Azur Grau - Journalisten Akademie
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Lebensraum<br />
„EINE RICHTIGE<br />
DRECK-<br />
SCHLEUDER<br />
WÜRDE ICH IN<br />
WILHELMSHAVEN<br />
BAUEN“<br />
Umweltverträglichkeitsprüfung. Er liest aus dem Gesetzbuch<br />
vor: „Paragraph 34 … Ausnahmen dann, wenn es aus zwingenden<br />
Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich<br />
sozialer oder wirtschaftlicher Gründe, notwendig<br />
ist.“ Damit könne quasi alles zur Ausnahme gemacht werden,<br />
erklärt er. „Im Allgemeinen geht es nicht darum, Wirtschaftsentwicklungen<br />
zu verhindern, sondern gute Lösungen zu finden“,<br />
sagt Kohlwes und zeigt an, dass auch er für Kompromisse<br />
steht.<br />
Die Natur kommt nach dem Menschen und der Mensch nach<br />
der Wirtschaft. Das hat auch Ehnste Lauts erlebt. Er ist Jäger<br />
und Landwirt und schwärmt von dem tollen Jagdgebiet, das es<br />
auf dem Rüstersieler Groden bis zum letzten Jahr noch gegeben<br />
hat. „Es gab Rehe dort, was für unsere Region sehr ungewöhnlich<br />
ist. Das Rebhuhn, Enten und Füchse hat man oft beobachten<br />
können.“ Jetzt sieht man dort schwarze Kohleberge, braune<br />
Erdhaufen, Bagger und Stahlkräne. Sekunde für Sekunde<br />
zerstört das Klopfen einer Ramme die Ruhe: Kling, Kling, Kling,<br />
Kling ... Das vertreibt auch die letzten Tiere aus dem verbliebenen<br />
Waldstückchen auf dem Rüstersieler Groden. Mit viel Geld<br />
und Aufwand hat man damals in den fünfziger Jahren diese<br />
Fläche aufgespült und dem Wattenmeer abgewonnen. Der Plan<br />
war es, dort Industrie anzusiedeln. Diese kam aber nicht, und<br />
so eroberte sich die Natur ihr Gebiet zurück. Jetzt will die<br />
Industrie doch. „Für mich als Jäger ist es traurig, wenn Natur<br />
verschwinden muss. Aber ich will auch, dass die Region vorankommt,<br />
darum müssen wir die Kraftwerke und die Industrie<br />
akzeptieren und sogar unterstützen. Ich möchte, dass auch meine<br />
Enkel ein ausreichendes Einkommen haben und hier leben<br />
können.“<br />
Leben und arbeiten müssen auch die Naturschützer in<br />
Wilhelmshaven. Vielleicht erschwert das ihr Engagement.<br />
Gewöhnlich macht jede der kleinen Initiativen ihre eigenen<br />
Aktionen, es gibt wenig Austausch. Im März 2009 haben sie sich<br />
das erste Mal gemeinsam an einen Tisch gesetzt. Eine E-Mail<br />
soll herumgeschickt werden, jede Initiative soll eine geplante<br />
Resolution überarbeiten. Die 48-jährige Imke Zwoch, Mitglied<br />
beim BUND und mit ihrer hellbraunen Haarpracht mit Abstand<br />
die Jüngste in der Runde, fragt: „Kennen Sie die Überarbeitungsfunktion<br />
bei Word?“ Unwissende Gesichter, ein Scherz,<br />
und dann weiß man: Naturschutz ist in Wilhelmshaven eine<br />
zähe, langwierige Sache und kann nicht mit dem Tempo der<br />
Großprojekte von Stadt und Industrie mithalten. Sie sind noch<br />
im Schreibmaschinen-Zeitalter der Olympia-Werke geblieben<br />
2 8 A Z U R G R A U<br />
und versuchen doch in die Gegenwart vorzudringen und die<br />
Menschen in Wilhelmshaven für Naturschutz zu gewinnen. Der<br />
Schreibmaschinenhersteller Olympia, einst Arbeitgeber in<br />
Wilhelmshaven für mehr als 10.000 Menschen, hat die Tore<br />
längst geschlossen, hat nicht umgerüstet und die Zukunft ignoriert.<br />
Der Bankrott war die Konsequenz, die Pleite riss die Stadt<br />
mit in den Abgrund. Nun hoffen auch die Naturschützer auf einige<br />
tausend Arbeitsplätze durch den Jade-Weser-Port und das<br />
neue Kraftwerk.<br />
„Die Initiativen kochen alle ihr eigenes Süppchen“, sagt<br />
Joachim Tjaden. Er ist Mitglied im Stadtrat und gehört der<br />
Wählergruppe Bildung Arbeit Soziales Umwelt (BASU) an. Sein<br />
Gesicht ist zerfurcht wie das Watt bei Ebbe. Und jeder Kompromiss,<br />
der Wilhelmshaven einen neuen Schornstein bringt, ist<br />
für ihn eine Niederlage. „Leider sind die Initiativen hier zu klein,<br />
da macht man sich schnell lächerlich, wenn man sich zu zehnt<br />
vor die Rathaustür stellt und demonstriert und deutlich macht:<br />
,Wir sind dagegen!'“. Ralf Kohlwes von der Stadt sieht das ähnlich:<br />
„Der Widerstand hier vor Ort ist relativ gering und die<br />
Investoren haben nicht allzu viel zu fürchten.“ Tjaden fügt noch<br />
an: „Wenn ich irgendwo eine richtige Dreckschleuder bauen<br />
wollen würde, würde ich nach Wilhelmshaven kommen!“<br />
Was er Dreckschleuder nennt, wird gerade gebaut. Für ein<br />
Kohlekraftwerk rodet man den Rüstersieler Groden, und als<br />
nächstes möchte die Stadt den Voslapper Groden für Industrie<br />
frei machen. Dieses Mal muss kein Haus niedergewalzt, sondern<br />
nur Natur vernichtet werden. Der ehemalige Landwirt, dessen<br />
Hof vor 30 Jahren eingeebnet wurde, hatte damals eine<br />
Entschädigung erhalten und einen Job in der Raffinerie, die auf<br />
seinem Grund bauen wollte. Sein neues Haus ist geräumig, er<br />
hat sich ein großes Stück Garten geleistet. Selbst im März sieht<br />
man da noch ein paar Winterpflanzen. Die Krokusse beginnen<br />
schon zu blühen. Auf den Feldern seines früheren Hofes blüht<br />
nichts mehr. Dort ist heute eine Mülldeponie. Denn die<br />
Investoren der Raffinerie hatten es sich doch anders überlegt:<br />
Die Industriezone wurde um einige Meter verschoben, die Fabrik<br />
an einer anderen Stelle gebaut. Heidi Beha<br />
Der Protest ist still – Postkarten hört man nicht<br />
FOTOS: ANDREA HOYMANN (1) / GRUPPO 635.COM/HUFENBACH (1) / GDF SUEZ (1)