanftmut, Unberührtheit. Und wegen<br />

des Mittendrin-Seins. Mittendrin in der Einsamkeit, einer<br />

Enklave in der dicht besiedelten Industriegesellschaft.<br />

Enemark spricht ruhig, als scanne er jeden persönlichen<br />

Satz, bevor er ihn intoniert. Er weiß einen Moment nicht, wohin<br />

mit seinen Händen, seine rechte Augenbraue zuckt aufgeregt<br />

hin und her, dann verfängt er sich im Netz der Rationalität.<br />

Enemark, der Funktionär. Ein Mann, dem nicht viele Sätze zu<br />

entlocken sind, bei dem selbst seine Frau bohren muss, woran<br />

er arbeitet, welche Hürden auf dem Weg zum Weltnaturerbe<br />

schon genommen sind. Diese Umrisse sind bekannt, Details<br />

kommen nach und nach hinzu. So skizziert sich seine zweite<br />

Seite. Enemark, der Wattenmeerfreund, der den Wechsel von<br />

Ebbe und Flut mag.<br />

1967, ein Gymnasium in einer Kleinstadt nahe Ribe. Biologieunterricht.<br />

Der Lehrer fuchtelt mit den Händen, untermalt<br />

seine Sätze mit großen Gesten. Sie erzählen von der Mystik der<br />

2001 Hamburg macht im September<br />

den ersten Schritt: Als erstes der drei beteiligten<br />

Bundesländer spricht es sich für die Nominierung<br />

aus. Im Oktober tagt im dänischen<br />

Esbjerg die Wattenmeerkonferenz. Eine<br />

zweite Studie unterstreicht die Relevanz des<br />

Wattenmeeres als „Naturgut“.<br />

FOTO: ANNA KUHN-OSIUS<br />

2002 Niedersachsen<br />

stimmt<br />

der Anmeldung zu.<br />

Mit der örtlichen<br />

Bevölkerung soll<br />

die Anmeldung vorbereitet<br />

werden.


„DEN WATTVIRUS WERDE<br />

ICH NIE WIEDER LOS –<br />

WILL ICH AUCH GAR NICHT“<br />

Natur und der Notwendigkeit ihres<br />

Schutzes. Sie schrillen dem 17 Jahre alten Schüler wie Sirenen<br />

in den Ohren. Er speichert die Sätze ab, um sie Jahrzehnte später<br />

wieder abzurufen, sie sich anzueignen. Diese Liebe zwischen<br />

Mann und Watt war keine auf den ersten Blick, sagt seine Frau<br />

Gineke, er hat sie sich erarbeitet. Und die Vögel, die zwölf<br />

Millionen Zugvögel, die am Watt rasten, die er Tag für Tag beobachtet,<br />

von deren Vielfältigkeit er schwärmt, was ist damit?<br />

„Er weiß da nicht viel drüber, gut, inzwischen ja, aber er hat es<br />

nur nach und nach lieben gelernt.“ Wattvirus nennt Jens<br />

Enemark es selbst.<br />

Infiziert seit Mitte der Siebziger. Das Schlüsselerlebnis: der<br />

Sommerurlaub auf Schiermonnikoog. Der weitere Verlauf entwickelt<br />

sich aus dem Zufall. Nach dem Politikstudium arbeitet<br />

er erst als Lehrer, sucht einen Job in Holland. Er landet bei der<br />

Raumplanung für Provinzen, Abteilung: Wattenmeer. 1987 wurde<br />

das Wattenmeersekretariat gegründet, Enemark wurde Chef.<br />

Mehrmals ist er seitdem in Konsensentscheidungen von allen<br />

drei Ländern bestätigt worden. Weil er in die Köpfe der Dänen,<br />

Niederländer und Deutschen gucken kann, weil er weiß, wie die<br />

Uhren in allen Ländern ticken, sagt Hubertus Hebbelmann von<br />

der deutschen Delegation. Codewort: Trilaterale Figur. 1991<br />

dann das trilaterale Projekt. Seitdem hat Enemark sein Herz an<br />

diesen Landstrich verloren. Seitdem arbeiten die Regierungen<br />

auf die Auszeichnung hin, eine Art Gütesiegel, das extraordinäre,<br />

besonders erhaltenswerte Landstriche bekommen.<br />

Sie schreiben Dokumente und Briefe, studieren Gutachten,<br />

sprechen mit Schiffern, Fischern, Landwirten, Naturschützern,<br />

vor allem mit all denen, die das Projekt von Anfang an in der<br />

Luft zerrissen haben. „Ein zäher Kampf“, „ein langer Weg der<br />

Überzeugungsarbeit“, bilanzieren Mitarbeiter aus den Nationalparkverwaltungen<br />

und Umweltministerien, all jene, die Enemark<br />

2005Wattenmeerkonferenz im niederländischen<br />

Schiermoonikoog: Dänemark<br />

klinkt sich aus, erst soll geprüft<br />

werden, ob das Wattenmeer Nationalpark<br />

wird. Die Niederlande und Deutschland<br />

gründen eine Arbeitsgruppe, die vom<br />

Wattenmeersekretariat koordiniert wird.<br />

2007Der<br />

Landtag von<br />

Schleswig-Holstein<br />

stimmt für das<br />

Welterbe. Damit<br />

stehen überall die<br />

Zeichen auf Grün.<br />

18 Jahre lang auf dem Laufenden hielten. „Nur weil wir<br />

alle an einem Strang zogen, hatte dieses Projekt eine<br />

Chance“, resümiert Enemark. Er versöhnte nicht, er vermittelte.<br />

Eine privilegierte Rolle, wie er sagt. Eine, die<br />

ihn nur selten zum Volk brachte, wenn aber doch, vergaß<br />

er die Situationen, die Stimmung nicht. Zum<br />

Beispiel diese: Bürgerdiskussion in Husum, 2001.<br />

Schwarze Letter auf einem weißen Plakat: „Ein Erbe<br />

muss man nicht annehmen.“ Heute, sagt er, ist diese<br />

Skepsis der Menschen mehr dem Stolz gewichen.<br />

Dänemark hält sich bislang aus der Bewerbung<br />

heraus, das Land kann dem Naturerbe-Projekt aber<br />

später noch beitreten. So haben nur die Niederlande<br />

und Deutschland unter Vorsitz des Bundesumweltministeriums<br />

den Nominierungsantrag ausgearbeitet<br />

und im Januar 2008 die Aufnahme beantragt.<br />

Enemark hielt im Wattenmeersekretariat in<br />

Wilhelmshaven die Fäden zusammen. „Hätte es diese<br />

Zusammenarbeit nicht schon gegeben, dann wäre<br />

die Anerkennung nicht so schnell verlaufen, dann<br />

hätte erst ein gemeinsames Management geschaffen<br />

werden müssen“, sagt Hubertus Hebbelmann vom Umweltministerium<br />

in Niedersachsen.<br />

Ein paar Monate vor der Entscheidung sind die Befürworter<br />

optimistisch. Jens Enemark, der Ehrgeizige. Man sieht ihm diese<br />

Liebe, diese Leidenschaft nicht an, wenn er in seinem Büro<br />

am Konferenztisch sitzt. Aber man spürt, wie er nach und nach<br />

in sie eintaucht, wenn er, eingehüllt in eine blaue, dicke<br />

Daunenjacke, am Deich entlanggeht. Nein, er geht nicht, er hastet,<br />

stoppt, hastet, stoppt. Es ist der Enemark-Expeditionsgang.<br />

Die Kälte flirrt, der Himmel ist fast bis zur Erde getaucht, verschwimmt<br />

mit Dunst und Watt in grauen Tönen. Dangast, eine<br />

700-Seelen-Gemeinde am Jadebusen, an einem Regentag im<br />

März.<br />

Es ist ein halbes Jahr her, dass er hier war, im September, zusammen<br />

mit Pedro Manuel Rosabal, einem Vertreter der Internationalen<br />

Naturschutzunion. Im Sommer, wenn das Unesco-<br />

Komitee in Sevilla entscheidet, ob es den Titel verleiht, orientiert<br />

es sich vor allem an dessen Votum. Eine Reise an mehr als<br />

30 Orte an elf Tagen. Spiekeroog, Neuharlingersiel, Groningen,<br />

Ameland, Lauwersoog, Terschelling, Texel, Tönning, Halligen<br />

bis nach Dagebüll, das an die Grenze zum Süden von Skandinavien<br />

kratzt, dann nach Dangast.<br />

„Da“, flüstert Enemark, „die ersten Vögel aus Afrika.“ Erst ist<br />

es Euphorie, Erklär-Ton folgt: Das Watt ist ihr Lebenselixier. Der<br />

Knutt zum Beispiel. 140 Gramm wiegt er, wenn er die Nordsee<br />

erreicht, dann frisst er sich die Hälfte seines Gewichts im Laufe<br />

von vier Wochen an, fliegt gestärkt weiter. Unglaublich, einmalig.<br />

Enemark schaut durch sein Fernglas. In Dangast gibt es<br />

keine Dünen, es ist einer der wenigen Orte am Festland, an dem<br />

es keinen Schutzdeich gibt. Und einer der vielen, an denen die<br />

Erinnerung kommt. An die kleinste Wattenmeerinsel der<br />

Niederlande, an den Sommerurlaub vor 34 Jahren. Leise spricht<br />

der Däne: Sie werden beitreten, ganz gewiss. Sonja Hartwig<br />

2008 Die Niederlande und<br />

Deutschland beantragen im Januar<br />

die Aufnahme in die Unesco-Liste.<br />

Hamburg springt in letzter Minute<br />

ab. Der Grund: Die Elbvertiefung ist<br />

noch nicht abgesichert. Der Senat<br />

befürchtet Verzögerungen.<br />

2009Mehr als 35 Experten prüfen<br />

die Bewerbung. Im Juni entscheidet<br />

die Kommission in Sevilla. Im Fall<br />

einer Anerkennung wäre das Wattenmeer<br />

das zweite Weltnaturerbe in<br />

Deutschland. Weiterer Titelträger: die<br />

Grube Messel bei Darmstadt.


Reiner Schopf hat 30 Jahre lang als Ranger<br />

auf der knapp 5 Quadratkilometer großen Vogelinsel<br />

Memmert gelebt. Dort setzte er sich besonders für ein<br />

Verbot der Jagd im Naturschutzgebiet ein. Heute engagiert<br />

sich der Naturschützer im Wattenrat, einem<br />

verbandsunabhängigen Zusammenschluss von Umweltaktivisten.<br />

Herr Schopf, Sie sind Naturschützer und sprechen sich<br />

trotzdem gegen die Ernennung des Nationalparks<br />

Niedersächsisches Wattenmeer zum Unesco-Weltnaturerbe<br />

aus. Warum?<br />

Weil es keinen Schutz für die Natur bringt, sondern nur als<br />

Label für den Fremdenverkehr dienen soll. Das ist ja auch die<br />

klar formulierte Absicht der Landesregierung. An der Wattenmeerküste<br />

gibt es 30 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Das<br />

ist bereits jetzt absoluter Massentourismus. Den zu steigern bedeutet,<br />

dass der Naturschutz noch mehr als bisher ins Abseits<br />

gerät. Den Tourismus mit dem Label Weltnaturerbe zu fördern<br />

kann deshalb nicht im Sinne des Naturschutzes sein.<br />

Seit 1986 ist das Wattenmeer Nationalpark – mit positiven<br />

Folgen: Die Kegelrobbe ist wieder häufiger anzutreffen,<br />

der Löffler- und Kranichbestand erholt sich.<br />

Was ist daran schlecht?<br />

Den positiven Entwicklungen stehen viele negative gegenüber.<br />

Dass der Löffler wieder hier brütet, ist keine Folge des<br />

2 2 A Z U R G R A U<br />

Schutzes. Die niederländische Population hat sich in unserer<br />

Region ausgebreitet. Der Robbenbestand hat sich erholt, weil<br />

die Jagd verboten wurde.<br />

Es ist natürlich richtig, dass einige Ecken im Nationalpark<br />

weitestgehend ungestört sind. Aber es kann ja nicht die Aufgabe<br />

des Nationalparks sein, nur ein paar Gebiete in Ruhe zu lassen,<br />

die für den Touristen besonders interessant sind. Was mich besonders<br />

stört, ist, dass es kein richtiges Konzept oder gar einen<br />

Entwicklungsplan für den Park gibt. Das führt dazu, dass in all<br />

den Jahren in Sachen Naturschutz nicht viel erreicht wurde. Im<br />

Grunde genommen wird von Wilhelmshaven aus nur ein<br />

Mangelzustand verwaltet.<br />

Wird eine Stätte zum Weltnaturerbe erklärt, muss das<br />

betreffende Land regelmäßig bei der Unesco über die<br />

Entwicklungen in der Region Bericht erstatten. Hilft die<br />

Überwachung?<br />

Nein, das glaube ich nicht. Bevor die Diskussion zum<br />

Weltnaturerbe überhaupt in die heiße Phase ging, haben einige<br />

Naturschützer unter der Federführung des Wattenrats eine<br />

sehr umfangreiche Mängelliste eingereicht. Bis dahin wurde<br />

der Nationalpark bei der International Union Conservation of<br />

Nature (IUCN) in der Kategorie V geführt, war also gerade mal<br />

ein Landschaftsschutzgebiet. Um die Kriterien des Weltnaturerbes<br />

zu erfüllen, wurde er jetzt auf die Stufe II hochgesetzt,<br />

ohne dass sich überhaupt etwas verbessert hat. Man tut einfach<br />

so, als seien die Kriterien erfüllt. FOTOS:<br />

ANDREA HOYMANN


Ein Gutachter der Unesco hat Ende 2008 zehn Tage in<br />

der Region verbracht. Denken Sie nicht, dass ihm die<br />

Probleme aufgefallen sind?<br />

Der Gutachter kam aus Kuba und ist von Behördenleuten<br />

zehn Tage durch die Region geführt worden. Die haben ihm natürlich<br />

die intakten Ecken gezeigt und die Missstände vorenthalten.<br />

Stellen Sie sich mal vor, Sie sind Däne und werden ein<br />

paar Tage durch die Schweizer Alpen geführt. Man zeigt Ihnen<br />

ein paar Berggipfel – und dann sollen Sie die Schweizer Alpen<br />

beurteilen.<br />

Auf dem Programm standen aber auch ein Besuch von<br />

niederländischen Öl- und Gasfirmen sowie ein Treffen<br />

mit einem Repräsentanten des WWF.<br />

Es ist gut, dass er das gesehen hat. Ich glaube aber trotzdem<br />

nicht, dass es etwas ändert. Auch Umweltverbände werden irgendwie<br />

finanziert, was zum Verwässern ihrer Standpunkte<br />

führt.<br />

Kann man den Tieren und Pflanzen wirklich noch mehr<br />

Schutz einräumen, ohne den Menschen ganz aus der<br />

Region zu verbannen?<br />

Die Fragestellung müsste lauten, ob die Tiere nicht vom<br />

Menschen aus der Region verbannt werden. Der wirtschaftliche<br />

Druck wird immer größer. Der Tourismus, die Schifffahrt,<br />

die Fischerei und die energieverarbeitenden Firmen – alles befindet<br />

sich direkt an der Grenze zum Nationalpark. Eigentlich<br />

müsste die Wirtschaft um den Park herum stark eingeschränkt<br />

werden. Aber dicht hinter den Deichen stehen Windkraftanlagen,<br />

die eine enorme Gefahr für die Vögel sind. Es wird geschätzt,<br />

dass jede dieser Anlagen im Jahr 50 Tiere tötet. Die Vögel werden<br />

von ihnen regelrecht zerschreddert.<br />

Wie müsste ein gutes Nationalparkkonzept denn aussehen?<br />

Laut IUCN-Nutzungsbestimmungen muss es eine Kernzone<br />

geben, in der es keinerlei wirtschaftliche Nutzung gibt, was im<br />

Fall des niedersächsischen Wattenmeers heißt: kein Fremdenverkehr,<br />

kein Wassersport und keine Fischerei. Außerdem müssen<br />

die wirklich massiven menschlichen Einflüsse in gewisser<br />

Distanz gehalten werden. Wenn man eine Landschaft wirklich<br />

für besonders schützenswert hält, dann muss man Kompromisse<br />

schließen. Es geht aber nicht, dass diese Kompromisse immer<br />

zu Lasten der Tiere entschieden werden.<br />

Eines der erklärten Ziele der Unesco ist es, die<br />

Einzigartigkeit einer Stätte stärker ins öffentliche<br />

Bewusstsein zu rufen. Warum sollte das nicht funktionieren?<br />

Da glaube ich nicht dran. Ich habe in meinen 30 Jahren auf<br />

der Vogelinsel Memmert eine andere Erfahrung gemacht. Wenn<br />

man nur mit erhobenem Zeigefinger dasteht und ermahnt, ändert<br />

sich nichts. Es muss Regelungen geben, und wer die nicht<br />

einhält, muss angemessen bestraft werden. So etwas gibt es am<br />

Wattenmeer nicht. Die viel zu wenigen Ranger haben keinerlei<br />

Lebensraum<br />

Kompetenzen. Sie dürfen weder einen Platzverweis aussprechen<br />

noch ein Bußgeld auferlegen. Gerade Wassersportler sind<br />

oft besonders uneinsichtig. Wenn Übertretungen nicht geahndet<br />

werden, erreicht man nie, dass sie sich an ihre zugewiesenen<br />

Zonen halten. Da steht man dann als Einzelner unter<br />

Umständen einer sehr aggressiven Gruppe gegenüber, die ihre<br />

vermeintlichen Rechte einfordert.<br />

Welchen Stellenwert hat Naturschutz in der Landespolitik?<br />

Einen ganz geringen. Es geht immer nur um wirtschaftliche<br />

Interessen, ganz egal, ob es um den Tourismus oder Energie<br />

geht. Die Kommunen bemühen sich natürlich um ein grünes<br />

Image, sonst laufen ihnen die Touristen weg. In Wirklichkeit<br />

steht aber immer nur eine Steigerung des Profits im Vordergrund.<br />

Sehen Sie eine Lösung für den Konflikt zwischen den<br />

wirtschaftlichen Interessen der Bewohner der Region<br />

und den Interessen der Natur?<br />

Nur darin, dass die Landesregierung der Natur einen höheren<br />

Stellenwert einräumt. Erst durch eine Kombination aus gesetzlichen<br />

Regelungen und Verständnis kann auch in der<br />

Bevölkerung ein anderes Bewusstsein entstehen. Im Naturschutz<br />

muss man eben langfristig denken und nicht nur an das, was<br />

mich jetzt gerade betrifft.<br />

Können Sie sich ein Szenario vorstellen, in dem Sie die<br />

Ernennung zum Weltnaturerbe befürworten würden?<br />

Kann ich mir vorstellen, wenn die Mindestbestimmungen<br />

eingehalten werden und es mehr Ranger gibt, die auch<br />

Kompetenzen haben. Man muss einen Schritt nach dem anderen<br />

gehen. Erst wenn es ein vernünftiges Nationalparkkonzept<br />

gibt, kann man auch über den Titel Weltnaturerbe reden.<br />

Ansonsten bleibt es ein Label für Pseudo-Naturschutz.<br />

Interview: Andrea Hoymann<br />

A Z U R G R A U 2 3


Lebensraum<br />

Kommt der Wandel,<br />

bleibt das Meer<br />

Wo das Watt auf das Festland trifft, liegen die Salzwiesen. Bei<br />

Flut werden sie vom Meer überschwemmt, bei Ebbe rasten dort<br />

seltene Vögel. Ein einzigartiger Lebensraum. Doch was, wenn<br />

das Meer eines Tages nicht mehr zurückweicht?<br />

2 4 A Z U R G R A U<br />

Der Austernfischer,<br />

einer der typischen<br />

Vögel des Wattenmeers,<br />

brütet in den<br />

Salzwiesen.<br />

Im Sommer blüht<br />

der Strandflieder<br />

zwischen Queller –<br />

einem anderen Salzwiesengewächs.<br />

Für den Salzwiesenfan<br />

Ulrich Appel<br />

ist der Säbelschnäbler<br />

der eleganteste<br />

Wattvogel.


FOTOS: SABASTIAN QUILLMANN (1) / GROSSMANN/NATIONALPARK (2) / BARKOWSKI/NATIONALPARK (1)<br />

Der Himmel ist grau verhangen. Regen<br />

zieht einen Schleier feiner Tropfen<br />

über die Salzwiesen, die sich vor einem<br />

Deich bei Jever erstrecken. Ulrich Appel<br />

geht in kleinen, erstaunlich sicheren Schritten<br />

auf dem seifig-nassen Grund. Der Vogelkundler<br />

bleibt stehen, legt den Finger auf die Lippen,<br />

dreht den Kopf nach links. Neben ihm, irgendwoher<br />

aus den knöchelhohen Gräsern,<br />

tönt kurz und melodisch eine Vogelstimme.<br />

„Das war die Uferschnepfe. Wir nennen sie<br />

auch Greta, weil sie so ruft – ‘Greta, Greta,<br />

Greta!’“ Der Rentner kichert.<br />

Was treibt den 74-Jährigen, bei Regen über<br />

den Deich und in die Wiesen zu steigen? „Die<br />

Freude an der Natur“, sagt Appel. „Wenn man<br />

hier länger gewesen ist, dann kann man sagen:<br />

Sie bewegen sich in derselben Landschaft, aber<br />

die Stimmung der Farben, der<br />

Wolken variiert so. Wenn man<br />

schönes Wetter hat, ist das keine<br />

Plage, sondern es macht einfach<br />

Spaß.“ Seit fast 40 Jahren zählt<br />

und beobachtet er Vögel. Seltene<br />

Arten brüten in den Salzwiesen.<br />

Außerdem erholen sich Zugvögel dort von ihren<br />

Flügen, die den halben Globus umspannen.<br />

Doch wo Ulrich Appel seit Jahrzehnten<br />

Vögel beobachtet, kann schon in 50 Jahren das<br />

Meer direkt an den Deich schwappen. Der<br />

Klimawandel wird kommen. Der Meeresspiegel<br />

wird steigen – und die Salzwiesen sind in<br />

Gefahr, von den Wellen gefressen zu werden.<br />

Dabei leben die Salzwiesen eigentlich vom<br />

Meer, das kommt und geht. Sie werden regelmäßig<br />

vom Meerwasser überflutet. Deshalb<br />

können dort nur besondere Pflanzen überleben,<br />

die den hohen Salzgehalt vertragen. Viele<br />

Insekten hängen wiederum von diesen Pflanzen<br />

ab. Die Pflanzen halten Sand und Schlick,<br />

die das Meer in die Wiesen schwemmt, mit ihren<br />

Wurzeln fest. Wenn der Meeresspiegel<br />

langsam und stetig steigt wie bisher, wachsen<br />

die Salzwiesen mit. Sie sammeln neuen Sand<br />

und Schlick an und verlagern sich landeinwärts<br />

in die flachen Buchten des Meeres.<br />

Doch solche Buchten gibt es gerade an der<br />

Küste Niedersachsens nur noch wenige. Deshalb<br />

sieht die Zukunft der Salzwiesen dort besonders<br />

bedrohlich aus. Der Mensch hat die<br />

flachen, vom Meer überfluteten Bereiche seit<br />

Jahrhunderten trockengelegt. Deiche sperren<br />

das Meer aus. Die heutigen Salzwiesen liegen<br />

vor einer geraden Deichlinie und haben nicht<br />

mehr die Möglichkeit, sich landeinwärts zu verlagern.<br />

Sie werden deshalb von Menschenhand<br />

erhalten: Mit Barrieren, so genannten Lahnungen,<br />

wird etwa die Strömung des Meeres gebremst,<br />

damit sich Sand und Schlick absetzen<br />

können und nicht weggespült werden. Der<br />

Mensch ist auf das Land vor den Deichen an-<br />

gewiesen: Es bremst die Energie der Wellen bei Fluten, schützt die Deiche und<br />

damit die bewohnte Küste.<br />

Eine solches, vom Menschen stark beeinflusstes und erhaltenes Salzwiesen-<br />

Gebiet ist auch der Elisabeth-Außengroden, wo Vogelschützer Ulrich Appel die<br />

Tiere beobachtet. Ein kleiner Naturschutzverein aus Jever hat bereits 1973 erreicht,<br />

dass diese Wiesen unter Schutz gestellt wurden. Appel, der damals schon<br />

dabei war, ist heute Vorsitzender des Vereins. Die Watten und Salzwiesen zu<br />

schützen – „ein Traum“, so sagt er, den sich die Naturschützer erfüllten. Inzwischen<br />

ist das Schutzgebiet im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer aufgegangen,<br />

der 1986 gegründet wurde. Alles schien gut – bis zum Klimawandel.<br />

Der Biologe Hubert Farke von der Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven<br />

befürchtet, dass die Folgen des Klimawandels den Elisabeth-Außengroden und<br />

die anderen Salzwiesen an der Küste Niedersachsens zerstören werden. Einen<br />

Anstieg des Meeresspiegels von etwa 50 Zentimetern pro Jahrhundert könnten<br />

die Salzwiesen verkraften. Doch Farke ist pessimistisch: Er geht von einem schnelleren<br />

Anstieg des Meeresspiegels aus – bis zu 70 und mehr Zentimeter in den<br />

nächsten hundert Jahren. „Ich sehe die starken Veränderungen in der Arktis, den<br />

starken Rückgang des Meereseises und den starken Rückgang der Gletscher. Das<br />

führt dazu, dass wir mit dem<br />

„... die Stimmung der Farben,<br />

der Wolken variiert so.<br />

Es macht einfach Spaß.“<br />

Worst Case rechnen müssen.“<br />

Dieser „schlimmste Fall“<br />

würde bedeuten, dass das<br />

Meer schneller steigt, als die<br />

Salzwiesen wachsen. Die<br />

Deichlinie verhindert, dass<br />

sich die Wiesen verlagern. Häufigere und stärkere Stürme wühlen das Wasser<br />

auf, Sand und Schlick können sich nicht mehr absetzen. Das Meer frisst die<br />

Salzwiesen an den Kanten ab, Stück für Stück. Farke befürchtet einen „Rückgang<br />

der Salzwiesen bis an den Deichfuß“. Unter diesen Bedingungen „werden die<br />

Salzwiesen im Küstenbereich nicht zu halten sein“.<br />

„Das Problem ist zu vermitteln, dass man jetzt etwas machen muss und nicht<br />

abwarten darf. Es hilft nicht, fünf Minuten vor Zwölf zu planen“, sagt Holger<br />

Freund. Auch der Geo-Ökologe, der am Standort Wilhelmshaven des Instituts<br />

für die Chemie und Biologie des Meeres forscht, sieht die Gefahr für die Salzwiesen<br />

an der Küste Niedersachsens. Er sucht nach Möglichkeiten, wie sich „Ersatz-<br />

Salzwiesen“ schaffen lassen, wenn die Wiesen an der heutigen Küstenlinie zerstört<br />

werden. Holger Freund erforscht auf der Insel Langeoog, wie sich neue<br />

Salzwiesen entwickeln, wenn man ein Stück Land wieder dem Meer öffnet. Im<br />

Jahr 2004 wurde der Sommerpolder auf Langeoog, eine weitgehend trockengelegte<br />

frühere Salzwiese, wieder geöffnet. Der niedrige Sommerdeich, der die 200<br />

Hektar Fläche vom Meer trennte, wurde abgetragen. Schon 2006 hatte das Gebiet<br />

wieder eine naturnahe Struktur und war von vielen salzverträglichen Pflanzen<br />

besiedelt. „Wir waren erstaunt, wie schnell das geht.“ Nun will er weiterforschen<br />

und ein Stück bewirtschaftetes Grünland fluten, damit dort Salzwiesen entstehen.<br />

So möchte Holger Freund testen, wie schnell sich Salzwiesen entwickeln,<br />

wenn man den Hauptdeich ins Landesinnere verlegt. Das wäre natürlich nur an<br />

unbewohnten Küstenabschnitten möglich. „Man muss sich jetzt die Expertise<br />

aneignen. Solche Maßnahmen sind langfristig und kosten viel Geld.“ Noch besteht<br />

die Chance, sich diese Zeit zu nehmen, bevor der Meeresspiegel stark ansteigt.<br />

Dass er steigen wird, daran besteht auch für Holger Freund kein Zweifel.<br />

Am Elisabeth-Außengroden sieht es schon jetzt ein wenig nach Sintflut aus:<br />

Es regnet unaufhörlich. „Es gibt Wetterlagen, da fragt man sich wirklich: Was<br />

mache ich hier draußen?“ Ulrich Appel geht alle zwei Wochen mit dem Fernglas<br />

in die Salzwiesen und zählt die Vögel. Den pessimistischen Vorhersagen möchte<br />

er nicht recht glauben. „Ich bin noch nicht sicher, ob es wirklich so schlimm<br />

wird, wie manche das darstellen.“ Er zieht die Schultern hoch und atmet tief ein.<br />

„Zum anderen wird die Menschheit irgendwie darauf reagieren müssen.“ Er gehe<br />

davon aus, dass die Salzwiesen erhalten werden können. „Und wenn es ganz<br />

schlimm kommt, dann müssen wir überlegen, vielleicht die Deiche zurückzuverlegen.<br />

Sie zu öffnen? Möglicherweise.“ Er hält inne. „Ich meine, es gibt immer<br />

noch Möglichkeiten, hier rettend einzugreifen.“ Sebastian Quillmann<br />

A Z U R G R A U 2 5


Lebensraum<br />

WILHELMSHAVEN IST DER<br />

ALPTRAUM<br />

JEDES UMWELTSCHÜTZERS.<br />

AM RANDE DES NATIONALPARKS<br />

WATTENMEER<br />

QUALMEN<br />

DIE SCHORNSTEINE<br />

VON CHEMIEFABRIK,<br />

KOHLEKRAFT-<br />

WERK UND EINER<br />

ÖLRAFFINERIE.<br />

JETZT KOMMT NOCH EIN RIESIGER<br />

HAFEN DAZU. ABER<br />

NIEMAND<br />

SCHREIT AUF<br />

2 6 A Z U R G R A U<br />

Wie ein Fremdkörper:<br />

Eine Fotomontage des<br />

Kohlekraftwerks, das<br />

gerade gebaut wird –<br />

zwischen Vogelschutzgebiet<br />

und Watt


Angebrochene Backsteine, zerborstenes Holz – nichts<br />

ist ganz geblieben, als damals der Bagger kam. Was<br />

noch brauchbar war, wurde mitgenommen. Der ungewöhnliche<br />

Baumbewuchs um das frühere Hofgebäude herum<br />

lässt erahnen, wie groß alles gewesen sein muss. Der Mann, dem<br />

der Haufen aus Bauschrott, Brombeersträuchern und Erde einmal<br />

gehörte, ist jetzt über 70 und im Ruhestand. Er wohnt in<br />

Sengwarden, zwei Kilometer entfernt vom Trümmerhaufen seines<br />

früheren Lebens in einem Einfamilienhaus. Der Haufen war<br />

einst sein landwirtschaftlicher Betrieb. Allein das Sprechen über<br />

das, was vor über 30 Jahren im Norden von Wilhelmshaven passiert<br />

ist, fällt ihm schwer. Er möchte nicht mit Namen genannt<br />

werden und schon gar nicht die Überreste seines alten Hauses<br />

sehen. Es musste weichen, weil an dieser Stelle eine Raffinerie<br />

entstehen sollte.<br />

Der Landwirt steht nicht allein da mit seinem Schicksal. Mal<br />

muss der Mensch, mal die Natur weichen. In Wilhelmshaven<br />

hat die Großindustrie Vorrang. Selbst die Naturschützer tun sich<br />

schwer mit dem Naturschutz. Man schielt hier auf Arbeitsplätze,<br />

denn die sind rar. „Wir brauchen die Industrie. Wilhelmshaven<br />

hat etwa 14 Prozent Arbeitslose, die jungen Leute wandern ab.<br />

Und da sind 2.000 neue Stellen durch den Jade-Weser-Port wichtig“,<br />

sagt Peter Sokolowski von den Grünen in Wilhelmshaven.<br />

Sokolowski kandidiert im hiesigen Wahlkreis zum ersten Mal.<br />

Er fügt noch an: „Wissen Sie, hier ist einfach kein grünes<br />

Fleckchen.“<br />

Alles andere wäre gelogen: Die Skyline von Wilhelmshaven<br />

ist gezeichnet von zwei Raffinerieschornsteinen und einem<br />

Kohlekraftwerk der Firma Eon. Derzeit baut die Firma GDF Suez<br />

ein zweites, Eon würde gerne erweitern. Außerdem reiht sich<br />

noch die Chemiefabrik Ineos in die Küstenlinie der Stadt ein.<br />

Es sollen in den nächsten Jahren noch mehr Schornsteine, große<br />

Frachtschiffe und Betonbauten hinzukommen, wenn es nach<br />

dem Oberbürgermeister und den Wirtschaftsverbänden vor Ort<br />

geht. Die schmalen Betonschornsteine der Raffinerie von Conoco<br />

Philips ragen wie Leuchttürme in den Himmel, nur schmaler<br />

und farbloser. Blau-gelb leuchtet immer wieder die Fackel an<br />

der Spitze einer der Betonsäulen auf, wo Gas verbrannt wird.<br />

„WISSEN SIE,<br />

WILHELMSHAVEN<br />

IST EINFACH KEIN<br />

GRÜNES<br />

FLECKCHEN“<br />

Vor den dunklen, dicken Regenwolken ist die Flamme der einzige<br />

Farbfleck im <strong>Grau</strong> des Horizonts. Industrieromantik zwischen<br />

Marschland, Wattenmeer und Strand.<br />

Neben dem Kraftwerk entsteht der Jade-Weser-Port, geplant<br />

als der drittgrößte Hafen Europas. Ende 2011 soll das erste<br />

Schiff festmachen. Durch die besonders tiefe Fahrrinne in<br />

Wilhelmshaven können hier auch die größten Frachtschiffe anlegen.<br />

Damit wird der Jade-Weser-Port Deutschlands einziger<br />

Tiefseehafen. Der Preis dafür ist hoch. Durch den Bau werden<br />

Brutstätten bedrohter Vogelarten zerstört, dem Wattenmeer<br />

wird weitere Fläche genommen, und die Ausbaggerungen am<br />

Meeresgrund greifen ständig in den Lebensraum der Tiere und<br />

Pflanzen ein. Nicht nur der Jade-Weser-Port ist in Wilhelmshaven<br />

ein Großprojekt, das die Umwelt bedroht. Die Schornsteine und<br />

Baustellen sind Zeugen von verlorenen Kämpfen und<br />

Kompromissen zwischen Industrie und Natur. „Wilhelmshaven<br />

ist der Mülleimer der Nation, hier werden all die Dreckschleudern<br />

gebaut, die sonst keine Region haben will“, sagt Peter Hopp vom<br />

BUND.<br />

Dabei will man doch im Sommer den Titel „UNESCO-<br />

Weltnaturerbe“ erhalten. Denn das Wattenmeer vor der Küste<br />

von Wilhelmshaven ist weltweit in dieser Ausdehnung einzigartig.<br />

Das Watt ist eines der größten Feuchtgebiete der Welt, das<br />

viele Zugvögel anzieht und vielen bedrohten Tier- und<br />

Pflanzenarten einen einmaligen Lebensraum bietet. Der<br />

UNESCO-Titel könnte die Autorität sein, die den Spagat zwischen<br />

Industrie und Naturschutz beendet und einen<br />

Schlusspunkt unter Kompromisse und Ausnahmen setzt.<br />

Die Ausnahmen kennt Ralf Kohlwes zu Genüge. „Wenn ich<br />

das Gesetz für Naturschutz durchlese, sehe ich genau, warum<br />

ich hier nichts wirklich schützen kann“, sagt Kohlwes, bei der<br />

Stadt Wilhelmshaven zuständig für Landschaftsplanung und<br />

Wer in Schillig durchs Watt wandert, kann an der Industrie-Skyline von Wilhelmshaven nicht vorbeischauen. Weitere Schornsteine folgen<br />

A Z U R G R A U 2 7


Lebensraum<br />

„EINE RICHTIGE<br />

DRECK-<br />

SCHLEUDER<br />

WÜRDE ICH IN<br />

WILHELMSHAVEN<br />

BAUEN“<br />

Umweltverträglichkeitsprüfung. Er liest aus dem Gesetzbuch<br />

vor: „Paragraph 34 … Ausnahmen dann, wenn es aus zwingenden<br />

Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich<br />

sozialer oder wirtschaftlicher Gründe, notwendig<br />

ist.“ Damit könne quasi alles zur Ausnahme gemacht werden,<br />

erklärt er. „Im Allgemeinen geht es nicht darum, Wirtschaftsentwicklungen<br />

zu verhindern, sondern gute Lösungen zu finden“,<br />

sagt Kohlwes und zeigt an, dass auch er für Kompromisse<br />

steht.<br />

Die Natur kommt nach dem Menschen und der Mensch nach<br />

der Wirtschaft. Das hat auch Ehnste Lauts erlebt. Er ist Jäger<br />

und Landwirt und schwärmt von dem tollen Jagdgebiet, das es<br />

auf dem Rüstersieler Groden bis zum letzten Jahr noch gegeben<br />

hat. „Es gab Rehe dort, was für unsere Region sehr ungewöhnlich<br />

ist. Das Rebhuhn, Enten und Füchse hat man oft beobachten<br />

können.“ Jetzt sieht man dort schwarze Kohleberge, braune<br />

Erdhaufen, Bagger und Stahlkräne. Sekunde für Sekunde<br />

zerstört das Klopfen einer Ramme die Ruhe: Kling, Kling, Kling,<br />

Kling ... Das vertreibt auch die letzten Tiere aus dem verbliebenen<br />

Waldstückchen auf dem Rüstersieler Groden. Mit viel Geld<br />

und Aufwand hat man damals in den fünfziger Jahren diese<br />

Fläche aufgespült und dem Wattenmeer abgewonnen. Der Plan<br />

war es, dort Industrie anzusiedeln. Diese kam aber nicht, und<br />

so eroberte sich die Natur ihr Gebiet zurück. Jetzt will die<br />

Industrie doch. „Für mich als Jäger ist es traurig, wenn Natur<br />

verschwinden muss. Aber ich will auch, dass die Region vorankommt,<br />

darum müssen wir die Kraftwerke und die Industrie<br />

akzeptieren und sogar unterstützen. Ich möchte, dass auch meine<br />

Enkel ein ausreichendes Einkommen haben und hier leben<br />

können.“<br />

Leben und arbeiten müssen auch die Naturschützer in<br />

Wilhelmshaven. Vielleicht erschwert das ihr Engagement.<br />

Gewöhnlich macht jede der kleinen Initiativen ihre eigenen<br />

Aktionen, es gibt wenig Austausch. Im März 2009 haben sie sich<br />

das erste Mal gemeinsam an einen Tisch gesetzt. Eine E-Mail<br />

soll herumgeschickt werden, jede Initiative soll eine geplante<br />

Resolution überarbeiten. Die 48-jährige Imke Zwoch, Mitglied<br />

beim BUND und mit ihrer hellbraunen Haarpracht mit Abstand<br />

die Jüngste in der Runde, fragt: „Kennen Sie die Überarbeitungsfunktion<br />

bei Word?“ Unwissende Gesichter, ein Scherz,<br />

und dann weiß man: Naturschutz ist in Wilhelmshaven eine<br />

zähe, langwierige Sache und kann nicht mit dem Tempo der<br />

Großprojekte von Stadt und Industrie mithalten. Sie sind noch<br />

im Schreibmaschinen-Zeitalter der Olympia-Werke geblieben<br />

2 8 A Z U R G R A U<br />

und versuchen doch in die Gegenwart vorzudringen und die<br />

Menschen in Wilhelmshaven für Naturschutz zu gewinnen. Der<br />

Schreibmaschinenhersteller Olympia, einst Arbeitgeber in<br />

Wilhelmshaven für mehr als 10.000 Menschen, hat die Tore<br />

längst geschlossen, hat nicht umgerüstet und die Zukunft ignoriert.<br />

Der Bankrott war die Konsequenz, die Pleite riss die Stadt<br />

mit in den Abgrund. Nun hoffen auch die Naturschützer auf einige<br />

tausend Arbeitsplätze durch den Jade-Weser-Port und das<br />

neue Kraftwerk.<br />

„Die Initiativen kochen alle ihr eigenes Süppchen“, sagt<br />

Joachim Tjaden. Er ist Mitglied im Stadtrat und gehört der<br />

Wählergruppe Bildung Arbeit Soziales Umwelt (BASU) an. Sein<br />

Gesicht ist zerfurcht wie das Watt bei Ebbe. Und jeder Kompromiss,<br />

der Wilhelmshaven einen neuen Schornstein bringt, ist<br />

für ihn eine Niederlage. „Leider sind die Initiativen hier zu klein,<br />

da macht man sich schnell lächerlich, wenn man sich zu zehnt<br />

vor die Rathaustür stellt und demonstriert und deutlich macht:<br />

,Wir sind dagegen!'“. Ralf Kohlwes von der Stadt sieht das ähnlich:<br />

„Der Widerstand hier vor Ort ist relativ gering und die<br />

Investoren haben nicht allzu viel zu fürchten.“ Tjaden fügt noch<br />

an: „Wenn ich irgendwo eine richtige Dreckschleuder bauen<br />

wollen würde, würde ich nach Wilhelmshaven kommen!“<br />

Was er Dreckschleuder nennt, wird gerade gebaut. Für ein<br />

Kohlekraftwerk rodet man den Rüstersieler Groden, und als<br />

nächstes möchte die Stadt den Voslapper Groden für Industrie<br />

frei machen. Dieses Mal muss kein Haus niedergewalzt, sondern<br />

nur Natur vernichtet werden. Der ehemalige Landwirt, dessen<br />

Hof vor 30 Jahren eingeebnet wurde, hatte damals eine<br />

Entschädigung erhalten und einen Job in der Raffinerie, die auf<br />

seinem Grund bauen wollte. Sein neues Haus ist geräumig, er<br />

hat sich ein großes Stück Garten geleistet. Selbst im März sieht<br />

man da noch ein paar Winterpflanzen. Die Krokusse beginnen<br />

schon zu blühen. Auf den Feldern seines früheren Hofes blüht<br />

nichts mehr. Dort ist heute eine Mülldeponie. Denn die<br />

Investoren der Raffinerie hatten es sich doch anders überlegt:<br />

Die Industriezone wurde um einige Meter verschoben, die Fabrik<br />

an einer anderen Stelle gebaut. Heidi Beha<br />

Der Protest ist still – Postkarten hört man nicht<br />

FOTOS: ANDREA HOYMANN (1) / GRUPPO 635.COM/HUFENBACH (1) / GDF SUEZ (1)


FOTOS: ANNA KUHN-OSIUS


Lebenswandel


Lebenswandel<br />

TATORT<br />

WATT<br />

DIE AUTORIN REGINE<br />

KÖLPIN LEBT UND<br />

SCHREIBT IN FRIESLAND.<br />

DORT BLICKT SIE HINTER<br />

DIE BESCHAULICHEN<br />

FASSADEN. UND STÖSST AUF<br />

MÖRDERISCHE ABGRÜNDE<br />

Dicht an dicht stehen die Häuser an der schmalen Straße.<br />

Die Gardinen vor den Fensterscheiben schützen kaum<br />

vor den Blicken, die man ganz automatisch in die<br />

Häuser wirft. Die Menschen sitzen am Esstisch, trinken Tee,<br />

schauen fern. Es nieselt. Dünne Regenfäden hängen wie ein<br />

Vorhang vor der Straßenzeile. Aus den Häusergiebeln ragen historische<br />

Schilder, die zeigen, wer früher in den Häusern wohnte<br />

und arbeitete. Damals, als der Ort noch eine reiche Stadt mit<br />

Meerzugang war. Der Stolz von damals ist geblieben. Die Häuser<br />

sind gepflegt. Die Eingänge liebevoll dekoriert.<br />

Kein Mensch ist auf der Straße. Dennoch ist man hier nicht<br />

allein. Hier passiert nicht viel. Aber das, was passiert, wird ganz<br />

genau wahrgenommen.<br />

HIER IN NEUSTADTGÖDENS<br />

KOMMT KEINER WEG.<br />

HIER KENNT<br />

JEDER<br />

JEDEN.<br />

WENN DU AUS DEM<br />

ERKERFENSTER IM<br />

WOHNZIMMER<br />

SIEHST, KANNST DU ÜBRIGENS<br />

3 2 A Z U R G R A U<br />

Regine Kölpin setzt Tee auf. Eine Ostfriesenmischung. Die<br />

ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Oberhausen –<br />

für eine Ruhrpott-Identität viel zu kurz. Danach zog sie in die<br />

friesische Idylle, zunächst nach Jever, dann nach Neustadtgödens.<br />

Seit 20 Jahren lebt sie hier. Für die Einheimischen bleibt sie eine<br />

Zugezogene.<br />

Kölpin setzt sich an den Tisch und lässt zwei Stück Kluntje<br />

in ihre Teetasse fallen. Ihr Haar umrandet akkurat geföhnt ihr<br />

Gesicht, ihre Stimme ist klar nordisch gefärbt, ihr Blick wachsam<br />

und neugierig. Sie beobachtet ihr Gegenüber genau. Kölpin<br />

ist Krimiautorin. „Spinnentanz“, ihr zweiter Roman, ist gerade<br />

im Leda-Verlag erschienen. Ihre Geschichten spielen in<br />

Ostfriesland, ihre Protagonisten sind die Einheimischen.<br />

„Ich glaube, dass die meisten schon sehr viel voneinander<br />

wissen, man lebt hier in einem sehr beschaulichen Raum sehr<br />

intim miteinander“, sagt Kölpin und nimmt einen Schluck Tee.<br />

Genau diese Nähe der Menschen greift sie in ihren Büchern auf,<br />

stets auf der Suche nach Geheimnissen, die hinter der Häuserfassade<br />

versteckt liegen. „Die Abgründe der menschlichen Seele<br />

machen vor den Toren Frieslands nicht halt, und so macht es<br />

mir Spaß zu gucken, was man hinter der heilen Welt hier finden<br />

kann“, sagt Kölpin. Die Handlungen ihrer Mordgeschichten<br />

sind eigentlich undenkbar in der ostfriesischen Idylle, in der<br />

laut Verbrechensstatistik Morde sehr selten passieren. Kölpin<br />

erzählt von einem Mord im Altersheim, von dem Tod einer<br />

Pflegerin und Leichen im Meer. Gerade die Enge der<br />

Dorfgemeinschaft greift sie auf und entwirft die Charaktere so<br />

detailgenau, dass sie erschreckend realistisch wirken.<br />

Der Regen prasselt leicht gegen die Fenster. Beim Blick nach<br />

draußen bekommt man eine Ahnung von den unendlichen<br />

Weiten des Meeres. Der frische Seewind verrät, dass der Deich<br />

bereits im Nachbarort beginnt.<br />

IN EURE KÜCHE GUCKEN. FOTO:<br />

ANNE-KATHRIN KELLER


DIE STILLE ÜBER DEM<br />

DEICHVORLAND<br />

HATTE MIT EINEM MAL<br />

NICHT MEHR DEN<br />

BERUHIGENDEN<br />

CHARAKTER,<br />

DIE SIE SONST WIEDER UND<br />

WIEDER HIERHER ZOG. KEIN<br />

SCHAF<br />

DURCHSCHNITT DIE ABENDLUFT MIT<br />

SEINEM BLÖKEN,<br />

DER DEICH<br />

ENDETE<br />

VERWAIST IM WEISSEN NICHTS.<br />

Seit Generationen ranken sich Mythen und Legenden um<br />

Küste und Meer. Sie erzählen von verunglückten Seeleuten, vermissten<br />

Personen und Geistern. Regine Kölpin gehört einer neuen<br />

Generation von Sagenerzählern an. Die Bilder, die sie verarbeitet,<br />

sind die gleichen wie damals. Nebel, Wind und die unendliche<br />

Weite der Region kreieren eine geheimnisvolle, gespenstische<br />

Stimmung.<br />

HARM NÄHERTE SICH DEM PRIEL<br />

VORSICHTIG.<br />

IM WIND FLATTERTE DER ZIPFEL<br />

EINES ROTEN TUCHES. EIN<br />

GUMMISTIEFEL LAG ABSEITS<br />

IM GRAS<br />

UND ZWISCHEN DEN<br />

GRASHALMEN LEUCHTETE<br />

EIN GELBER SCHAL.<br />

ER TRAT EINEN<br />

SCHRITT<br />

NÄHER.<br />

Der tote Körper einer Frau liegt in den Salzwiesen. Sie wurde<br />

brutal ermordet – jedenfalls in Kölpins Phantasie. „Wenn ich<br />

hier sitze, lasse ich die Geschichten vor meinem Auge abspielen“,<br />

sagt Kölpin mit Blick auf das Meer. „Natur und Handlung<br />

gehören da zusammen, die Landschaft lädt dazu ein, schaurige<br />

Handlungen zu entwerfen.“<br />

Die Helden sind nicht mehr Störtebeker und Geister, sondern<br />

die Ostfriesen selbst. Die Psychologie der Personen ist das<br />

eine wichtige Element der Ostfriesenkrimis, das andere ist die<br />

Natur. Kölpin erzählt Geschichten, die nur hier in Ostfriesland<br />

spielen können. „Wir haben hier eine raue Landschaft und häufig<br />

auch ein raues Klima. Das typische Badeklischee haben wir<br />

wirklich nur im Sommer.“ Kölpin wählt bewusst Orte, die es<br />

nur in Friesland gibt, wie die Salzwiese, der Tatort einer ihrer<br />

Geschichten. „Mit dieser einmaligen Landschaft kann man spielen.<br />

Wenn hier der Nebel rüberzieht, ist es sehr einsam hier, und<br />

da kann man dann wunderbar morden“, sagt Kölpin.<br />

Ihre Schritte schmatzen über den durchweichten Boden der<br />

Salzwiesen. Die Sonne ist herausgekommen und lässt die<br />

Stimmung zur Sommerzeit erahnen. Dann, wenn hier alles blüht<br />

und Schafe auf den Deichen weiden. Bei Sonnenschein wirkt<br />

alles ganz anders. Vorbeikommende Menschen grüßen. Man<br />

blickt in freundliche Gesichter.<br />

DAS ROT DER SONNE WAR<br />

VON DER DÄMMERUNG<br />

ABGELÖST WORDEN.<br />

DIESES DORF<br />

SCHIEN MIT DER SONNE<br />

SCHLAFEN ZU GEHEN. ES<br />

WAR NOCH NICHT MAL<br />

RICHTIG DUNKEL<br />

UND DOCH HATTE DIE<br />

NÄCHTLICHE<br />

SCHWERMUT<br />

SICH ÜBER DIE HÄUSER<br />

GELEGT UND DAS LEISE<br />

SUMMEN DER NICHT WEIT<br />

ENTFERNTEN BUNDES-<br />

STRASSE WIRKTE WIE EIN<br />

SCHLAFGESANG.<br />

Als er am Dorfausgangsschild vorbeifährt, erzählt ein<br />

Taxifahrer vom Leben an der Küste. „Hier ist nichts los, gar<br />

nichts. Es bekäme ja eh jeder mit, wenn man etwas Verbotenes<br />

macht.“ Die Aussage soll beruhigen. Hier ist man nicht allein.<br />

Sicherheit strahlen seine Worte dennoch nicht aus.<br />

Anne-Kathrin Keller<br />

A Z U R G R A U 3 3


Südstrand, Deichbrücke, Leuchtturmstraße.<br />

Busfahrer Jürgen Altmann kennt sie alle, die<br />

Haltestellen in der Nordseestadt Wilhelmshaven.<br />

Seit Kurzem hat er einen neuen Halt:<br />

„JadeWeserPort“. Eine Großbaustelle am Meer,<br />

die zum größten Tiefseewasserhafen Deutschlands<br />

wird. Vor ein paar Monaten wurde die Linie 6 um eine<br />

Haltestelle verlängert. Stündlich fahren Busfahrer Altmann und<br />

seine Kollegen aus der Stadt in die Industriezone an der Küste.<br />

Nach den Haltestellen an Rathaus und Börsenplatz kommen die<br />

Wohnsiedlungen, irgendwann nur noch Straßen und Wiesen,<br />

und dann sind schon in der Ferne gelbe Baukräne und Schornsteine<br />

zu sehen. Hier soll Wilhelmshavens neue Touristenattraktion,<br />

ein riesiger Containerhafen, entstehen. Schon die<br />

Baustelle ist ein Ausflugsziel.<br />

3 4 A Z U R G R A U<br />

Statt Strand<br />

In Wilhelmshaven entsteht der einzige Tiefwasserhafen<br />

Deutschlands. Wo früher Strand war, stehen jetzt Bagger, Kräne und<br />

Bauzaun. Die Großbaustelle und der Containerhafen sollen<br />

Touristen begeistern. Natur ist woanders<br />

Ferien auf der Großbaustelle! Der neue Hafen wird als Touristenattraktion vermarktet – obwohl er noch nicht einmal fertig ist<br />

„Am Wochenende ist hier sehr viel los am JadeWeserPort,<br />

er ist ein Anziehungspunkt“, sagt Busfahrer Altmann, der schon<br />

seit 21 Jahren hinter dem großen Lenkrad in den Stadtbussen<br />

sitzt. Wer am JadeWeserPort aussteigt, steht auf einem großen<br />

Parkplatz, rings herum ein weites Nichts. Eine Treppe führt zu<br />

einem grauen Kasten, der Jade-Weser-Infobox. Über dem<br />

Eingang steht: „Container verbinden Menschen“. Direkt hinter<br />

der Infobox beginnt der Bauzaun, weiter geht es nicht. Hinter<br />

dem Zaun ist die riesige Baustelle – Sand, Bagger, Kräne und<br />

Wasser, soweit das Auge reicht. In zwei Jahren sollen an dieser<br />

Stelle riesige Containerschiffe liegen, die so groß sind, dass sie<br />

sonst nirgendwo in Deutschland anlegen können.<br />

Ein rot-weißer Leuchtturm steht einsam vor der Baustelle.<br />

Er ist das Einzige, was an dieser Nordseeküste noch an Strandkörbe,<br />

Möwengeschrei und frische Luft erinnert. Die Natur er-<br />

FOTO: HEIDI BEHA / ROLF VAN MELIS / PIXELIO


leben müssen Touristen woanders. Wilhelmshaven<br />

setzt auf das Großprojekt<br />

JadeWeserPort. Gunda Ufkes, Leiterin der<br />

Wilhelmshaven Touristik & Freizeit, hofft<br />

durch den Mega-Hafen auf mehr<br />

Touristen: „Industrietourismus hat in den<br />

letzten Jahren sehr zugenommen und<br />

viele Städte setzen darauf“, sagt sie. Die<br />

Gäste seien auf große Dimensionen fixiert,<br />

große Häfen und die riesigen Containerschiffe<br />

würden sicher faszinieren.<br />

Auch die Bauarbeiten locken schon viele<br />

Menschen an. Dort sehen sie hinter<br />

dem Bauzaun gerade die Aufspülarbeiten.<br />

Dabei befördern Schneidkopfsaugbagger<br />

Sand von sogenannten Entnahmebereichen<br />

auf die zukünftige Ha-<br />

HAFEN IN ZAHLEN<br />

fenfläche. Außerdem sind vier Rammeinheiten im Einsatz, die<br />

Tragbohlen in das Wattenmeer rammen. Zu hören ist ein rhythmisches,<br />

metallisch dumpfes Knallen. Zu sehen gibt es wenig.<br />

Ufkes erzählt, dass nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische<br />

die Baustelle besuchen, um zu beobachten, „wie sich<br />

das Gebiet vom Naherholungsgebiet zum größten Tiefseewasserhafen<br />

entwickelt.“ Naherholungsgebiet, das war der<br />

Sandstrand Geniusbank, der dem Hafenbau zum Opfer fiel. Wo<br />

früher Sandburgen mit Kinderschaufeln gebaut wurden, stehen<br />

jetzt die Infobox und Bagger, die nicht aus Plastik sind.<br />

Busfahrer Altmann findet es zwar schade, dass Wilhelmshaven<br />

jetzt keinen Sandstrand mehr hat, schlimm sei das aber nicht.<br />

Dafür gebe es in den umliegenden Ortschaften noch schöne<br />

Strände. Die meisten sind hier froh über den neuen Hafen oder<br />

haben zumindest nicht protestiert – bei rund 82.000 Einwohnern<br />

hat die Bürgerinitiative Antiport nur etwa 300 Mitglieder.<br />

Hans Freese, Ur-Wilhelmshavener, ist einer der Mitbegründer<br />

der kleinen Gegner-Gruppe und trauert um den Geniusstrand.<br />

Der neue Hafen sei unnötig, es gebe bereits große Häfen in Hamburg<br />

und Bremerhaven. Der Strand sei somit ohne Grund zerstört<br />

worden und war vorher ein wichtiger Ort für Touristen<br />

und Einheimische. Die Camper, die vorher auf dem Campingplatz<br />

neben dem Geniusstrand Urlaub machten, sind für die<br />

Region für immer verloren. „Außerdem hatte der Strand auch<br />

noch einen erheblichen Wert für die Menschen aus den umliegenden<br />

Vierteln.“ Er war mit dem Fahrrad erreichbar, kostenlos<br />

und schön zum Baden. Axel Kluth, Geschäftsführer der<br />

JadeWeserPort Realisierungsgesellschaft, sieht das anders: „Wir<br />

hatten einen Strand, der mitten in der Industriefläche lag. Da<br />

kann man überlegen, ob man das als Tourismusattraktion verkaufen<br />

kann.“<br />

Der Strand ist jetzt dem Hafen gewichen, und der jedenfalls<br />

soll ein Touristenmagnet werden. Wilhelmshaven setze sowieso<br />

nicht auf Naturtourismus, sagt Gunda Ufkes von der Touristik-<br />

Gesellschaft. „Wilhelmshaven ist ein rein städtetouristisches<br />

Ziel und für Touristen aus der ostfriesischen Halbinsel als<br />

Tagesausflugsziel interessant, weil es Gegensätze zum Strand-<br />

Der JadeWeserPort wird Deutschlands<br />

einziger Tiefwasserhafen für die größten<br />

Schiffe der Welt. Diese sind bis zu<br />

430 Metern lang und reichen bis zu<br />

16,50 Metern ins Wasser. Auf so ein<br />

Schiff passen 8.000 Container.<br />

KOSTEN: ca. 950 Mio. Euro<br />

FINANZIERUNG: JadeWeserPort Realisierungsgesellschaft<br />

(Betreiber Eurogate), Land<br />

Niedersachsen, freie Hansestadt Bremen,<br />

Fremdkapital<br />

BAUBEGINN: 2008<br />

INBETRIEBNAHME: Oktober 2011<br />

FERTIGSTELLUNG: Dezember 2012<br />

FLÄCHE: 290 Hektar<br />

WASSERTIEFE IM TERMINAL: 18 Meter<br />

KAJENLÄNGE: 1.725 Meter<br />

LIEGEPLÄTZE: 4<br />

CONTAINERBRÜCKEN: 16<br />

JAHRESUMSCHLAGSKAPAZITÄT:<br />

2,7 Millionen Container<br />

Lebenswandel<br />

urlaub bietet.“ Der Ausflug zur Baustelle<br />

und zum späteren Hafen wird integriert<br />

ins Touristen-Tages-Programm zwischen<br />

Shopping in der Nordsee-Passage und<br />

dem Besuch im Küstenmuseum. Die<br />

Touristik-Gesellschaft wirbt auf ihrer<br />

Homepage mit dem „Freizeitangebot einer<br />

Metropole“. Wer die Nordseepassage<br />

am Bahnhof besucht, der nur von Regionalzügen<br />

angefahren wird, findet dort<br />

zum Beispiel einen C&A, die Billigkette<br />

Schuhpark und ein Fisch-Bistro. Zwei<br />

Mädchen in Röhrenjeans und Chucks,<br />

die sonntags am Oceanis-Museum vorbeilaufen,<br />

fällt als Highlight der Stadt<br />

die Theaterbar und der Spaziergang am<br />

Strand ein. Den Sand unter den Füßen<br />

gibt es aber nur noch woanders: „Naturtourismus findet man<br />

direkt im umliegenden Friesland“, sagt Ufkes.<br />

Doch auch im Umland kann der ruhesuchende Naturtourist<br />

dem neuen Mega-Port nicht entgehen: „Man wird den Hafen,<br />

wenn er in Betrieb ist, bis Wangerooge runter sehen, drüben in<br />

Budjadingen“, sagt Hafen-Gegner Hans Freese. Der Himmel<br />

hell erleuchtet von den großen Strahlern, die Luft erfüllt von<br />

Abgasen, die Abendstille durchdrungen von Maschinengeräuschen,<br />

das ist sein Szenario. Seine Bürgerinitiative hat gegen<br />

den Hafen geklagt, ihn zwar nicht verhindert, aber einige Kompromisse<br />

für den Naturschutz ausgehandelt. Freese, früher<br />

Marine-Berufssoldat und heute Rentner, glaubt, dass die Stadt<br />

auf das falsche Pferd gesetzt hat: „Man hat den Tourismus sträflich<br />

vernachlässigt.“ Industrie sei immer als die einzige Perspektive<br />

hingestellt worden, laut Freese „eine völlig einseitige Betrachtungsweise<br />

der Gegend und der Möglichkeiten.“ Kurzfristig gedacht,<br />

sagt er. Das Kapital der Landschaft Nordseeküste verspielt.<br />

Unwiderruflich.<br />

Eine große Mehrheit der Bevölkerung sieht im Hafen aber<br />

tatsächlich eine große Chance für die Region. Die versprochenen<br />

Arbeitsplätze sind fast ein Totschlag-Argument bei einer<br />

Arbeitslosenquote von fast 14 Prozent und der ständigen<br />

Abwanderung von jungen Leuten. Hafenbauer Axel Kluth<br />

spricht von circa 1.000 Arbeitsplätzen direkt an der Kaje und<br />

weiteren 1.000 hafenabhängigen Jobs. Hafengegner Hans Freese<br />

glaubt, dass an der Kaje, wo die Schiffe be- und entladen werden,<br />

höchstens 100 bis 200 neue Arbeitsplätze entstehen.<br />

Busfahrer Jürgen Altmann denkt, dass vielleicht auch ein<br />

Arbeitsplatz für seine 19-jährige Tochter dabei ist. Sie macht gerade<br />

eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Vielleicht ist sie<br />

dann auch mit Linie 6 zum Arbeitsplatz unterwegs. Erstmal<br />

fährt Altmann weiter die Neugierigen zur Baustelle. Auch die<br />

Touristik-Gesellschaft bietet schon jetzt Bustouren zu den<br />

Hafenanlagen an. Auf dem Flyer ist ein älteres Ehepaar zu sehen,<br />

das mit Windjacken, Fernrohr und einem kleinen Körbchen<br />

auf roten Backsteinen am Ufer sitzt und ein voll beladenes<br />

Containerschiff vorbeiziehen sieht. Sandra Petersen<br />

A Z U R G R A U 3 5


Lebenswandel<br />

Das Messer rutscht zwischen den Austernschalen<br />

hin und her, mit einem Klack bricht André<br />

Stolle die beiden Muschelhälften auseinander.<br />

Der Gourmet-Koch ist überrascht von der Größe der wilden<br />

Austern, die aus dem Tidenbereich des Wattenmeers stammen.<br />

Stolle riecht an der Auster, tastet das Austernfleisch ab.<br />

Seine Augen leuchten, er freut sich: „Die kann man servieren!“<br />

Die Pazifische Auster auf dem Tisch des Gourmet-Kochs gehört,<br />

wie der Name sagt, eigentlich nicht ins niedersächsische<br />

Wattenmeer, sondern in den Pazifik. An die Nordsee kam sie<br />

mit Hilfe des Menschen: Auf der Suche nach einem Ersatz für<br />

die durch Überfischung im Wattenmeer kaum mehr anzutreffende<br />

Europäische Auster begann man an der niederländischen<br />

Nordseeküste, die Pazifische Auster zu züchten. Mit der Strömung<br />

kamen die Austernlarven aus den Niederlanden in den<br />

Jadebusen – und entwickelten sich<br />

dort prächtig. Im Watt gibt es keine<br />

Nahrungsfeinde für sie, sie ste-<br />

hen nur in Konkurrenz zu den Miesmuscheln,<br />

die wie die Austern das<br />

Plankton aus dem Wasser filtern.<br />

Sehr zum Missfallen der Miesmuschel-Fischer,<br />

die die Austern für<br />

das Verschwinden der Miesmuschelbänke<br />

verantwortlich machen.<br />

Doch längst nicht alle Wilhelmshavener<br />

schimpfen über die Auster.<br />

Für Feinschmecker ist sie eine alte<br />

3 6 A Z U R G R A U<br />

DIE ENTDECKUNG DER AUSTER<br />

WILHELMSHAVENER<br />

ROYAL<br />

VOM PAZIFIK INS WATT – DIE PAZIFISCHE<br />

AUSTER HAT SICH PRÄCHTIG EIN-<br />

GELEBT. EIN GOURMET-KOCH UND EIN<br />

JUWELIER AUS<br />

WILHELMSHAVEN<br />

SIND DEN REIZEN DES<br />

TIERISCHEN<br />

EINWANDERERS<br />

ERLEGEN<br />

Juwelier Clemens Stuke mag Austern – am liebesten mit Perlen und Gold<br />

Bekannte aus der französischen Küche, die jetzt eben auch<br />

vor der Tür gedeiht. Und ein Gourmet-Koch und ein<br />

Juwelier wollen mit der Pazifischen Auster in Wilhelmshaven<br />

jetzt auch Geld verdienen.<br />

Wie die Pazifische Auster ist auch André Stolle neu hier.<br />

Ein Reeder machte ihn zum Küchenchef seines Hotels, das er<br />

für 28 Millionen Euro in die Stadt am Jadebusen setzte. Der 33jährige<br />

Koch gehört zu den aufstrebenden jungen Spitzenköchen,<br />

er wurde schon zweimal mit dem Michelin-Stern ausgezeichnet,<br />

dem Oscar für Köche. Das soll ihm hier jetzt wieder gelingen.<br />

Stolles Erfolgsrezept ist eine Kombination aus regionaler<br />

und französischer Küche – „neue norddeutsche Küche légère“<br />

nennt er sie. Die Pazifische Auster, die vor allem in Frankreich<br />

als Delikatesse gilt, passt gut in sein Konzept: „Ich würde meinen<br />

Gästen gerne Austern aus Wilhelmshaven anbieten.“<br />

SO GEHT’S: AUSTERN ERNTEN<br />

„Die Austern wachsen eigentlich überall im Tidenbereich an der Steinpackung<br />

des Deichs, doch ein echter Austern-Hotspot ist die Mündung des Maadesiels<br />

beim Kraftwerk. Für die Ernte braucht man nicht mehr als feste Gummistiefel,<br />

Niedrigwasser, einen großen Schraubendreher und einen Eimer – dann kann`s<br />

losgehen. Für den kleinen Imbiss zwischendurch sollte man ein kleines feststellbares<br />

Taschenmesser zum Öffnen der Austern nicht vergessen! Von Größe<br />

5 bis Größe 1 ist hier alles zu finden.“ Markus Nolte, Freizeit-Gourmet<br />

FOTOS: JANOS BURGHARDT


Sternekoch André Stolle probiert wilde Austern aus Wilhelmshaven. Bisher kannte er nur die Verwandten aus Sylt<br />

Doch noch kann er die regionale Auster nicht auf die Karte<br />

setzen, denn die wilden Austernvorkommen klumpen betonfest<br />

zusammen. „Die Austern müssten mir in ausreichender<br />

Menge, guter Qualität und zu einem vernünftigen Preis angeboten<br />

werden“, sagt Stolle. Das ist nur möglich, wenn man sie,<br />

wie auf Sylt, anbaut. Dort werden seit 1986 die „Sylter Royal“<br />

von Dittmeyer vertrieben. Die „Austern Compagnie“ der für ihren<br />

Orangensaft bekannten Firma Dittmeyer fängt die<br />

Austernlarven auf und zieht sie in Gittersäcken in der Nordsee<br />

groß, so wachsen gastronomiegerecht einzelne Austern auf.<br />

Doch die Sylter Austern sind zu teuer, um sie als regionales<br />

Produkt an der Nordsee zu etablieren. In Wilhelmshaven stehen<br />

Austern daher auf keiner Speisekarte, es gibt sie nur auf<br />

Vorbestellung. Das könnte sich ändern, wenn es eine günstigere<br />

„Wilhelmshavener Royal“ gäbe.<br />

Nicht angewiesen auf die Küchen-Auster ist der Wilhelmshavener<br />

Juwelier Clemens Stuke, der auch mit den wilden<br />

Austern etwas anfangen kann. „Wie ein Maler sich durch seine<br />

Umgebung inspirieren lässt, greife ich gerne Materialien aus<br />

der Region auf,“ sagt Stuke. Wo sonst Edelsteine und Gold liegen,<br />

steht eine Schale mit frischen Austern auf dem Verkaufstresen.<br />

Der gelernte Goldschmied will die Meerestiere zu<br />

Schmuck verarbeiten.<br />

Stuke hält eine Auster in der Hand, die noch nass vom<br />

Meerwasser ist. „Mir gefällt die unregelmäßige Struktur der<br />

weiß-violetten Schalen“, sagt er und trocknet die Austern. Er<br />

wählt eine kleine Auster aus, die eine besonders poröse<br />

Oberfläche hat, und geht zu seiner Werkbank. Stuke legt einen<br />

grünen und roten Stein auf die Auster, entscheidet sich aber für<br />

eine Perle, die er auf die Austernschale setzen möchte. Stuke<br />

sägt die Auster rund aus, bohrt ein Loch hinein, erkundet das<br />

Material. „Die Schalenstruktur ist sehr unterschiedlich, aber<br />

man kann sie gut verarbeiten.“ Um die runden Austernstücke<br />

in seiner Hand legt der Juwelier eine Goldfassung. Es entstehen<br />

goldene Ohrringe mit Perlen auf den Austernschalen aus der<br />

Region. Ein echter Hingucker in der Vitrine des Juweliers.<br />

Die Feinschmecker in der Stadt schauen die Delikatesse in<br />

der Nordsee schon längst nicht mehr nur an. Früher fischte<br />

Markus Nolte, Kapitän bei der Marine, gerne Garnelen und sammelte<br />

Miesmuscheln und Herzmuscheln – jetzt erntet er eben<br />

auch Austern. Mit einem Eimer und einem Schraubenzieher<br />

ausgerüstet geht er so auf die Feinschmecker-Tour ins Watt. Am<br />

Kraftwerk findet er immer besonders viele Austern, was wohl<br />

am warmen Abwasser liegt. Doch an den Durchmarsch in die<br />

Küchen der Region glaubt Nolte, der mit einer Französin verheiratet<br />

ist, noch nicht: „Die Deutschen sind eben eher ein Volk<br />

der Fischstäbchenesser statt Austerngenießer.“<br />

Damit sich die Austern im Wattenmeer wirtschaftlich nutzen<br />

lassen, müssten sie durch die Aufzucht erschlossen werden.<br />

Solange sich in Wilhelmshaven niemand der Austernzucht annimmt,<br />

bleibt den Feinschmeckern, Köchen und Juwelieren<br />

nichts anderes, als mit einem Schraubenzieher loszuziehen und<br />

wilde Watt-Austern zu ernten. Belohnt werden sie mit einem<br />

salzigen Schluck aus der Schale. Janos Burghardt<br />

DREI FRAGEN AN<br />

DR. ACHIM WEHRMANN, WISSENSCHAFTLER<br />

AM SENCKENBERG-INSTITUT IN WILHELMSHAVEN<br />

WARUM GIBT ES DIE PAZIFISCHE AUSTER IM WATT?<br />

Die Pazifische Auster ist auf natürlichem Weg eingewandert.<br />

Sie wurde in Oosterschelde in den Niederlanden für die<br />

Austernzucht in Aquakulturen eingeführt, hat sich dort aber<br />

unkontrolliert vermehrt. In der Umgebung der Aquakulturen<br />

hat die Pazifische Auster Wildpopulationen aufgebaut, die<br />

sich über die Meeresströmung verbreitet haben.<br />

WELCHE PROBLEME BRINGT DIE AUSTER?<br />

Es bestand zunächst die Befürchtung, dass die Miesmuscheln<br />

möglicherweise durch die Pazifische Auster verdrängt<br />

werden, da sich die Austern auf den Miesmuschelbänken<br />

festgesetzt haben. Doch ganz im Gegenteil: Die<br />

Austernbänke sind sogar nützlich für die Miesmuscheln, da<br />

sie ihnen Schutz vor den Vögeln bieten.<br />

KANN MAN DIE WILDEN AUSTERN DENN ESSEN?<br />

Eine Gefahr kann das Plankton sein, die Nahrung der<br />

Austern, da diese Algen zum Teil giftig sind. Die darin enthaltene<br />

Toxine werden von allen Organismen aufgenommen,<br />

die das Wasser zur Nahrungsaufnahme filtrieren – zum<br />

Beispiel Herzmuscheln, Miesmuscheln und eben Austern, die<br />

das Gift im Fleisch anlagern können. Während Miesmuscheln<br />

entsprechend überwacht werden, gibt es ein eigenes lebensmitteltechnisches<br />

Monitoring bei den Austern noch nicht.<br />

A Z U R G R A U 3 7


Lebenswandel<br />

Friesland mal anders. Statt<br />

Teezeit, Meer und Ferienhäusern<br />

hat Hohenkirchen Kaffeeautomaten,<br />

einen künstlichen<br />

See und Einheitshotels<br />

1.600EINWOHNER<br />

19.000TOURISTEN<br />

70.000GEPLANTE ÜBERNACHTUNGEN 2009<br />

Das „Dorf Wangerland“ von oben: Auch die graue Fläche wird noch zum See


FOTOS: GEMEINDE WANGERLAND (1) / DORF WANGERLAND (4)<br />

Dick knallen einem die weißen Buchstaben auf rotem<br />

Grund entgegen: „KiK“ steht auf mehreren Fahnen an<br />

der Straße. Daneben der Lebensmitteldiscounter „Aldi“,<br />

eine kleine Verbindungsstraße trennt den Markt von „Lidl“. Es<br />

sieht aus wie in vielen Orten. Die Märkte liegen etwas außerhalb<br />

des Dorfkerns, doch hier in Hohenkirchen in der Gemeinde<br />

Wangerland ist genau dieses Gebiet außerhalb des Dorfkerns<br />

ein Ferienparadies. Gegenüber den Discountern liegt das „Dorf<br />

Wangerland“ – eine Clubwelt, die vor allem junge Familien anlocken<br />

will.<br />

Hier sind Billigläden nicht nötig. In der Anlage wird man<br />

rundum versorgt. Das Zentrum bildet ein Restaurant. An der<br />

Wand hängen Sockel, auf denen glitzernde Porzellanelefanten<br />

thronen. Überall stehen Automaten für Kaffee oder Cola, und<br />

es ist reichlich Platz fürs Buffet. Hier heißt es zuschlagen,<br />

vorausgesetzt, man hat ein Bändchen am Arm und<br />

kann sich so als „Clubmitglied“ ausweisen.<br />

Urlaub in Friesland, das sind: Krabbenbrötchen,<br />

Leuchttürme und Meer. In Hohenkirchen ist das anders.<br />

Hier gibt es Kasernengebäude, ein Fonduerestaurant<br />

und statt des offenen Meeres einen See. Das<br />

Konzept des Clubs ist einfach: ein Preis, alles drin.<br />

Bereits in der ersten Saison gab es 45.000 Übernachtungen.<br />

Dass es soweit kam, ist vor allem einem zu verdanken:<br />

„Niemand sah die enorme Chance“, sagt<br />

Altbürgermeister Joachim Gramberger aus der Gemeinde<br />

Wangerland. Niemand, außer ihm. „Was hier entstanden<br />

ist, ist etwas Einmaliges zwischen Ems und<br />

Weser“, sagt er über das Projekt.<br />

Kegeln, Billard oder Kino, wann immer man will.<br />

Der Park biete alles, was man sich vorstellen kann, meint<br />

Gramberger, als sei es sein Konzept, das er verkaufen<br />

muss. Auch den Einfallsreichtum des niederländischen<br />

Betreibers verteidigt er. Neben der Kneipe gibt es eine<br />

Ruhezone, entstanden aus einem ausgedienten<br />

Orientexpress. Ein Raum weiter ein Pub, wie man ihn<br />

in London sieht, in einer anderen Ecke eine Bibliothek<br />

mit zugestaubten Büchern. Der Club hat Mitarbeiter,<br />

die weltweit genau nach solchen Stücken suchen, um<br />

sie im Park wieder zu neuem Leben zu erwecken. „Man<br />

muss es ja nicht alles direkt lieben, aber es ist einfach<br />

interessant“, meint Gramberger.<br />

Die Hotelgebäude stehen in einer Reihe am Wasser, eine<br />

Halle mit einer überdachten Kirmes liegt gegenüber. Vor dem<br />

Fonduerestaurant, das etwas abseits ist, stehen nachgebildete<br />

alte Fässer und große Blumenkrüge. Der ganze Club wirkt wie<br />

eine Kulisse, die für einen Hollywoodfilm dienen könnte. Was<br />

für ein Film das wäre, ist aber nicht klar. Links sieht es aus wie<br />

für einen Western gemacht, weiter hinten könnte es auch ein<br />

Kinderfilm werden.<br />

Was heute Hotel ist, war früher Kaserne: 2003 sind hier die<br />

letzten Soldaten abgezogen. Über 30 Jahre waren sie Teil der<br />

Gemeinde, waren Mitglieder in Ortsvereinen, sie gehörten dazu:<br />

„Nach 16 Uhr war hier im Ort die Hölle los“, erinnert sich der<br />

heutige Bürgermeister Harald Hinrichs. Wenn in der Kaserne<br />

Dienstschluss war, gingen die Soldaten einkaufen, bereicherten<br />

durch ihre Anwesenheit das Dorfbild und brachten auch das<br />

Geld in die Kassen.<br />

„Es galt, die Wirtschaftskraft, die zuvor von der Kaserne ausging,<br />

schnellstmöglich wieder herzustellen, um Hohenkirchen<br />

zukunftssicher zu machen“, sagt Gramberger. Viele Ideen waren<br />

schon gescheitert: ein Wohnpark, ein Industriegebiet. Für<br />

Gramberger war klar, es würde schwierig werden, aber unter<br />

keinen Umständen sollte das Gelände einfach verwildern.<br />

Zeitgleich wurde für einen neuen Deich in der Nähe Klei gesucht,<br />

der Boden, aus dem sie hier in Friesland seit Jahrhunderten<br />

Deiche bauen – genau hinter der Kaserne gab es reichlich davon.<br />

Es würde allerdings ein riesiges Loch geben. Ein Baggersee?<br />

Das wär’s. Die ehemalige Kaserne würde enorm aufgewertet,<br />

war Gramberger überzeugt.<br />

Aus der Bevölkerung bekam er Gegenwind. Niemand mochte<br />

so recht verstehen, wieso man nach hunderten Jahren, in denen<br />

man versucht hatte, das Wasser vor den Deichen zu halten,<br />

nun freiwillig das Wasser zu sich holen wollte.<br />

Die Lösung für das Problem wurde eingeflogen:<br />

Im Sommer 2003 landete der<br />

Niederländer Hennie van de Most mit seinem<br />

Hubschrauber auf dem Sportplatz von<br />

Hohenkirchen. Er hatte bereits 18 Parks und<br />

Clubanlagen in den Niederlanden und<br />

Deutschland und konnte sich auch in Hohenkirchen<br />

eine Anlage vorstellen. Ein spannender<br />

Augenblick für Gramberger. Er wusste:<br />

Van de Most ist entweder begeistert, oder<br />

man hat eh keine Chance. Gramberger erinnert<br />

sich, dass der Niederländer mit hängenden<br />

Schultern ausstieg und irgendetwas<br />

murmelte. Gramberger sah seine Chancen<br />

schwinden. Doch auf einmal änderte sich<br />

die Stimmung. Wie wild malte van de Most<br />

auf dem Boden und demonstrierte mit<br />

Steinen, was er vorhat. Gramberger hatte es<br />

also geschafft. Trotzdem war man im Ort zurückhaltend.<br />

Anbieter von Fremdenzimmern<br />

sahen Konkurrenz, und auch die<br />

Handwerker fühlten sich bedroht.<br />

Hört man sich heute im Dorf um, trifft<br />

man auf Zustimmung. Kurz hinter der<br />

Kirche, rund 800 Meter vom „Dorf Wangerland“<br />

entfernt, gibt es einen Bäcker. Er hat<br />

vor Kurzem sein Geschäft saniert und erweitert.<br />

Wo zuvor nur eine Theke war, gibt es nun auch Sitzplätze<br />

für Gäste, und auch hier scheint man vom „Dorf Wangerland“<br />

zu profitieren: „Wenn die Leute aus ihrem Ferien-Ghetto herauskommen,<br />

dann wollen sie auch das richtige Friesland kennen<br />

lernen“, sagt eine Bedienung. Die Inhaberin des Blumengeschäfts<br />

meint: „Mein Urlaub wäre es nicht, aber ich finde es<br />

schön, dass es das Dorf Wangerland jetzt gibt, auch wir selbst<br />

gehen dort öfter mit unseren Kindern hin.“ Ganz nebenbei hat<br />

der Park auch 45 feste Arbeitsplätze geschaffen. So gut wie jeder<br />

im Ort war schon mal dort. Schließlich gibt es da eine große<br />

Halle zum Feiern, so etwas hatte man vorher nicht.<br />

In Hohenkirchen selbst bröckelt an vielen Häusern der Putz,<br />

die Fensterläden sind heruntergelassen. Eine breite Straße führt<br />

mitten durch den Ort. Das soll sich ändern. Die Gemeinde gibt<br />

Geld für Arbeiten am eigenen Haus. Vielleicht wird es bald auch<br />

eine idyllische Postkarte aus Hohenkirchen geben. Die breite<br />

Straße, bisher den Autos vorbehalten, bekommt jetzt einen<br />

Gehweg. Ein Teil davon ist schon fertig – der vom echten Dorf<br />

ins „Dorf Wangerland“. Daniel Krawinkel<br />

„Man muss<br />

es ja nicht<br />

alles direkt<br />

lieben, aber<br />

es ist einfachinteressant“,<br />

sagt<br />

Gramberger.<br />

A Z U R G R A U 3 9


RÖMER IN<br />

SICHT<br />

Lebenswandel<br />

ARCHÄOLOGEN ERFORSCHEN<br />

DAS LEBEN DER GERMANEN<br />

IN FRIESLAND. DABEI HABEN<br />

SIE BEWEISE DAFÜR ENT-<br />

DECKT, DASS AUCH DIE RÖMER<br />

DAS LAND DURCHQUERTEN<br />

4 0 A Z U R G R A U<br />

Vorsichtig schabt ein Archäologe mit einem Spachtel die Erde<br />

zur Seite. Dann stockt er. Was auf den ersten Blick aussieht<br />

wie ein Stein, ist das Stück einer Jahrtausende alten Keramik.<br />

Sorgsam packt er die Scherbe in eine kleine Plastiktüte. Diese Szene<br />

könnte in Trier, Köln oder am Limes spielen, aber die Archäologen<br />

graben in Ostfriesland: Sie legen gerade die Überreste einer antiken<br />

Stadt frei. Der beschauliche Ferienort Sievern in Niedersachsen, sechs<br />

Kilometer im Hinterland der Nordsee, ist ein wichtiger Punkt auf der<br />

archäologischen Landkarte. Denn hier, zwischen Bremerhaven und Cuxhaven, befand sich vor zweitausend<br />

Jahren eine der wichtigsten Städte im Elbe-Weser-Dreieck. „Hier saß die Obrigkeit, von hier<br />

wurde das Leben in der Umgebung organisiert“, sagt der Archäologe Hauke Jöns,<br />

wissenschaftlicher Direktor des Niedersächsischen Instituts für historische<br />

Küstenforschung in Wilhelmshaven.<br />

Dort, wo früher einmal Germanen lebten, sind heute Felder, Windräder und<br />

einige Bauernhöfe. Ein Stück weiter, wo sich ein Feldweg durch die Landschaft<br />

zieht, rollten die Wellen der Nordsee auf das Land. Man hätte mit dem Boot herfahren<br />

können. In der Antike haben Meer und Flüsse hier einen fruchtbaren<br />

Küstenstreifen geschaffen: die Marsch. Ein natürlicher Deich aus Geröll und<br />

Erde schützt sie vor dem<br />

Wasser, doch in Prielen<br />

dringt das Meer auch bis<br />

hier vor. Die Marsch ist<br />

ein Eldorado für Archäologen.<br />

Denn der Boden enthält keinen Sauerstoff und<br />

konserviert so die Überreste. Ein Glücksfall für die<br />

Forscher, der erstaunliche Entdeckungen ermöglicht.<br />

„Ich denke immer gerne zurück an Forschungen, die<br />

zu einem völligen Verändern eines Weltbilds geführt<br />

haben. Das ist mir schon mehrmals gelungen“, sagt<br />

Hauke Jöns.<br />

Der Archäologe<br />

übertreibt nicht: Er<br />

und sein Team fanden bei Grabungen in Bentumersiel in der Nähe von Leer<br />

im vergangenen Jahr römische Münzen und Teile von Militärausrüstungen.<br />

Bis dahin zeugten nur römische Historiker vom Besuch der Römer in<br />

Ostfriesland. Es war im Jahr 12 vor Christus, als Drusus, der Stiefsohn des<br />

römischen Kaisers Augustus, mit seinen Schiffen erstmals in die Ems vordrang,<br />

schreibt Tacitus. Er erzählt von tausend Schiffen und etwa siebzigtausend<br />

Soldaten, die sich in den kleinen Fluss Ems zwängten. Etwa 40<br />

Kilometer lang könnte der Tross zu Land und zu Wasser gewesen sein.


Auch wenn bekannt ist, dass römische Geschichtsschreiber gerne<br />

übertreiben – die logistische Leistung der Römer muss beeindruckend<br />

gewesen sein.<br />

Und die Nieten, Schnallen und Schwertteile, die die Archäologen<br />

gefunden haben, beweisen nun auch wissenschaftlich, dass die<br />

Römer in diese Gebiete vordrangen.<br />

Erfolgreich waren die Römer mit ihren Feldzügen nicht. Und<br />

besonders reizvoll erschien ihnen das Land an der Nordsee nie. Der<br />

Geschichtsschreiber Plinius war selbst Soldat und hat das Land<br />

wahrscheinlich mit eigenen Augen gesehen. Für die Bewohner hat<br />

er nicht viel übrig und beschreibt mit römischer Arroganz „ein beklagenswertes<br />

Volk“: „Indem sie den mit den Händen gesammelten<br />

Schlamm mehr durch den Wind als durch die Sonne trocknen, machen sie mit<br />

Hilfe [dieser] Erdart ihre Speisen und ihre vom<br />

Nordwind erstarrten Eingeweide warm.“<br />

Was sich bei Plinius nach einem unterentwickelten<br />

Volk anhört, deckt sich nicht mit dem,<br />

was die Wissenschaftler nun finden. Aus den<br />

Ausgrabungen lässt sich auf eine entwickelte<br />

Gesellschaft schließen, die Vieh hielt, Ackerbau<br />

betrieb und auch Eisen verarbeitete.<br />

Die neue Ausgrabung in Sievern soll das Bild,<br />

das an vielen Stellen noch unklar ist, schärfer<br />

zeichnen. „Dieses Ensemble aus zwei Burgen,<br />

Landeplätzen, Bauerngehöften und Friedhöfen in<br />

einer Konzentration, wie wir es in Norddeutschland<br />

an keiner anderen Stelle haben, das ist eine besondere Forschungssituation,<br />

die wir ausnutzen wollen“, sagt Jöns.<br />

Der Archäologe steht in einer etwa einen halben Meter tiefen Grube.<br />

In dem Erdloch unter dem Mutterboden zeichnen sich dunkle<br />

Messen, graben, sieben:<br />

Verfärbungen auf dem Boden ab. Ein klarer Fall für Jöns: An dieser Stelle<br />

Im friesischen Sievern su-<br />

stand ein Haus. Die kräftigen Pfosten in der Mitte haben ein Dach gechen<br />

Archäologen um<br />

Hauke Jöns nach Spuren<br />

tragen, es gab genug Platz für Tiere und Menschen. Diese Gehöfte sind<br />

einer mehr als 2000 Jahre<br />

typisch für die germanischen Stämme, die hier gelebt haben.<br />

alten germanischen Stadt<br />

In einem Wald ganz in der Nähe sind noch heute runde Erdwälle von<br />

zwei Burganlagen zu sehen. Dort<br />

wurden bereits germanische Amulette<br />

aus Gold gefunden. Solche<br />

spektakulären Funde erwarten die<br />

Archäologen bei dieser Grabung<br />

nicht. Aber sie soll Antworten geben<br />

auf die vielen Fragen, die noch offen sind. Wie viele Menschen haben hier<br />

gelebt? Waren es mehr Bauern oder Händler und Handwerker? Es wurden bereits<br />

Ofenanlagen gefunden, die zeigen, dass hier Töpfer und Schmiede arbeiteten.<br />

Doch wie passen die Puzzelteile zusammen, fragt sich Hauke Jöns.<br />

Metallfunde haben er und seine Helfer noch nicht ans Tageslicht gefördert. Aber<br />

einige Keramikfunde lassen zumindest<br />

eine Datierung zu: Im<br />

ersten, zweiten und dritten Jahrhundert<br />

nach Christus gab es hier eine Siedlung.<br />

Wie viele Menschen in der Siedlung im heutigen Sievern lebten,<br />

ist ebenfalls noch unklar. Die Archäologen haben ein Zelt aus weißer<br />

Plane aufgebaut. Unter der Oberfläche des Ackers gibt es noch viel zu<br />

entdecken. Nachdem es während der ersten Tage fast ununterbrochen<br />

geregnet hat und die Erdgrube auf dem Feld in ein Schlammloch verwandelt<br />

hatte, hoffen die Forscher nun auf weitere Funde. Drei Wochen<br />

haben sie noch Zeit, dann wird hier der ostfriesische Bauer wieder<br />

Getreide pflanzen. Hauke Jöns ist optimistisch. C. Gregor Landwehr<br />

A Z U R G R A U 4 1<br />

FOTOS: JANOS BURGHARDT (6) / NIEDERSÄCHSISCHES INSTITUT FÜR HISTORISCHE KÜSTENFORSCHUNG (3)


MIT EINEM KILO SCHLICK<br />

4 2 A Z U R G R A U<br />

2 ANNE-KATHRIN KELLER, 24 JAHRE:<br />

… meine eigene Wattwurmfarm anlegen. Eine<br />

gute Investitionsidee für Süddeutschland.<br />

8 DANIEL KRAWINKEL, 23 JAHRE:<br />

… mir ein kleines Schlickschloss bauen – man<br />

soll ja klein anfangen.<br />

5 C. GREGOR LANDWEHR, 25 JAHRE:<br />

… eine Schlammschlacht machen.<br />

1 SANDRA PETERSEN, 22 JAHRE:<br />

… um die Welt reisen. Damit der Schlick<br />

auch mal was anders sieht.<br />

6 CARLA NEUHAUS, 23 JAHRE:<br />

… das Wattenmeer ins Münsterland holen.<br />

11 ESTHER STALLMANN, 28 JAHRE:<br />

… meine Altersangabe hier begraben.<br />

1<br />

ANDREA HOYMANN, 26 JAHRE:<br />

… es als dubioses Schönheitsprodukt<br />

teuer verkaufen.<br />

1 SONJA HARTWIG, 23 JAHRE:<br />

… an die Ostsee fahren.<br />

1 EVA ZIMMERMANN, 23 JAHRE:<br />

… einem Wattwurm ein luxuriöses und vor<br />

allem stipendiatensicheres Watt-Haus bauen.


WÜRDE ICH ...<br />

10 HEIDI BEHA, 23 JAHRE:<br />

… den Schornstein des Wilhelmshavener<br />

Kohlekraftwerks zustopfen.<br />

WANGEROOGE<br />

7<br />

HOHENKIRCHEN 8<br />

SENGWARDEN 10<br />

JEVER 9 RÜSTERSIEL 11<br />

WILHELMSHAVEN 1<br />

NEUSTADTGÖDENS 2<br />

3 ANNA KUHN-OSIUS, 25 JAHRE:<br />

… nochmal eine Rutschpartie machen.<br />

1 JANOS BURGHARDT, 23 JAHRE:<br />

… eine Schlamm-Catch-Arena für Wattwürmer<br />

bauen.<br />

DANGAST 3<br />

7 CHARLOTTE POTTS,<br />

22 JAHRE: … Schlick-BHs für<br />

die barbusigen Meerjungfraustatuen<br />

dieser Welt basteln.<br />

4<br />

FEDDER-<br />

WARDERSIEL<br />

1 JOCHEN MARKETT, 29<br />

MICHAEL HANDEL, 27:<br />

… ein großflächiges Kunstwerk<br />

malen und es „Schlick 1“ nennen.<br />

6<br />

WREMEN<br />

5<br />

SIEVERN<br />

9 SEBASTIAN QUILLMANN,<br />

26 JAHRE: … meine Förmchen<br />

vorholen und Backe-Backe-Kuchen<br />

spielen, bis die Sonne über dem<br />

Watt versinkt.<br />

IMPRESSUM<br />

Lebenswandel<br />

4 LUISE SAMMANN,<br />

23 JAHRE: … die Augenringe<br />

nach dem Seminar abdecken.<br />

HERAUSGEBER:<br />

<strong>Journalisten</strong>-<strong>Akademie</strong> der<br />

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.<br />

Hauptabteilung Begabtenförderung<br />

und Kultur<br />

Rathausallee 12<br />

53757 Sankt Augustin<br />

Tel.: 02241/246-2289<br />

E-Mail: journalisten-akademie@kas.de<br />

www.journalisten-akademie.com<br />

CHEFREDAKTION:<br />

Eva-Maria Schnurr, www.plan17.de<br />

Jochen Markett (V.i.S.d.P.)<br />

GESTALTUNG:<br />

Angela Dobrick, www.angela-dobrick.de<br />

DRUCK:<br />

Bonifatius GmbH, Druck – Buch – Verlag<br />

33042 Paderborn<br />

„azurgrau – Leben am Watt“ ist während<br />

eines Seminars der <strong>Journalisten</strong>-<strong>Akademie</strong><br />

der Konrad-Adenauer-Stiftung im<br />

März 2009 entstanden. „azurgrau“ gibt<br />

es auch im Hörfunk- und Fernsehformat.<br />

© 2009 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

A Z U R G R A U 4 3

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